III. Nachträge und Ergänzungen.

[488] (Zu Seite 7: In die geregelte Bahn des bürgerlichen Daseins tritt das Genie wie ein exzentrischer Komet, der mit weithin strahlendem Ruhmesschweife die wohlübersehbare Ordnung philisterhafter Planeten durchkreuzt.) Das Bild des Kometen braucht einmal, freilich in einem etwas anderen, tiefen Sinne – der sich aber doch auch mit dem obigen berührt – Richard Wagner von sich selbst, in einem Briefe vom 29. September 1859 aus Venedig. ›Dem Blicke ... trat, dicht über dem verwandten Siebengestirn‹ (dem selbstgewählten Familienwappen des Meisters) ›ernst und hell, mit wachsendem Lichtschweife, der Komet entgegen. Mir hatte er nichts Schreckendes, wie mir überhaupt nichts mehr Furcht einflößt, weil ich so gar kein Hoffen, gar keine Zukunft mehr habe; ich mußte sogar recht ernst über die Scheu der Leute vor dem Erscheinen solchen Gestirns lächeln, und wählte es mit einem gewissen Trotze zu meinem Gestirn. Ich sah in ihm nur das Ungewöhnliche, Leuchtende, Wunderbare. Bin ich so ein Komet? Brachte ich Unglück? – War das meine Schuld? – Ich konnte ihn nicht mehr aus den Augen verlieren.‹ (Richard Wagner an M. Wesendonck, Berlin, A. Duncker, 1904 S. 47).


(Zu Seite 25/26. Adolf Wagners ›Zwei Epochen der modernen Poesie, dargestellt in Dante, Petrarca, Boccaccio, Goethe, Schiller und Wieland‹, Leipzig, Breitkopf u. Härtel 1806.) Es ist der Zweck dieser Schrift, ›aus dem modernen Weltgemälde zwei Hauptgruppen hervorzuheben und zu versuchen, ob an ihnen das Gemälde in seinem inneren Zusammenhange aufgefaßt und erkannt werden könne‹. ›Es sei uns vergönnt‹, heißt es in der Einleitung, ›hier, wo es gilt ein Ganges in seinem Hauptpunkte zu fixieren, das Kleinere zu unterlassen, welches in der Mühseligkeit bestehen möchte, die schon bestimmte poetische Richtung zweier Nationen durch alle einzelnen Hauptpunkte zu verfolgen, dagegen aber das Größere zu tun, um diese Richtungen selbst in ihrem Ursprunge zu begreifen. Denn wenn es der Poesie einer Nation gilt, so ist eben damit der höchste Punkt ihrer Bildung zu ermitteln, in welchem sich alle Strahlen derselben sammeln, wie sie von ihm ausgehen.‹ Dabei, werde für den unbefangenen Blick des Forschers ihr Nationalgepräge nicht unbemerkbar, und in diesem das Eine wiederzuerkennen sein, das aller Mannigfaltigkeit der einzelnen Bildungen zu Grunde liege: ›die unsichtbare Sonne, von welcher sie selbst ihr Licht erhielten‹. Unter diesem Gesichtspunkt werden drei gleichzeitige italienische, und ebenso viele deutsche Dichter einander gegenübergestellt. Als Hintergrund für den ersten Teil der Betrachtung dient ein allgemeines Bild des Mittelalters mit seinen mannigfachen Regungen: dem Rittertum, dem Scholastizismus, den A.W. als eine Art ›philosophischen Rittertums‹ darstellt, und dem Kampfe zwischen geistlicher und weltlicher Macht. In der Betrachtung Dantes geht er von dem lyrischen Dichter aus. Männlicher und geistvoller als die weichlichen. Troubadours habe er die herrlichsten Regungen seines Gemütes gebildet: aus der Tiefe der Scholastik, in welche er an seines Meisters Aristoteles Hand hinabgestiegen, habe ihm seine Liebe als ein Proteus zurückgestrahlt. ›Alles ward von ihm zuruckgeführt auf den ersten Erreger, auf das einzige wahre Sein, als seinen Urquell; und von ihm aus bildete sich eine Welt, deren Glanz und Größe die alten Sänger geahnt und die heiligen [489] Schriftsteller der Kirche unter allerlei Bildern dargestellt hatten, so daß Alles nach dem Idealen hindrang und, was real war, nur eine Allegorie des Unendlichen wurde. Auf diesem Wege ward ihm Beatrice, die hehre Gestalt, welcher Alles dient, durch welche, wie durch ein Medium, er Alles sah, – sie ward ihm eine allegorische Person; die Liebe zu ihr nur die Tochter einer höheren, reineren, und trat als solche in einen mystischen Dämmerschein, aus welchem der dem Quell der Liebe ergebene Geist herrliche Funken sprühte, welche die ganze Welt erleuchteten‹. In der Divina Commedia habe er die Metamorphose des Menschengeistes bis zu seiner Vollendung im ›Christianismus‹ darstellen wollen; so betrachtet, springe die tiefe Absichtlichkeit der Trichotomie in die Augen: indem jedes Ding, zuerst das Ewige fliehend, in seiner Eigenheit sich festzusetzen und im Kampfe mit anderen zu behaupten strebt, bis es endlich, wieder aufgenommen in die Idee, von der es ausging, in vollem, ruhigem Glanze strahlt. So biete sich hier die Welt, ihr Wiederschein als Kunst und Wissen, und die Rückkehr beider zu ihrer Idee. In der Hölle ein trübes Reich furchtbarer, mit einer auch das Äußerste nicht scheuenden Kühnheit ausgeführter Gebilde, die menschliche Natur an das Irdische hingegeben und gebannt; im Fegefeuer das Reich der Farben, in welchem die Dekoration lachender werde, die Menschheit freien Trieb und Schöpferkraft äußere; im Paradiese Alles in reinem Lichte strahlend. In diesem Sinne habe der große Epiker das vorgefundene und erlebte Besondere zum Allgemeinen erhoben, während Petrarca, dessen ganzes Leben lyrisch gewesen, das Allgemeine zum Besonderen individuierte, das Unendliche zur Glorie des Endlichen macht. Wie er somit die Liebe immer noch nach ihrer idealen Seite erfaßte, habe endlich Boccaccio sich zu ihrer realen Seite geneigt, die Pracht, Fülle, Lebendigkeit ihrer Genüsse, wie ihrer wilden Schmerzen gemalt. In dieser Hinsicht wird außer dem Decamerone vornehmlich seine ›Fiammetta‹ hervorgehoben, worin ein kräftiges weibliches Gemüt in dem ganzen Spiele der Leidenschaft durch alle einzelnen Momente hindurch verfolgt werde. So ergeben die Sphären dieser drei Dichter eine abgeschlossene Totalität: in Dante verfließe und sei vereint, was in Petrarca sich mehr nach der idealen Seite zusammenziehe, in Boccaccio nach der realen sich ergieße. – Das von vielen so bezeichnete ›goldene Zeitalter deutscher Poesie‹ in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erscheint dem Verfasser der zwei Epochen als eine ›von deutscher Gutmütigkeit angenommene Wiederholung des sogenannten siècle d'or in Frankreich‹. Zu den Hindernissen einer mächtigen Entfaltung der Poesie in unserer Zeit sei vor allem ›das Entweichen der Religion‹ zu rechnen. Dennoch ließen sich auch hier die entsprechenden Typen nicht verkennen. Wie das Leben des großen Florentiners, (findet Wagner dasjenige Goethes mehr als irgend eines wahrhaft organisch; so sichtbar und fest gezeichnet seien alle Momente des Kreises, den er durchlaufen, bis auf den schönen Herbst, der im Wilhelm Meister eine ›Landschaft in der Abendsonne' gewähre. Im Gegensatz zu der stillen Größe und ruhigen Klarheit in Goethes Schaffen und Wesen betont der Verfasser der ›zwei Epochen‹ an Schiller sein stürmisches Eingreifen in die Räder der Zeit, sein philosophisches Produzieren, sein Streben und Ringen nach dem, was in Goethe von selbst sich lieblich zur Erde hinabneige. In Goethe, Schiller und Wieland kehre jetzt in Deutschland das als Ideal wieder, was sich in Italien in Dantes Epoche real gezeigt habe. Goethe sei – wie Dante – der Vereinigungspunkt für Vorgänger und Nachfolger; in ihm sei der Geist der Poesie innerlicher geworden und verkündige eine neue Welt, eine Welt der Konzentration bisher zerstreuter Kräfte. – Von dem Reichtum eigener bedeutender Gedanken und treffender Einzelbeobachtungen, der in dem ganzen merkwürdigen Buche vorherrscht, konnte in die vorstehende, in großen Umrissen den allgemeinen Gang verfolgende Darstellung nichts übergehen; andererseits ist in ihr manche schroffere und einseitige Auffassung ebenfalls nur angedeutet, wie die Auffassung Schillers als ›philosophischen‹ Dichters, die Bezeichnung z.B. seines Don Carlos als eines ›Speichers für die kantische Philosophie‹ usw. Eine [490] tiefer gehende Betrachtungsweise haben wir zum Teil erst den Belehrungen Richard Wagners selbst zu verdanken, besonders dem neunten Abschnitte von ›Deutsche Kunst und deutsche Politik‹ (in welchem gerade auch Don Carlos die entsprechende Würdigung findet) und dem so vielsagenden Schlusse der ›Beethoven‹-Schrift!

Verwandte Ausführungen über die großen Dichter Italiens bietet die italienisch geschriebene, kurze, aber reichhaltige allgemeine Einleitung des von Adolf Wagner herausgegebenen ›Parnasso Italiano‹, 1826 (S. 108). Es werden darin die italienische Poesie überhaupt, sodann ihre vier hervorragendsten Dichter insbesondere, als deren eigentümlichste Repräsentanten, scharfsinnig charakterisiert; die vier Hauptelemente dieser Poesie als Christentum, scholastischer Platonismus, Ritterlichkeit und orientalische Märcheneinflüsse (in Verbindung mit römischer Mythologie) bestimmt, und demgemäß Petrarca als der Dichter eines zum Teil erzwungenen und frostigen Platonismus, Tasso als Dichter der Seele, Ariost der Phantasie, endlich Dante, der Vereiniger und Durchdringer des Göttlichen und Menschlichen, als der Dichter des Geistes (intelletto) dargestellt. Von seiner besonderen Verehrung Goethes treffen wir auch im Parnasso ein unmittelbares Zeugnis in der in italienischen Terzinen verfaßten Dedikation, mit welcher er sein Werk dem ›principe dei poeti‹ als Huldigung darbringt, ›der ihm dafür als Geschenk einen silbernen Becher zusendete und persönlich bekannt wurde‹. (Siehe den Artikel ›Adolf Wagner‹ im ›Konversati onslexikon der neuesten Zeit und Literatur‹ 1835 Sept. S. 230 ff.)


(Zu Seite 36, Anm.: Der mächtige Löwe über dem Eingang bezeichnete bis zum Jahre 1885 das Geburtshaus Richard Wagners, bis dessen Niederreißung wegen konstatierter Baufälligkeit unvermeidlich war.) Nur ein einzelner Teil des altehrwürdigen Hauses im Brühl ist noch heute erhalten, aber nicht mehr in Leipzig, sondern in London. Es ist ›die alte, historisch echte Tür, welche aus (Friedrich) Wagners Wohnzimmer in den Alkoven (resp. die Schlafkammer und das Geburtszimmer Richard Wagners) führte‹. Sie wurde bei der Abtragung des Hauses durch einen Leipziger angekauft und, mit beigefügtem Authentizitätszeugnis, als ein Geschenk eigentümlicher Art, einem der hochherzigsten, in Wagners Sache tätigsten Londoner Freunde, dem verewigten Julius Cyriax, zugesandt, der sie einem eigens dazu konstruierten Schrank zur Aufbewahrung seiner Wagnerianischen Heiligtümer in gleicher Funktion (als Tür nämlich!) einverleibte, und bei dessen Nachkommen diese seltsamste aller Reliquien für ferne Zeiten einer pietätvollen Hochhaltung gewiß sein darf.


