IX.

Von Riga nach Paris.

[323] Schwierigkeiten bei der Abreise aus Rußland. – Letzte Mitauer Vorstellungen. – Überschreitung der russischen Grenze. – Abfahrt von Pillau. – Norwegen: Schären und Champagnermühle. – Londoner Aufenthalt. – Ankunft in Boulogne. – Meyerbeer. – Paris zu Ende der dreißiger Jahre.


Ducunt volentem fata, nolentem trahunt..

Seneca (ep. 107).


Folgt nicht jede tiefbegeisterte Seele einem Stern?

Kann der seinige nicht ein Glücksstern sein?

Richard Wagner (Ein Ende in Paris).


›Unbemerkt aus Rußland fortzukommen, war damals keine Kleinigkeit. Ehe die eigentliche Paßschererei, die Hetzjagd von einer Behörde zur andern beginnen konnte, mußte der sich zur Abreise Vorbereitende erst dreimal in den öffentlichen Blättern Proklamiert worden sein, mgunsten aller derjenigen, welche vielleicht Forderungen an ihn hatten‹. So berichtet Dorn als Zeitgenosse der Begebenheiten. Die damaligen Rigaer Blätter enthalten das vorschriftsmäßige sog. ›Proklam‹ sämtlicher abreisenden Künstler und sonstigen Einheimischen und Fremden, welche von Livland aus zu einer Reise ›ins Ausland‹ die Grenze zu überschreiten gedachten: dasjenige Wagners würde man darin vergeblich suchen. Mehrfache Schuld- und Wechselklagen aus dem drangvollen Königsberger Notjahr waren in seinem letzten Aufenthaltsorte gegen ihn geltend gemacht; auch einige Rigaer Kreditoren hinzugekommen.1 Wohl [324] hätte er sich ihrer an Ort und Stelle bis auf günstigere Zeiten erwehren können; einer erklärten Abreise über die Grenze hätte aber schon die mindeste derartige Forderung ein Hindernis in den Weg gelegt. Das Pariser Projekt mußte deshalb geheim gehalten werden und war nur den Vertrautesten bekannt. Zu den Eingeweihten gehörte, neben dem wohlgesinnten Direktor, auch Heinrich Dorn, der sich der Mitauer Fahrt angeschlossen, um auf der dortigen, höchst anspruchslosen Bühne am 10. Juni die Beifallsfrüchte einer einmaligen Aufführung seines ›Schöffen von Paris‹, unter seiner persönlichen Leitung, einzuernten. An diesen hatte Hoffmann das, wohl oder übel von ihm zu akzeptierende Ansinnen gerichtet, für die zum Schluß des Theaterjahres noch fehlenden zwei Sommermonate an Stelle des – wie die Dinge einmal lagen – durch ihn verdrängten Kollegen unentgeltlich dessen Funktionen zu übernehmen, um ›dem von aller Barschaft Entblößten durch Zahlung zweimonatlicher Gage einige Subsidien zu verschaffen‹. Noch vierzig Jahre später erzählt dies Dorn im Tone der selbstgefälligen Berühmung, Wagner bei seinem Scheiden von Riga damit einen besonderen Freundschaftsdienst erwiesen zu haben.2

An den vierwöchentlichen Aufenthalt in Mitau erinnert ein noch erhaltenes Schreiben des jungen Meisters an seinen französischen Lehrer Henriot, in Sachen der gemeinsam begonnenen ›Rienzi‹-Übertragung. Er hatte den Rest dieser Arbeit noch in Riga, da die Zeit drängte, selbständig zu Ende geführt und seine Handschrift zur Durchsicht und Korrektur in den Händen seines Mitarbeiters zurückgelassen. Er bittet ihn nun, in der Hoffnung, daß diese Verbesserungen seiner ›mauvaise traduction‹ inzwischen ausgeführt seien, ihm dieselbe unverzüglich, ›si bientôt que possible‹, an seine dortige Adresse nachzusenden.3 Die Mitauer Vorstellungen nahmen inzwischen ihren regelmäßigen Verlauf; sie waren mit dem ›unterbrochenen Opferfest‹ (mit Amalie Planer als Elvira) eröffnet worden und reproduzierten in der neuen Umgebung einen Teil des letztwinterlichen Rigaer Repertoires, darunter als Glanzpunkt Meyerbeers ›Robert der Teufel‹! Die vorletzte Aufführung – am Johannistagabend, den 24. Juni – war: Beethovens ›Fidelio‹; die letzte dieser Vorstellungen, am 25. Juni, Webers ›Oberon‹. Er wurde als Festoper, zur Feier des Allerhöchsten Geburtstages Sr. Majestät des Herrn und Kaisers [325] ›Nikolai Pawlowitsch‹ gegeben und mit dem vom gesamten Personale ausgeführten, ›Festgesang, von Kapellmeister Wagner‹ (der mehrgenannten Brackelschen Volkshymne) eingeleitet. Tags darauf trennten sich die Wege der bisher Vereinigten: die Truppe kehrte nach Riga zurück, ihr Musikdirektor schlug die entgegengesetzte Richtung nach Süden ein.

