VII.

Leipziger Hoftheater und Julirevolution.

[119] Das Leipziger Hoftheater. – Goethes ›Faust‹: Rosalie Wagner als Gretchen. – Aubers ›Stumme von Portici‹: Rosalie als Fenella. – Rossinis ›Tell‹. – Die Julirevolution macht Wagner zum ›Revolutionär‹. – Leipziger Volkstumulte – Aus der Nikolai- in die Thomasschule. – Ouvertüren für großes Orchester. – Aufführung der Paukenschlag-Ouvertüre.


Nach vielen Abschweifungen bald nach dieser, bald nach jener Seite hin traf mich der Eindruck der Julirevolution im angetretenen achtzehnten Lebensjahre. Er war heftig und vielfach anregend.

Richard Wagner.


Eine Tonmasse ohne individuelle Bestimmtheit ihrer Glieder ist gar nicht vorhanden, und kann höchstens gedacht, nie aber verwirklicht werden. Das, was diese Individualität aber bestimmt, ist die besondere Eigentümlichkeit des einzelnen Instrumentes.

Richard Wagner.


Mit der Aufführung von Calderons ›Leben ein Traum‹ hatte am 11. Mai 1828 das Leipziger Theater eine elfjährige Epoche seines Bestehens (seit August 1817) abgeschlossen. Der bisherige Direktor Küstner machte zwar noch einige Versuche zu seiner ferneren Erhaltung, aber vergeblich, – seine Unterhandlungen mit dem Leipziger Rat scheiterten an dem Mangel an Willfährigkeit von seiten des letzteren. Der Stadtrat betrieb vielmehr bei der Regierung die Begründung eines Hoftheaters zu Leipzig, welches zwar unter der Oberleitung der Dresdener Intendanz stehen, aber eine eigene Verwaltung haben sollte, und gelangte damit auch zum Ziele. Das Leipziger Hoftheater wurde am 2. August 1829 mit Shakespeares ›Julius Cäsar‹ eröffnet.

Das neue Unternehmen entfaltete nicht allein viel äußeren Glanz, sondern erweckte auch durch die verhältnismäßige Gediegenheit seiner Aufführungen, in der es der Küstnerschen Periode zum wenigsten nicht nachstand, sogleich günstige Vorurteile für sich. So blieb es denn auch auf die fernere Entwickelung Richards nicht ohne Einfluß, da ihm dessen regelmäßiger Besuch durch die fortgesetzten Beziehungen seiner Familie zum Theater offen stand. [119] Zwar hatte Schwester Luise mit dem Abschluß der Küstnerschen Ära zugleich für immer der Bühnentätigkeit entsagt und war bereits am 16. Juni 1828 mit Friedrich Brockhaus getraut worden; – dafür war nun aber mit der Eröffnung des Hoftheaters Rosalie in dessen Künstlerverband eingetreten. Sie war nicht direkt aus ihrer früheren Prager Stellung in das Leipziger Engagement übergegangen, sondern hatte auf kurze Zeit der Hamburger Bühne angehört und in Darmstadt und Kassel mit Erfolg Gastrollen gegeben,1 ohne sich einstweilen an einen anderen Ort binden zu wollen, als an die Vaterstadt, in welcher die solenne Neubegründung des ›Hoftheaters‹ soeben im Werke war. In ihrer äußeren Erscheinung wird sie uns um diese Zeit übereinstimmend als eine schöne Blondine von zarter, schlanker Gestalt mit wohlklingendem, seelenvollen Organ geschildert; ihr ›Amorköpfchen habe in manchen Kostümen lebhaft an Henriette Sontag erinnert‹. Als Musikdirektor des neuen Unternehmens war der junge Heinrich Dorn, auf Empfehlung Reißigers, angestellt. Er war 1804 zu Königsberg i. Pr. geboren, somit kaum zehn Jahre älter als Wagner; sein jüngerer Stiefbruder, Louis Schindelmeißer, stand mit Richard in einem Alter; freundschaftliche Beziehungen beider zu Wagner ergaben sich durch ihren regelmäßigen Verkehr in Friedrich Brockhaus' gastfreiem Hause.

Der junge Leipziger Musikdirektor entstammte einer wohlsituierten Königsberger Kaufmannsfamilie; sein Stiefvater Schindelmeißer war seinerzeit ein nicht minder wohlhabender Rentier von musikalischen und literarischen Neigungen gewesen, und beiden Brüdern schon früh eine solide, durch keinerlei ungewöhnliche oder geniale Regungen gestörte, musikalische Schulung zuteil geworden. Bereits hatte Dorn zwei von ihm selbst komponierte Opern in Berlin und Königsberg zur Aufführung gebracht, zu deren einer (der ›Bettlerin‹) ihm Holtei den Text gedichtet. Während seiner Leipziger Musikdirektortätigkeit [120] entfaltete er auch, wo sich ihm Gelegenheit dazu bot, eine erfolgreiche Lehrtätigkeit; zu seinen Schülern in der Kompositionslehre gehörte Robert Schumann, der soeben das Studium der Rechtsgelehrsamkeit mit dem der Musik vertauscht hatte; auch bildete er die talentvolle Henriette Wüst aus dem Leipziger Theaterchor zur Sängerin heran.2 An Wagners frühester musikalischer Entwickelung nahm er seinen eigenen Äußerungen zufolge einen regen Anteil, und der Unterschied der Jahre, wie die ihm eigene, damals noch durch keinen Neid auf den Ruhm des jüngeren Musikers beeinträchtigte, joviale Bonhommie, brachte ihn dabei recht ungezwungen in die Stellung eines Gönners und Förderers jugendlich feuriger Bestrebungen. Wiederum war dem, noch tastenden und versuchenden Künstler der Anschluß an das bereits anerkannte Talent, den erprobten Musiker in Amt und Würden, willkommen und Schindelmeißer als Altersgenosse scheint mit seiner offenen, ehrlichen Natur als vermittelndes Bindeglied zwischen beiden gestanden zu haben. Seine Duzfreundschaft mit Wagner wenigstens muß wohl bereits auf diese Leipziger Periode zurückführen, während zu Dorn, bei aller heiteren Kordialität des Verkehrs bei Brockhausens und in ›Reichels Garten‹3 doch noch das Respektverhältnis des jungen Mannes gegen den älteren in dem beiderseitigen ›Sie‹ zum Ausdruck gelangt. Dorns eigene Eindrücke von der jugendlichen Persönlichkeit Wagners hat er später in eindrucksvollen Zügen festgehalten. ›Ich zweifle‹, sagt er, ›daß es zu irgend welcher Zeit einen jungen Tonsetzer gegeben, der mit Beethovens Werken vertrauter gewesen wäre, als der damals siebzehnjährige4 Studiosus Wagner. Des Meisters Ouvertüren besaß er größtenteils in eigenhändig abgeschriebenen Partituren; mit den Sonaten ging er schlafen, mit den Quartetten stand er auf; die Lieder sang er, die Konzerte pfiff er (denn mit dem Spielen wollte es nicht recht vorwärts); kurz es war ein wahrer furor teutonicus, der, gepaart mit höherer wissenschaftlicher Bildung und eigentümlicher geistiger Regsamkeit, kraftvolle Schößlinge zu treiben versprach.‹