(Zu Seite 84: Ein besonders enges Geschwister- und Freundschaftsverhältnis soll den neunjährigen Richard Wagner mit der Schwester Cäcilie, der kleinen ›Cile‹ verknüpft haben. Mit Bezug auf die von uns an der bezeichneten Stelle hinzugefügte Anmerkung halten wir uns für verpflichtet, als authentischen Beleg für den obigen Satz einen uns erst während des Druckes bekannt gewordenen Passus aus einer brieflichen Mitteilung des Meisters an die Schwester (vom 30. Dezember 1852 aus Zürich) mitzuteilen, welcher die genaueste Bestätigung dieses engen Freundschaftsverhältnisses mit seinen eigenen Worten zum Ausdruck bringt: ›Wenn Du so einmal wieder dich an mich wendest, fällt mir doch unwillkürlich unsere Jugendzeit immer ein, wo wir zwei doch eigentlich am meisten zu einander gehörten: keine Erinnerung aus jener Zeit kommt mir, ohne daß Du nicht mit darein verflochten wärest. So mag's wohl auch bei Dir gehen, und, wie man stets die Jugend für die glücklichere Zeit hält, so sehnst Du dich wohl aus den Widerlichkeiten der Gegenwart auch nach dem, der dir damals der Nächste war. Die Loschwitzer Strandpartie mit meinen Stiefeln (S. 85/86 Humann u.s.w. spielt auch bei mir dann und wann noch ihr Stückchen; hätten wir den Schlüssel nicht in den Kürbis gelegt (S. 86/87) wäre damals alles besser abgegangen. Meinst Du nicht auch?‹ Letzterer wehmütig humoristische Satz, in welchem [491] ›Schlüssel‹ und ›Kürbis' gewissermaßen zu Symbolen – des lockenden Phantasiespiels der Idealität und der real gesicherten bürgerlichen Häuslichkeit, in die man nur durch den sorglich aufbewahrten Schlüssel gelangen kann! – erhoben erscheinen, ward von uns bereits, wenn gleich noch nicht nach dem Original, auf S. 87 dieser Bandes angeführt.


(Zu Seite 108: Luise war bald nach ihrer Übersiedelung nach Leipzig die Braut des Buchhändlers Friedrich Brockhaus geworden.) Albert Heintz berichtet im ›Bayreuther Taschenbuch‹ 1894, S. 156 auf Grund der Mitteilung einer Jugendfreundin Cäciliens eine Anekdote, der wir hier, ohne weitere Hinzufügung, ihren Platz nicht versagen wollen: ›Zur Zeit der Verlobung ihrer Tochter Luise mit dem Verlagsbuchhändler Fr. Brockhaus verkehrte Mutter Geyer viel mit meiner Mama, und ich lauschte ... gar zu gern in ihrer Nähe. Ihre Cäcilie pries Mutter Geyer als große Stütze in der Wirtschaftssorge, die der tägliche Besuch des reichen Bräutigams mit sich brachte. Da geschah es auch, daß dem eifrig studierenden Richard in Abwesenheit der Magd die Zumutung gemacht wurde: Bier zu holen! Mit Entrüstung wies er dergleichen – als Gymnasiast – von sich. Endlich siegte sein gesunder Sinn; er kehrte zurück, mit frohem Lachen die Hände in beiden Taschen. Damals hatten die Flaschen von Ton noch Henkel, da er aber mit dem Federmesser sich Einschnitte in seine Taschen gemacht, so konnte er deren mehrere verborgen tragen. Ich bewunderte diesen praktischen Kunstgriff außerordentlich, wie von Einem, der sich im Leben zu helfen missen wird‹.


(Zu Seite 109: Auch der Onkel selbst hatte für seine eigene Person, noch als Fünfziger, sein Junggesellenleben aufgegeben.). Adolf Wagner lebte seit dem Tode des Bruders, und des Freundes Apel, seit die Familie Friedrich Wagners mit Geyer nach Dresden übergesiedelt, Wendt nach Göttingen berufen war, zunehmend in einsiedlerischer Zurückgezogenheit, mit seltener Unterbrechung kleiner Reisen Leipzig kaum verlassend, und durch emsige literarische Geschäftigkeit ein resigniertes Leben beschwichtigend. Von seinen umfassenden und vielseitigen Übersetzungsarbeiten aus dieser Periode nennen wir nur die 1817 vollendete von William Coxes, ›Geschichte des Hauses Österreich, von Rudolf von Habsburg bis Leopold II.‹ (Leipzig, Brockhaus; 4 Bde. 1812–17), wovon er einen widerrechtlichen Nachdruck erlebte; sowie die ›Neuen Reisen der Engländer‹ (Leipzig, 1814 ff., Band I und II; die folgen den Bände sind von einem anderen Gelehrten bearbeitet). Ferner: ›Benjamin Franklins nachgelassene Schriften‹ (5 Bde., Weimar 1817–19); ›William Shakespeares Leben von Augustin Scottowe (Leipzig 18241), und das für die Geschichte des Columbus bahnbrechende Werk Spotornos: ›Christophoro Colombo und seine Entdeckungen‹, Leipzig, Fleischer, 1825. Die Stimmung, welche die empörenden Ungerechtigkeiten gegen den großen Mann, dessen letzte Lebensjahre zu verbittern sich alle Arten von Verderbtheit vereinigten, in dem Leser hervorruft, mußte sich auch des deutschen Bearbeiters bemächtigen, wie aus dem Vorworte und mehrfachen Anmerkungen genugsam ersichtlich ist.2 Noch mehr als in seinen Übersetzungen zeichnete sich A. Wagner in zahlreichen anderen gelehrten Unternehmungen als einer der bedeutendsten Sprachforscher seiner Zeit und namentlich als Kenner der neueren Sprachen und ihrer Literatur aus. Dazu gehört die 12. Ausgabe von Bailey-Fahrenkrügers ›Wörterbuch der englischen Sprache‹ (2 Teile; Jena, Fromman 1823), eine durch etymologische Sprachvergleichungen [492] ausgezeichnete Arbeit. ›Bei mir geht es im gewohnten Gleise fort‹, schreibt er im Juli 1820, ›und da mich mein engländisches Wörterbuch festhält, so kann ich schwerlich dies Jahr von hier einen Ausflug machen‹. Ferner sein anonym herausgegebenes ›Glossary‹ zu der bei E. Fleischer erschienenen Ausgabe des Shakespeare, wobei zwar Nares benutzt, aber durch kritische und historische Bemerkungen vielfach bereichert und berichtigt worden ist. Seine Sprachvergleichungen in beiden Werken zeugen von einer sorgfältigen Umsicht und Gründlichkeit, die er auch in seiner Bearbeitung von Murrays Werke ›Zum europäischen Sprachenbau‹ betätigt hat. Endlich fand auch sein ›Lehrbuch der italienischen Sprache‹ (Leipzig, 1819) verdiente Anerkennung. Durch so bescheidenen Fleiß, redliches anspruchsloses Streben, und daraus fließenden heiteren, milden und gemütlichen Ernst gewann er sich viele edle und geistreiche Mitlebende selbst des Auslandes zu Freunden, ohne sich darum zu bemühen. – Literarische Fehden waren ihm verhaßt; wo es aber galt, Schlechtigkeiten, Dünkel und Unwissenheit bloßzustellen, bestand er sie mit unerschrockenem Mute und eigentümlicher Kraft, wiewohl er dies immer nur als Notwehr ansah. Ein besonderer Gegenstand des Abscheus war ihm die moralische wie literarische Verkörperung des reaktionären Geistes in der Person August v. Kotzebues. ›Kotzebue bewährt sich wieder als schlecht, indem er den Angeber und Anschwärzer frei edler Gesinnungen beim russischen Hof macht, seine sykophantischen Bulletins laut und offenkundig wurden und er nun die Polizei auf die Preßfreiheit und ihre Vertreter in Jena, Luden, Oken und Wieland hetzt, deren Zeitschriften er mittelst diplomatischer Gesindelskniffe, mit Beziehung auf die Wartburgiade, zu unterdrücken sucht. Derlei Gesindel hat freilich auch Recht; denn im Äther der Freiheit müßten sie, wie Menschen auf hohen Piks, notwendig atemlos eingehen; es ist aber besser, daß Knechterei, als daß Freiheit sterbe und wird hoffentlich doch auch geschehen, da überall schon die Axt an die Wurzel gelegt ist‹.3

Adolf Wagner hatte seine stille Gelehrten-Häuslichkeit bis zu seiner spät geschlossenen Ehe jahrelang in einem hinteren Zimmer des Thomäschen Hauses am Markt, in dessen Räumen er zugleich mit der Schwester Friederike und der altbefreundeten Besitzerin Jeannette Thomä ›zu Dreien einen gemeinsamen Haushalt führte‹ (S. 74). Mit aus diesem Grunde, ›wegen seiner zwiefach weiblichen Umgebung, hatte er – um Richards selber willen! – den Antrag Alberts, diesen in seinen Hausstand aufzunehmen, abgelehnt (S. 80): ›Die meisten Weiber müssen ja zeitlebens erzogen und gestellt werden, wie Uhren; was gar nicht so abwürdigend für sie ist, als es klingen mag, und was bei anderer Erziehung, als die dermalige unserer Geschlechtsreihe und unseres Jahrhunderts ist, nicht so nötig sein würde, rebus sic stantibus aber so ist und sogar bequem für die Guten ist, wenn sie nur gutartig sind‹. Dieser originellen Umgebung des Oheims, die er mit offenem Knabenauge erschaut und in sich aufgenommen, entsann sich der Meister noch in seinen spätesten Jahren: Tante Friederike sei lang und hager, Jeannette Thomä rot und dick gewesen und beide Freundinnen hätten untereinander ewig im Zwist gelegen, wofür er dies oder jenes ergötzliche Beispiel streiflichtweise anführte. ›Das Klavier muß gestimmt werden‹, habe die Eine gesagt; ›das heißt, ich muß es stimmen lassen‹ die Andere entgegnet. So spricht denn auch A. Wagner gelegentlich von einem ›wildweibischen Ungestüm‹, das er ›selbst mit einer Johannesliebe, die er noch nicht in sich fühle‹, nicht immer ›beschwören und zähmen‹ könne. Eine große und nach außen unerwartete Veränderung vollzog sich daher in seinem Leben, als er sich, zur völligen Überraschung selbst seiner näheren Freunde, ohne viel vorbereitende Ankündigungen, in seinem einundfünfzigsten Lebensjahre am 18. Oktober 1824 mit der zweiunddreißigjährigen Schwester seines Freundes, Sophie Wendt, in der Thomaskirche trauen ließ. Es scheint, der Verkehr mit der schönen und geistreichen Frau habe bereits [493] seit Jahren gedauert, und seinen beiden Hausgenossinnen als eine ihrem Zusammenleben drohende Gefahr längst einen stillen oder lauten Anstoß bereitet. ›Es kam zu häuslichen Auseinandersetzungen, und nach einiger Zeit schien der bedrohliche Verkehr gänzlich aufgegeben. Da, über Jahr und Tag, als Schwester und Freundin längst beruhigt und in ihren Hoffnungen sicher waren, schleicht sich eines Nachmittags Adolf Wagner ungesehen im Frack aus dem Hause, und kehrt zwei Stunden darauf mit seiner ihm eben angetrauten Frau zurück.‹ (›Dieses Histörchen erzählte mir Richard Wagner auf einem Spaziergange in Bayreuth‹, meldet uns der freundliche Gewährsmann dieser Angabe4. Daß seine vieljährigen brüderlichen und freundschaftlichen Beziehungen trotzdem seinem Leben fest eingewachsen blieben, daß er sie über und neben dem Neuen nicht missen mochte und daß er diese anhängliche Besinnung durch regelmäßige Besuche im alten Thomäschen Hause betätigte, entnehmen wir einem seiner erhaltenen schönen, gedankenreichen Briefe an Albert.


