V.

Rosalie Wagner.

[254] Das Tannhäuser-Naturell. – Schwierige äußere Verhältnisse. – Leipzig: Versuche, das ›Liebesverbot‹ zur Aufführung zu bringen. – Sorgende Teilnahme der Schwester Rosalie. – Ihre zeitweilige Zurücksetzung als Darstellerin. – Verheiratung mit Oswald Marbach. – Geburt einer Tochter und plötzlicher Tod Rosaliens.


Muß dem Künstler eine besonders erregte Leidenschaftlichkeit zugesprochen werden, so büßt er diese dadurch, daß nur Er darunter zu leiden hat, während der Kaltblütige sich immer die Wolle zu seiner Wärmung aufzufinden weiß.

Richard Wagner.


Das Naturell Wagners, wie es sich in dem Jahrzehnt seit der Wendung von 1834 entfaltet, gemahnt in seinen schroff gegensätzlichen Äußerungen bei innerstem Beharren seines Grundwesens durchaus an den ›Tannhäuser‹. Wenn sich, in der Folge seiner weiteren Entwickelung, die freie Herrlichkeit der Siegfried-Natur, oder der weltversöhnte Ernst seines Hans Sachs, als der reinste Ausdruck dieses Wesens offenbart, so steht der werdende Wagner in seinem heißen Drang nach einem noch ungekannten Ziele, in seiner Lebensfreudigkeit, seiner bereits deutlich angebahnten immer entschiedeneren Ausstoßung durch die herrschende ›gediegene‹ Musiker-Klasse, in Gesinnung und Schicksalen seinem Wartburghelden am nächsten. Als das ihm Wesentliche im Charakter des ›Tannhäuser‹ bezeichnet Wagner ›das stets unmittelbar tätige Erfülltsein von der Empfindung der gegenwärtigen Situation‹; in den schroffsten Gegensätzen, im heftigsten Wechsel der Äußerungen dieses Erfülltseins sind Held und Dichter sich gleich, und – bleiben dabei doch immer ganz sie selbst. In der Aufnahme seines Kampfes gegen die ›Gelehrtheit in der Musik‹, gegen Fuge und Oratorium, – wie ist der junge Künstler da ganz Wagner! Erst in viel späteren reiferen Jahren gibt er dem gleichen Gedanken die veränderte Fassung des ›Judentums in der Musik‹; ihrem Inhalt nach aber ist die spätere, umfassendere Erkenntnis bereits in seinem frühesten Programm klar und deutlich enthalten. Aus unabwendbar innerer Notwendigkeit strebt er mit stürmischer Leidenschaft aus jener Oratoriensphäre hinaus dem Venusberg der italienischen[255] Opernmelodik nach, und ist dabei wieder ganz Wagner! Die freudig verführerischen Reigenklänge des Venusberges verlocken bloß die, ›in deren Herzen bereits wilde sinnliche Sehnsucht keimt‹, – jene zahmen Lyriker, Gewandhaus-, Oratorien- und Kammermusiker waren vor ihren Verführungen außer Schußweite. Und dann später im kalten fremden Paris, wenn ihn dort die Anhörung der neunten Symphonie erschüttert und übermannt, in schroffer Umkehr den abgeschworenen Idealen seines Jugendglaubens, seiner Jünglingszeit wieder zuführt, – wie ist er da vollends ganz Wagner! Durch alle Gegensätze reißt ihn dasselbe innere Gesetz einer wahrhaftigen Künstlernatur auf unbekannten, ungebahnten Wegen fort, dem hohen Ziele zu, durch Tageshelle wie durch Nacht und Not. Und erst am fernen Ausgang erkennen wir, wohin alle diese Fäden münden!