Die Eröffnung der neuen Bühne war, wie bereits gemeldet, am 2. August 1829 mit Shakespeares ›Julius Cäsar‹ in der Schlegelschen Übersetzung feierlichst vor sich gegangen Rosalie sprach den Prolog, dann folgte eine von [121] Dorn komponierte Festouvertüre; in der Aufführung selbst war die Darstellung des Brutus durch Rott, sowie die vortrefflich inszenierten Volksszenen, eindrucksvoll. Ein Hauptereignis in den Annalen des Leipziger Hoftheaters aber war die erstmalige Aufführung des Goetheschen ›Faust‹, mit welcher noch im Eröffnungsmonate, am 28. August, mit Rott als Faust und Rosalie als Gretchen, Goethes achtzigster Geburtstag vor einem zum Erdrücken vollen Hause gefeiert wurde. ›Der deutsche Geist schien sich ein wenig aufrütteln zu wollen; das Theater sollte seinen Teil daran haben‹, so gedenkt Wagner dieses merkwürdigen Vorganges. ›Noch lebte der alte Goethe: gutmütige Literaten waren auf den Gedanken gekommen, seinen »Faust« auf das Theater zu bringen. Das edle Gedicht schleppte sich, verstümmelt und unerkennbar, traurig über die Bretter: aber – das Gretchen wurde eine »gute Rolle«; und es schien namentlich der Jugend zu schmeicheln, bei manchem witzigen und kräftigen Worte des Dichters beifällig laut sich vernehmen lassen zu können‹. Seit Klingemann in Braunschweig am 19. Januar desselben Jahres mit dem Gedanken und der Ausführung einer Verpflanzung der Goetheschen Dichtung auf die dortige Hofbühne vorausgegangen war, war den größeren deutschen Theatern die Wiederholung des scheinbar so wohlgeglückten Experimentes nahe gelegt; Dresden, Leipzig und Weimar hatten sich den bedeutungsvollen Ehrentag des greifen Dichters dazu ausersehen. Aus der Umgegend Leipzigs waren zahlreiche Zuschauer zu der Festfeier herbeigeströmt; eine Stunde vor Beginn der Vorstellung war das Haus in allen Räumen von einer gespannten festlichen Versammlung angefüllt. Ein von Tieck gedichteter Prolog eröffnete den Abend. Es war ein ergreifender Moment, als am Schlusse desselben ein donnernder Applaus von Logen und Balkons sich erhob, und die Begeisterung in aller Augen glänzte, im erhebenden Bewußtsein, daß in dem gleichen feierlichen Augenblick ein gleicher Begeisterungsjubel allenthalben durch das ganze weite Deutschland wehte. Die Vorstellung dauerte von 6 bis 1/211 Uhr, und trotz einer drückenden Hitze erfolgte keine Erschöpfung, kein Nachlassen der gehobenen Stimmung. Jedenfalls gehörten die ›auch für Leipzig akzeptierten, nicht unbedeutenden Streichungen Tiecks noch zu den mindesten, Verstümmelungen und Entstellungen‹; dagegen zeichneten sich die damaligen Leipziger Aufführungen durch eine, imponierende, den Verlauf der Katastrophe versinnlichende Schlußgruppe (!) aus: es erschien nämlich über dem armen Gretchen ein schwebender Genius mit der Palme in blauem Licht, über dem am Boden liegenden Faust Mephistopheles, erhöht, in rotem Feuerscheine!

Rosaliens schauspielerische Leistung als Gretchen wird in sämtlichen uns bekannten Zeugnissen über ihre Bühnenlaufbahn (die in einem ziemlich umfänglichen Bande gesammelt vor uns liegen) als die ergreifendste und durchgebildetste unter ihren tragischen Partien geschildert Ebenso übereinstimmend finden wir in den mehrfachen Berichten über diese erstmalige Verkörperung [122] ihrer nachmals hervorragendsten Partie bei ihrem ersten Auftreten einen Mangel an Naivität und eine gewisse Geziertheit gerügt; erst im Fortgang der Handlung habe sie alle Erwartungen übertroffen, und gegen das Ende sei die Leistung eine unwiderstehlich hinreißende gewesen. Ganz Ähnliches lesen wir von ihrer Cordelia in Shakespeares ›König Lear‹.5 Vier Jahre später, als das Gretchen längst ›eine gute Rolle geworden‹ war und zahlreiche Darstellerinnen erhalten hatte, fand Rosaliens Darstellung dieser Rolle an Heinrich Laube einen begeisterten Lobredner: besonders in der Wahnsinnszene. ›Ich habe das Gretchen‹, schrieb Laube ›nie mit so intensiver Kraft der Empfindung spielen sehen. Es ist mir hier zum ersten Male beim Ausbruch von Gretchens Wahnsinn kalt bis ins Mark gedrungen, und ich habe bald eingesehen, woran es liegt. Die meisten Schauspielerinnen schrauben den Wahnsinn zum Pathos, zur Unnatur hinauf, sie sprechen ihn hohl, gespensterhaft Rosalie Wagner sprach ihn mit derselben Stimme, mit der sie kurz zuvor ihre Liebesgedanken gesprochen; dieser grauenhafte Gegensatz brachte die größte Wirkung hervor. Ich meinte einen Augenblick, dieser übermenschliche Schmerz gehöre nicht mehr in das Gebiet der Kunst, und wenn der Wahnsinn so ergreifend dargestellt werden könnte, dürften die Dichter ihn nicht mehr schreiben....‹

In welchem Grade die Faustdichtung dem jungen Richard Wagner schon vor der Leipziger Aufführung nahe getreten sein möge, können wir durch nichts feststellen; daß er aber um diese Zeit beständig damit beschäftigt war, bezeugt uns aus seiner Erinnerung ein damaliger Mitschüler in der Sekunda der Nikolaischule: er habe das Buch immer heimlich unter dem Schultisch liegen gehabt, um es in den (damals von ihm immer grundsätzlicher vernachlässigten) Lehrstunden im günstigen Augenblick hervorzuziehen, und, unbekümmert um alles, was um ihn her vorging, darin zu lesen. Die daran geknüpfte ausführlich mitgeteilte Auseinandersetzung Wagners über einen ›Operntext‹ im Anschluß an Goethes Faust will uns, besonders in der daselbst gewählten kühnen Form der direkten Rede, nicht eben als durchaus authentisch erscheinen; hübsch und natürlich aber ist der Zug, wie Wagner bei dieser Unterhaltung lebhaft und unvermittelt von einem zum anderen überspringt: [123] ›Waren Sie gestern im Theater? – Idomeneo ist langweilig: – mir tun die Sänger leid, die da so einsam mit ihrer Arie vor dem Souffleurkasten stehen, – ringsum nichts als kahle Kulissen und so was wie ein antiker Stuhl, auf den sie sich nicht einmal setzen dürfen‹.6 Doch blieb die Leipziger Oper unter Dorus geschickter Leitung nicht beim ›Idomeneo‹ stecken; und unter den mancherlei Anregungen dieser Periode sind nach des Meisters eigenen Erinnerungen die um diese Zeit zuerst hervortretenden Marschnerschen Opern, wie ›Der Templer und die Jüdin‹ zu nennen,7 die, neben Spontinis ›Vestalin‹ und – Aubers ›Stummen von Portici‹, das Interesse des Publikums dauernd in Anspruch nahmen.