(Zu Seite 131-32: Zweihändiges Klavier-Arrangement von Beethovens IX. Symphonie.) In einem sehr lesenswerten Aufsatz über ›Richard Wagners Klaviermusik‹ bezeichnet Rudolf M. Breithaupt dieses Arrangement – trotz Wagners Versicherung seiner ›Spielbarkeit‹ – als nichts weniger denn klaviergemäß. Es sei vielmehr eine ›getreue Nachbildung des Orchesters‹, eine ›gute photographische Aufnahme für das Klavier‹. Wenigstens sei dem Wesen des Klaviers, d.h. dem ›klingenden Moment‹, darin nur zu einem geringen Teile Rechnung getragen. Vieles sei schwerflüssig, unbeholfen und wenig spielbar. ›Aber man bedenke‹, fügt er hinzu, ›Wagner war 18 Jahre alt, und die Symphonie den breiten Massen vollständig unbekannt und nicht arrangiert. Als ein kultureller Pionierversuch darf daher die Bearbeitung diejenige Achtung für sich in Anspruch nehmen, die jede Bemühung um das Erfassen und Durchdringen des Beethovenschen Genius, besonders aber um die Verbreitung gerade dieses Menschheitshymnus an sich verdient‹ (›Die Musik‹, III. Jahrgang 1903/04, Heft 20, S. 118/20).


(Zu Seite 143: Unter seinen Übungsarbeiten aus der Lehrzeit bei Weinlig ist vor allem jene, höchst einfache und bescheidene Klaviersonate in B dur zu nennen, in der er sich den Vorschriften seines Lehrers gemäß zunächst nur ›von allem Schwulst losmachte‹ und von jeder freieren Entfaltung seines eigenen Innern absah.) Hierzu bemerkt R.M. Breithaupt an der soeben angegebenen Stelle das Folgende: ›Man darf an diese Arbeit keinen absoluten Maßstab anlegen, sondern muß sie unter dem Gesichtspunkt verstehen, daß sie vielleicht eine, und zwar eine der besten von vielen, in der damaligen Zeit ausgeführten Schülerarbeiten war. Es spricht schließlich auch der Zeitgeist mit, der eben anfing, Mozart vollauf zu würdigen (obwohl gar nicht im Sinne Richard Wagners) und Beethoven in den Konzerten regelmäßig durchzuspielen‹. ›Sie ist eine Muß-Arbeit, die jedes eigene, persönliche Ausleben ausschließt, – die Frucht des gebundenen Stils, gewachsen in der strengen Zucht des vierstimmigen Satzes. Nimmt man den Einfluß des Lehrers, seine Vorliebe für Mozart hinzu, so erklärt sich der Schablonencharakter der Sonate von selbst. Es ist Zwangsarbeit, die nicht das geringste Idiom der Wagnerschen Tonsprache aufweist. Sie atmet, wenn man vom Larghetto absieht, Mozartschen Geist. Unter anderm treiben Wolfgang Amadeus Ouvertüren (»Idomeneo« und »Entführung aus dem Serail«) darin ihren neckischen Spuk. Allerdings fehlt leider die Mozartsche Klarheit und Flüssigkeit. So sei auch der Klavierstil darin hart und unbeholfen, ohne jede klaviermäßige Geschmeidigkeit.‹ ›Ja, man darf das zweite Thema (des ersten Satzes) schon völlig geigengemäß auffassen, oder sich von einer Klarinette geblasen denken, d.h. schon hier den orchestralen Einfluß feststellen‹. Das [494] Larghetto inEs – fleißig gearbeitet und nicht ohne Schlichtheit und weiche Innigkeit – ist bis auf den großen Vorschlag ›~‹ in Beethovenscher Adagio-Faktur gearbeitet und lehnt sich in seinem Seitenthema direkt an die bekannte Klarinetten-Kantilene im A dur-Larghetto der II. Symphonie an. Der dritte Satz, Menuetto,Allegro B dur 3/4 sei der relativ beste. ›Gesund, frisch und straff durchgeführt, besitzt er wenigstens ein Thema, das Hand und Fuß hat‹. – Inbezug auf die ebendaselbst erwähnte ›Polonaise in B dur, zu vier Händen‹ bemerkt derselbe Beurteiler, sie sei ›sicherlich nur der Kenntnis und Liebe zu Karl Maria v. Weber zu verdanken‹. ›Sie ist im Stil des Rondo brillant in Es u.a.m. geschrieben, bleibt aber in der Thematik hinter ihren Mustern zurück‹. (Siehe: R.M. Breithaupt, ›R. Wagners Klaviermusik‹ a.a.O. Seite 114/18).


(Zu Seite 143: ›Fantasie in Cis moll‹). Nachdem wir im Vorhergehenden über die beiden bekanntesten (weil durch den Druck jedermann zugänglichen), frühesten Klavierproduktionen Wagners einige Angaben aus dem Breithauptschen Aufsatz berücksichtigt, liegt es uns bei weitem näher, die höchst interessanten Einzelheiten aus der eingehenden Analyse der unveröffentlicht gebliebenen ›Cis moll-Fantasie‹ dem Leser an dieser Stelle nicht vorzuenthalten. Der erwähnte vorzügliche Kenner äußert sich nämlich a.a.O. zunächst dahin, daß die bisher gültige, auch von uns zitierte Ansicht Tapperts, wonach dieses Tonstück,bei weitem interessanter und eigentümlicher sei als die Sonate in B und die ›Polonaise‹, bedeutend zu erweitern wäre. Man dürfe vielmehr sagen, aus dieser Fantasie wehe eine andere Luft: ›es klingt die Morgenröte an, aus der uns einst eine Sonne erstand‹.

Äußerlich könne man von vier Sätzen sprechen, deren letzter eine Wiederholung des ersten sei: Un poco lento 12/8 Allegro agitato 9/8, Adagio molto cantabile 2/4 und Un poco lento 12/8. Innerlich betrachtet dagegen sei diese Fantasie einsätzig mit einem ersten (Un poco lento, allegro agitato + vierter Satz) und einem zweiten Thema (adagio molto cantabile). ›Im einzelnen interessiert sofort das Eingangsthema mit folgendem Rezitativ. In der Achtelbewegung (des Hauptthemas) liegt eine leidenschaftliche Zurückhaltung, und aus den ansteigenden Bässen klingts wie drohender Groll. In den wenigen Takten steckt Farbe und Stimmung. Der thematische Reiz liegt in dem Widerspruch des›un poco lento‹ und dem vulkanischen Glühen, das zur Eruption nach außen drängt. So gefaßt, als erste Schleudermasse, überraschen die chordischen Ausbrüche im verminderten Septakkord nicht mehr. Diese Blitze, dies Pathos der sich anschließenden dramatischen Deklamation sind eine notwendige Folge: – sie mußten kommen. In dem Rezitativ liegt ein herrischer Trotz, der Wille: ›Fort mit der Form!‹ – der Drang, die lästigen Fesseln der stabilen Achtelbewegung abzustreifen und sich in den Strom absoluter Freiheit zu stürzen. Der Satz ist ein leidenschaftliches Aufbäumen und Wiederzurückzufallen, ein Ausbruch wilder Wut gegen fremden Zwang und ein Geständnis der Ohnmacht menschlicher Unvollkommenheit, die sich schließlich resigniert wieder in das Gleichmaß der 12/8 und daspoco lento schickt. Deckt sich der Ausdruck auch nicht mit dem, was innerlich herauszuhören, so bleibt doch dieser Bruch der Form und die pathetischen Steigerungen in den folgenden Rezitativen bemerkenswert genug. Letztere sind untrügliche Zeichen einer dramatischen Befähigung. Mit einander verglichen werden sie immer wuchtiger. Auf den ersten Ausbruch folgt ein zweiter, darauf noch ein zur Dominante leitender längerer dritter, ehe der eigentliche Gedanke im ruhigen poco lento, d.h. in gebundener Form, sich ausspricht. Klassisch ist der Gegensatz zwischen den dräuenden Wolken am Anfang und dem mildem Sonnenschein dieses Dominantsatzes in heiter dahinfließenden Terzen' usw. ›Der Schluß wird abermals durch ein Rezitativ unterbrochen, es ist das kühnste, längste und originellste. Eine eingeflochtene seine Wendung, die wie eine rührende Bitte klingt, charakterisiert – in Holzbläser-Ausführung mit führender Oboestimme gedacht – ganz den späteren Wagner. Es ist der Tristan-Typ in vollster[495] Schärfe und Plastik, die protoplasmische Form des ›Sehnsuchtsmotives‹ usw. ›Steckt im Thema (des Allegro agitato) schon eine Coriolan-Linie, so ist die Durchführung durchaus Beethovenisch: die siebente Sinfonie wirft ihre Schatten‹ usw. Der Schluß und gleichzeitig die Überleitung zum Adagio wird wieder durch ein eigenartiges längeres Rizitativ besonders akzentuiert. Hier ist die Antizipation des Adagio-Themas (vgl. ›war es so schmählich, was ich verbrach‹, Walküre, Akt III) von nicht geringer Bedeutung; denn es läßt sich schon hier zum ersten Male die wesentliche Eigentümlichkeit des späteren Wagnerschen Motivs voraus erkennen: ›sich in Elementen anzudeuten, vor- und mitzuklingen, ehe es in der Kraft seines durch Charakter und Handlung überzeugenden Grundes voll auftritt‹. Das Adagio molto cantabile ›zeichnet sich durch große harmonische Fülligkeit und reiche Klangpracht aus‹, die Durchführung ›ist wegen der Verwendung auch des kleinsten thematischen Moleküls von Wert‹. Im Schlußstück, der Wiederholung des ersten Teils, sei die Schlußphrase (vgl. ›Tannhäuser': ›Inbrunst im Herzen‹, – im Anfang der Erzählung) bemerkenswert. Dieser Schluß sei mehr als eine Vorahnung, vielmehr die Gemißheit des späteren Wagner. ›Wer Ohren hat zu hören, der höre, und wer auf den inneren Zusammenhang der Dinge etwas gibt, dem wird dieses motivische Gebilde zu einer klingenden Frühlingsblüte, aus der uns die schwere goldne Frucht des Wort-Ton-Dramas entgegenreifte‹

So sei diese Fantasia trotz mancher Unbeholfenheiten im Innersten ein echter Wagner, – voll leidenschaftlicher Züge, kühner Ausblicke und dramatischer Ansätze. ›Jch gehe nicht zu weit, wenn ich sage, daß gegen dieses Phantastikon die beiden vorhergehenden Studien (B dur-Sonate und Polonaise) reine Knochenkunst sind; denn hier überrascht eines: Fleisch und Blut, Phantasie, Ernst, Tiefe, und echte, weil verhaltene Leidenschaft. Das Können deckt sich zwar nicht mit dem Wollen, aber der faustische Wille allein fesselt‹. ›Am bedeutsamsten scheint mir die Entwicklung der Fantasie aus einem einzigen thematischen Kern zu sein. Einige rezitative Wendungen ausgenommen, entspringt alles aus ein und derselben Quelle‹ usw. ›Also trotz Fantasie und freiester Form, trotz Auseinanderbrechens der einzelnen Sätze durch häufige Rezitative eine überraschende innere Einheit! Dieser einheitliche Zug innerhalb eines freien Sich-Ergehens hebt die Arbeit turmhoch über die beiden jüngeren (?) Schwestern. Sie bleibt als frühestes Zeugnis Wagnerischer Kunst eine außerordentliche Erscheinung, die in jugendlichem Ungestüm gezeugt, schon die Züge eines phantastischen, glühenden Feuerwesens zeigt‹ (a.a.O.S. 120/126).

