IV.

[18] Was im Vorhergehenden von Joh. Seb. Bachs vorzüglichen Clavierspielen gesagt worden ist, kann im Allgemeinen auch auf sein Orgelspielen angewendet werden. Das Clavier und die Orgel sind einander nahe verwandt. Allein Styl und Behandlungsart beyder Instrumente ist so verschieden, als ihre beyderseitige Bestimmung verschieden ist. Was auf dem Clavichord klingt oder etwas sagt, sagt auf der Orgel nichts, und so umgekehrt. Der beste Clavierspieler, wenn er nicht die Unterschiede der Bestimmung und der Zwecke beyder Instrumente gehörig kennt und zu beobachten weiß, wird daher stets ein schlechter Orgelspieler seyn, wie es auch gewöhnlich der Fall ist. Bis jetzt sind mir nur zwey Ausnahmen vorgekommen. Die eine macht Joh. Sebastian selbst, und die zweyte sein ältester Sohn, Wilh. Friedemann. Beyde waren feine Clavierspieler; sobald sie aber auf die Orgel kamen, bemerkte man keinen Clavierspieler mehr. Melodie, Harmonie, Bewegung etc. alles war anders, das heißt: alles war der Natur des Instruments und seiner Bestimmung angemessen. Wenn ich Wilh. Friedemann auf dem Clavier hörte, war alles zierlich, fein und angenehm. Hörte ich ihn auf der Orgel, so überfiel mich ein heiliger Schauder. Dort war alles niedlich, hier alles groß und feyerlich. Eben so war es bey Joh. Sebastian, nur beydes in einem noch weit höhern Grad von Vollkommenheit. W. Friedemann war auch hierin nur ein Kind gegen seinen Vater, und erklärte sich mit aller Aufrichtigkeit selbst dafür. Schon die vorhandenen Orgelcompositionen dieses bewundernswürdigen Mannes sind voll von Ausdruck der Andacht, Feyerlichkeit und Würde; aber sein freyes Orgelspiel, wobey durchs Niederschreiben nichts verloren ging, sondern alles unmittelbar aus der Fantasie ins Leben kam, soll noch andächtiger, feyerlicher, würdiger und erhabener gewesen[18] seyn. Worauf kommt es nun bey dieser Kunst hauptsächlich an? Ich will davon sagen, was ich weiß; aber manches kann nicht gesagt, sondern nur gefühlt werden.

Wenn man Bachs Claviercompositionen mit seinen Orgelcompositionen vergleicht, so bemerkt man, daß die in beyden befindliche Melodie und Harmonie ganz von verschiedener Art ist. Wir können hieraus schließen, daß es beym wahren Orgelspielen zunächst auf die Beschaffenheit der Gedanken ankommen müsse, deren sich der Organist bedient. Diese Beschaffenheit wird durch die Natur des Instruments, durch den Platz, an welchem es steht, und endlich durch den Zweck, der damit beabsichtigt wird, bestimmt. Der große Ton der Orgel ist seiner Natur nach nicht dazu geeignet, in geschwinden Sätzen gebraucht zu werden; er erfordert Zeit, in dem weiten und freyen Raum einer Kirche verhallen zu können. Läßt man ihm diese Zeit nicht, so verwirren sich die Töne, und das Orgelspiel wird undeutlich und unverständlich. Die der Orgel und dem Platz angemessenen Sätze müssen also feyerlich langsam seyn; höchstens kann beym Gebrauch einzelner Register, etwa in einem Trio etc. eine Ausnahme von dieser Regel gemacht werden. Die Bestimmung der Orgel zur Unterstützung des Kirchengesangs, und zur Vorbereitung und Unterhaltung andächtiger Gefühle durch Vor- und Nachspiele, erfordert ferner, daß die innere Zusammensetzung und Verbindung der Töne auf eine andere Art bewerkstelligt werde, als außer der Kirche geschieht. Das Gewöhnliche, Alltägliche kann nie feyerlich werden, kann nie ein erhabenes Gefühl erregen; es muß daher auf alle Weise von der Orgel entfernt bleiben. Und wer ist hierin je gewissenhafter gewesen, als Bach? Schon in seinen weltlichen Compositionen verschmähte er alles Gewöhnliche; in seinen Orgelcompositionen hat er sich aber noch unendlich weiter davon entfernt, so daß er mir hier nicht mehr wie ein Mensch, sondern wie ein wahrer verklärter Geist vorkommt, der sich über alles Irdische hinauf geschwungen hat.