Der Würfel war gefallen, die bedeutungsschwere Entscheidung erfolgt: es galt unter tausend vorauszusehenden Entbehrungen ein Ziel zu erreichen, das unter den obwaltenden Verhältnissen nur der Preis eines besonderen Wagnisses sein konnte. Durch die gesegneten Wälder und Wiesen Kurlands ging es, immer in Robbers Begleitung, der dem Meister nach Mitau gefolgt war und den er unmöglich zurücklassen konnte, auf offener Straße der preußischen Grenze zu. Die Gefahren ihrer Überschreitung in damaliger Zeit hat Dorn in anschaulicher Weise geschildert. ›Von tausend zu tausend Schritt befand sich in der ganzen Ausdehnung der Grenze eine Wächterbude, in welcher ein Kosak vigilierte, wenn er nicht gerade sein Terrain in Augenschein nahm; dazwischen patroullierte das Pikett, welches wieder die Wachen bewachen sollte. Es war schwer diese Kette zu durchbrechen, aber es war nicht unmöglich.4 Ein Königsberger Kunstfreund, der in der nordischen Theaterwelt sehr bekannte Abraham Möller (S. 279), hatte die allergründlichsten Vorkehrungen getroffen, daß die warme Hütte eines Grenzkosaken schützendes Obdach für die Flüchtlinge wurde, während der Eigentümer des Hotels seine Inspektionsreise antrat und zugleich dafür gesorgt war, daß im regelmäßigen Pikettspiel eine wohltätige Pause eintrat. Vier Tage später blickte der Gerettete aus dem oberen Fenster des Gasthofes von Arnau auf das eine Meile davon entfernte Königsberg‹. Soweit Dorn, in seiner mit Vorliebe wiederholten Erzählung von Wagners Auszug aus Riga.5 Nach kurzem Aufenthalt begaben sich die Reisenden weiter nach der kleinen ostpreußischen Seehafenstadt Pillau, um hier an Bord eines Segelschiffes zunächst nach England sich einzuschiffen. Die Schwierigkeit, auf dieser gefahrvollen Reise noch einen großen Neufundländer mit sich zu führen, zeigte sich bei jeder Gelegenheit; allein aus dem Arnauer, resp. Pillauer Gasthof sind zwei solcher Hundeanekdoten auf uns gekommen. Die eine haben wir aus des Meisters eigenem Munde, die andere Situation, der erzählenden Feder eines Hoffmann würdig, ist durch Wagners Pariser Freund Kietz der Nachwelt überliefert. Der vortreffliche Möller hatte die Eigenheit, beim Schlafen äußerst vernehmlich zu schnarchen, – in dem engen Gasthofzimmer, [326] das er mit Wagner teilte, eine für den Nachbar störende Gewohnheit! Es war abgemacht und ausbedungen: wenn er damit zu geräuschvoll würde, sollte der Stubengenosse laut pfeifen; dann werde er aufhören zu schnarchen. Und richtig, während der Schlaf die Augen des jungen Meisters noch floh, ließ jener bereits sein uervenerschütterndes Schnarchkonzert vernehmen. Wagner pfiff, was er nur konnte; aber der Reisegefährte schlief fest und schnarchte fort. Nur Robber bezog das Pfeifen auf sich: er kam an das Bett seines Herrn und fing an ihm mit warmer Zunge das Gesicht zu lecken; und je mehr er unter dem Abwehren pfiff, desto eifriger setzte der vierfüßige Freund seine tröstenden Liebkosungen fort. Am Morgen – damit beginnt die Kietzsche Geschichte – treten sie in das Gasthofzimmer: es ist voll langer gedeckter Tafeln, am Fenster ist die Wirtin an einem Tisch mit Büchsen voll eingekochter Früchte beschäftigt Wagners treten ein, hinter ihnen der Hund. Da will es das Unglück, daß die Hauskatze ihn anfaucht, – Robber ihr nach, – es geht über die Tafeln mit Geschirr Zuletzt flüchtet die Katze auf den Tisch zur Wirtin und springt durchs Fenster, – der Hund über Büchsen und Eingemachtes hinter ihr her, daß die Scheiben klirren. Zu gleicher Zeit in größter Hast Wagner mit Frau und Habseligkeiten zur Tür hinaus und aufs Schiff: sie hatten kaum das Geld zur Überfahrt bei sich und waren in größter Angst, daß man sie zum Schadenersatz heranziehen könnte. So die Hoffmannsche Situation, in nächster Nähe seines Geburtsortes, als wäre sein Geist erwacht, um sich durch ein tolles Abenteuer zu melden; wobei es sich inzwischen von selbst versteht, daß der Schluß der Geschichte, die Flucht zum Schiff, das Unwahrscheinliche bis zum Unmöglichen steigert Wenn schon Wagner – nach seiner Denk- und Handlungsweise – sich einer entstandenen Verbindlichkeit zu keiner Zeit auf die Art entzogen haben würde, so war doch außerdem noch der Königsberger Gastfreund gegenwärtig, um für das geschehene Unglück einzutreten! Und nun – ging es wirklich zu Schiff, an Bord eines einfachen Segelschiffes, um sich auf diesem, den Blick auf die Zukunft gerichtet, allen Gefahren der stürmischen See anzuvertrauen. ›Das war doch die Verwegenheit eines Künstlers!‹ ruft später Laube im Rückblick auf diese abenteuerliche Fahrt. ›Mit einer Frau, mit anderthalb Opern, mit kleiner Börse und einem furchtbar großen, furchtbar viel fressenden neufundländischen Hunde durch Meer und Sturm von der Düna stracks bis an die Seine zu fahren, um in Paris berühmt zu werden! In Paris, wo halb Europa um den lärmenden Ruhm konkurriert, wo alles erkauft, wenigstens bezahlt werden muß, auch das Verdienstvollste, wenn es auf den Markt und dadurch zur Geltung kommen will!‹