Aubers ›Stumme‹! Noch in den späten Aufzeichnungen, die ihr Wagner im Jahre 1871, nach vier Dezennien widmet, lebt die Erinnerung an ihr erstes Erscheinen mit der gleichen Glut in ihm fort, die sie damals in dem jungen Faust- und Beethoven-Enthusiasten entzündete. Er hat sie jederzeit mit Bestimmtheit für das einzige und wahrhafte Nationalprodukt des französischen Geistes erklärt. ›Ihr Eindruck‹, heißt es in diesem Rückblick, ›warf bei uns alles um. Wir kannten zuletzt die französische Oper nur aus den Produkten der Opéra comique. Soeben war es Boieldieu gewesen, welcher mit seiner, Weißen Dame‹ uns heiter und sinnig erfreut hatte; Auber selbst war uns durch seinen ›Maurer und Schlosser‹ auf das angenehmste unterhaltend geworden; die Pariser ›große Oper‹ hingegen teilte sich uns immer nur noch in dem pathetischen Pompe der ›Vestalin‹ usw. mit und erschien uns, alles in allem, mehr italienisch als französisch. Hier herrschte Steife und Frost: der geheime Fluch des Steifen, Langweiligen lag auf diesem Genre. Aber dies hörte nun plötzlich auf, als die ›Stumme‹ kam. Hier war eine ›große Oper‹, eine vollständige fünfaktige Tragödie, ganz und gar in Musik; aber von Steifheit, hohlem Pathos, oberpriesterlicher Würde und all dem klassischen Kram keine Spur mehr: heiß bis zum Brennen und unterhaltend bis zum Hinreißen. [124] ›Das Neue in dieser Musik zur »Stummen« war diese ungewohnte Konzision und drastische Gedrängtheit der Form: die Rezitative wetterten wie Blitze auf uns los; von ihnen zu den Chorensembles ging es wie im Sturme über; und mitten im Chaos der Wut plötzlich die energischen Ermahnungen zur Besonnenheit oder erneute Aufrufe; dann wieder rasendes Jauchzen, mörderisches Gewühl, und abermals dazwischen ein rührendes Flehen der Angst, oder ein ganzes Volk seine Gebete lispelnd. Wie dem Sujet am Schrecklichsten, aber auch am Zartesten nichts fehlte, so ließ Auber seine Musik jeden Kontrast, jede Mischung, in Konturen und in einem Kolorit von so drastischer Deutlichkeit ausführen, daß man sich nicht entsinnen konnte, eben diese Deutlichkeit je so greifbar wahrgenommen zu haben. Man hätte fast wirkliche Musikbilder vor sich zu sehen geglaubt, und der Begriff des Pittoresken in der Musik konnte hier leicht einen fördernden Anhalt finden, wenn er nicht dem bei weitem zutreffenderen der glücklichsten musikalischen Plastik zu weichen gehabt hätte‹.8

Die erste Aufführung der ›Stummen‹ in Leipzig fand am 28. September 1829 statt; sie wurde bei großem Zudrang und stets überfüllten Häusern jede Woche zwei und dreimal wiederholt. Der Darsteller des Masaniello, Ubrich, leistete namentlich in seinem Spiel, mehr als je ein Tenorist ›den wir auf unserem Theater in den letzten Jahren gesehen haben‹ (Abdz.). Rosalie gab die Rolle der Stummen mit mehr Leidenschaft, als ihrer vorwiegend zarten Natur sonst zu eigen war, so daß aus dem leidenden, passiven Charakter fast ein aktiv-heroischer wurde. Sie errang ›durch tiefe leidenschaftliche Auffassung und vorzüglich durch einen ganz ausgezeichneten musikalischen Takt den fortwährenden stürmischen Beifall des ganzen Hauses und überraschte durch sinnige und deutsame Darstellung einzelner Momente‹. So war es (nach einer gleichzeitigen Schilderung) ›höchst ergreifend, wie sie auf den für Elviren errichteten Thron stieg, um besser die geöffnete Kirche übersehen zu können, und nachdem sie den treulosen Geliebten mit ihrer Nebenbuhlerin deutlich am Altare erblickt, mit einem halb erstickten Schrei des heftigsten Schmerzes auf den Stufen zusammenbrach. Die Beschreibung ihres Herablassens aus dem Gefängnis hatte eine Anschaulichkeit, wie wir sie der Pantomime nie zugetraut hätten, und entfesselte einen wahren Sturm von Applaus, wie die Darstellerin überhaupt in den meisten Szenen wiederholt unterbrochen und mit Beifall überschüttet wurde. Nicht minder wirksam war das tief erschütternde Geständnis ihres Unglücks, welches sie dem Bruder ablegt; und das furchtbare zweite Zusammentreffen mit Alfonso und Elviren machte die tiefaufgefaßte psychologische Wahrheit ganz deutlich, daß die heftig, bis an die Grenzen der Raserei liebende Neapolitanerin in diesem Augenblicke, von einem Rest ihrer heißen [125] Liebe zu dem Verräter geblendet, im ersten Moment ihre ganze Wut gegen die beglückte Nebenbuhlerin kehrt, bis dann ihr edleres Selbst erwacht und sie sich vornimmt, beide zu retten‹.9 Die Ensembles, die Leistungen der Chöre und des Orchesters unter Dorns damals noch von jugendlichem Feuer erfüllter Leitung taten das ihre zu einer lebendigen Wiedergabe des ganzen vulkanisch heißen Werkes mit seiner funkensprühenden revolutionären Leidenschaft; und wenn es auf Wagners eigene künstlerische Bestrebungen damals noch keinen unmittelbar bestimmenden Einfluß ausübte, so blieb doch der davon gewonnene Eindruck tief und nachhaltig und trat in einer folgenden Periode desto entschiedener hervor.