Eine schwere Zeit der Sorgen und Entbehrungen war, wie bereits erwähnt, über den jungen Meister hereingebrochen. Alsbald nach der gescheiterten Aufführung seiner Oper zerstob das nur mit Mühe zusammengehaltene Personal des ›Liebesverbotes‹ nach allen Himmelsrichtungen. Direktor Bethmann setzte seine Experimente in Stralsund (später in Rostock) weiter fort; Luzio-Freimüller ging nach Leipzig, die Pollert und die Limbach an das Königstädtische Theater in Berlin usw. usw. Zurück blieben nur seine ortsansässigen Gläubiger, und deren gab es nicht wenig. Am 11. April, genau zehn Tage nach dem gänzlichen Scheitern seiner letzten auf Magdeburg gesetzten Hoffnungen, fand in der Nikolaikirche zu Dresden die Trauung seiner Schwester Ottilie mit dem gelehrten und geistvollen Sanskritisten Dr. Hermann Brockhaus (S. 249/50) statt, der sich nach einem längeren Aufenthalt in Kopenhagen, Paris, London und Oxford soeben als Privatgelehrter in behaglichen Verhältnissen daselbst niedergelassen hatte. Wagner blieb der Vermählungsfeier fern, und verbrachte in dem vereinsamten Magdeburg, getrennt von den Seinen, eine bittere Zeit des unfruchtbaren Ringens, – zu stolz, um sich von begünstigteren Nahestehenden helfen zu lassen, und doch zunächst ohne Aussicht für ein anderweitiges Engagement oder eine Aufführung seiner neuen Oper. Sich noch einmal an den begüterten Schwager Friedrich zu wenden, konnte ihm nach dem bisher Erlebten auch nicht entfernt in den Sinn kommen. Wußte er doch, daß diese Demütigung ganz vergeblich gewesen wäre, hatte ihm doch selbst die Mutter davon abgeraten!

Er sagt später im Rückblick auf diese Periode: die unter ungünstigen Umständen mit gewaltsamem Eigensinn durchgesetzte, gänzlich verunglückte Aufführung seines Werkes habe ihn wohl geärgert; doch habe ihn dieser Eindruck noch keineswegs von dem Leichtsinn zu heilen vermocht, mit dem er damals alles anfaßte. Ein so strenges Urteil über sein damaliges Verhalten ist freilich, außer ihm selbst, Niemand zu fällen, oder es auch nur uneingeschkränkt zu adoptieren berechtigt. Ohne das Maß von ›Leicht sinn‹, welches er sich bis dahin etwa vorzuwerfen hatte, wäre er eben nicht ›Wagner‹ gewesen. Ziehen[256] wir jedoch andererseits die folgerechte Kette bedingender Momente für seine damalige Situation in Betracht: die abenteuerliche Mangelhaftigkeit der Magdeburger Direktionsführung, die ausbleibenden Gagenzahlungen, den endlichen Bankerott des Theaters, – so ist es schwer zu sagen, was er unter solchen Umständen Anderes und Besseres hätte tun sollen, als er wirklich tat. Für jetzt galt es, die Zähne aufeinander beißen und in voller Zurückgezogenheit auf eine günstigere Wendung seiner Lage hinarbeiten. Zu diesen Bemühungen gehört der am 19. April 1836 verfaßte, mehrerwähnte Bericht für die Schumannsche Zeitschrift, dem wir im vorausgegangenen Kapitel einige Bruchstücke zur Charakteristik der dortigen Zustände entnahmen. Am Schlusse des Berichts ist denn auch von der ›übereilten und übers Knie gebrochenen‹ Aufführung seiner Oper die Rede, von dem Werke selbst natürlich nur in sehr zurückhaltender Weise, und in den engen Grenzen, die ihm sein Gefühl für eine solche Selbstbeurteilung vorschrieb. ›Ich kann nicht begreifen‹, heißt es da ›was den Komponisten bewegen konnte, ein Werk, wie diese Oper, zum ersten Male in Magdeburg aufzuführen. Es tut mir übrigens leid, mich darüber nicht ganz aussprechen zu können, – was ist eine einzige Aufführung, und diese nicht ein mal klar und deutlich? So viel aber weiß ich, daß das Werk, wenn es dem Komponisten glückt, es an guten Orten aufführen zu lassen, durchdringen wird. Es ist viel darin, und, was mir gefällt, es klingt alles, es ist Musik und Melodie, was wir bei unserer deutschen Oper jetzt so ziemlich suchen müssen.‹