Die Seefahrt war reich an Unfällen und blieb dem Meister für immer unvergeßlich. Auf dem Schiffe war keine rechte Vorrichtung für Passagiere, es war schlecht verproviantiert und unzureichend bemannt. Schlechtes Wetter [327] begleitete sie auf der ganzen Reise Alle Widerwärtigkeiten der Seekrankheit brachen über sie herein. Dreimal litt das Schiff vom heftigsten Sturm, und einmal sah sich der Kapitän genötigt, in einen norwegischen Hafen einzulaufen. Einen wunderbaren Eindruck auf seine Phantasie machte die Durchfahrt durch die norwegischen Schären. Die Gestalt des ›fliegenden Holländers‹, die er zuerst in Riga kennen gelernt, tauchte ihm hier zwischen Brandung und Klippen wieder auf. Er erhielt die alte Meeressage aus dem Munde der Matrosen bestätigt, sie gewann an seiner eigenen Lage, an den Stürmen, den Wasserwogen, dem nordischen Felsenstrande und dem Schiffsgetriebe die bestimmte eigentümliche Physiognomie und Farbe, welche ihr nur die selbsterlebten Seeabenteuer verleihen konnten. Aus dieser magischen Verbindung von Sage und Wirklichkeit schöpfte nachmals das Kunstwerk seine Seelenkraft und – bis auf die vorkommenden Ortsnamen ausgedehnte – Lebenswahrheit. ›Sandwike ist's! Genau kenn ich die Bucht‹, sagt Daland, und: ›während des Seesturms im Fjord von Sandwike bei Arendal‹, lesen wir unter den Gedenkdaten des Monats Juli im ›Bayr. Taschenkalender von 1885‹. Nicht Sandwike, sondern ›Sandvigen‹ ist allerdings die faktische, historisch-geographische Form des Namens, bis etwa der ›fliegende Holländer‹ den Ort dazu zwingt sich umzubenennen, – es hat noch Zeit. Sandvigen auf Hisö ist einstweilen, wie damals, ein Hof (Besitztum) und Hafen im Galtasund, eine gute Seemeile – ›Kvartmil‹ sagt der Norweger, d. h. ca. 5 km – von Arendal, am Seewege dahin, belegen. ›In älteren Zeiten‹, so meldet uns ein zuverlässiger Gewährsmann, ›wurde Sandvigen, wie auch der Galtasund, öfters von durch Sturm Verschlagenen benutzt.‹6 Von ihrer Landung daselbst war Wagner ein artiges Abenteuer, ihre Bewirtung in der von ihm so benannten ›Champagnermühle‹, lebendig im Gedächtnis verblieben, und er hat stets gern und mit Humor davon erzählt. Die seemüden Passagiere ergehen sich mit einem Teil der Schiffsmannschaft landeinwärts auf der nordischen Felsenküste, und werden in einer alten Windmühle gastlich aufgenommen. Es ist eine Flasche Rum im Hause: der brave Müller bringt sie mit Freuden seinen Gästen dar. Es wird Punsch bereitet; behagliche Wärme durchströmt die Adern, die Matrosen singen ihre Lieder und es entsteht ein begeistertes Freudenfest, das sich für immer der Erinnerung einprägt.7 Nach wenig Tagen legt [328] sich der Sturm, man schifft von neuem aus, um, durch neue schreckliche Stürme verzögert, nach endlos dünkender Fahrt die Mündung der Themse zu erreichen.

Drei und eine halbe Woche hatte die äußerst anstrengende ›gräßliche und sehr gefahrvolle‹ Seereise bis London gedauert. Um sich von ihren mannigfachen Beschwerden auszuruhen, gönnten sich die Ermüdeten eine achttägige Rast. Nach einer gleichzeitigen, oder doch unmittelbar darauf erfolgten brieflichen Nachricht war es allerdings bloß ›die Konfusion seines Kapitäns, der mit seiner Bagage dummes Zeug angefangen hatte‹, die ihn dazu nötigte, so lange Zeit, ›acht Tage, acht goldschwere Tage, auf dem teuren Pflaster Londons zuzubringen‹8; doch war die Erholung den erschöpften Reisenden dennoch willkommen. ›Nichts interessierte mich so, als die Stadt selbst und die Parlamentshäuser‹, sagt Wagner in Kürze über diesen Aufenthalt, ›von den Theatern besuchte ich keins‹.9 Nach wochenlanger Abgeschlossenheit auf dem engen Deckraum oder in der noch engeren Kajüte des Schiffes – das endlose Straßengewirr der riesengroßen Stadt, mit seinem Gedränge von Wagen und Menschen, der Tumult der Londoner City! Die unübersehbare Anzahl der Schiffe an der Londonbrücke und die gewaltigen Dimensionen dieser Kolosse setzten ihn unwillkürlich in Erstaunen. Ein Ausflug nach Greenwich führte durch einen Wald von Fahrzeugen aller Art; in der Mitte der Themse, nahe bei Greenwich, war das durch seine Größe imponierende Kriegsschiff ›The Dreadnought‹ verankert, welches einst in Nelsons siegreicher Flotte mithalf, die Schlacht von Trafalgar zu gewinnen, und jetzt als Hospital für alte Matrosen benutzt wurde. Beim Besteigen desselben auf schwanker Schiffsleiter entfiel dem jungen Meister seine Schnupftabaksdose; eine hastige vergebliche Bewegung, um sie im Fallen zu erhaschen, brachte ihn für einen Augenblick fast in Lebensgefahr. Mit einem Ruck hatte er wieder festen Fuß gefaßt; aber die als wertvolles Andenken hochgehaltene Dose, das Geschenk der Schröder-Devrient (S. 233), lag unwiderruflich auf dem Grunde des Flusses.10 Nach geschehener Besichtigung des Riesenschiffes wurde die Fahrt nach Greenwich im sicheren Boote fortgesetzt. Aber die Begebenheit hatte noch eine heitere Fortsetzung. Als sie dort, so wird uns weiter berichtet, in dem zum Wohnsitz ausgedienter Seeleute hergerichteten Palast des ›Greenwich-Hospitals‹11 sich ergingen, und Wagner daselbst einen der Invaliden bemerkte, der eben mit [329] Behagen eine Prise nahm, sagte er laut, wie er an öffentlichen Plätzen zu sprechen pflegte, in deutscher Sprache zu Minna: › könnte ich gut genug Englisch, so würde ich den Matrosen da um eine Prise bitten‹. Man denke sich seine Verwunderung, fährt der Erzähler fort, als der Invalide sich umkehrte und ihm höflich die Dose hinreichte, indem er sich als einen sächsischen Landsmann vorstellte, der sich glücklich pries, nach langen Jahren eines harten Seedienstes im Greenwich-Hospital ein wohleingerichtetes Asyl gefunden zu haben. Der gleiche Gewährsmann berichtet uns von Wagners Besuch der Westminster-Abtei, wo ihn im Poets Corner der Anblick des Shakespearedenkmals in ein, alle Welt und sich selbst vergessendes, anschauendes Schweigen versenkte, aus dem ihn Minna erweckt habe, ihn mit den bittenden Worten am Ärmel zupfend: ›Komm, lieber Richard, du stehst hier nun schon seit zwanzig Minuten wie eine Bildsäule, ohne ein Wort zu sprechen‹. Die ihm bei dieser Gelegenheit in den Mund gelegten Betrachtungen ist es allerdings ratsam hier zu übergehen; das tief in sich versunkene Schweigen des jungen Meisters vor dem Bildnis des großen Geistesverwandten sagt uns mehr als die seichten und verworrenen Reflexionen des redseligen Überlieferers, mit deren breiter Ausführung er den von ihm festgehaltenen ergreifenden Moment wie in eine Dunstwolke einhüllt.