Die Mittel, deren er sich bediente, um zu einem so heiligen Styl zu gelangen, lagen in seiner Behandlungsart der alten sogenannten Kirchentonarten, in seiner getheilten Harmonie, im Gebrauch des obligaten Pedals und in seiner Art zu registriren. Daß die Kirchentonarten ihres Unterschieds wegen von unsern 12 Dur- und 12 Molltonarten zu fremdartigen, ungewöhnlichen Modulationen, so wie sie in die Kirche gehören, vorzüglich geschickt sind, kann jedermann erfahren, der nur die einfachen vierstimmigen[19] Choralgesänge von Joh. Sebastian untersuchen will. Was aber die getheilte Harmonie für Wirkung auf der Orgel thue, wird sich Niemand leicht vorstellen können, der nie ein so eingerichtetes Orgelspiel gehört hat. Es wird dadurch gleichsam ein Chor von 4 oder 5 Singstimmen in ihrem völlig natürlichen Umfange auf die Orgel übertragen. Man versuche auf einem Claviere folgende Accorde in getheilter Harmonie, (s. die Kupfertafel, Fig. 1.) und vergleiche dann, wie die folgende, (Fig. 2.) deren sich gewöhnliche Organisten zu bedienen pflegen, dagegen klingt, so wird man bald einsehen, was für eine Wirkung es machen müsse, wenn ganze Stücke auf solche Art mit 4 oder mehr Stimmen gespielt werden. Auf diese Art spielte nun Bach stets auf der Orgel, und bediente sich dabey noch außerdem des obligaten Pedals, von dessen wahrem Gebrauch nur wenige Organisten etwas wissen. Er gab mit dem Pedal nicht bloß Grundtöne oder die jenigen an, die bey gewöhnlichen Organisten der kleine Finger der linken Hand zu greifen hat, sondern er spielte eine förmliche Baß-Melodie mit seinen Füßen, die oft so beschaffen war, daß mancher mit 5 Fingern sie kaum heraus gebracht haben würde.

Zu allen diesem kam noch die eigene Art, mit welcher er die verschiedenen Stimmen der Orgel mit einander verband, oder seine Art zu registriren. Sie war so ungewöhnlich, daß manche Orgelmacher und Organisten erschraken, wenn sie ihn registriren sahen. Sie glaubten, eine solche Vereinigung von Stimmen könne unmöglich gut zusammen klingen; wunderten sich aber sehr, wenn sie nachher bemerkten, daß die Orgel gerade so am besten klang, und nun etwas Fremdartiges, Ungewöhnliches bekommen hatte, das durch ihre Art zu registriren, nicht hervor gebracht werden konnte.

Diese ihm eigene Art zu registriren war eine Folge seiner genauen Kenntniß des Orgelbaues, so wie aller einzelnen Stimmen. Er hatte sich frühe gewöhnt, jeder einzelnen Orgelstimme eine ihrer Eigenschaft angemessene Melodie zu geben, und dieses führte ihn zu neuen Verbindungen dieser Stimmen, auf welche er außerdem nie verfallen seyn würde. Ueberhaupt entging dem scharfen Blicke seines Geistes nichts, was nur irgend auf seine Kunst Beziehung hatte, und zur Entdeckung neuer Kunstvortheile genutzt werden konnte. Seine Achtsamkeit auf die Ausnahme großer Musikstücke an Plätzen von verschiedener Beschaffenheit, sein sehr geübtes Gehör, mit welchem er in der vollstimmigsten und besetztesten Musik jeden noch so kleinen Fehler bemerkte, seine Kunst auf eine so[20] leichte Art ein Instrument rein zu temperiren, können zum Beweise dienen, wie scharf und umfassend der Blick dieses großen Mannes war. Als er im Jahr 1747 in Berlin war, wurde ihm das neue Opernhaus gezeigt. Alles was in der Anlage desselben in Hinsicht auf die Ausnahme der Musik gut oder fehlerhaft war, und was Andere erst durch Erfahrung bemerkt hatten, entdeckte er beym ersten Anblick. Man führte ihn in den darin befindlichen großen Speise-Saal; er ging auf die oben herum laufende Gallerie, besah die Decke, und sagte, ohne fürs erste weiter nachzuforschen, der Baumeister habe hier ein Kunststück angebracht, ohne es vielleicht zu wollen, und ohne daß es Jemand wisse. Wenn nehmlich Jemand an der einen Ecke des länglicht viereckichten Saals oben ganz leise gegen die Wand einige Worte sprach, so konnte es ein Anderer, welcher übers Kreuz an der andern Ecke mit dem Gesichte gegen die Wand gerichtet stand, ganz deutlich hören, sonst aber Niemand im ganzen Saal, weder in der Mitte, noch an irgend einer andern Stelle. Diese Wirkung kam von der Richtung der an der Decke angebrachten Bogen, deren besondere Beschaffenheit er beym ersten Anblick entdeckte. Solche Beobachtungen konnten und mußten ihn allerdings auch auf Versuche führen, durch ungewöhnliche Vereinigung verschiedener Orgelstimmen vor und nach ihm unbekannte Wirkungen hervor zu bringen.