Im Interesse dieses Werkes wandte er sich denn auch auf kurze Zeit wieder nach Leipzig zurück: wo anders als in der Vaterstadt, die seine Erstlingsarbeiten mit aufmunterndem Beifall entgegengenommen, sollte er auf eine Aufführung seiner Oper zählen können? Gerade dieses Werk, das sich dem zur Herrschaft gelangten italienisch-französischen Geschmacke gegenüber so wenig spröde verhielt, durfte er am ehesten anstatt der nun aufgegebenen ›Feen‹ einzuschieben hoffen. Von neuem trat er mit Ringelhardt in Unterhandlung. Leider hatte dieser kluge Spekulant soeben mit der Inszenierung einer neuen romantischen Oper Marschners, ›die Feuerbraut, oder: das Schloß am Ätna‹ (Text von Klingemann), sehr üble Erfahrungen gemacht. Es war darin zu sichtlich alles benutzt und aufgehäuft, was Effekt machen konnte und anderwärts in ähnlicher Art bereits gefallen hatte; der Beifall war geteilt und das Werk verschwand nach wenigen Aufführungen vom Repertoire. ›Wäre diese Oper von Dir gewesen‹, hatte ihm die Mutter darüber nach Magdeburg geschrieben, ›ich hätte alle Hoffnung für Dein Talent verloren: so elend und schlecht ist Musik und Sujet.‹ Um die Teilnahme des Direktors für seine neue Arbeit anzuregen, bot Wagner dessen eigener, eben damals an der Leipziger Oper debütierenden Tochter die Partie der Marianne an, ohne doch etwas damit zu erreichen. Vielmehr ergriff der Darsteller Ifflandscher und Kotzebuescher [257] Väterrollen gegen diesen Vorschlag den nicht übel klingenden Vorwand, daß er, abgesehen von allen sonstigen Schwierigkeiten, die sich der augenblicklichen Vorführung einer Opernnovität entgegenstellten, für seine Person an der jungeuropäischen Tendenz des Sujets einen Anstoß nehme. ›Wenn der Magistrat Leipzigs‹, so behauptete er, ›seine Erlaubnis zur Aufführung der Oper nicht verweigern würde, woran er aus Hochachtung vor dieser Behörde sehr zweifelte, so würde er, als gewissenhafter Vater seiner Tochter, ihr doch keinesfalls gestatten, darin aufzutreten‹. Es war bitter genug, daß mit dieser kategorischen Erklärung eines sonderbar empfindlichen Sittlichkeitsgefühles der Leipziger Direktion dem Autor die Hoffnung völlig abgeschnitten wurde, die ihm in seiner bedrängten Lage eine Stütze hätte sein können. Mit den Leipziger Kunstgenossen, wie Schumann und Karl Banck, den er in Magdeburg kennen gelernt und der sich über die Musik des ›Liebesverbotes‹ sehr befriedigt ausgesprochen.1 trat er während dieses Aufenthaltes nur in flüchtige Berührung; der Zugang zu den Gewandhauskonzerten blieb ihm verschlossen. Es duldete ihn überhaupt für jetzt nicht lange in der entfremdet dünkenden heimatlichen Umgebung.