Von London aus ging es auf dem Dampfschiff über den Kanal nach Boulogne-sur-mer.12 Die überstandenen Widerwärtigkeiten hatten seine Pläne nicht zu erschüttern vermocht; auch der Umstand nicht, daß seine schmale Reisebarschaft durch den Londoner Aufenthalt sehr zusammengeschmolzen war. Einige Enttäuschungen hinsichtlich der verhofften größeren Billigkeit des Lebens auf französischem Boden mögen wir in dem Spiegel der humoristischen Darstellung seines Aufsatzes ›Pariser Fatalitäten‹ wiedererkennen, nur sind ihre einzelnen Angaben, wenngleich in der ersten Person erzählt, deshalb nicht gleich als autobiographische Daten aufzufassen. ›Mein Unstern wollte‹, läßt er dort einen Deutschen erzählen, ›daß ich in Boulogne-sur-mer zum ersten Male den Boden Frankreichs betrat. Ich kam aus England, und zwar aus London, der Stadt der kostspieligen Erfahrungen, und atmete auf, als ich im Lande der Franken, d. h. der Zwanzigsousstücke, ankam und das abscheuliche Pfund- und Schillingland hinter mir hatte; denn ich hatte mir vorgerechnet, daß ich in Frankreich wenigstens noch einmal so wohlfeil leben müßte, wofür ich den Beweis auf das Verhältnis des Sou zu den Pence [330] gründete, von denen letzteren nur zwölf auf den ansehnlichsten Schilling gehen, während der unansehnlichste Franc doch zwanzig Sous enthält. Soviel hatte ich herausgebracht, daß ich, zumal mit dem Vorteil der Centimenrechnung, von denen bekanntlich hundert auf einen Franc gehen, von meinem jährlichen Einkommen jedenfalls ein gutes Teil würde zurücklegen können, auf welchen Umstand ich denn – und zwar während der Überfahrt auf dem Dampfschiffe – allerhand angenehme Hoffnungen, Aussichten, besonders aber Pläne gründete. Ich hatte mir endlich sogar berechnet, daß ich nach einiger Zeit an den Ankauf eines jener Schlösser im südlichen Frankreich, in der Nähe der Pyrenäen, würde gehen können, von denen uns Fürst Pückler so angenehme und wohlfeile Dinge erzählt hat, z. B. daß man zum standesmäßigsten Leben in einem solchen Schlosse nicht mehr als jährlich 2000 Franken würde gebrauchen dürfen. Ich glaubte, Fürst Pückler habe selbst diese jährliche Summe, aus der fürstlichen Perspektive betrachtet, noch etwas vergrößert gesehen, und war mit mir einig, daß ich sie mit Hilfe der Centimenrechnung auf ein Vierteil reduzieren würde, was dann vollkommen mit meinen Einkünften übereingestimmt hätte... Im Hotel angelangt, frug man mich sogleich: »Pardon, Monsieur, vous êtes Anglais?« Mich hatten die Fahrt auf dem Dampfschiffe und die berauschenden Pyrenäenschloßpläne so betäubt, daß ich in dem Augenblick wirklich nicht wußte, wes Landes Kind ich sei; daß ich ein Deutscher sei, fiel mir nun schon gar nicht ein, und da ich in meiner langen Abwesenheit von meiner Heimat keine bestimmten Nachrichten erhalten hatte, ob meine Vaterstadt noch zu Sachsen oder schon zu Preußen gehöre, so hielt ich es in der Verwirrung für das kürzeste, meinem inneren Streite um meine Nationalität durch ein schnelles »Oui!« ein Ende zu machen... Auf die französische Billigkeit vertrauend, hatte ich zwei Tage im Hotel gewohnt; ein vortrefflicher Garçon hatte mich mit besonderer Aufmerksamkeit und Ehrerbietung bedient. Ich hatte nicht Unrecht, wenn ich diese ausgezeichnet ehrfurchtsvolle Behandlung dem Respekt zugute schrieb, den dieser Mensch für meine Qualität als Engländer empfand; ich ersah dies aus dem Benehmen, dem er sich mit einem Male überließ, als er einen meiner häufig stattfindenden Monologe belauscht hatte. Diesen Monolog hatte ich natürlich in deutscher Sprache gehalten und der Garçon, ein Genfer, hatte nicht angestanden, mich sogleich als Deutschen zu erkennen. Was er mir nach dieser Entdeckung an Respekt und Ehrerbietung entzog, ersetzte dieser gute Mensch vollkommen durch auffallende Vertraulichkeit und Gleichstellung mit mir... Leider aber war diese Sinnesänderung bei der Entdeckung meiner Nationalität im düstern Gemüte des Gastwirtes nicht ebenfalls vor sich gegangen. Er schien sich mit Pünktlichkeit nur an mein »Oui« gehalten zu haben, als er die Rechnung für mich Unseligen auszog. Aus Gefälligkeit hatte er diese Rechnung englisch geschrieben; einige unerklärlich große Ziffern darauf versetzten mich sogleich in den Glauben, daß sie nur aus Versehen zu mir gelangt [331] und jedenfalls für einen anderen, vermutlich wirklichen Engländer bestimmt sei. Der Wirt half dagegen meinem Zweifel auf und bestärkte mich im wahren Glauben. Die Sache hatte ihre Richtigkeit, – das Fürst Pücklersche Pyrenäenschloß war unwiederbringlich verloren. Aber auch mein Paradies war verloren, – meine schöne Überzeugung von der Wahrhaftigkeit meines Centimensystems war gemordet. Ich bemerkte mit schmerzlicher Resignation auf dieser Rechnung dieselben, ja noch teurere Preise als die Londoner, und ihr Ansehen war noch viel entsetzlicher, da sie in Franken berechnet waren, von denen bekanntlich mehr als von Schillingen auf ein Pfund Sterling gehen und deren Zahlen daher selbst bei gleicher Rechnung einen bei weitem erschreckenderen Anblick gewähren‹.