Seinen eingehenden, mit charakteristischen Notenbeispielen ausgestatteten Bericht über die unveröffentlichte Fantasie in Cis moll schließt dann aber der selbe Gewährsmann auch noch einen ferneren über eine, ebenfalls unveröffentlicht gebliebene Sonate in Adur (ebenfalls mit Notenbeispielen) an, deren wir in unserm Text auf Seite 143 auch in gegenwärtiger Neuausgabe nicht gedacht haben, aus dem einfachen Grunde, weil selbst ihr Vorhandensein uns unbekannt geblieben war. Ob dieselbe zeitlich vor oder nach der Fantasie entstanden sei, läßt er unbestimmt: möglich, daß sie sich an andern Formenskizzen der strengen Periode anschließt, so daß sie zeitlich vor die freiere Fantasie zu setzen wäre. ›Dem Inhalt nach, sowie nach Seiten des weitaus reiferen Ausdrucks und der größeren kontrapunktischen Fertigkeit ist es jedoch mehr als wahrscheinlich, daß sie nach ihr und zwar etwas später komponiert ist ... Sie ist lange nicht so interessant und reizvoll, aber hinsichtlich der Faktur teilweise eine ausgezeichnete Leistung. Man merkt in jeder Zeile den großen Fortschritt gegen die B dur-Sonate und die Früchte gediegener und ernster Studien‹. Der erste Satz A dur 3/4 greife in den Themen kühn zu den besten Mustern (fünfte, neunte, siebente und dritte Symphonie Beethovens), sei aber echt symphonisch, und mehr orchestral als klaviergemäß gedacht, so daß vieles aus diesem Grunde leer und trocken klingt; der zweite Satz (Adagio molto e assai espressivo) im Hauptthema 12/16 fis-moll dem Adagio ma non troppo 12/16 as-moll aus Op. 110 von Beethoven nachgebildet und wohl auch unter dem [496] Eindruck dieses herrlichen Ariosto dolente entstanden. Der dritte Satz, Allegro molto (mit einleitendem ›Maestoso‹) segle, nach einer lustigen Flötenkadenz, frisch und fröhlich mitten in ein Webersches Thema hinein: hier habe die Liebe zu Weber über den Gott Beethoven gesiegt und einen Finalsatz geschaffen, der die Einheit der ganzen Sonate auf das grausamste zerstöre. ›Auch ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, daß dies Finale zu einer Zeit entworfen wurde, als der Stimmungszauber und geistige Duft der ersten Konzeption verflogen, und daß es nur um der Vollendung und Abrundung willen später angefügt ist.‹ (R.M. Breithaupt, ›R. Wagners Klaviermusik‹ in der Zeitschrift ›Die Musik‹, Heft 20, S. 126/30).


(Zu Seite 153: Sieben Kompositionen zu Goethes ›Faust‹). Auf das Vorhandensein dieses, mit den andern Produktionen dieser Periode im Hausarchiv von Wahnfried befindlichen Heftes hat zuerst der geist- und kenntnisvolle J. van Santen-Kolff hingewiesen, in seinem Artikel ›Richard Wagners erster Versuch als Faust-Komponist, (Bayreuther Taschenbuch 1894, S. 111–19). ›Man beachte die auffallende Tatsache, daß beide Gretchen-Gesänge in derselben Tonart, sodann die noch auffallendere, daß sämtliche Nummern in derselben Taktart geschreiben sind. Das Heft trägt die Aufschrift: Opus 5. ›Bei Wagner ist eine Opuszahl eine so seltene Erscheinung, das es sich schon lohnt, einen Augenblick dabei zu verweilen‹. In der Tat sind die beiden ersten Werke, die unter seinem Namen publiziert worden sind, die B-dur-Sonate und die ›Polonaise‹, zugleich auch die einzigen, welche Opuszahlen tragen. Opus 3 scheint durch die Fis moll-Fantasie repräsentiert; als Opus 4 figuriert tatsächlich die Sonate in A; diesen haben sich dann die ›Faust‹-Kompositionen angereiht. Wir erwähnten bereits auf S. 153, daß sich der Meister zwanzig Jahre später in einem Briefe aus London ihre Zusendung aus Dresden mit anderen daselbst zurückgelassenen Musikalien erbat; dabei werden auch, ohne weitere erklärende Hinzufügung mit erwähnt; ›Les adieux de Marie Stuart‹. Ob es sich bei den letzteren um eine Arbeit aus der Leipziger Periode vor 1833 oder um eine solche aus der Pariser Zeit handelt – da sie mit den ›deux Grenadiers‹ zusammen genannt ist – wagen wir nicht mit Gewißheit zu bestimmen; doch scheint die französische Aufschrift wohl für die letztere Annahme zu sprechen.


(Zu Seite 200/201: Die Schröder-Devrient als ›Romeo‹ in der Bellinischen Oper). »Sie zuerst«, so berichtet A.v. Wolzogen in seinem Lebensbilde der großen Künstlerin, »war auf die Idee verfallen, den erhabenen Geist der Shakespeareschen Dichtung in die Oper zu übertragen. Wenn man also behaupten will, der Romeo sei ihre beste Rolle gewesen, so ist das allerdings insofern richtig, als sie in derselben, weil Dichtung und Komposition ihr fast nichts entgegenbrachten, ihr selbstschöpferisches Genie am freiesten zu entfalten vermochte. ›Sie vernichtete‹, nach Rellstabs Ausspruch, ›Bellinis Musik geradezu, um dieselbe mit einem Inhalt zu versehen, der aus den Noten nicht herauszulesen war‹. Vom Wirbel bis zur Zehe war sie Shakespeares liebeglühender, jugendlicher Romeo, der seine Liebe in allen nur denkbaren Nüancen, das süßeste und zärtlichste Sehnsuchtsgefühl ebenso gut, wie die flammendste und trotzigste Leidenschaft auszudrücken weiß. Nur einen Zug fügte sie dem Bilde selbstschöpferisch hinzu, der in Shakespeares Romeo nicht liegt: sie erhob ihn auch noch in die Sphäre der Helden und stattete ihn mit einem mannhaften Adel und feurigen Ungestüm aus, der gewiß jedem unvergeßlich sein wird, der sie nur einmal in der dritten Szene des ersten Aufzugs raschen und festen Schrittes und stolz erhobenen Hauptes, das schwarze Barett mit den wallenden weißen Federn auf den blonden Locken und eine feuerrote Schärpe über der Schulter als Ghibellinenbote den Guelfen hat Frieden bieten und diese dann, da solcher nicht gewährt wird, zum Kampf hat herausfordern sehen. Kaum hat je ein Mann eine Heldenrolle imponierender und glorreicher dargestellt, als sie Schröder-Devrient ihren Romeo.[497] Gleich die Schlußarie des ersten Aktes: ›Vor Romeos Rächerarmen‹ durchfuhr ihr Publikum wie ein zündender Blitzstrahl, so daß man sich die Möglichkeit einer weitern Effektsteigerung nicht zu denken vermochte. Und doch – wie unvergleichlich spielte sie nun erst die Szene des großen Duetts mit Julia! Welche Übergänge vom schmelzendsten Liebeshauch bis zum wildesten Auflodern der Leidenschaft, da Julia sich zur Flucht nicht entschließen kann! Wie stand sie da auf einmal wieder groß und in unbeugsamem Trotze heldenhaft vor uns, ein Mann, der Widerspruch nicht zu ertragen vermag, und käme er selbst aus dem Munde der Heißgeliebten! Zornglühend wandte sie sich von Julia ab, stampfte mit dem Fuß und preßte die übereinander geschlagenen Arme fest über der Brust zusammen, als hielte sie den wildesten Ausbruch der in ihr tobenden Leidenschaft krampfhaft zurück! Man faßte in diesem Augenblick eine ordentliche Wut gegen Julia, die diesem Romeo gegenüber noch schwanken, sich nicht sofort auf Gnade und Ungnade seinem Willen ergeben konnte. Der höchste Moment der ganzen Szene aber lag in dem letzten Übergange vom Zorn zu der in diesem Felsenherzen doch noch mächtig flammenden Liebe. Wenn Romeo sich wieder zu Julia wandte und in den süßesten Tönen zu ihr flehte: ›Des Geliebten Tod und Leben sind in deine Hand gegeben‹ – dann begriff man, daß er, sie zu erringen, den Kampf mit der ganzen Welt nicht scheuen würde, daß sie einem andern nie angehören könne. Und nun erst das schmerzliche Zusammenbrechen, da Julias Sarg über die Bühne getragen wird, und dann endlich die Szenen in dem Gruftgewölbe bis zur furchtbar erschütternden Darstellung des Todeskampfes, bis zum ewigen Abschiedskusse und zum letzten Sinken, wobei die erstarrende Hand, wie im Traum nach den Blumen griff, die auf den Stufen des Katafalks ausgestreut lagen. Was sie als Darstellerin im vierten Akten leistete, das überstieg an ergreifender Naturwahrheit und höchster Kunst alles, was die früheren Akte dargeboten hatten. Vor allem bewunderungswürdig war dabei die weise Ökonomie, die sie in diesen letzten Szenen beobachtete, so daß die Darstellung, indem sie nie einen Effekt antizipierte oder eine Nüance wiederholte, bis zum Ende in einer fortwährenden Steigerung blieb, die nicht verfehlen konnte, das Publikum in atemloser Spannung zu erhalten. Noch sind hier einige Einzelheiten wert, der Vergessenheit entrissen zu werden. Sogleich in der ersten Szene des vierten Aktes bei dem Öffnen des Sargdeckels unter dem von inbrünstiger Liebe überschwellenden Rufe: ›Ha Julia! meine Julia! Du bists, ich sehe dich!‹ Dann unmittelbar darauf der Ausdruck des sehnsüchtigen Flehens, welchen die Künstlerin in die Worte legte: ›Dich rufet dein Romeo!‹, – der Ton des tiefsten Seelenschmerzes, mit dem sie, die Gefährten entfernend, die bedeutungsvolle Stelle sang:


›Wohl gibt es manch Geheimnis, das der Kummer

Ach, nur dem Grabe mag vertrauen! –‹


Die Begleiter fügen sich endlich dem Befehl des Gebieters; sie gehen, und Romeo ist mit der im Sarge ruhenden Geliebten allein. Wer könnte die herrlichen Bilder je vergessen, welche die Künstlerin in der nun folgenden Arie an den Augen der Zuschauer vorüberziehen ließ! Weit entfernt von aller kleinlichen Kunstspielerei und Attitüdenmacherei, brachte sie, am Sarge stehend und bald sich zur schlummernden Giulietta wehmutsvoll niederbeugend, bald von wilderem Schmerz ergriffen ihr Antlitz abwendend, in jedem Augenblick eine neue Stellung und Gebärde zur Anschauung, von denen jede in ihrer vollendeten malerischen Schönheit einen unauslöschliche Eindruck zurückließ. Aber die weiche lyrische Stimmung der verblutenden Liebe hält nicht lange an; der Jüngling, der alles verloren wähnt, schreitet zur Tat, von der er allein noch Erlösung hofft. Welch ein unnachahmlicher Ausdruck lag in den Worten: ›Hervor, mein einziger Retter, du Trank des Todes!‹ Wie unwillkürlich zitterte die Hand, da Romeo das Giftfläschchen ergriff, wie hastig stürzte er den schrecklichen Inhalt hinunter, mit welchem physischen Abscheu warf er die Phiole von sich, sobald das [498] Entsetzliche geschehen war! Wer aber beschreibt das entsetzliche Zusammenzucken des wie vom Blitz Getroffenen, da Julia jetzt den Geliebten ruft, – die helle Verzweiflung, in die er bei den Worten ausbricht: ›Nichts andres sah ich, nichts andres wußt ich, als dich im Grabe, und ich eilte – ich Unglückseliger!‹ Welch eine Steigerung von der ersten Ankündigung des wirkenden Giftes: ›mir im Busen wühlt das Verderben!‹ bis zum letzten Seufzer, mit dem Romeo seine Seele aushaucht: ›Julia – ich sterbe!‹ – Sophie Schröder, die große Mutter, hat in den klassischen Tragödien dramatisch Vollendeteres wohl kaum geboten, als Wilhelmine, die Tochter, in dieser schwächlichen Bellinischen Oper«. (A.v. Wolzogen, Wilhelmine Schröder-Devrient, ein Beitrag zur Geschichte des musikalischen Dramas, Leipzig, F.A. Brockhaus 1863, S 228/32).