Unter den Seinigen nahm, außer dem treuen Mutterherzen, niemand lebhafter an seinem Schicksal teil, als die Schwesterliebe Rosaliens. Mit ihr verband ihn seit seiner frühen Knaben- und Jünglingszeit eine ganz besondere Zuneigung, die seinerseits wohl eine schwärmerisch liebevolle Verehrung und zarteste Teilnahme an ihrem Wohlergehen genannt werden darf. Wenn er sie hinsichtlich ihrer zukünftigen Bestimmung zuweilen in einer bangenden Schwermut fand, ging ihm das so nahe, wie es sich u. a. in den Schlußworten seines früher von uns zitierten Briefes aus Prag vom August 1834 ausspricht: ›Leb' wohl, meine Rosalie, und weine nicht wieder, wenn Du abends nach Hause kommst, und dich in Deiner Kammer auskleidest; ich war in Deiner Stube und hörte Dich.‹2 Wenn wir den Wagner dieser Periode uns unter dem Bilde des Tannhäuser vergegenwärtigen, so war sie in ihrem unbeirrten Glauben an ihn, wo alles ihn aufgab, in Wahrheit seine ›Elisabeth‹. Züge ihres Wesens hat Wagner in die reine, hoheitsvolle Gestalt der Isabella gebannt; als die äußere und innere Entfernung zwischen ihm und den Seinen in der Folge zunahm, mußte sie, welche die eigene Mutter – im späteren Zurückdenken an sie – den ›Engel Rosalie‹ ›meine heilige Rosalie‹ [258] nennt, in ihrem tieffühlenden, warmen Gemüt wahre Elisabethschmerzen um ihn erdulden. Sie war es gewesen, die zu seiner Zeit bei Direktor und Kapellmeister nach ihren Kräften alles in Bewegung gebracht hatte, um die erwünschte Aufführung der ›Feen‹, auch in seiner Abwesenheit, gegen alle vorgeschützten Scheinhindernisse durchzusetzen. Sie hatte ihn getreulich über Erfolge und Mißerfolge, über das Steigen und Sinken der Aussichten auf dem Laufenden erhalten, und von ihren nach Magdeburg flatternden Briefchen auf zierlichem goldgerändertem grünem Papier, worin sie dem Bruder berichtet, wie sie eben ›trotz Sturm und Regen von Stegmayer komme‹, oder welche neue Ausreden der schlaue Fuchs Ringelhardt für seine Wortbrüchigkeit ersonnen habe, (– zugleich den rührendsten Zeugnissen inniger schwesterlicher Zärtlichkeit! –) haben sich mehrere in Wagners pietätvoller Aufbewahrung erhalten und sind noch jetzt ein treu gehegter kostbarer Besitz des Hauses Wahnfried. Indeß hätte sie nicht der zartsinnig edle Charakter sein können, der sie war, wäre ihr auch nur eine Spur jener komödiantisch undeutschen, eindringlichen und aufdrängenden, einschmeichelnden und intriguirenden Fähigkeit zu eigen gewesen, die auf dem eigentümlichen Boden unseres Theaterwesens in jeder Sache und unter allen Umständen unfehlbar und einzig den Sieg davonträgt. Im Gegenteil mochte sie es schmerzlich empfinden, gerade in den Jahren, wo sie den Angelegenheiten des Bruders durch ihren Einfluß hätte von Nutzen sein können, vielmehr sogar ihr eigenes Ansehen als Darstellerin durch neu aufkommende Rivalitäten und eine dadurch bedingte Zurücksetzung zeitweilig beeinträchtigt zu sehen.

Der hier gemeinte dreijährige Zeitraum fällt genau mit dem Eintritt der Ringelhardtschen Direktionsführung zusammen und spricht sich deutlich in den damaligen öffentlichen Urteilen über ihre Leistungen aus. Bereits bei einer früheren Besprechung ihrer Darstellung der ›Stummen‹ in Aubers Oper treffen wir gelegentlich auf den frommen Wunsch: ›Wir wären wohl begierig, die Fenella einmal von einer brünetten, feurigen, mehr dem italienischen, südlich kräftigen Charakter zusagenden Darstellerin zu sehen‹.3 Sogleich mit dem ersten Beginn der Ringelhardtschen Periode, im August 1832, tritt das nicht umsonst beschworene ›brünette‹ Prinzip in Gestalt einer echt orientalischen Schönheit, einer Dem. Therese Reimann, welche die Leipziger Theaterbesucher namentlich als ›Julia‹ bezauberte, auf den Plan Anfänglich heißt es von ihr bloß: ›Talent und eine gewisse Routine lassen sich ihr nicht absprechen, doch bedarf sie noch sehr der Ausbildung und Vervoll kommnung‹.4 Dabei bleibt es aber nicht; kaum ein halbes Jahr später, im April 1833, hat sich das Verhältnis ganz entschieden zu ihren Gunsten verändert. ›Aus dem weiblichen Personale‹, lesen wir da, ›müssen wir obenan stellen Dem. Reimann, eine junge, liebenswürdige [259] und geistreiche Dame, die in den Partien der ersten Liebhaberinnen schon einige Male Unübertreffliches geleistet hat. Die dritte Stelle imweiblichen Personale unseres Theaters nimmt Dem. Rosalie Wagner ein: im Tragischen hat diese Dame nur eine Rolle, wo sie unbestreitbares Lob verdient, wo man ihre Auffassungs- und Darstellungsgabe bewundern muß: das ist die Rolle Gretchens im, Faust. Ihr Rivalisieren mit Dem. R. – wir denken u. a. an die »Stumme von Portici« – hat nicht den günstigsten Erfolg für sie gehabt‹.5 Und wiederum ein Jahr später, im August 1834: ›Dem. Wagner ist, im öfteren Konflikt mit Dem. R., oft in unangenehmer Lage, und es hat den Anschein, als ob der Nimbus, dessen sich ihre glückliche Nebenbuhlerin bemächtigt hat, nicht selten ihren Glanz vor den Augen des Publikums verdunkele Nichtsdestoweniger wird ihr der gebührende Beifall zuteil, und wird ihr zuteil werden, so lange noch ihre Darstellung des Gretchen im Goetheschen »Faust« eine gerechte Anerkennung finden wird‹.6 Erst nach dem Abgang der gefährlichen ›brünetten‹ Kollegin – sie wurde 1835 als inzwischen verheiratete Mad. Dessoir7 nach Breslau engagiert – finden wir Rosalie wieder unumwunden als die ›erste und einzige Stütze des Schauspiels‹ erwähnt.8 Die vorstehende gedrängte Zusammenstellung einiger gleichzeitiger kritischer Kundgebungen, welchen wir hier zunächst nur als dem kürzesten Ausdruck persönlicher Erfahrungen der redlich strebenden Künstlerin eine Stelle eingeräumt haben, repräsentiert allerdings zugleich ein charakteristisches Blatt in der Geschichte des deutschen Theaters überhaupt, gleichsam eine der ersten Seiten eines neuen Abschnittes derselben, mit der vielversprechenden Aufschrift: ›ex oriente lux‹, – dessen letztes Blatt vielleicht dereinst unsere glücklicheren Enkel umblättern dürften!