Von diesen ersten Erfahrungen eines ›Deutschen‹ in Boulogne mit seinen ›englischen Preisen‹13 werden seine eigenen Erfahrungen nicht sehr verschieden gewesen sein. Nur in einem dortigen ›Hotel‹ hat er überhaupt nicht gewohnt. Die Kostspieligkeit des Aufenthaltes wußte er auf das glücklichste zu umgehen. ›Anstatt in Boulogne selbst zu wohnen, mietete er sich in dessen ländlicher Umgebung ein‹, so erzählt sein nachmaliger französischer Freund Gasperini.14 ›Die Lebensmittel waren dort billiger und er konnte in ungestörter Ruhe arbeiten.‹ Hören wir seinen eigenen brieflichen Bericht, drei Tage nach seiner Ankunft gegeben. ›Den 20. August kam ich mit dem Dampfschiff in Boulogne an, wo ich mich denn nun schon so schnell wie möglich auf dem Lande, d.h. ungefähr eine kleine halbe Stunde von der Stadt, so wohlfeil wie möglich auf einige Wochen eingemietet habe.15 Ich habe diesen Aufenthalt aus mehreren Rücksichten gewählt: 1) glaube ich, daß ich jetzt wohl manche für mein Projekt wichtige Person noch nicht in Paris antreffen würde; 2) habe ich noch für ein paar Wochen an dem zu arbeiten, was ich gern fertig mit nach Paris brächte, um sogleich nach meiner Ankunft daselbst unverzüglich meine Machinationen beginnen zu können; 3) aber wünschte ich mich wirklich hier erst etwas von den Strapazen auszuruhen, die ich überstanden, bevor ich mich von neuen in einen solchen Wirrwarr stürze, wie doch jedenfalls der Pariser werden wird‹. Der Brief, dem wir diese Zeilen entnehmen, ist vom 23. September datiert und an seinen zukünftigen Schwager, den Bräutigam seiner Schwester Cäcilie, den Buchhändler Eduard Avenarius, Vertreter der Brockhausschen Filiale in Paris (librairie allemande Brockhaus & Avénarius, [332] 60 rue Richelieu) gerichtet, in festen Zügen in zierlichster Perlschrift geschrieben. Er erbittet sich darin die gefällige Vermittelung des persönlich noch Unbekannten, an den er schon im voraus in herzlichem Vertrauen sich wendet, für die Besorgung einer geeigneten Wohnung in Paris. ›Ein gewöhnliches Zimmer mit einem Alkoven ist natürlich für mich und meine Frau völlig hinreichend; ein größeres Zimmer allein würde es am Ende auch tun; – möbliert muß es nun freilich sein, jedoch besitzen wir selbst Betten, sowie Bettwäsche, Tischzeug, Leuchter, Gerätschaften, da wir unsere kleine Wirtschaft so ziemlich ganz mitgebracht haben, und nur das Intransportabelste in Rußland verkauften. Meine Frau wird selbst Wirtschaft führen, d. h. Lebensmittel einkaufen, kochen usw.; bedarf daher keiner weiteren Bedienung, als einer Aufwärterin, die ihr nur in den gröbsten Arbeiten behilflich ist. Das Logis kann ich natürlich nur von Monat zu Monat mieten usw. Daß ich es in jeder Hinsicht gern sehen würde, wenn ich nicht zu weit von Ihnen wohnte, brauche ich wohl nicht erst zu versichern‹. Das freundliche und zuvorkommende Antwortschreiben des Adressaten ist bereits vom 27. datiert, wie aus seinem eigenhändigen Vermerk auf Wagners Brief16 ersichtlich ist; er hatte sich in den wenigen dazwischenliegenden Tagen nach passenden Logis umgesehen, und riet von einer eigenen Wohnung ab; man könne in einem ›Hotel garni‹ schon ein ganz artiges Zimmer für monatlich 30 Francs bekommen Desto länger verzögerte sich – bis gegen die Mitte September – die entscheidende Erwiderung des jungen Meisters; als er die Feder dazu ansetzte, war es der 13. September geworden.