Sehr anders bestellt war es mit dem nicht lange darauf (August 1830) hervortretenden Rossinischen ›Tell‹. ›Wer das Erscheinen der Stummen auf den deutschen Theatern erlebt hat, weiß von dem ganz erstaunlichen Eindrucke davon zu berichten, während es mit dem »Tell« nicht recht gehen wollte‹, mit diesen Worten stellt Wagner die öffentliche Wirkung beider Werke bei ihrem ersten Auftauchen vor dem deutschen Publikum einander gegenüber. ›Den Tell hatte man in Paris zu einem Operntext gemacht, und kein Geringerer als Rossini selbst hatte diesen in Musik gesetzt. Es frug sich nur, ob man es sich unterstehen dürfe, dem Deutschen seinen »Tell« als übersetzte französische Oper zu bieten? Jeder Deutsche, vom Professor bis zum untersten Gymnasiasten hinab, selbst die Komödianten, empfanden die Schmach, die ihnen mit der Vorführung dieser widerlichen Entstellung ihres eigenen besten Grundwesens geschah: aber, – nun – eine Oper, – mit der nimmt man es nicht so genau! Die Ouvertüre mit der rauschenden Balletmusik am Schlusse war bereits in den klassischen Konzertanstalten, dicht neben der Beethovenschen Symphonie, mit unerhörtem Jubel aufgenommen worden. Man drückte ein Auge zu. Am Ende ging es doch immer sehr patriotisch darin her; Rossini hatte sich bemüht, so gediegen wie möglich zu komponieren: man konnte wirklich bei diesen hinreißend wirkungsvollen Musikstücken den ganzen »Tell« eigentlich vergessen‹. In der Tat war anfänglich die so natürliche Abneigung dagegen, das zu höchster Popularität gelangte Werk des deutschen Dichters zur italienisch-französischen Oper entstellt zu sehen, in der damaligen gebildeten bürgerlichen Gesellschaft Leipzigs das Vorherrschende und tritt uns aus manchen öffentlichen Äußerungen entgegen: trotz der prachtvollen dekorativen Ausstattung ›schien sich das Publikum zu langweilen‹ und kargte mit seinen Beifallsbezeugungen.10 Charakteristisch ist die Vergleichung der gleichzeitigen Aufnahme [126] des Rossinischen Werkes in Dresden und Leipzig: hier Lauheit, dort Begeisterung; hier alsbald unvermeidliche Kürzungen, dort Verteilung der Oper auf zwei Abende, um keine ihrer musikalischen Kostbarkeiten zu verlieren; offenbar war um diese Zeit die Empfindung des Leipziger Publikums unverdorbener, als die der durch langjährige italianisierende Tradition beeinflußten sächsischen Residenz.

Zu solchen künstlerisch-theatralischen Erlebnissen brachte nun aber das aufgeregte Jahr 1830 noch ganz andere Eindrücke des realen geschichtlichen Lebens Bereits hatten politische Vorgänge hin und wieder auf den feurig jugendlichen Geist Wagners eingewirkt und ihn immer lebhaft für den leidenden Teil interessiert. Nun aber kam die Pariser Julirevolution. Der ganz Europa in Bewegung versetzende Vorgang tat das seine, ihn mit einem Schlage zum ›Revolutionär‹ zu machen Wohl mochte die ›Stumme‹ an ihrem Teil zu solcher Stimmung mitgewirkt haben. Wie sie in der Kunst selbst dem bloßen Genußleben und der Behaglichkeit der Restauration ein Ende machte und Rossinis ausschließliche Herrschaft zu stürzen begann, konnte sie sehr wohl als der ›theatralische Vorläufer der Julirevolution‹ betrachtet werden und spielte denn auch in der belgischen Revolution ihre dem entsprechende geschichtliche Rolle. Nichtsdestoweniger würden wir irren, wenn wir uns den siebzehnjährigen Wagner gerade in seinen Lebensanschauungen und -Äußerungen von spezifisch künstlerischen Voraussetzungen geleitet dächten. Vielmehr war das Umgekehrte schon früh bei ihm der Fall ›Das, was den Künstler als solchen zuerst bestimmt, sind jedenfalls die rein künstlerischen Eindrücke‹, sagt er selbst. ›Wird seine Empfängniskraft durch sie vollständig absorbiert, so werden die späteren Lebenseindrücke sein Vermögen bereits erschöpft finden; er wird sich als absoluter Künstler nach der Richtung hin entwickeln, die wir als die weibliche zu bezeichnen haben: hier spielt die Kunst mit sich selbst und zieht sich vor jeder Berührung mit der Wirklichkeit empfindlich zurück‹. Als das männ liche, zeugungsfähige Element der Kunst galt ihm dagegen diejenige künstlerische Betätigung, in welcher die Wirklichkeit selbst den Künstler und durch ihn die Kunst bestimmt und gestaltet, in rückhaltloser Hingabe an die Erscheinungen, die sein Empfindungswesen sympathetisch berühren. ›Das Leben selbst aber drängte sich mit aufregenden und berauschenden Eindrücken an mich heran, als gerade in meiner Geburtsstadt Leipzig die Wirkungen [127] der Julirevolution sich in vollständigen Studentenkrawallen und Arbeiterunruhen äußerten.‹11

Wir geben deshalb an dieser Stelle nach den gleichzeitigen Berichten ein Bild dieser Leipziger Volksbewegungen, wie sie, gleichsam zur Illustration der fernen Pariser Vorgänge, in den ersten Septembertagen 1830 in unmittelbarer Nähe und gleichsam unter den Augen Wagners sich abspielten, und, insofern auch sein eigener Schwager Friedrich Brockhaus mit dadurch betroffen wurde, für ihn sogar ein ganz persönliches Interesse gewannen. Seit langer Zeit gährte in der Leipziger Bevölkerung eine heimlich fortwirkende Unzufriedenheit gegen das vereinigte Kriminal- und Polizeiamt, an dessen Spitze damals als Polizeipräsident und kgl. Kommissarius ein Herr von Ende stand. Es galt in seiner ganzen Organisation wie in den einzelnen Zweigen seiner Verwaltung für ebenso kostspielig als fehlerhaft: man sprach von ungeheueren Summen, die es alljährlich verschlinge, – wie nicht minder die Erhaltung einer völlig überflüssigen, durch eine angemessene Garnison leicht zu ersetzenden Stadtwache Mißstände aller Art schlossen sich daran; die unter den Auspizien des Magistrats und der Polizeiverwaltung um sich greifende förmliche Organisation von Spielhöllen – die kleinen Tripots, ›Ratten‹ genannt, gar nicht gerechnet – und anderen übelbeleumdeten Vergnügungslokalen erregte viel öffentliches Ärgernis. Man erwartete eine Revision durch einen von Dresden aus zu sendenden außerordentlichen Regierungskommissar; die Verzögerung seiner Ankunft vermehrte die berechtigte Ungeduld. Im Arbeiterstande herrschte Unzufriedenheit mit dem Magistrat, wegen rücksichtsloser Schädigung seiner Interessen durch auswärtige Bestellungen für kommunale Anstalten; die akademische Jugend war verletzt durch eine, die Würde des Rektors der Universität beeinträchtigende Rechtsstellung des kgl. Kommissarius: man wünschte eine uneingeschränkte Zurückgabe der polizeilichen Beaufsichtigung der Studierenden an das Universitätsgericht.