Wer den Charakter Rosaliens nach mancher vorhergehenden Andeutung richtig zu beurteilen gelernt hat, wird sich sagen, daß ein Wesen dieser Art wohl unter unverdienter Zurücksetzung leiden, dadurch aber zu keiner Mißgunst oder Bitterkeit hingerissen werden konnte. ›Sie wollte nicht mehr sein und nicht mehr scheinen als sie war‹, sagt die Mutter von ihr. An der Erkenntnis ihrer Unzulänglichkeiten hat es ihr selbst am wenigsten gefehlt; und indem sie sich der Schranken ihres künstlerischen Vermögens oft schmerzlicher bewußt war, als ihrer unbestrittenen Erfolge, blieb sie in rastlosem Studium auf die Erweiterung der ihr gesteckten Grenzen bedacht. Durch jungfräulich mädchenhafte Zartheit des Spieles, frei von jeder Koketterie und Affektation, durch die [260] Anmut ihrer zierlichen schlanken Erscheinung, gewann sie sich aller Herzen; ihr Organ besaß, bei Vermeidung der Überanstrengung, in seinem eigentlichen Wirkungskreise viel Rührendes, und sie hat ihren Eindruck stets da am sichersten erreicht, wo sie sich nicht in der Anwendung ihrer Mittel übernahm Spuren von Manieriertheit und Verbildung, oder unrichtiger Anwendung dieser Mittel stellten sich (nach den uns vorliegenden Zeugnissen) ein, wo das Studium und Ringen nach Kunst zu sichtbar hervortrat. Sie ließ sich dann wohl, besonders in der Darstellung leidenschaftlicher Partien, zu einer gewissen Unruhe verleiten, welche an die Worte des Oehlenschlägerschen Correggio erinnerte: ›Ich bin stets hingerissen, Raphael reißt hin‹. Mehr als alles Studium aber wirkte in ihren stets tiefbeseelten, lieblichen Gebilden das Ganze und Einheitliche ihrer wahrhaft weiblichen liebevollen Persönlichkeit: diese war in den Gestaltungen ihrer Kunst nicht minder eindrucksvoll, als sie von ihr in ihren Familienbeziehungen als Tochter, Schwester und – Gattin bewährt worden ist.