(Zu Seite 242/43: Adolf Wagners Tod). Es erübrigt uns noch, an dieser Stelle die letzten Lebensjahre des Mannes zu verfolgen, wie er sie in steter emsiger Arbeit und mancherlei Umgang, nicht ungeliebt von manchen, die er wohl leiden mochte, still und geräuschlos verbracht hat. Wie er einmal brieflich die gesamte Welt, vom leblosen starren Fels an bis in das tiefste Geistesgeäder als eine ›Versöhnungsanstalt‹ bezeichnet, so blieb er gern bestrebt, gewonnene Freunde sich zu bewahren, ältere Beziehungen zu erhalten und, wo nötig, von neuem anzuknüpfen. ›Je älter man wird, destomehr wird man haushälterisch mit den Menschen und Verhältnissen‹. So konnte er sich herzlich dessen erfreuen, in den durch seine Verheiratung fast gestörten, dann aber wieder gefestigten Beziehungen zu seiner alten Freundin im Thomäschen Hause ›ein freundliches, menschliches Verhältnis mehr gerettet zu sehen‹. Gern mied er große Gesellschaften, diese ›oberflächlichen Menschenberührungen‹, um dafür Das nicht entbehren zu müssen, ›was sich uns im Sturm und Sonnenschein des Lebens eingebrannt und eingeschneit hat‹. ›Die wenigen Freunde und Bekannten, die ich sehe, gefallen sich bei mir, und meiner Hausehre lasse ich gern drei Teile dieser unschuldigen Freudenernte. Den Welt- und Stadtereignissen bleibe ich nicht fremd; das Theater besuche ich manchmal, doch will es mir nicht zusagen: so daß ich am liebsten unter Freunden ein gutes Schauspiel vorlese, wobei andern, wie ich sehe, und mir dazu, wohler ist und wird'. – Von größeren Arbeiten beschäftigte ihn damals seine Übertragung von Lanzis ›Geschichte der Malerei‹,5 sowie die verdienstvolle Herausgabe der äußerst selten gewordenen, nun zum ersten Male von ihm gesammelten italienischen Schriften Giordano Brunos mit italienisch geschriebener Einleitung.6 Gegen eintretendes Versagen der Körperkräfte und durch anhaltend angestrengte Lebensweise hervorgerufene Gesundheitsstörungen half er sich durch zeitlebens von ihm gepflegte und bis in sein sechzigstes Lebensjahr regelmäßig fortgesetzte, ausgedehnte Spaziergänge. ›Anderthalb Jahre und länger hab ich an Kopfreißen gelitten bis zur Verzweiflung, allopathisch und homöopathisch haben mir die Ärte trotz all ihrer Zuversicht nichts geholfen. Der Frühling kam, ich riß mich aus den Arbeiten, begab mich des Denkens, lief oft mehrere Meilen des Tages und laufe noch jetzt im November, besonders früh, wenn die Witterung nicht ungünstig, d.h. naß und neblig ist‹ .... Wie das Leben, betrachtet er auch den Tod mit zunehmend friedlichem und versöhntem Ernst. ›Eine Kunst aller Künste gibt es, welche alle übrigen freundlich in sich aufnimmt, läutert, klärt, belebt und heiligt; das ist die Kunst eines seligen Lebens, die Kunst den Frieden Gottes zu empfangen und zu geben, oder das Himmel reich in sich und andern zu fördern‹. ›Was in seinem Keimpunkte nicht in der Freiheit und Macht des Menschen liegt, sucht er gerade durch diese, soviel ihm davon verliehen, zu entwickeln und auszubilden damit es sein [499] Gebild werde; denn alles Leben spielt zwischen Sollen und Wollen, als Reibung zweier Gegensätze, woraus ein neutralisiertes Drittes hervorgeht. Derlei Dinge nennen die Frommen, vielleicht auch die Bequemen, göttlich, ebenso wie die Schwärmer; ich für mein Teil begnüge mich, sie menschlich zu nennen, zu betrachten, zu treiben, indem sie, wie alles, in ihrem Ursprunge allerdings göttlich sind, weil Ideen, oder, wie es die tief menschlichen Alten nannten, in der Zeit leidende Götter‹. ›Der tiefer gegründete, nicht in den weltlichen Umgebungen festgewurzelte Sinn greift in Fällen, die wir Unglück nennen, gar manches auf, was einen Trieb in das Lichtreich des Geistes nur mehr fördert und stärkt, – wie Stürme in der Natur zu manchen Prozessen unerläßlich sind, und jedem nur soviel zugemutet wird, als er kann und bedarf. Nur daß wir auch die Ohren zum Hören haben, nur daß, wenn in solchen Fällen die menschlich und göttlich zugleich erlösende Liebe um uns sich entwickelt, sie auch in uns entbunden werde!‹ ›Leben heißt, wie wir uns auch stellen und gebärden, opfern. Das letzte Opfer, das wir bringen, sind die fünf Sinne, gleichsam das Fährgeld, Zoll- und Chausseegeld auf dem Weg zum Paradiese‹. ›Wir sind alle pauvres honteux, die um den Sterbepfennig betteln gehen. Haben wir dann genug der Liebe eingesammelt, so gehen wir still, von wannen wir gekommen, und die Erde destilliert aus uns neue Blumen und neue Frühlinge, der Himmel sublimiert uns zu neuen Palmen‹. – Noch in sein letztes Lebensjahr fällt, neben kleineren Arbeiten, die Herausgabe der Werke Robert Burns;.7 Auch erfreute er sich dessen, ein nach Breslau verschlagenes oder dort von ihm zurückgebliebenes wohlgetroffenes Ölporträt seiner selbst in jüngeren Jahren, nach langer Zwischenzeit wiederzuerhalten. ›Mir war schon bange, mich an einer Trödelbude figurieren zu wissen' wie man dies wohl erlebt, wenn auch verschmerzt‹. Es ist dasselbe Bildnis, das in der Folge seinen ehrenvollen Platz in Wahnfried erhalten hat. Noch ein andres Porträt, eine Zeichnung, welche bereits die Züge des gereifteren Alters in ausdrucksvollem Profil aufweist, ist im Besitz Siegfried Wagners.8 – Seinen letzten Sommer, während dessen Richard Wagner soeben als Magdeburger Musikdirektor auf einer Engagementsrundreise sich die geeigneten Kräfte für die Aufführung seines noch unvollendeten ›Liebesverbotes‹ ausersah, verbrachte er auf dem Gute des befreundeten Grafen Hohenthal: ein sanfter Tod rief ihn hier aus dem Leben ab, in welchem er lange genug gewirkt und gestrebt, um in Frieden ›dem ewig Jungen zu weichen‹.


(Zu Seite 214/15: Magdeburger Theaterzustände 1835). Da es uns bisher nicht gelungen ist, eine andre gleichzeitige Auskunft über die Magdeburger Theatersaison aufzufinden, möge die nachstehende, der Dresdener ›Abendzeitung‹ vom 24. und 25. Febr. 1836 mit Verkürzung) entnommene, dafür dienen, obgleich sie vor der Aufführung des ›Liebesverbotes‹ geschrieben, bei aller Anpreisung der damaligen Magdeburger Oper, ihres Dirigenten nicht einmal mit bloßer Namensnennung gedenkt, sondern offenbar hauptsächlich dem Interesse, die besonderen Verdienste der Hauptsängerin, Frau Pollert, und ihres Gatten zu rühmen, ihre Entstehung verdankt: ›Von unsrem Theater verlautet selten etwas, und wenn es geschah, so klang es eben nicht erbaulich, weil, trotz aller Mühe der Direktion, kein gerundetes Ganze auf der Bühne zu gestalten war. Um so erfreulicher ist es mitteilen zu können, wie genußreich dieser Winter dem theaterliebenden Publikum durch ein glückliches Zusammentreffen geworden ist, und welche Genüsse uns besonders die Oper bot‹ (Es wird also, auch ohne Namensnennung Wagners, konstatiert, daß gerade dieser Winter, im Unterschiede und im Gegensatz zu früheren, in der Oper ein genußreiches, gerundetes Ganze geboten habe). ›Drei Sopranstimmen, alle in ihrer Art gut, besitzen Dlle. [500] Schindler, schon früher die unsrige, Dlle. Limbach, aus Frankfurt a./M zu uns gekommen, ein frisches, anmutiges Stimmchen, und Mad. Pollert, eine geborene Petersburgerin, die, so viel mir bekannt, noch auf keinem deutschen Theater aufgetreten ist. Von ihr zu sprechen halte ich daher für besondre Pflicht, weil sie in dem Zauber und Wohllaut ihrer Stimme mit Recht als eine Hochgefeierte vor uns steht. Volubilität der Stimme, reine Intonation und die großartige Kraft, welche sie in der dramatischen Situation zu entwickeln versteht, setzen sie den besten deutschen Sängerinnen an die Seite. Als Rosine im ›Barbier‹, Julia in den ›Capuleti und Montecchi‹, ›Jessonda‹, ›weiße Dame‹, besonders aber als Elise im ›Lestocq‹ hat sie stürmischen Beifall erworben, um so mehr, als sie auch durch ihr Spiel beweist, daß sie weiß, was sie singt. Ihre Persönlichkeit, obgleich nicht groß, ihre seelenvollen Augen, ihre durchdachte Aktion und ihre geschmackvolle Toilette machen diese hübsche junge Frau zu einer angenehmen Erscheinung auf der Bühne, und wir haben nur die Befürchtung sie nicht lange zu besitzen; denn ungeachtet der Wohlhabenheit unsrer Stadt wird hier im ganzen wenig fürs Theater getan, weil anderweitige, vorzüglich materiellere Lebensgenüsse leider hier vorwalten. Dîners, Kaffees, Tees, Soupers, Spielpartien, Bälle, jagen sich und lassen unsren Begüterten zum Theaterbesuch keine Zeit übrig. Sehr gehoben wird die Oper auch durch die beiden Tenoristen, Herrn Freimüller, im Besitz einer klangvollen, angenehmen Stimme, und Herrn Schreiber, der noch sehr jung (vgl. S. 253: den Sänger des Claudio, einen ›sehr jungen hübschen Menschen‹), ›aber nach abgelegten Beweisen zu den schönsten Hoffnungen berechtigt. Ihnen würdig zur Seite steht der Baritonist Krug, und wenn der Bassist Gräfe auch von der Natur nicht gar zu reich bedacht ist, so muß man seiner Musikkenntnis und dem richtigen Eingreifen in seinen Partien doch alle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Das rezitierende Schauspiel ist übrigens dermalen auch nicht übel, und in dem Personale zeichnen sich das Grabowskische Ehepaar, Dlle. Planer, ein sehr hübsches Mädchen, welches aber auch an ihrer Ausbildung fleißig fortarbeitet, und Hr. Pollert, der Gatte obenerwähnter Sängerin, vorteilhaft aus. Die Bekanntschaft des letzteren, als denkendem Mimen, haben wir erst kürzlich gemacht, und wundern uns sehr, daß die Direktion sein Talent nicht schon früher benutzt hat usw.‹