In allen Schichten der Bürgerschaft war reichlicher Zündstoff angesammelt; kleine Veranlassungen führten zu offenbaren Zusammenrottungen gegen Polizeidiener und Gensdarmen. Am 2. September kam es bei einem Zusammenlauf im Brühl, wo eine Familie einen sogenannten ›Polterabend‹ feierte und zahlreiches Volk auf der Straße sich einfand, zu Tätlichkeiten gegen die Polizei, die durch die Mitwirkung handfester Schlosser- und Schmiedegesellen sehr zu deren Nachteil ausfielen: es gab blutige Köpfe und einen eklatanten Rückzug. Am späten Abend, gerade als eine Mondfinsternis total wurde, verfinsterte man auch die Straßen durch Zerbrechen der Laternen; die Menge setzte sich in Bewegung gegen das Haus des Polizeipräsidenten, bestürmte dessen Wohnung und warf ihm die Fenster ein, manches unbeliebte Glied des Stadtrats [128] wurde ausgepfiffen usw. Die Gährung der folgenden Tage war groß: die verfänglichsten Aufforderungen wider den Rat und die Polizeiverwaltung wurden, trotz aller Zensurmaßregeln, in den öffentlichen Blättern und durch Anschläge laut. Die Studentenverbindung ›Saxonia‹ berief ihre Korpsmitglieder zur Beratung ein; Gesellen und Arbeiter, aus der Umgebung der Stadt und den umliegenden Orten, waren zu Hunderten eingezogen und füllten, sobald der Abend dunkelte, in drohenden Gruppen den Markt und die Gassen. Die Fenster mißliebiger Magistratspersonen wurden eingeworfen, das Innere der Wohnungen durch Steinwürfe demoliert; in manchen Gegenden verschwand das Straßenpflaster im Nu. Ein Pikett Reiterei machte seine Patrouillen, empfing keine Beleidigung, war aber zu schwach und ohne Befehl, Gewalt zu gebrauchen. Noch zahlreicher waren die Volkshaufen am Abend des 4. September, der helle Mondschein begrüßte die offen einherziehenden Tumultuanten. Die Freilassung der im Polizeigefängnis befindlichen Verhafteten der letzten Tage wurde durch Übermacht erzwungen, lärmend zogen die Ruhestörer durch die Gassen; zerteilten sich in mehrere Haufen, zersprengten die Polizeipatrouillen, brachen mit wütendem Geschrei und Toben in die Wohnungen mehrerer zum Rat und Polizeibureau gehörigen Beamten, zerstörten, was sie darin an Mobiliar und Effekten fanden, oder warfen es zum Fenster hinaus. Einige übelberüchtigte Häuser in den Vorstädten, worin namhafte Magistratspersonen ihr notorisches Absteigequartier hatten, wurden mit Hilfe eiserner Stangen in wenigen Stunden von Grund aus abgetragen; dasselbe Schicksal traf die Villa des Bankiers und Ratsbaumeisters Erkel in Gohlis. Dabei war es nirgends auf Plündern abgesehen, es sollte nur Volksrache geübt werden; ergriffene Diebe wurden sogleich von den Meuterern selbst bestraft. Ein lebhafter Unwille der erregten Volksmasse richtete sich gegen die den Arbeitern verhaßten Maschinen; ein tobender Hause zog vor die Brockhaussche Druckerei, um die darin befindlichen Schnellpressen zu zerstören. Es gelang Friedrich Brockhaus' persönlicher Tapferkeit, durch Vorstellungen den Sturm zu beschwören, indem er nachwies, daß er über hundertundzwanzig Menschen täglich beschäftige, und das Versprechen abgab, die Maschinen in den nächsten vier Wochen nicht arbeiten lassen zu wollen.

Am folgenden Sonntag Morgen erneuerte sich der Tumult und das Häuserschleifen. Jetzt bewaffnete sich endlich die Bürgerschaft, nach einer feierlichen Beratung auf dem Rathause, und formierte unter der Oberleitung des Stadthauptmanns Frege eine provisorische Munizipal- und Nationalgarde; die Universität erteilte den Studierenden Erlaubnis zur Waffenführung und forderte sie auf, an der Verteidigung der Stadt gegen Anarchie teilzunehmen. Der Rektor Krug hatte schon Tags zuvor einige, wegen anderer Ursachen im Universitätsgefängnis sitzende Studierende gegen Handgelöbnis losgelassen, um dem Pöbel keine Veranlassung zu geben, auch hier Gefangene befreien zu [129] wollen. Er berief nunmehr nach dem Frühgottesdienst den akademischen Senat und alle Studierenden in die Universitätskirche im Paulinum, stellte ihnen in kräftiger Ansprache die Notwendigkeit vor, zur Erhaltung der Ruhe und Ordnung tätigst mitzuwirken, und empfing ihre begeisterte Zustimmung. Nachmittags um 5 Uhr zogen die Studenten in sechs bewaffneten Abteilungen, mit weißen Binden um den Arm und der Losung: leges et ordo, aus dem Paulinerhofe, patrouillierten abwechselnd mit den Schützengilden und der Bürgergarde und besorgten zugleich mit jenen die Wachen und Sicherheitsposten Polizei und Stadtsoldaten waren verschwunden; die Stadttore von bewaffneten Studenten besetzt, die sich ihrer vaterlandrettenden Würde wohl bewußt waren und durch gütliches Zureden manche noch drohende Exzesse verhinderten.

Inzwischen waren die eingetroffenen Regierungskommissare bemüht, durch zweckdienliche Untersuchungen und Vorkehrungen die noch aufgeregten Gemüter zu beruhigen. Das Wort ›Polizei‹ wurde gänzlich proskribiert; es wurde eine vom Kriminalamt getrennte Sicherheitsdeputation aus den Behörden der Universität, des Kreisamts und der Bürgerschaft zusammengesetzt. Mehr als alles aber erregte die nicht lange darauf bekannt gemachte Ernennung des durch Aufklärung, Toleranz und Popularität allgemein beliebten Prinzen Friedrich12 zum Mitregenten des Königs Anton, die Entlassung des Kabinettsministers v. Einsiedel und die Ernennung des früheren Bundestagsgesandten von Lindenau an seiner Statt in ganz Sachsen einen allgemeinen Jubel. Die Proklamation erfolgte in Leipzig am Mittag des 15. September; abends war die Stadt glänzend erleuchtet. Die Schützengilden, im Verein mit Studierenden und Bürgern, zogen im Parademarsch mit klingendem Spiel durch die Straßen und brachten auf der Esplanade dem Prinzen Friedrich ein Vivat; der Jubel dauerte bis spät nach Mitternacht; man schmeichelte sich mit dem Gedanken, daß in Sachsen ein neues Staatsleben beginne.