Daß unser reisemüdes Paar in Boulogne nicht weniger als vier Wochen zubrachte, lag nicht an dessen berühmten Seebädern, noch auch an den sonstigen Merkwürdigkeiten des Ortes, sondern einzig an der Anwesenheit einer Persönlichkeit, deren nähere Bekanntschaft ihm eben damals zu den begehrenswerten Dingen gehörte Sogleich bei seiner Ankunft in Boulogne hatte er in Erfahrung gebracht, daß der Ort augenblicklich unter anderen Badegästen – Meyerbeer zum Aufenthalt diene. Er mußte es für eine glückliche Fügung halten, bei seinem ersten Eintritt in Frankreich mit dem berühmten Komponisten des ›Robert‹ und der ›Hugenotten‹ zusammenzutreffen, der sich daselbst in kühler Seeluft von den heißen Drangsalen seiner Ruhmeslaufbahn durch die Gasatmosphäre sämtlicher Theater Europas erfrischte. Die Verbindungen und Empfehlungen des einflußreichen Maestro konnten ihm (dem gänzlich Verbindungs- und Empfehlungslosen!) zu seinem Fortkommen in der wildfremden Stadt nur sehr förderlich sein. ›Ich ließ ihn die beiden fertigen Akte meines »Rienzi« kennen lernen; er sagte mir auf das freundlichste seine Unterstützung für Paris zu‹. So berichtet Wagner über[333] diese erste Begegnung. ›Ein glückliches Ungefähr hat es gefügt, daß ich Meyerbeer hier antreffen sollte‹, heißt es in seinem nächsten, an Avenarius gerichteten Briefe. ›Er kann mir bei meinem Vorhaben von unermeßlicher Wichtigkeit werden, und ich habe mich auch mit ihm bereits so gut wie möglich liiert‹. Was er hier ein bloßes Ungefähr, einen blinden Zufall nennt, durfte ihm, auch wenn er es nicht aussprach, gar leicht in dem Licht einer höheren Fügung erscheinen Seine ganze Stimmung und Geistesverfassung während des Boulogner Aufenthaltes war dadurch beeinflußt; in seiner Erinnerung lebten die dortigen Tage und Wochen in einem freundlichen Lichte fort. ›Ich habe ihn oft‹, so erzählt Gasperini, ›von jenen entbehrungsvollen Tagen sprechen hören, an die er gleichwohl ohne Bitterkeit zurückdachte. Er hatte ja so viel Glauben, so viel Jugendkraft in sich; er wähnte sich dem Ziele so nahe; er war so gewiß, daß Paris ihn für alle überstandenen Prüfungen entschädigen sollte‹.

Am 12. September war die Instrumentation des zweiten Aktes ›Rienzi‹ vollendet. Die Teilnahme Meyerbeers an seiner Arbeit schien aufrichtig und ungeheuchelt; nicht minder war es die Dankbarkeit und Ehrerbietung des jungen Wagner für den berühmten, hochangesehenen Mann, der seinen Bestrebungen eine so liebenswürdige Anerkennung zollte. Das beweisen zahlreiche Äußerungen aus dieser Periode; eine warme Herzlichkeit, ein trotz aller bedenklichen Erschütterungen immer wieder sich erneuendes Vertrauen klingt uns aus den erhaltenen brieflichen Ergüssen an seinen meist von Paris entfernten Gönner entgegen. Daß der unbekannte und unbemittelte junge Deutsche keine Aussichten haben könne, seine Opern jemals auf die Pariser Bühne zu bringen, war dem welterfahrenen Kompositeur offenbar klarer, als dem jungen Meister selbst. Bei seiner Abreise gab er ihm eine Anzahl Empfehlungsschreiben an die hervorragendsten Pariser Autoritäten mit auf den Weg: an den Direktor der großen Oper, an Habeneck, an den Musikalienhändler Schlesinger, und selbst an sein alter ego, seinen intimsten Vertrauten und Kommissionär, den Postsekretär Gouin. Die Leitung der diplomatischen Fäden der artistischen Welt war ja das eigenste Gebiet dieses merkwürdigen Mannes, daher auch seine persönlichen Beziehungen in Paris, in ganz Europa, sich bis in die weitesten Kreise erstreckten.17 Um so mehr Wert mußte der junge Künstler der ihm zugesagten nachdrücklichen Unterstützung seiner Wünsche beimessen; um so gerührter sein Dank für das ihm gewidmete [334] Wohlwollen, um so ermutigender seine darauf begründeten Hoffnungen und – fügen wir es gleich hinzu – um so grausamer bei ihrem Zusammenbruch seine Enttäuschung sein!

Die letzte Station der kühn unternommenen Fahrt lag hinter ihm, als sich die schwerfällige Diligence von Boulogne aus an seinem (an der Route nach Paris belegenen) Häuschen vorüber an das Endziel seiner Wünsche in Bewegung setzte Jede Stunde Fahrt brachte ihn der großen Kunstkapitale Europas näher, der Stadt ›voll Endlosigkeit, Glanz und Schmutz‹. Es war am Montag den 15. September 1839, die Nacht wurde durchfahren; am Dienstag den 16 ›sehr früh‹ traf er in der Weltstadt ein, nachdem er zuvor – beim ersten Morgengrauen – an der Barrière St. Denis vergeblich den wenigen Zeilen nachgefragt, in denen ihm Avenarius laut Vereinbarung die nähere Adresse des von ihm ausgewählten und empfohlenen Hotel garni anzeigen sollte. Daß er sie nicht vorfand, war indes, wie sich gleich darauf auswies, nicht die Schuld des gefälligen Schwagers; sondern er selbst war schneller gekommen, als sein Brief. Zwar war dieser letztere am 13, sogleich am Tage nach der Vollendung seiner Partitur, geschrieben, doch aber, durch ein unaufgehelltes Versehen (laut heute noch deutlich lesbarem Poststempel) erst am 15. aus Boulogne abgegangen; so daß er tatsächlich zugleich mit den Reisenden sein Ziel erreichte. Es war demnach das erste nach seiner Ankunft, daß er sich im Gewirr der Straßen und Plätze nach der Rue Richelieu Nr. 60 durchzufragen hatte, um in dieser glänzenden Straße – heute wie die Rue Vivienne eine vergangene Größe – die kleine Brockhaussche Kommandite unter der Firma: librairie allemande de Brockhaus et Avénarius aufzusuchen.