Als Wagner im Sommer 1836 nach kurzem Verweilen Leipzig wieder verließ, um sich bei der Aussichtslosigkeit der heimischen Verhältnisse in irgend welche entlegene Fremde zu stürzen, blickte sie ihm mit banger Sorge nach. Er sollte die Schwester nicht wiedersehen, und erst nach neuen bitteren Erfahrungen in der heftig erstrebten Ferne durch die erschütternde Kunde von ihrem Verlust betroffen werden. Um die Zeit dieses letzten Abschiedes war sie die Braut des noch ganz jungen Gelehrten und talentvollen Schriftstellers Dr. Gotthard Oswald Marbach, der sich seit wenigen Jahren (1833) an der Universität Leipzig als Privatdozent der Philosophie und Physik habilitiert und durch tüchtiges Wirken, gründliches Streben und vielseitige Bildung allgemeine Achtung erworben hatte. Am 24. Oktober 1836 reichte sie ihm in demselben Pfarrkirchlein zu Schönefeld, in welchem einst der Großvater getraut worden war, zu innig beglückendem Bunde die Hand. Für die Mutter war es eine schwere Trennung, gerade diese Tochter von sich zu lassen, die sie am längsten um sich gehabt, an der sie mit fast verehrender Zärtlichkeit hing. Trost war es ihr, sich in ihren Empfindungen von dem jungen Gatten verstanden und in der Häuslichkeit ihrer Kinder jederzeit willkommen zu wissen ›Beide lebten nur sich und ihrem stillen häuslichen Glück‹, heißt es in einem ihrer in Wahnfried erhaltenen Briefe. ›Ihre Einrichtung war klein, nett und sauber, aber anspruchslos; deshalb war ein Jeder, der bei ihr eintrat, beglückt und fröhlich. Und so hatte ich diese Tochter doch noch, sah sie, und sah sie den Armen eines geachteten Mannes.‹ Aber schon nach einjähriger Ehe ward ihr Lebensfaden jäh und plötzlich durchschnitten. Sie starb, fünf Tage nach der Geburt eines Töchterchens, Margarete Johanna Rosalie, am 12. Oktober 1837. Wir begegnen in Marbachs ›Buch der Liebe‹ einer Folge von Sonetten, welche dem Schmerz des überlebenden Gatten Ausdruck zu [261] geben ringen. Das letzte in ihrer Reihe sei an den Schluß dieses Abschnittes unserer Erzählung gestellt.


›Nicht hat der Tod dich Teure mir entwunden –

Hab' ich doch deinen Geist in mich gesogen;

Aus deinem Aug' in meins ist er geflogen

Und hat im Herzen liebe Stätte funden.


So ist auch meine Seel' an dich gebunden

Und ist dir gern und willig nachgezogen;

Du schlummerst süß, weil Träume dich umwogen,

Die deiner Liebe süßes Glück bekunden.


Du träumst von Leben und dein Traum ist Wahrheit;

Ich sehe wachend Tod, mein Wachen lügt;

Doch träumend schau' ich dich in Lebensklarheit.


So muß uns beide denn der Traum beglücken,

Bis beim Erwachen, welches nicht mehr trügt,

Lebendig Geist den Geist schaut mit Entzücken.‹


Fußnoten

1 ›Weiß nun der T..., wie's kam‹, heißt es in einem weiterhin zu erwähnenden Briefe an Schumann (Königsberg, 3. Dez. 1836), ›aber ich halte die Oper nicht für schlecht, und derselben Meinung war auch ungefähr unser Freund Banck, den ich damit bekannt machte‹.


2 Die Umgebung für den hier angedeuteten Vorgang ist noch im Pichhof vor dem Hallischen Tore zu denken. Das Original dieses Briefes, aus dem wir bereits zuvor einige erzählende Bruchstücke mitteilten, befindet sich, laut unserer Angabe auf S. 214 Anm. dieses Bandes im Besitz der einzigen Tochter Rosaliens, Frau Prof. Rosalie Frey geb. Marbach.


3 Didaskalien der Abendzeitung Nr. 4 (Febr. 1830).


4 Ebenda, Nr. 211 (Aug. 1832).


5 Didaskalien der Abendzeitung Nr. 136 (April 1833).


6 Ebenda Nr. 201 (August 1834).


7 Des in der Theatergeschichte nicht unbekannten Schauspielers Ludwig Dessoir (Levi Dessauer) gedenkt Gutzkow noch spät in seinen Erinnerungen als eines ›idealen Liebhaberspielers mit langem schwarzen Haar (!)‹ ›Seine Gattin, die sich später von ihm trennte, Therese, besaß lange Jahre hindurch das Herz der Leipziger‹ (Gutzkow, Rückblicke S. 112).


8 Didaskalien der Abendzeitung Nr. 36 (Febr. 1835).



Rosalie Wagner.
Rosalie Wagner.
Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 254-263.
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