Alle diese mannigfach erregenden Ereignisse, der Glanz des Studententums und seine entscheidende Mitwirkung in den Tagen der Gefahr, der endliche Sieg der Volkssache, fanden in Richards Innerem einen lebhaften Widerhall Seine rege Teilnahme an den öffentlichen Vorgängen stieß bei den Seinigen auf keinen Widerstand; selbst der alte Onkel erfreute sich des inmitten aller abnormen Regungen sich bildenden ›Gemeingeistes‹ und belobte das mannigfache Gute, welches das Leipziger ›Revolutiönchen‹ mit sich gebracht: ›innerhalb der allgemeinen Lethargie manches Heilsame zur Sprache, den sträflich übermütigen, selbstgenügsamen Materialismus der kaufmännischen Welt aber vor die Hunde gebracht zu haben. Von oben sei der Wille gut und rechtschaffen, und wenn noch Dissonanzen des alten aristokratischen Kolbenregiments [130] mit durchgingen, so seien diese doch dazu bestimmt, wie in der Musik, kontrapunktisch gelöst zu werden‹. Die gleichzeitigen Erhebungen in allen Teilen des Vaterlandes, in Braunschweig, Hessen, Hannover bestärkte den plötzlich in die geschichtlichen Ereignisse Gezogenen vollends in dem Glauben an die siegreiche Mission des Liberalismus. Er gelangte zu der festen Überzeugung, jeder halbwegs strebsame Mensch bekunde sich als solcher erst durch lebhafte Anteilnahme, wenn nicht ausschließliche Beschäftigung mit der Politik. Ihm war ›nur noch im Verkehr mit politischen Literaten wohl‹, und ›wie sich heftige Lebenseindrücke schon jetzt bei ihm in Kunsttaten umzusetzen begannen, fing er auch die Komposition einer Ouvertüre an, die ein, politisches Thema‹ behandelte.

Über alledem hatte für ihn die Zeit seines Verbleibens in der Nikolaischule ihr Ende erreicht. Bereits im Vorjahr (am 29. November 1829) war die altberühmte Thomana mit einer glänzenden Feier ihres hundertjährigen Bestehens in dem vollendeten Neubau, zu dessen Errichtung Rat und Magistrat keine Kosten gescheut hatten, wieder eröffnet; im Herbst 1830 trat Richard Wagner, nachdem er es in der Nikolaischule nicht über die Sekunda hinaus gebracht, in die erste Klasse der Thomasschule ein. Nichtsdestoweniger war die Lust zu regelmäßigen Schulstudien in ihm erlahmt: er fühlte sich nur noch als Musiker und stand als solcher unter dem Bann und Zeichen des großen Beethoven, der ihm doch, trotz aller Verehrung Mozarts, stets der Meister aller Meister blieb. In dieser Beziehung ist das von uns bereits (S. 121) angeführte Zeugnis Dorns über sein damaliges Verhältnis zu Beethoven von besonderem Wert, wonach er dessen Instrumentalwerke großenteils in eigenhändig abgeschriebenen Partituren besessen habe.

Auch seiner, im Dachstübchen des Pichhofs über diesen Abschriften und Studien in flammender Begeisterung durchwachten Jünglingsnächte haben wir bereits nach seinen eigenen Worten gedacht. Diesen Studien verdankte er, wie er selbst sagt ›Das, was er bei keinem Lehrer hätte lernen können: das praktische Verständnis und das gründliche Eindringen in Beethovens heilige Mysterien.‹ Insbesondere war es nun die neunte Symphonie gewesen, deren geheimnisvolle Seiten ihn bei nächtlicher Lampe in mystische Schwärmerei versetzten. Von ihr hatte er sich, so wenig er sonst vom Klavierspiel hielt, für den eigenen Gebrauch ein Arrangement zu zwei Händen ausgearbeitet. Um so erstaunter war er freilich, nachdem er auf seine Weise von innen heraus das Wunderwerk sich zu eigen gemacht, von einer Aufführung im Gewandhause, wo es zum Ehrenpunkt gehörte, auch diese Symphonie gelegentlich mit aufzuführen, nur die allerkonfusesten Eindrücke zu erhalten, – die ihn fast an ihrem Schöpfer irre werden ließen. Auf dieses Arrangement bezieht sich denn auch ein am 6. Oktober 1830 an die Firma Gebr. Schott in Mainz gerichtetes Schreiben, den bis jetzt frühesten, öffentlich bekannt gewordenen Brief Wagners, [131] der im Original ›schon deutlich den Duktus der später so berühmten Handschrift aufweist.‹ Er trägt damit den damaligen Hauptverlegern von Beethovens Werken die soeben erwähnte Klavierbegleitung der neunten Symphonie, zunächst des ersten Satzes derselben, zur Veröffentlichung an. ›Schon lange‹, heißt es darin ›habe ich mir Beethovens letzte herrliche Symphonie zum Gegenstand meines tiefsten Studiums gemacht, und je mehr ich mit dem hohen Werte des Werkes bekannt wurde, desto mehr betrübte es mich, daß dies noch vom größten Teile des musikalischen Publikums so sehr verkannt, so sehr unbeachtet sei. Der Weg nun, dieses Meisterwerk eingängiger zu machen, schien mir eine zweckmäßige Einrichtung für den Flügel, die ich zu meinem größten Bedauern noch nie antraf; (denn jenes Czernysche vierhändige Arrangement kann doch füglich nimmer genügen). In großer Begeisterung wagte ich mich daher selbst an einen Versuch, diese Symphonie für zwei Hände einzurichten, und so ist es mir bis jetzt gelungen, den ersten und fast schwierigsten Satz mit möglichster Klarheit und Fülle zu arrangieren. Ich wende mich daher mit dem Antrag an die resp. Verlagshandlung, indem ich frage, ob sie geneigt sein würde ein solches Arrangement aufzunehmen? (Dann natürlich möchte ich mich jetzt nicht ferner einer so mühevollen Arbeit ohne diese Gewißheit unterziehen.) Sobald ich dieser versichert sein werde, setze ich mich unverzüglich an die Arbeit, um das Angefangene zu vollenden Daher bitte ich ergebenst um schleunige Antwort; was mich betrifft, soll Ew. Wohlgeb. des größten Eifers versichert sein.‹ Als Adresse ist angegeben: ›Leipzig, im Pichhof, vorm Hallischen Tore 1. Treppe.‹13 Die erbetene schleunige Antwort erfolgte erst zwei volle Monate später, am 8. Dezember 1830 und führte nicht zu dem erwünschten Ergebnis. Nichtsdestoweniger war inzwischen die einmal aufgenommene Arbeit dennoch fortgeführt und durch alle vier Sätze des gewaltigen Tonwerkes hindurch zum Abschluß gebracht; auch werden wir weiterhin sehen, daß sich der junge Musiker durch die, wie es scheint, zunächst mehr ausweichend, als ablehnend gehaltene Antwort von seiner Absicht einer Veröffentlichung derselben durch das Schottsche Verlagshaus nicht endgültig abgeschreckt fühlte.