Wer nur das Paris des Empire kennt, macht sich von der Physiognomie des damals von Wagner betretenen eine irrtümliche Vorstellung Erst die umgestaltende Hand des berühmten Seinepräfekten hat durch eines der am schlechtesten gebauten und am stärksten bevölkerten Stadtviertel von den Tuilerien bis zur Bastille eine geräumige Hauptstraße gebrochen, den Louvre mit den Tuilerien verbunden, den Karussellplatz geebnet und mit Anlagen versehen, die großen Boulevards bis zur Madeleine verlängert, die Champs élysées im Westen mit Sträuchern und Blumen bepflanzt und mit Fontänen belebt, den Industriepalast errichtet, das Boulogner Gehölz in einen Schloßpark umgewandelt und durch eine verschwenderische Fülle von Wasser geziert. Wo jetzt breite, freundliche Straßen und Boulevards mit reinlichen, blumengezierten Schmuckplätzen wechseln, in allen Stadtteilen Gärten und Parkanlagen sich ausbreiten, treffen wir um jene Periode dicht neben der ausgesucht glänzenden Herrlichkeit der Boulevards noch die finsteren und schmutzigen Schlupfwinkel zwischen dem Palais Royal, den Tuilerien und dem unvollendeten Louvre. Schuppen, Gauklerzelte und Polichinellkasten zwischen [335] beiden Palästen, die Pracht der Elysées ungepflegt und unerleuchtet, ein Gewirr ekelhafter Gänge und baufälliger Häuser um die ehrwürdige Notre-Dame, die Halsabschneidergassen der Cité, die luft-und lichtlosen Gassen des Quartier latin, die Hütten der zerlumpten Bevölkerung an der Place Cambray, das staubige, vernachlässigte Bois de Boulogne, die häßliche Einöde mit ihren Kneipen um den Arc de triomphe und so viele andere Punkte, vor denen der Fremde bei Einbruch der Nacht zurückschauderte. In einem solchen düsteren Gäßchen des alten Hallenviertels, der Rue de la Tonnellerie Nr. 33, fand der junge Meister mit seiner Frau und seinem großen Hunde in der geräuschvollen, bunt durchwimmelten Weltstadt sein erstes Unterkommen, in einem Hotel garni fast letzten Ranges, – andere gab es in dieser Straße nicht. Das düstere Haus hatte den einzigen Vorzug, durch eine über dem Eingang angebrachte Büste Molières als dessen Geburtshaus bezeichnet zu sein.18

›Ja, ich habe sie wohl gekannt, die alte düstere Rue de la Tonnellerie‹, sagt ein damaliger Bewohner dieses Stadtteiles,19 ›mit ihrer ganzen gleichartigen, ihrer durchaus würdigen Umgebung: der Rue de la Fromagerie, de la petite Friperie, du Marche aux Poires und wie sie alle heißen! Es war eine enge, schmutzig düstere Gasse, welche die Rue Saint Honoré mit den Hallen verband, nicht lang, dafür von hohen, fünf- und sechsstöckigen Häusern eingesäumt, die, alt und herabgekommen, mit ihren schwarzdunklen engen Alleen, ihren kleinen düsteren Boutiquen, einen nichts weniger als einladenden Eindruck machten. Das ganze Viertel war noch genau dasselbe, wie vor 50 oder 60 Jahren, und lieferte ein getreues Bild des Paris des vorigen Jahrhunderts. Nur ausnahmsweise drang ein Sonnenstrahl in diese Gassen, die dafür auch selten von Schmutz und Kot, nimmer von Gemüseabfällen frei wurden Denn schon um Mitternacht begannen die Maraîchers der Umgegend von Paris, welche ihr Gemüse nach den Hallen, dem Marché des Innocents, brachten, die Rue de la Tonnellerie polternd, mit dumpfem Kollern, zu durchfahren, um dann ihre Kohlköpfe und anderen Gemüsehäupter pyramidenartig an den Giebelwänden der Häuser bis fast zu den zweiten Stockwerken hinaufzubauen. So herrschte denn Tag und Nacht ein betäubendes Geräusch in diesen Straßen, dabei war die Rue de la Tonnellerie von immerwährenden penetranten Düften von Gemüse, Obst und Käse erfüllt‹.

[336] Dies war die äußere Szenerie von Richard Wagners erstem Einzug in die Weltstadt, zu deren Eroberung durch seine Musik er aus dem fernen Rußland ausgezogen war. Das war nun Paris, wie es bisher nur in seiner Phantasie gelebt hatte, mit seinen Palästen und Theatern, seiner Notre-Dame und seinem Grèveplatz, seinen Boulevards und Faubourgs und zahllosen Straßen, Gassen und Gäßchen, welches ganz Europa durch seine Opern und Revolutionen erregte, ja die einen durch die anderen hervorrief, und welches er nun – ›mit sehr wenig Geld, aber mit den besten Hoffnungen betrat‹.

Fußnoten

1 Als Kuriosum erwähnen wir hier die uns in den siebziger Jahren zugegangene Versicherung, es befände sich ein mit Wagners Namen unterzeichneter Schuldbrief noch zurzeit in den Händen eines solchen Rigaer Gläubigers. Wir haben es damals nicht an Bemühungen fehlen lassen, in Besitz desselben zu gelangen oder uns doch eine nähere Kenntnis dieses Schriftstückes zu verschaffen, das von manchem unserer ›Autographensammler‹ wohl gern um den vollen Nominalwert erworben worden wäre! Der Grund, weshalb alle Nachforschungen vergeblich waren, ist nur allzu begreiflich. Kaum, daß der Name Wagner wenige Jahre später wie ein glänzendes Meteor am deutschen Kunsthimmel aufstieg, so hielten seine Königsberger und Rigaer Kreditoren die Stunde für gekommen, jeden geringsten Rest einer halbwegs berechtigten Forderung mit geschäftlicher Pünktlichkeit zum Auftrag zu bringen und den zukünftigen Autographensammlern auch nicht die allermindeste Nachlese übrig zu lassen!