(Zu Seite 226, Rosaliens Vermählung und Tod). In einer, bald nach Rosaliens Tode geschriebenen Novelle9 schildert der überlebende Gatte den Verlauf eines solchen beseligenden, aber jäh verstörten, kurzen Eheglücks. Wir fügen einige Partien dieser Erzählung in verkürzter Gestalt hier ein, ohne die erdichteten Namen – ›Bettina‹ und S. – zu verändern. ›Bettina war die liebenswürdigste Wirtin; ihr Mann, mit der Literatur aller gebildeten Nationen vertraut, bot ihrem regen, wie mit einer Art von Instinkt jedes Gegenstandes sich bemächtigenden Geiste reiche Nahrung. Selbst die Beiden angeborene Lebhaftigkeit und Erregbarkeit schien den Reiz ihres Zusammenlebens noch zu erhöhen. Ihre Lebenserfahrungen hatten ihr eine Milde des Charakters gegeben, welche sogleich jede Woge eines aufwallenden Unmutes in ihr niederschlug. Es war wunderbar, wie schnell sie sich besann, wenn sie eben noch für eine Ansicht eingetreten war, sobald ihr S. dieselbe verneinte: in einem solchen Falle ward sie plötzlich freundlich und mild, beschwichtigte ihn mit einem zärtlichen Worte und grübelte dann solange still für sich nach, bis sie voller Freude kam und ausrief: ›Sieh, jetzt hab ichs, jetzt versteh ichs!‹ Und nun rechtfertigte sie ihm erst seine eigene, der ihren vorher entgegenstehende Meinung oft besser, als er selbst es vielleicht vermocht hätte. War es ein Wunder, wenn S. eine solche Gattin fast vergötterte? Soweit die Erzählung Marbachs. ›In der Gestalt der Bettina‹, schreibt dessen Tochter, ›sind einige [501] seelische Züge meiner Mutter verwebt, bei angeborener großer Lebhaftigkeit eine hohe Selbstbeherrschung und Milde des Charakters, das reine beseligende Glück, das sie in ihrer kurzen Ehe genoß‹. Aber auch über ihre Krankheit und ihr plötzliches Ende sind wir nunmehr in der Lage, anstatt der früheren ersatzweisen Mitteilung jener bloß novellistischen Züge der Marbachschen Erzählung authentische briefliche Angaben folgen zu lassen. ›Ein durch die Anstrengungen ihres künstlerischen Berufes hervorgerufenes Nervenleiden, von dem sie schon vor ihrer Ehe heimgesucht war und das aus einem gewaltsamen Blutandrang nach dem Herzen bestand, stellte sich (während des Wochenbettes) plötzlich wieder ein und machte ihrem blühenden Dasein ein jähes Ende. Sie fühlte sich in den ersten Tagen nach ihrer Entbindung völlig wohl und war in der heitersten, glücklichsten Stimmung, wurde jedoch trotz ihres Wohlbefindens von meinem zärtlich besorgten Vater auf das ängstlichste behütet. Da bekam sie ohne jede äußere Veranlassung am Nachmittag des fünften Tages starkes Herzklopfen, das an Heftigkeit schnell zunahm. Mein Vater flehte den Hausarzt an, ihr zur Ader zu lassen, dem stürmischen Blute Ausgang zu verschaffen, wahrscheinlich weil sie dies in früheren Fällen gerettet hatte; der Arzt aber, unglücklicherweise ein Homöopath, wehrte ab und suchte ihr statt dessen durch ein paar Kügelchen zu helfen, und wenige Minuten später machte ein Nervenschlag ihrem teuren Leben ein Ende‹ (briefl. Mitteilung von Frau Prof. Rosalie Frey, geb. Marbach vom 14. Nov. 1894).


(Zu Seite 268: Beitrag für die Schumannsche Zeitschrift unter dem Namen ›William Drach‹: »Als ›William Drach‹ will ich fortfahren, manchmal etwas zu schreiben.«) Letzteres Pseudonym – Umkehrung von -chard – ist uns aus dem Grunde interessant, weil es der Meister dreiunddreißig Jahre später, in der ebenfalls pseudonym erschienenen Schrift ›Herr Eduard Devrient und sein Styl‹ (1869) wiederum angewendet hat, vgl. Band III1, S. 278 des vorliegenden Werkes. Anderen gelegentlich von ihm gewählten Pseudonymen ›Canto Spianato‹, ›W. Freudenfeuer‹ und ›H. Valentino‹ begegnen wir in dem gegenwärtigen Bande (S. 224, 413 und 422): das ›Judentum in der Musik‹ erschien bekanntlich 1850 unter dem Namen ›Karl Freigedank‹ (Bd. II1, S. 385 des vorliegenden Werkes).


(Zu Seite 274: ›Das Jahr, welches ich in Königsberg zubrachte, ging durch die kleinlichsten Sorgen gänzlich für meine Kunst verloren. Eine einzige Ouvertüre schrieb ich: »Rule Britannia«.‹) Eine späterhin nach London an die dortige Philharmonische Gesellschaft gesandte Abschrift dieser Ouvertüre hatte keineswegs die erwünschte Folge ihrer dortigen Aufführung; ein großes Aufsehen, namentlich in der deutschen Zeitungspresse, erregte erst im Mai 1904 das zufällig wieder aufgefundene Manuskript derselben, dessen Identität mit der Wagnerschen Ouvertüre in merkwürdiger Weise festgestellt wurde. Sie war auf unaufgehellten Umwegen in den Besitz eines gewissen Musikdirektor Thomas geraten, der eine Zeit lang als Vorstand der Liverpooler Philharmonischen Gesellschaft sich betätigte, sodann wiederum eine Zeit lang das Orchester der Oper zu Leicester dirigierte, dann aber in Not geriet und im Oktober 1892 als gebrochener Mann in einem Arbeitshaus starb. Alle seine Musikalien, die allein einen ganzen Wagen gefüllt haben sollen, waren durch Kauf in den Besitz eines Mr. Cyrus Gamble gelangt, welcher einen großen Teil der Manuskripte als wertlos beiseite legte. Bei jüngst erfolgter Durchsicht dieses Manuskripthaufens fiel ihm eines derselben auf, weil es den Titel trug: ›Rule Britannia Ouvertüre‹. Er durchblätterte das 41 Seiten starke, auf dickem rauhem Notenpapier geschriebene Heft und fand zu seinem Staunen am Rande der letzten Seite die Worte: ›Richard Wagner, den 15. März 1837, Kö nigsberg in Preußen‹. An der Echtheit der Handschrift war nicht zu zweifeln, und alsbald wurde der ›Times‹ über den seltenen Fund Mitteilung gemacht. ›Das Manuskript‹, heißt es in dieser Mitteilung, ›ist auf dickem gelblichen Papier geschrieben, das zwar sehr guter [502] Qualität ist, aber eine etwas rauhe Oberfläche zeigt, und die Linien sind mit der Hand gezogen. Ein Umschlag ist nicht vorhanden und auf der ersten Seite steht über der ersten Linie einfach die Überschrift: ›Rule Britannia Ouvertüre‹. In dem (mit doppeltem ›t‹ geschriebenen) Wort ›Brittannia‹ scheint zuerst ein kleiner Schreibfehler vorgekommen zu sein, zuerst war ›Brittania‹ mit einem n geschrieben; denn die beiden ›n‹ sind ganz dicht aneinander gerückt und das eine derselben dicker geschrieben, als das nachträglich hineingefügte andere. Merkwürdigerweise findet sich ganz derselbe Schreibfehler auf dem neuerdings durch die Zeitschrift ›Musik‹ (1903/04, Heft 20) veröffentlichten, getreu nach dem gedruckten Konzertzettel faksimilierten Programm des auf S. 301 dieses Bandes erwähnten Rigaschen Konzertes im Schwarzhäupter-Hause. ›Die Ouvertüre hat Stimmen für das Serpent (Schlangenhorn) und die Ophikleide (Baßklappenhorn) und an einer Stelle ist die Melodie des Rule Britannia für vier französische Hörner gesetzt. Sie endet mit einem Finale, in welches, außer den 31 Instrumenten des Orchesters, eine ganze Militärkapelle mit einfällt. Die Tinte ist durch das Alter etwas verblaßt, aber das durch starken Bindfaden zusammengehaltene Manuskript befindet sich in einem vorzüglichen Zustande. Die Art und Weise, wie die Komposition in den Besitz des Mr. Thomas kam, ist nicht aufgeklärt; jedenfalls hat er selbst keine Ahnung davon gehabt, welchen Schatz er unter seinen Noten besaß, da er sich sonst in seinen schlechten Tagen leicht damit hätte helfen können‹. Soweit der, in deutschen Zeitungen reichlichst reproduzierte, Artikel der ›Times‹.10

Je weniger das Königsberger Lebensjahr dem vielgeplagten, mit nichtigen Lebenssorgen ringenden jungen Meister zum Kunstschaffen Ruhe vergönnte, desto mehr scheint es ihn in der unfreiwilligen Muße, zu der es ihn verurteilte, zu literarischen und dichterischen Entwürfen gedrängt zu haben. Von letzteren gehört in diese Periode sowohl der Entwurf der ›hohen Braut‹, als auch der, in Riga weiter ausgeführten und in der Komposition begonnenen ›Bärenfamilie‹ (S. 299; von kleineren literarischen Arbeiten sind mehrere gelegentliche Aufzeichnungen auf uns gekommen; darunter eine ausführliche Arbeit über dramatischen Gesang, in naher Verwandtschaft mit dem Artikel über die ›deutsche Oper‹ (1833) und dem ›Pasticcio‹ (S. 224 Anm.) stehend, dessen Autograph sich zur Zeit im Besitz eines unbekannten Sammlers befindet. Abgedruckt ist der Aufsatz in der ›Allg. Musik-Zeitung‹ 1888, S. 98. ›Es wird von uns Deutschen‹, heißt es darin, ›so viel Ungereimtes und Abgeschmacktes über Gesang gefaselt, daß sich schon daraus recht deutlich herausstellt, wie wenig uns im allgemeinen die echte Göttergabe des Gesanges verliehen ist. Was man nicht hat, davon spricht man am meisten, und anstatt das, was uns fehlt, erkennen und erlernen zu wollen, suchen wir durch eine geschwätzige Philosophie uns ein Nonsens vorzulügen, das wir, in Unkenntnis oder Selbsttäuschung befangen, endlich gar für das eigentliche Wahre ansehen. Das ist aber ein Unglück für uns. Warum wollen wir Deutsche denn durchaus nicht einsehen, daß wir nicht alles besitzen; warum wollen wir denn nicht offen und frei anerkennen, daß der Italiener im Gesang, der Franzose in einer leichteren und lebhafteren Behandlung der Opernmusik einen Vorzug vor dem Deutschen habe; – kann er denn dem allen nicht seine tiefere Wissenschaft, seine gründlichere Ausbildung und vor allem die glückliche Fähigkeit entgegensetzen, daß er sich beide Vorzüge der Franzosen und Italiener leicht zu eigen machen kann, während jene niemals den unsern erreichen werden? – Ein glückliches Naturell macht den Italiener zum geborenen Sänger, und dies bezieht sich nicht nur auf die schöne Stimme, die uns Deutschen, wiewohl seltener, auch verliehen ist, sondern auf die natürliche Biegsamkeit und Fähigkeit zu Modulationen der Kraft und Weichheit derselben, die uns durchaus fremd sind. Diese Vorzüge sind es nun, die wir uns erst aneignen müssen, und, wie so [503] viele Beispiele lehren, auch aneignen können. Dies erfordert Studium, und bei der uns sonst eigenen Tugend des Fleißes und der Ausdauer, ist es überraschend und ärgerlich zu hören, wie jenes Studium unnötig sei, wie wir bloß mit dem Affekt das alles sollen abmachen können‹. Hiermit ist das Thema der folgenden Ausführungen gekennzeichnet: der Gegensatz zwischen Studium und Affekt. An dem Beispiele der Schröder-Devient wird eingehend dargelegt, was der bloße Affekt hervorbringen könne, wenn er die organischen Fähigkeiten überschreite: die große Sängerin habe in den Jahren ihrer Jugendblüte im Begriff gestanden, ihre Stimme ganz zu verlieren, weil sie über alles nur den Affekt gebieten ließ; sie sei schon im Begriff gewesen, der Oper ganz zu entsagen, als ihr Leben eine neue Wendung nahm: an der italienischen Oper zu Paris habe sie den eigentlichen Gesang kennen gelernt, den sie sich zu eigen machte, und vermöge dessen sie jetzt noch in der Blüte ihrer Kraft stehe. ›Man sehe jetzt ihren Fidelio, ihre Euryanthe, ihre Norma, ihren Romeo; man glaubt, sie müsse nach der Vorstellung einer solchen Oper bis zum Tode erschöpft sein, – und im Ernst gesteht sie selbst, daß in ihrer früheren Periode eine solche Ermattung sie jedesmal befallen habe, während sie jetzt leicht eine solche Partie an demselben Abend wiederholen könnte‹ usw. – Ein andrer Königsberger Artikel ist der am 8. März 1837 stattfindenden ersten dortigen ›Norma‹-Aufführung gewidmet. Er umfaßt 169 lange Zeilen auf drei Seiten Folio und beginnt mit den Worten: ›Mittwoch den 8. März. Zum ersten Male: Norma, von Bellini. In dieser Oper hat sich Bellini entschieden auf die größte Höhe seines Talents geschwungen‹ usw. Welches Interesse ihn dazu veranlaßt haben kann, sich überhaupt gelegentlich der Königsberger ersten ›Norma‹-Aufführung öffentlich über das Werk zu äußern, ist uns nicht deutlich geworden; um eine Benefiz-Vorstellung zu seinen eignen Gunsten, wie in Riga (S. 293), hat es sich aber ganz bestimmt nicht gehandelt. Vielleicht also um eine Gefälligkeit, oder es geschah im allgemeinen Interesse des Königsberger Theaters, auf dessen Bühne ja durch die Indifferenz des Publikums, die damaligen neuesten Herrlichkeiten der französischen und italienischen Oper, die ›Jüdin‹ von Halévy, Bellinis ›Puritaner‹ und – ›Norma‹ als Neuigkeiten ›spurlos vorübergegangen‹ sein sollen (S. 276).