Aber auch eigene Kompositionen, Ouvertüren für großes Orchester, entstehen um eben diese Zeit. Es kostete ihn keine allzu große Überredung, Dorn zur Aufführung einer dieser Ouvertüren (B dur 6/8) im Hoftheater zu bewegen. ›Die kleine, in Oktavformat zierlich mit zwei verschiedenen Tinten geschriebene und in drei Abteilungen für Saiten-, Holzblas- und Blechinstrumente gegliederte Partitur steht mir noch ganz deutlich vor Augen‹, erzählt Dorn mehr als [132] dreißig Jahre später,14 ›sie barg in sich bereits die Keime all der großen Effekte, welche später die ganze musikalische Welt in Aufregung versetzen sollten‹. Wagner hatte sie eigentlich, zum besseren Verständnis dessen, der die Partitur etwa studieren wollte, mit drei verschiedenen Tinten schreiben wollen: die Streichinstrumente rot, die Holzblasinstrumente grün und die Blechinstrumente schwarz. Es war eine Arbeit, auf welche der jugendliche Künstler große Stücke hielt, wenn er sie auch später als den Kulminationspunkt seiner damaligen Unsinnigkeiten bezeichnete: ›Beethovens neunte Symphonie sollte eine Pleyelsche Sonate gegen diese wunderbar kombinierte Ouvertüre sein.‹ In Wahrheit hatte es mit dieser instrumentalen Anordnung eine eigene nicht zu unterschätzende innere Bewandtnis. Die Einteilung der Orchesterinstrumente nach ihrer Verwandtschaft in die drei gesonderten Hauptgruppen der Streich-, Rohr- und Blechinstrumente (statt ihrer bisherigen Teilung und Vereinigung nach konventionellen oder willkürlichen Regeln und Anforderungen), ihre Gruppierung nach Familien, unter sorgfältiger Anpassung des Charakters ihrer Klangfarbe an die Situationen und Charaktere seiner Dramen, ist eine der am meisten ins Auge springenden Neuerungen Wagners in der Instrumentation, und macht sich beim ersten Überblick seiner Partituren bemerklich. Die Verfolgung des in diesem frühen Jugendwerk zuerst durchgeführten Klangparallelismus mußte ihn mit der Zeit notwendig dazu führen, in seiner Orchestersprache Instrumente mit einander zu verschmelzen, die gewöhnlich einzeln angewandt wurden, und andere untrennbar dazwischen einzuflechten, durch dieses Verfahren aber das instrumentale Ausdrucksvermögen zu einer bis dahin ungeahnten Klarheit und Mannigfaltigkeit zu steigern.15

Als Dorn in der Probe die Ouvertüre vornahm, hatte er Mühe, den sich dagegen erhebenden Widerspruch des Orchesters zu beschwichtigen. Den alten Konzertmeister Matthäi an der Spitze, wollte es sich (nach Dorns Erzählung) vor Lachen darüber ausschütten und erklärte das ganze Tonwerk des unbekannten jungen Menschen für baren Unsinn. Nichtsdestoweniger wurde es, da der Dirigent darauf bestand ›vormittags gründlich probiert und abends glatt ausgeführt‹. Bei der Aufführung schadete der Wirkung besonders ein durch die ganze Ouvertüre alle vier Takte wiederkehrender Paukenschlag im Fortissimo. Aus anfänglicher Verwunderung über die Hartnäckigkeit des Paukenschlägers gingen die Zuhörer in unverhohlenen Unwillen, schließlich in eine den Komponisten tief betrübende Heiterkeit über. ›Das verdutzte Publikum wußte nicht wie ihm geschah, als die Spieler nach einem langen, wirren [133] Durcheinander plötzlich ihre Instrumente weglegten, weil ihre Arbeit vorüber war; man glaubte immer noch, es würde irgend etwas Annehmbares kommen.‹ So berichtet Dorn. ›Aber es war etwas in dieser Komposition‹, fügt er hinzu, ›was mir Achtung abgenötigt hatte, und ich tröstete den sichtlich betretenen Autor aus Überzeugung mit der Zukunft‹. Nach einer anderen Dornschen Version habe Wagner zu dem Abfall seines Erstlingswerkes herzlich mitgelacht und ihr Schicksal für gerecht gehalten. Zwischen beiden Angaben besteht ein scheinbarer Widerspruch, dessen Lösung wir getrost dem Leser überlassen. Wagner selbst sagte darüber nur: ›Diese erste Aufführung eines von mir komponierten Stückes hinterließ auf mich einen großen Eindruck‹. Er machte Tags darauf Dorn einen Besuch, um ihm für seine Gefälligkeit zu danken; da versicherte ihm dieser, er habe sein Talent sehr wohl herausgefühlt und sich namentlich darüber gefreut, auch nicht eine Note haben ändern zu müssen, wie das sonst bei Erstlingswerken gerade in der Orchestration nötig zu sein pflege; er erwarte das Beste von seiner Zukunft. Auch eine anerkennende öffentliche Erwähnung in der von Herlossohn herausgegebenen Zeitschrift ›der Komet‹ soll, auf Dorns Veranlassung, der Ouvertüre zuteil geworden sein; uns ist dieselbe nicht zu Gesicht gekommen.

Mächtig regte sich in ihm der schaffende Künstler und Musiker; die betrübende erste Kritik seiner Bestrebungen durch die Öffentlichkeit schreckte ihn nicht von dem betretenen Pfade zurück. Er fühlte sich nicht mehr als Schüler und war es in der Tat nicht mehr; aber auch bei seinem bald darauf erfolgenden Übertritt aus der Thomasschule an die Universität lockte ihn alles in allem gewiß weniger der unmittelbare Trieb zur Erweiterung seiner wissenschaftlichen Kenntnisse, als der Drang nach Abschüttelung jeder Art drückenden Schulzwanges in der freieren Sphäre studentischer Ungebundenheit. Er wartete deshalb den Schluß des Schulsemesters – zu Ostern 1831 – auch gar nicht erst ab; wir finden ihn vielmehr schon unter dem Datum des 23. Februar bei der Universität Leipzig als Studenten inskribiert. Einem Fakultätsstudium sich zu widmen, war dabei seine Absicht nicht; denn zur Musik fühlte er sich bestimmt; wohl aber hatte er den Wunsch, allgemein bildende Fächer, wie Philosophie und Ästhetik, zu hören, die auch dem Künstler von Wert sein mußten.

