IX.

[49] Um so vollendete Kunstwerke liefern zu können, wie sie uns Bach in mancherley Gattungen hinterlassen hat, mußte er nothwendig sehr viel componiren. Wer nicht täglich mit seiner Kunst beschäftigt ist, wird doch, wenn er auch das größte Genie von der Welt wäre, nie ein Werk zu Stande bringen, von welchem der Kenner sagen könnte, daß es durchgehends vollkommen und vollendet sey. Nur ununterbrochene Uebung kann zur wahren Meisterschaft führen. Wenn man aber alle Werke, die während solcher Uebungen hervor gebracht werden, für Meisterstücke halten wollte, weil endlich wirkliche Meisterwerke aus ihnen hervor gehen, so würde man sehr irren. Dieß ist auch der Fall bey Bachs Werken. Obgleich allerdings schon in seinen frühern Versuchen unverkennbare Spuren eines vorzüglichen Genies zu bemerken sind, so enthalten sie doch daneben so viel Unnützes, so viel Einseitiges, Wildes und Geschmackloses, daß sie wenigstens für das große Publicum der Aufbewahrung nicht werth sind, und höchstens für einen solchen Kunstfreund wichtig seyn können, der den Gang, welchen ein solches Genie vom Anfange seiner Ausbildung an genommen hat, näher kennen lernen will.

Zur Absonderung dieser Versuche oder Jugendübungen von den wahren Meisterwerken, hat uns Bach selbst zwey Mittel angegeben, und ein drittes haben wir an der Kunst der kritischen Vergleichung. Bey Erscheinung seines ersten Werks war er schon über vierzig Jahre alt. Was er in einem so reisen Alter der öffentlichen Bekanntmachung selbst werth hielt, hat gewiß die Vermuthung für sich, daß es gut ist. Wir können daher alle seine Werke, die er selbst durch den Stich bekannt gemacht hat, für vorzüglich gut halten.[49]

Bey denjenigen seiner musikalischen Arbeiten, die nur in Abschriften verbreitet wurden, und die bey weitem die größere Anzahl ausmachen, müssen wir, um zu wissen, was davon der Aufbewahrung werth ist, unsere Zuflucht theils zur kritischen Vergleichung nehmen, theils auch zu dem zweyten Mittel, welches uns Bach selbst angegeben hat. Er legte nehmlich, so wie alle wirklich große Genies, niemahls die kritische Feile aus der Hand, um seine schönen Werke schöner, und die schönern zu den schönsten zu machen. Was von seinen frühern Werken nur irgend so angelegt war, daß es verbessert werden konnte, das verbesserte er. Dieser Verbesserungstrieb erstreckte sich sogar auf einige seiner gestochenen Werke. Es entstanden hieraus verschiedene Lesearten in ältern und neuern Abschriften, und alle diejenigen Stücke, welche man mit so verschiedenen Lesearten findet, hat er selbst ihrer ersten Anlage nach einer Verbesserung werth gehalten, und geglaubt, sie in wahre Kunstwerke umschaffen zu können. Ich rechne hieher das meiste, was er vor dem Jahre 1725 componirt hat, wie im nachher folgenden Verzeichniß näher angegeben werden soll. Sehr viele spätere Compositionen, die aber aus sehr begreiflichen Ursachen ebenfalls nur handschriftlich bekannt wurden, tragen das Gepräge ihrer Vollendung zu deutlich an sich, als daß ein Zweifel entstehen könnte, ob sie unter die Versuche oder unter die Arbeiten des schon vollkommenen Meisters zu zählen sind.

Quelle:
Forkel, Johann Nikolaus: Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig 1802 (Nachdruck Frankfurt am Main 1950), S. 49-50.
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