(Zu Seite 298. Besuch Ole Bulls in Wagners Rigaer Häuslichkeit im Thauschen Hause). Die Erwähnung des ›nordischen Paganini‹ in Wagners späterem Pariser Korrespondenz-Bericht ist humoristisch an eine poesievolle Verherrlichung des Spieles von Henri Vieuxtemps angeknüpft. ›Mir gegenüber wohnt Henri Vieuxtemps‹, heißt es dort, ›er hatte mich krank nach Hause kommen sehen, und menschenfreundlich wie er ist, kam er zu mir herüber, brachte die Geige mit, setzte sich an mein Bett und spielte mir etwas vor, und zwar gratis. Ich verfiel in einen schönen Schlummer, anmutige Träume lagerten, sich um mich her; da ließ sich Goethes Gesang vernehmen: »Schwindet ihr dunkeln Wölbungen droben usw.« Ich sah jene Wiesen, jene Auen, ich trank aus jenen Quellen, ich atmete jene Düfte; mein Auge drang in den klaresten Äther, und am hellen Tage erblickte ich mitten am Himmel jenen göttlichen Stern, der mein Inneres durchstrahlte wie das segenreiche Auge Mozarts. Mir ward wohl und heiter: als ich erwachte, stand er noch vor mir mit der Geige, ruhig und gelassen, als ob er eben ein gutes Werk verrichtet hätte. Ich dankte ihm, und wir sprachen nicht weiter davon ... Das Geheimnis unsrer Freundschaft ist mir nun aber entfahren, und wenn ich auch Grund dazu hätte, meine Dankbarkeit für jene glückliche Kur nicht zu verschweigen, so könnten doch manche glauben, daß ich Vieuxtemps jetzt nur aus Coterie-Rücksichten lobte, oder weil er mir ein Hausmittel gegen Kopfschmerzen verschafft hat ... Läse dies aber Herr Ole Bull, so würde dann vielleicht auch dieser Mann von mir in den Himmel gehoben sein wollen, und da ich mich durch die Erzählung von meiner Kur preisgegeben habe, so hätte ich zu riskieren, daß auch er eines Tages an [504] mein Bett käme, und mir seine Polacca guerriera vorspielte. Solche Verdrießlichkeiten muß man aber zu vermeiden suchen ...‹


(Zu Seite 299/300: Wagners Rigaer Wohnhaus in der St. Petersburger Vorstadt). Das Rigaer Wohnhaus des Meisters, Alexanderstraße Nr. 9, in welchem er mehr als ein volles Jahr, von Ostern 1838 bis zum Sommer 1839 verbrachte, ist durch die dortige photographische Firma Hebensperger & Co. zu einer vorzüglichen photographischen Aufnahme gelangt, welche seitdem auch in der Zeitschrift ›Die Musik (1903/04, Heft 20), außerdem mehrfach auf Ansichtspostkarten reproduziert worden ist. Der Photograph hat bei dieser Gelegenheit mit ungemeiner Sorgfalt Haus und Umgebung genau in integrum restituiert und sämtliche Ladenschilder, mit denen das alte Haus gegenwärtig bis zur Unkenntlichkeit bedeckt ist, Parterreeingänge usw., sogar die Seitenwand eines neuerrichteten Hauses der Umgebung säuberlich wegretouchiert; auch die angrenzenden Häuser sind alt und echt, so daß sich der heutige Beschauer beim Anblick dieser sorgfältigen Arbeit ganz aus der Zeit ihrer Entstehung in die Periode der dreißiger Jahre zurückversetzt glaubt.


(Zu Seite 316: Kleidungs- und Schmuckstücke aus Minnas ehemaliger Schauspielerinnen-Garderobe). Ein, zu dieser Garderobe gehöriger prächtiger Mantel spielt auch noch in einer, durch ein zufällig aufbewahrtes Blättchen angedeuteten Szene aus des Meisters häuslichem Leben in Riga eine Rolle. Minna schmollt mit ihm (– wie so manchen Zug hat die allzu prosaisch Ernsthafte mit der Lenette des göttlichen Siebenkäs gemein! –): er hat ihren Ordnungssinn verletzt, indem er diesen Mantel zu, ihr unbegreiflichen, Zwecken seinem sichern Gewahrsam entnommen, – man denke an Lenettens ›grillierten Kattun‹! Nun hat sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen, und Wagner, wie kein andrer, ein Meister auch im zarten Schmeicheln, Kosen und Versöhnen (daß er sie ›hätschele wie ein Flitterwochenkind‹, schreibt er noch zwanzig Jahre später, kurz vor der endlich unvermeidlichen Trennung!), setzt sich an den Schreibtisch, um ihr die Erklärung schriftlich zu geben, die er dann doch ungeduldig verwirft, als er sieht, daß sie zu weitläufig geraten muß, um vollständig zu sein11. ›Du bist ein rechter Schöps‹, so beginnt dieser Erklärungsversuch. ›Wenn Einem einmal ein Spaß ganz mißglückt ist, warum ihn dann auch noch so darüber peinigen? Ich hatte mir vorgenommen, Dir selbst höchst geputzt mit Deinem Mantel angetan zu erscheinen, an meiner Hand eine Puppe mit einem ebensolchen Mantel, darunter eine Wiege, mit Deinem künftigen Kleinen, und so wollten wir alle drei – ich, Natalie12 und die Zukünftige – Dir zu Füßen sinken und Verzeihung für den Mantel erflehen. Ich stahl mir dazu ein paar Sachen von Dir zusammen, von denen ich glaubte, daß Du sie am wenigsten vermissen würdest, mehrere Läppchen zur Puppe und zum Bettchen; das Ganze scheiterte aber erstlich daran, daß ich nicht wußte‹ ... hier hört der Brief auf. Von der Wiege mit der großen Puppe unter seidener Steppdecke hatte der Erzähler schon vor langen Jahren und vor Kenntnis obiger Zeilen durch Wagners Hausleute im Bodrowschen Hause vernommen: sie sollte, so glauben wir, in einer scherzenden Weihnachtsüberraschung figurieren, mit der er sich und die dadurch zu Feiernde über die von Beiden schmerzlich empfundene Kinderlosigkeit ihres Bundes mit der ihm eignen ironischen Anmut humoristisch trösten wollte! Eine Absicht, die sich nur dann völlig erklärt, wenn man sich vergegenwärtigt, wie Wagner von Kind auf durch den erfindungsreichen Geist des Stiefvaters Geyer daran gewohnt war, das Familienleben bei jeder vorkommenden Gelegenheit (vgl. S. 62) durch ein sinnig heiteres Phantasiespiel geschmückt zu sehen. ›Das waren doch noch Familienkränzchen‹, rief er noch [505] einmal in späten Jahren (3. Juli 1878) im Gedenken an diese ältere Zeit, mit der Klage darüber, daß der Sinn dafür im heutigen Familienleben so ganz geschwunden sei. ›Da wurde zu jedem Geburtstag gedichtet und aufgeführt; da gab es keine Feier, die nicht durch eigene Festdichtungen gefeiert worden wäre, – das kennt man jetzt gar nicht mehr!‹ Man erinnere sich dessen, wie es Geyer noch in seinen letzten Lebenstagen, mitten in seiner Krankheit beklagt, den Geburtstag der Mutter nicht auf gewohnte Weise durch eine sinnige Überraschung zu verherrlichen (S. 76).


(Zu Seite 325: Die letzte von Wagner in Riga – resp. Mitau – dirigierte Vorstellung war Webers ›Oberon‹). Entsprechend dem auf S. 308 Anm. von uns gegebenen Überblick der im ersten Rigaer Theaterjahr von Wagner dirigierten 15 Opern geben wir hier im folgenden einen solchen über seine Dirigententätigkeit im zweiten Jahre (1838–1839), die Mitauer Vorstellungen vom 4.-25. Juni mit inbegriffen. Es wurden während dieser Saison i.g. 24 Opern von ihm einstudiert und dirigiert: ›Robert der Teufel‹ (9 mal); ›das unterbrochene Opferfest‹ (7 mal), der ›Freischütz‹ und ›Postillon v. Longjumeau‹ (6 mal); ›Norma‹, ›Fra Diavolo‹, ›Zum treuen Schäfer‹ (5 mal); ›Romeo und Julia‹, ›Othello‹ (4 mal); ›Joseph in Egypten‹, ›Fidelio‹, ›Jessonda‹, ›Die Zauberflöte‹, ›Der Barbier von Sevilla‹, ›Preziosa‹ (3 mal); ›Don Juan‹, ›Figaros Hochzeit‹, ›Die weiße Dame‹, ›Oberon‹, ›Die Schweizerfamilie‹, ›Zampa‹ (2 mal); ›Die Stumme von Portici‹ und der erste Akt von Mozarts ›Entführung‹ (je 1 mal). Bloß von Wagner einstudiert, aber nicht von ihm dirigiert, wurde Dorns ›Schöffe von Paris‹ (7 mal in Riga, 1 mal in Mitau); außerdem machte die Erkrankung Wagners im Winter einen mehrwöchentlichen Ausschnitt in seiner Tätigkeit, während dessen er durch Löbmann ersetzt wurde.