Die Vereinigung und Anwendung der angeführten Mittel auf die üblichen Formen der Orgelstücke brachte nun das große, feyerlich-erhabene, der Kirche angemessene, beym Zuhörer heiligen Schauder und Bewunderung erregende Orgelspiel Joh. Seb. Bachs hervor. Seine tiefe Kenntniß der Harmonie, sein Bestreben, alle Gedanken fremdartig zu wenden, um ihnen auch nicht die mindeste Aehnlichkeit mit der außer der Kirche üblichen Art musikalischer Gedanken zu lassen, seine der reichsten, unerschöpflichsten und stets unaufhaltsam fortströmenden Fantasie entsprechende Allgewalt über sein Instrument mit Hand und Fuß, sein sicheres und schnelles Urtheil, mit welchem er aus dem ihm zuströmenden Reichthum an Gedanken nur die zum gegenwärtigen Zweck gehörigen zu wählen wußte, kurz sein großes Genie, welches alles umfaßte, alles in sich vereinigte, was zur Vollendung einer der unerschöflichsten Künste erforderlich ist, brachte auch die Orgelkunst so zur Vollendung, wie sie vor ihm nie war, und nach ihm schwerlich seyn wird. Quanz war hierin meiner Meynung. Der bewundernswürdige Joh. Seb. Bach,[21] sagt er, hat endlich in den neuern Zeiten die Orgelkunst zu ihrer größten Vollkommenheit gebracht; es ist nur zu wünschen, daß sie nach dessen Absterben wegen geringer Anzahl derjenigen, die noch einigen Fleiß darauf verwenden, nicht wieder verfallen oder gar untergehen möge.

Wenn Joh. Seb. Bach außer den gottesdienstlichen Versammlungen sich an die Orgel setzte, wozu er sehr oft durch Fremde aufgefordert wurde, so wählte er sich irgend ein Thema, und führte es in allen Formen von Orgelstücken so aus, daß es stets sein Stoff blieb, wenn er auch zwey oder mehrere Stunden ununterbrochen gespielt hätte. Zuerst gebrauchte er dieses Thema zu einem Vorspiel und einer Fuge mit vollem Werk. Sodann erschien seine Kunst des Registrirens für ein Trio, ein Quatuor etc. immer über dasselbe Thema. Ferner folgte ein Choral, um dessen Melodie wiederum das erste Thema in 3 oder 4 verschiedenen Stimmen auf die mannigfaltigste Art herum spielte. Endlich wurde der Beschluß mit dem vollen Werke durch eine Fuge gemacht, worin entweder nur eine andere Bearbeitung des erstern Thema herrschte, oder noch eines oder auch nach Beschaffenheit desselben zwey andere beygemischt wurden. Dieß ist eigentlich diejenige Orgelkunst, welche der alte Reinken in Hamburg schon zu seiner Zeit für verloren hielt, die aber, wie er hernach fand, in Joh. Seb. Bach nicht nur noch lebte, sondern durch ihn die höchste Vollkommenheit erreicht hatte.

Theils das Amt, in welchem Joh. Seb. stand, theils auch überhaupt der große Ruf seiner Kunst und Kunstkenntnisse verursachte, daß er sehr häufig zur Prüfung junger Orgel-Candidaten, und zur Untersuchung neu-erbauter Orgelwerke aufgefordert wurde. Er benahm sich in beyden Fällen so gewissenhaft und unpartheyisch, daß die Zahl seiner Freunde selten dadurch vermehrt wurde. Der ehemahlige Dänische Capellmeister Scheibe unterwarf sich in frühern Jahren ebenfalls einmahl seiner Prüfung bey einer Organistenwahl, fand aber dessen Ausspruch so ungerecht, daß er sich nachher in seinem kritischen Musikus durch einen heftigen Ausfall an seinem ehemahligen Richter zu rächen suchte. Mit seinen Orgeluntersuchungen ging es ihm nicht besser. Er konnte es eben so wenig über sich erhalten, ein schlechtes Instrument zu loben, als einen schlechten Organisten. Beine Orgelproben waren daher sehr streng, aber immer gerecht. Da er den Orgelbau so vollkommen verstand, so konnte er in keiner Sache dabey irre geführt werden. Das[22] erste, was er bey einer Orgeluntersuchung that, war, daß er alle klingende Stimmen anzog, und das volle Werk sodann so vollstimmig als möglich spielte. Hierbey pflegte er im Scherze zu sagen: er müsse vor allen Dingen wissen, ob das Werk eine gute Lunge habe. Sodann ging es an die Untersuchung einzelner Theile. Seine Gerechtigkeit gegen die Orgelbauer ging übrigens so weit, daß, wenn er wirklich gute Arbeit, und die dafür accordirte Summe zu geringe fand, so daß der Orgelbauer offenbar mit Schaden gearbeitet haben würde, er die Vorsteher zu angemessenen Nachschüssen zu bewegen suchte, und mehrere Mahle auch wirklich dazu bewog.

Nach geendigter Probe, besonders wenn das Werk darnach beschaffen war, und seinen Beyfall hatte, machte er gewöhnlich noch einige Zeit für sich und die Anwesenden von den oben erwähnten Orgelkünsten Gebrauch, und zeigte dadurch jedes Mahl aufs neue, daß er wirklich der Fürst aller Clavier- und Orgelspieler sey, wie ihn der ehemahlige Organist Sorge zu Lobenstein in einer Dedication einst genannt hat.

Quelle:
Forkel, Johann Nikolaus: Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig 1802 (Nachdruck Frankfurt am Main 1950), S. 18-23.
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