2 Dorn, ›Ergebnisse aus Erlebnissen‹ S. 164. Fast wörtlich so in der Broschüre ›Aus meinem Leben‹ I, S. 5, immer aber mit der gleichen Beflissenheit des verhängnisvollen: qui s'excuse s'accuse!


3 Das interessante Dokument, 32 geschriebene Zeilen umfassend, tauchte im Jahre 1886 im Autographenhandel wieder auf und wurde, trotz des wenig mustergültigen Französisch, in dem es abgefaßt ist, für einen namhaften Preis von einem unbekannten Handschriftensammler erworben.


4 Dorn schaltet hier episodisch die Erzählung des Schicksals eines wenige Jahre zuvor (1834) auf gleichem Wege heimlich über die russische Grenze gelangten Heldentenors Franz Mehlig ein, der vierzehn Tage nach seinem sonst glücklich überstandenen gefährlichen Abenteuer infolge der durchgemachten Aufregungen einem hitzigen Nervenfieber erlag.


5 Dorn, Ergebnisse, S. 165. (Vgl. die Broschüre ›Aus meinem Leben‹, I, S. 5 und das Feuilleton der Spenerschen Zeitung vom 2. (?) Februar 1873).


6 Briefliche Auskunft des Lotsenkommandeurs P. Th. Hiis in Arendal über die in Frage kommenden Lokalitäten, vom 23. Sept. 1901.


7 Auch die von dem jungen Meister so benannte ›Champagnermühle‹, eine Windmühle auf der hohen Spitze einer Landzunge am Wasser, innerhalb Sandvigens, hat sich noch im Gedächtnis der Mitlebenden erhalten. Unser ebengenannter Gewährsmann hat sich ihre Existenz noch von zwei alten Lotsen, geboren 1820 u. 1822, bestätigen lassen. ›Sie lag‹, schreibt darüber das ›Morgenblad‹ von Christiania, ›ca. 11/2 km außerhalb auf dem Eigentum Sleibrevig, auf einem Höhenzug, welchen man noch Mühlenheim nennt. Noch vor einigen Jahren konnte man die Ruinen der Mühle sehen, aber nun ist jede Spur von ihr verschwunden‹ (Morgenblad v. 25. Sept. 1901, Nr. 591)


8 Brieflich an Ed. Avenarius, 23. August 1839.


9 Ges. Schriften I, S. 18.


10 Den einfachen, in seinem Kern gewiß authentischen Vorgang spinnt Präger, der ihn berichtet, in seiner wunderlichen Art durch weitläusige Einschaltungen und Ausmalungen auf volle vier Druckseiten aus.


11 Der im Jahre 1667 unter Karl II. nach Webbs Plänen erbaute Palast wurde 1794 zu einem Hospital für dienstunfähige Matrosen der englischen Flotte bestimmt und hat seitdem über 5000 Invaliden zur Verpflegung gedient.


12 Auch diesen letzten Teil der Reise Wagners nach Paris stattet Präger, gerade wie den Londoner Aufenthalt, mit anekdotischen Details von nichtssagender Beschaffenheit, zufälligen Bekanntschaften und Unterhaltungen mit Passagieren usw. aus, welche wieder ganz den Eindruck willkürlicher novellistischer Erfindung machen. Sollten sie irgend auf Mitteilungen Wagners beruhen, so sind diese doch in der ihnen gegebenen Fassung nicht als solche wiederzuerkennen, und daher für alle Zeiten gänzlich ohne Wert.


13 Den Ausdruck braucht Wagner schon während seines dortigen Aufenthaltes in einem seiner Briefe an E. Avenarius.


14 Diese Freundschaft rührt erst von seinem zweiten längeren Pariser Aufenthalt (1859/61) her: vgl. Band II2 des vorliegenden Werkes, S. 218 ff.


15 Das Häuschen, eine ländliche Wirtschaft ›le petit caporal‹, sollte vierzig Jahre später, im Jahre 1879, eigens für den Meister photographiert werden; er sah das Bild und glaubte es zu erkennen; erst nachträglich erfuhren die vermittelnden Freunde zu ihrem Kummer, es sei nicht das richtige Häuschen gewesen, sondern dieses inzwischen vom Erdboden verschwunden.


16 Der Vermerk lautet buchstäblich: b(eantwortet) 27. VIII. fr(anco) poste rest(ante).


17 Bekannt ist, wie geschickt Meyerbeer diese diplomatischen Fäden zu lenken wußte, wo ›ein Tritt tausend Verbindungen regt‹; wie sorgfältig er in der öffentlichen Einführung seiner Opern zu Werke ging, um deren Ruhm er noch in spätester Zeit aufs ängstlichste besorgt war; wie er sich eine eigene ›Kanzellei‹ hielt, die ihr Erscheinen vom Pianissimo der ersten Nachrichten über ihr Entstehen bis zum Fortissimo mit Paukenschlag im Moment ihrer Aufführung vorbereitend ankündigte!


18 Heute ist dieses Geburtshaus Molières zusamt der Tonnelleriestraße und ihrer ganzen Umgebung von engen und unsauberen Gassen und Gäßchen verschwunden, doch hat man dafür das auf seiner Stelle in der boulevardartigen neuen Pontneuf-Straße erbaute Haus No. 31 mit einer entsprechenden Gedenktafel geschmückt.


19 Ernst Pasqué, in der Zeitschrift ›Nord und Süd‹ 1884.

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 323-337.
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