I. Claviersachen.

[54] 1) 6 kleine Präludien zum Gebrauch der Anfänger.

2) 15 zweystimmige Inventiones. Man nannte einen musikalischen Sag, der so beschaffen war, daß aus ihm durch Nachahmung und Versetzung der Stimmen die Folge eines ganzen Stücks entwickelt werden konnte, eine Invention. Das übrige war Ausarbeitung und bedurfte, wenn man die Hülfsmittel der Entwickelung gehörig kannte, nicht erst erfunden zu werden. Diese 15 Inventionen sind zur Bildung eines angehenden Clavierspielers von großem Nutzen. Der Verf. hat darauf gesehen, daß dadurch nicht nur eine Hand wie die andere, sondern auch ein Finger wie der andere gebildet werden kann. Sie sind im Jahr 1723 zu Cöthen verfertigt, und führen ursprünglich den Titel: »Aufrichtige Anleitung, womit den Liebhabern des Claviers eine deutliche Art gezeigt wird, mit zwey Stimmen rein spielen zu lernen, auch zugleich gute Inventiones zu bekommen und sie gut durchzuführen, am allermeisten aber eine cantable Art im Spielen, und einen starken Vorschmack von der Composition zu erlangen.«

In mehrere dieser Inventionen hatten sich anfänglich einige steife und unedele Wendungen der Melodie, auch einige andere Mängel eingeschlichen. Bach, der sie ihrer[54] Anlage nach auch in spätern Jahren sehr brauchbar für seine Schüler fand, nahm ihnen nach und nach alles, was nach seinem gereinigtern Geschmack nicht taugte, und machte am Ende wahre ausdrucksvolle Meisterstücke daraus, die deswegen ihren Nutzen für Hand-Finger- und Geschmacksbildung nicht verloren haben. Durch ein sorgfältiges Studium derselben kann man sich zu den größern Stücken Joh. Seb. Bachs am besten vorbereiten.

3) 15 dreystimmige Inventiones, die auch unter dem Namen Sinfonien bekannt sind. Sie haben einerley Zweck mit den vorhergehenden, sollen nur weiter führen.

4) Das wohltemperirte Clavier, oder Präludien und Fugen durch alle Töne. Zum Nutzen und Gebrauch der lehrbegierigen musikalischen Jugend, wie auch den in diesem Studio schon habil seyenden zum besondern Zeitvertreib aufgesetzt und verfertigt. Erster Theil. 1722. Der zweyte Theil dieses Werks, welcher ebenfalls 24 Präludien und 24 Fugen aus allen Tönen enthält, ist später verfertigt. Er besteht vom Anfang an bis ans Ende aus lauter Meisterstücken. Im ersten Theil hingegen befinden sich noch einige Präludien und Fugen, welche das Unreife früher Jugend an sich tragen, und von dem Verf. wahrscheinlich nur beybehalten sind, um die Zahl vier und zwanzig voll zu haben. Doch auch hier hat er mit der Zeit gebessert, wo nur irgend zu bessern war. Er hat ganze Stellen entweder weggeworfen, oder anders gewendet, so daß nun nach den neuern Abschriften nur wenige Stücke übrig sind, denen man den Vorwurf der Unvollkommenheit noch machen kann. Ich rechne unter diese wenigen die Fugen aus A moll, G dur und Moll, C dur, F dur und moll etc. Die übrigen hingegen sind sämmtlich vortrefflich, und einige sogar in einem so hohen Grade vortrefflich, daß keine derselben den im 2ten Theil enthaltenen nachzusetzen ist. Auch selbst der vom Anfang an vollkommenere zweyte Theil hat in der Folge große Verbesserungen erhalten, wie man durch Vergleichung älterer und neuerer Abschriften sehen kann. Uebrigens ist in beyden Theilen dieses Werks ein Schatz von Kunst enthalten, der gewiß nur in Deutschland gefunden wird.