Fußnoten

1 Über ihr Auftreten in Darmstadt (Mai 1828) lesen wir in einer Korrespondenz der ›Abendzeitung‹: ›Obgleich dieser jungen Künstlerin ein bedeutender Ruf voranging, so übertraf Dem. Wagner in einer großen Zahl von Gastrollen die Erwartungen des Publikums. Sie ist eine höchst anmutige Erscheinung, eine zarte, jugendliche Gestalt mit einem angenehmen Organ, das zum Herzen spricht... Porzia im »Kaufmann von Venedig« wurde unter die gelungensten Leistungen unseres Gastes gesetzt, und sie ist es wirklich... Es sind von seiten unserer Intendanz Schritte gemacht worden, diese ausgezeichnete junge Künstlerin auf immer für unsere Hofbühne zu gewinnen; das Publikum hat sich für Dlle. Wagner so entschieden, wie lange für keine andere, ausgesprochen.‹ Und in einem Bericht aus Kassel: ›Dem. Rosalie Wagner, vom Hamburger Stadttheater, gastierte in fünf verschiedenen Rollen und zeigte sich in jeder derselben als denkende Künstlerin. Jeder dieser Charaktere war ein vollendetes Ganze, aber die Palme möchte ich ihr für ihre Darstellung der Porzia reichen, weil unser Gast Shakespeare in den kleinsten Nuancen verstanden zu haben schien... Wie ich höre, soll dem gern gesehenen Gaste ein vorteilhaftes Engagement von unserer Direktion angetragen worden sein; es wäre zu wünschen, daß sie es annähme‹ (Abendzeitg. Nr. 127 v. 28. Mai 1829).


2 Sie machte ihren ersten Versuch als Zerline im ›Don Juan‹ im Dezember 1829, ging 1833 an das Dresdener Hoftheater, empfing hier ihre völlige Ausbildung durch den berühmten Gesangmeister Miecksch und war bei der ersten Aufführung des ›Rienzi‹ (19. Oktober 1842) die Darstellerin der ›Irene‹.


3 Vgl. die Erwähnung in einem Briefe an Schindelmeißer vom 1. Mai 1852: ›Vielleicht teilst du mir einmal etwas über deinen Bruder mit – aus Erinnerung an Reichels Garten in Leipzig?‹ – Es kann hiermit indes doch nur die spätere Familienwohnung (der Mutter und Rosaliens) vom Oktober 1835 ab, gemeint sein.


4 Dorn schreibt allerdings ›achtzehnjährige‹; aber bei seiner ersten Bekanntschaft mit Wagner (1829) stand dieser tatsächlich erst in seinem siebzehnten Lebensjahre.


5 ›Ihre erste Szene krankte an unziemlicher Hypernaivität; dagegen war in der Katastrophe Natur, Seele, Innigkeit des poetischen Gefühles, was den erfreulichsten Beweis für ein der Künstlerin innewohnendes freieres schönes Talent liefert‹ (Abendzeitung). Um übrigens hier nicht in Gefahr zu kommen, die mehr oder weniger subjektiven Stimmen damaliger Rezensenten ohne Einschränkung zu verewigen (welchen doch an sich nicht mehr Bedeutung als den heutigen zugeschrieben werden kann), sei hier aus mündlicher Überlieferung von Augenzeugen festgehalten, worin eigentlich die mehrfach in Rosaliens Leistungen hervorgehobene ›Geziertheit‹ oder ›Manier‹ bestand: nämlich in einer zu großen Detaillierung und Ausarbeitung des Einzelnen in Phrase und Vers.


6 Siehe A. Löhn-Siegel, ›Richard Wagner auf der Nikolaischule in Leipzig‹, in Kürschners Jahrbuch 1886, S. 72–73.


7 Wir finden bei einem älteren Wagner-Biographen auch die Angabe, Wagner habe 1829 im Leipziger Hoftheater Marschners ›Hans Heiling‹ gehört. Die orchestrale Einleitung und die stimmungsvolle, tiefpoetische Romanze soll auf ihn, der die Oper, als sechzehnjähriger Jüngling zum ersten Male hörte ›einen ungeheuern, nachhaltigen Eindruck gemacht und energisch in seinen Bildungsgang und seine Anschauungsweise eingegriffen haben‹. Nun steht aber diese Darstellung in unlösbarem Widerspruch mit der einfachen Tatsache, daß die erste Leipziger Aufführung des ›Hans Heiling‹, unter persönlicher Leitung Marschners, als damaligen kgl. hannöverschen Kapellmeisters, erst am 19. Juli 1833 stattfand; mithin zu einer Zeit, wo sie Wagner auch noch nicht einmal hören konnte, da er um die gleiche Zeit in Würzburg als Chordirektor wirkte. Wir müssen somit für diese Epoche uns schon ohne den nachhaltigen Eindruck des ›Hans Heiling‹ begnügen, und die von Marschner empfangenen frühesten Eindrücke auf den ›Templer und die Jüdin‹ reduzieren, da auch der ›Vampyr‹ (›Mondschein tuts freilich!‹) in eine etwas spätere Zeit fällt!


8 Wagner, Gesammelte Schriften IX, S. 56/58.


9 Wir entnehmen diese eingehendere Analyse von Rosaliens Darstellung der ›Stummen‹ einem Theaterbericht der ›Abendzeitung‹ vom 4. Oktober 1832 aus Prag, gelegentlich eines dortigen Gastspiels der Künstlerin.


10 ›Die großen Erwartungen, mit denen man seit langem dieser Oper entgegengesehen hatte, wurden weder durch die Musik noch durch den Text gerechtfertigt. Man möchte Schiller bedauern, daß sein schönes Trauerspiel (sic) eine so erbärmliche Umgestaltung erfahren hat! Unmäßige Längen veranlaßten die Direktion bei den zwei bald aufeinanderfolgenden Vorstellungen zu Auslassungen. Nichtsdestoweniger schien sich das Publikum zu langweilen, und der Beifall war und blieb mittelmäßig. Schade nur, daß die Direktion für die äußere prachtvolle Ausschmückung in Kostüm und Dekorationen keine Kosten gescheut hatte...‹ (Leipziger Korrespondenz der Abendzeitung, September 1830).


11 Das letztere Zitat aus Richard Wagners ›Lebensbericht‹, S. 17.


12 Des nachmaligen Königs Friedrich August II.


13 Der Originalbrief trägt auf der Rückseite den Vermerk seitens der Firma: ›Richard Wagner, Leipzig 6. Okt. 1830, geschr. 8. Dezbr.‹, welche letztere Notiz sich ersichtlich auf die verzögerte, aber noch in demselben Jahre erfolgte Antwort bezieht.


14 D. h. Dorn hat die Geschichte dieser Aufführung wenigstens dreimal zu verschiedenen Zeiten berichtet: zuerst in der Schumannschen Zeitschrift für Musik 1838, II, Nr. 7; dann in den sechziger Jahren in einer Broschüre ›Aus meinem Leben‹ II, 2; zuletzt in einem Feuilleton der Spenerschen Zeitung 1873; vermutlich außerdem noch an andern Orten.


15 Vgl. Liszt, ›Lohengrin et Tannhäuser de Richard Wagner‹ (Leipzig 1851), S. 106/7.

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 119-134.
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