5) Chromatische Fantasie und Fuge. Unendliche Mühe habe ich mir gegeben noch ein Stück dieser Art von Bach aufzufinden. Aber vergeblich. Diese[55] Fantasie ist einzig und hat nie ihres Gleichen gehabt. Ich erhielt sie zuerst von Wilh. Friedemann aus Braunschweig. Einer seiner und meiner Freunde, der gerne Knittelverse machte, schrieb auf ein beygelegtes Blatt:


Anbey kommt an

Etwas Musik von Sebastian,

Sonst genannt: Fantasia chromatica;

Bleibt schön in alle Saecula.


Sonderbar ist es, daß diese so außerordentlich kunstreiche Arbeit auch auf den allerungeübtesten Zuhörer Eindruck macht, wenn sie nur irgend reinlich vorgetragen wird.

6) Eine Fantasie. (Fig. 3.) Sie ist nicht von der Art der vorhergehenden, sondern wie ein Sonaten-Allegro in 2 Theile getheilt, und muß in einerley Bewegung und Tact vorgetragen werden. Sonst ist sie vortrefflich. In ältern Abschriften findet man eine Fuge angehängt, die aber nicht dazu gehören kann, auch nicht ganz vollendet ist. (Fig. 4.) Daß aber wenigstens die ersten 30 Tacte von Seb. Bach sind, kann nicht bezweifelt werden, denn sie enthält einen äußerst gewagten Versuch, verminderte und vergrößerte Intervalle nebst ihren Umkehrungen in einer 3stimmigen Harmonie zu gebrauchen. So etwas hat außer Bach nie Jemand gewagt. Was nach den ersten 30 Tacten folgt, scheint von einer andern Hand beygefügt zu seyn, denn es trägt kein Merkmahl Sebastianischer Art an sich.

7) Sechs große Suiten, bestehend in Präludien, Allemanden, Couranten, Sarabanden, Giquen etc. Sie sind unter dem Namen der Englischen Suiten bekannt, weil sie der Componist für einen vornehmen Engländer gemacht hat. (Fig. 5.) Sie sind alle von großem Kunstwerth; aber einige einzelne Stücke derselben, z.B. die Giquen der 5ten und 6ten Suite sind als höchste Meisterstücke origineller Melodie und Harmonie zu betrachten. (Fig. 6. und 7.)

8) Sechskleine Suiten, bestehend in Allemanden, Couranten etc. Man nennt sie gewöhnlich Französische Suiten, weil sie im Französischen Geschmack geschrieben sind. Seinem Zweck nach ist hier der Componist weniger gelehrt als in seinen andern Suiten, und hat sich meistens einer lieblichen, mehr hervorstechenden Melodie bedient. Insbesondere verdient die 5te Suite in dieser Rücksicht bemerkt zu werden, in welcher[56] sämmtliche einzelne Stücke von der sanftesten Melodie sind, so wie in der letzten Gique nichts als consonirende Intervalle, insbesondere aber Sexten und Terzen gebraucht werden.

Dieß sind die vorzüglichsten Clavierwerke Joh. Seb. Bachs, welche durchgehends für klassisch gehalten werden können. Eine große Menge einzelner Suiten, Toccaten und Fugen, die noch außer ihnen vorhanden sind, haben zwar alle auf eine oder die andere Art vielen Kunstwerth, gehören aber dennoch unter seine Jugendübungen. Höchstens 10 bis 12 einzelne Stücke aus dieser Menge sind der Aufbewahrung werth, einige, weil sie als Fingerübungen von großem Nutzen seyn können, auch ursprünglich vom Verfasser dazu bestimmt waren, andere, weil sie wenigstens besser sind, als ähnliche Werke von vielen andern Componisten. Als Fingerübung für beyde Hände rechne ich vorzüglich hieher eine Fuge aus A moll, worin es der Componist recht darauf angelegt hat, durch ununterbrochenes Laufwerk beyden Händen gleiche Kraft und Geläufigkeit zu verschaffen. (Fig. 9.) Für Anfänger könnte eine kleine 2stimmige Fuge noch brauchbar seyn, die sehr sangbar ist, und dabey nichts Veraltetes enthält. (Fig. 10.)

Quelle:
Forkel, Johann Nikolaus: Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig 1802 (Nachdruck Frankfurt am Main 1950), S. 54-57.
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