(Zu Seite 329: Um sich von den überstandenen Beschwerden der Seereise auszuruhen, gönnten sich die Ermüdeten bei ihrer Ankunft in London eine achttägige Rast. Dieser achttägige Londoner Aufenthalt hat neuerdings – März und April 1904 – wieder viel von sich reden gemacht. Ein Herr Archibald Constable unterrichtete ein hervorragendes englisches Blatt (ob es die ›Times‹ war, konnten wir aus dem uns übermittelten Ausschnitt nicht ersehen) über eine von ihm gemachte wichtige Entdeckung. Es handelt sich um das Haus, in welchem der junge Meister auf seiner Reise von Riga nach Paris in London gewohnt habe. Er, seine Frau und sein großer Hund hätten unmittelbar nach ihrer Ankunft eine Nacht in der Nähe ihres Landungsplatzes verbracht (dies ist richtig!) und seien dann in das Haus Nr. 18 Frith.-street, Soho übergesiedelt. Als Beleg für diese Angabe führt der genannte Gewährsmann folgendes an. ›Am letzten Freitag‹ (Ende März 1904) sei hier in Frith-street eine hochbetagte Frau, Mrs. Teasdale, gestorben, welche um jene Zeit – 1839 – unter ihrem Mädchennamen Mary Anna Brown – im Alter von 15 Jahren in eben jenem Hause gedient habe und sich des jungen Musikers aus Riga, seiner Frau und natürlich auch des großen Hundes noch zu erinnern behauptete. So seltsam romantisch die Nachricht klingt, hat sie doch Veranlassung dazu gegeben, daß 1) der verstorbenen Mrs. Teasdale durch Herrn Constable und seine Freunde eine dahin lautende Gedenktafel auf ihr Grab im Kensal Greet Cemetery gesetzt und 2) von dem anscheinend wohlerhaltenen Hause in Soho Frith-Street Nr. 18 eigens eine photographische Aufnahme für die Zeitschrift ›Die Musik‹ veranstaltet und von dieser in einem ihrer reichhaltigen ›Wagner-Hefte‹ (1903/04, Heft 20) der Öffentlichkeit übergeben worden ist. Immerhin bleibt in der Angelegenheit manches bedenklich. Wir wollen ganz davon schweigen, daß nach der Notierung des Herrn Archibald Constable in diesem Hause angeblich der ›fliegende Holländer‹ geschrieben (!) oder doch ›zu schreiben begonnen‹ worden sei (!!). Aber die Angabe steht außerdem zu den eignen ganz bestimmten Erinnerungen Wagners in Widerspruch, wonach der Ort dieses achttägigen[506] Londoner Aufenthalts keineswegs in Soho belegen, sondern ein Public-house der Old Compton Street (Westend) gewesen sei. Hierauf wurde Herr J. Cyriax schon im Jahre 1879 aufmerksam gemacht, als er um eine, für Wagner selbst bestimmte Abbildung dieses Hauses damals vergeblich sich bemühte. Das Ergebnis seiner eingehenden Forschungen in der Guildhall-Library und in den Registrierungen des British Museum für das Jahr 1839, nachdem ihm auf einem Plan von London die Stelle des Hauses genau bezeichnet worden war, war leider das negative: das betreffende Haus (Kings-Arms mit Namen) sei schon seit 25 Jahren abgerissen! – – Eine Abbildung des allerersten Absteigequartiers des Meisters bei seiner Ankunft hingegen (in welchem er die erste Nacht in London zubrachte), einer einfachen Taverne für Schiffskapitäne, Piloten usw., ist in Wahnfried und auch im Besitz des Verfassers vorhanden.


(Zu Seite 363: Heines Ausspruch): ›Wissen Sie, was mir an diesem Talente verdächtig ist? Daß es von Meyerbeer empfohlen wird‹.) In seinen Gesprächen mit Laube und Heine mag wohl Wagner oft genug, wenn beide an dem großmächtigen Bühnenbeherrscher ihre Satire übten, die Partei des gegen ihn so klug gefälligen Maestro ergriffen und ihn gegen so manchen Angriff verteidigt haben. Gedenken wir des Passus der Vorrede zu ›Oper und Drama‹ (Ges. Schr. IV, 274): ›selbst wenn es mich fast dazu drängte, zu gestehen, wie auch ich mich einst irrte‹, – so können wir uns andererseits nicht verhehlen, daß dieser ›Irrtum‹ des jungen Meisters seinen Ausgang bei weitem weniger von seinem künstlerischen Intellekt, als von seinem Herzen genommen habe, welche ihn dazu veranlaßte den Mann und seine Leistungen in einem andern Lichte zu sehen, ja von dem Besten, das er in seinem eigenen Innern hegte, in ihn und seine Werke einen bedeutenden Sinn hineinzutragen, der ihnen von Hause aus fremd war. Ein Zeugnis dessen, wie sehr er damals, bis in die Mitte seines Pariser Aufenthaltes, in Bezug auf den Beherrscher der ›großen Oper‹ einer ähnlichen halbbewußten Selbsttäuschung, wie hinsichtlich des flimmernden und berauschenden Institutes selbst (S. 353–54), sich hinzugeben geneigt war, wie aber andererseits ein innerer Zweifel bereits dagegen seine Einwendungen erhob, so daß er den vollendeten Aufsatz zurückhielt und nicht publizierte, liegt uns in den an die Öffentlichkeit gedrungenen Fragmenten aus einem Artikel über Meyerbeer vor, der ohne Zweifel im Anschluß an den Aufsatz ›Über deutsches Musikwesen‹ im Juli 1840 für die Gazette musicale von ihm konzipiert war, über dessen volle Bedeutung ein Urteil aber erst möglich sein wird, sobald derselbe vollständig und nicht, wie bei seinen bisherigen Veröffentlichungen, in zusammenhangslosen Fragmenten, deren Auswahl einzig durch das Sensationsbedürfnis diktiert war, zutage getreten sein wird. ›Bei den Franzosen erhielt die Rossinische Richtung Charakter‹, heißt es darin, ›und gewann durch Nationalstätigkeit (?) ein würdigeres Ansehen. Zu welcher Höhe die Franzosen diese Periode führten, haben wir schon gesehen‹ (vgl. den Schluß des Aufsatzes ›über deutsches Musikwesen‹) ›und es bleibt nur noch übrig, vollkommen inne zu werden, daß sie durch Meyerbeer als auf ihren höchsten Punkt und bis zu universeller Bedeutung angelangt betrachtet werden müßte‹. Es heißt dann nach einer Erörterung des Aufbaus der ›Hugenotten‹, in denen ›die Besonnenheit, ja Kaltblütigkeit in der Anlage und Anordnung der riesenhaften, fast schon erdrückenden Ausdehnung der Formen‹ als der ›vor allem für Meyerbeer charakteristische Zug‹ angeführt wird: ›Man kann hier (in der Verschwörungs-Szene des vierten Aktes) nicht mehr begreifen, wie in dieser Richtung noch Höheres geleistet werden soll; wir fühlen, daß der Kulminationspunkt im eigentlichsten Sinne erreicht ist, und so wie das größte Genie sich zersplittern würde, wollte es in der eigenen Richtung Beethovens dessen letzte Symphonie nicht einmal überbieten, sondern nur von da aus weiter zu gehen suchen,13 so erscheint es unmöglich, [507] in der Richtung, die Meyerbeer auf den letzten Grenzpunkt führte, noch weiter vorschreiten zu wollen‹ .... ›Wir müssen bei der Ansicht verharren, daß sich diese letzte Epoche der dramatischen Musik mit Meyerbeer geschlossen habe, daß nach ihm so gut wie nach Händel, Gluck, Mozart, Beethoven das für die jedesmalige Periode erreichte Ideal als vollendet und nicht mehr zu überbieten zu betrachten sei, – sondern daß die Zeit in ihrer rastlosen Schöpfungskraft eine neue Richtung hervorbringen muß, in der dasselbe wieder zu leisten sein würde, was jene Heroen geleistet haben‹. Der Gedankengang des ersten Teils von ›Oper und Drama‹ hatte an den vorstehenden Ausführungen hauptsächlich den Punkt zu berichtigen, daß die Erscheinung Meyerbeers überhaupt nicht als ein künstlerisches ›Ideal‹ irgend welcher Epoche zu betrachten sei; eine noch spätere Periode mußte ihn durch ihre Erfahrungen mit notwendiger Folgerichtigkeit zu der Erkenntnis führen, daß wahrhaft ›neue Richtungen‹ nicht aus der ›rastlosen Schöpfungskraft der Zeit‹, sondern aus ganz anderen Tiefen hervorgehen. In seiner ganzen ersten Lebenshälfte hat sich Wagner unter den Schumann, Hiller usw. immer nur als strebenden Künstler unter seinesgleichen und in diesem Sinne seiner ›Zeit‹ angehörig gefühlt (vgl. auch S. 203: ›die Zeit und ihre neuen Formen!‹), wobei er sich einzig immer nur über die Unproduktivität seiner, unwillkürlich an dem Maße des Genius gemessenen ›Zeit‹- und Kunstgenossen zu wundern hatte! Erst in der zweiten Hälfte seines Daseins (nämlich von 1848 ab) wird der verstärkte Zweifel an dieser, der ›Zeit‹ im allgemeinen zugeschriebenen Schöpfungskraft, ihm zur immer bestimmteren Einsicht von der Vereinsamung des wahrhaft schöpferischen Genius, also der Geister, die in Wahrheit ›neue Richtungen‹ einschlagen, in ihrer jedesmaligen vergänglichen Zeitumgebung! Noch ein Gesichtspunkt ist an dem Meyerbeer-Aufsatz von 1840 bemerkenswert, daß er nämlich den großen Opernmeister darin konsequent als ›Deutschen‹, als ›Sohn Deutschlands‹ usw. behandelt. Es dürfte schwierig und nicht ohne einen circulus vitiosus möglich sein, dies aus dem Zusammenhange des Aufsatzes mit dem ihm vorausgehenden Artikel ›De la musique allemande‹ erklären zu wollen; vielmehr beruht das Problem darin, wie Wagner darauf kam, seinem Aufsatz ›über deutsches Musikwesen‹ gerade diese Fortsetzung folgen zu lassen? Der physiologische und ethnologische Gegensatz zwischen deutschem und jüdischem Wesen war dem siebenundzwanzigjährigen Künstler eben noch nicht in voller Klarheit aufgegangen, so empfand er die Kluft zwischen sich selbst und einer Erscheinung, wie derjenigen Heinrich Heines, in dieser Zeit auch nur mehr als eine individuelle und persönliche, und suchte sich die ›schnell erschlaffte Spannkraft seines Talents‹ daraus zu erklären, daß dessen üppige Wurzel aus der heimatlichen Erde (Deutschlands!) gerissen sei. Wurde aber gar das Mitleid mit einer solchen Erscheinung in ihm rege, wie durch die Heinesche Ohrfeigen-Geschichte im Jahre 1841, so verschwand jedes Gefühl des Gegensatzes und der Antipathie vor dem Unwillen über die schlechtverhehlte Schadenfreude seiner Landsleute, denen er in einer Pariser Korrespondenz vom Juli 1841 (aus Meudon) deshalb lebhafte Vorwürfe macht: ›Heine befindet sich in diesem Augenblicke in einem Pyrenäenbade und liegt auf den Tod krank. Hatte er nicht den Mut, eine ihm zugefügte schmähliche Beleidigung zu rächen, so müssen wir ihn beklagen; keiner von uns aber hat das Recht, ihn deshalb zu schmähen, außer die Offiziere unsrer Armeen und die Landsmannschaften unsrer Universitäten; beide aber geht Heine nichts an‹.


(Zu Seite 342 ff.: Samuel Lehrs, zugleich ein begeisterter Kenner des griechischen Altertums und seingebildeter philosophischer Kopf). ›In Lehrs scharf ausgeprägten Gesichtszügen war der jüdische Typus unverkennbar; aber sie belebten sich wunderbar durch jede geistige Anregung, und das Auge erhielt dann einen strahlenden Glanz. Das Profil erinnerte an das Porträt Savonarolas von Fra Bartolommeo. Seine Haltung war gebückt; sein Anzug verriet, namentlich im Winter, gleich sehr sein Wärmebedürfnis und seine Gleichgültigkeit [508] gegen die äußere Erscheinung‹. Vorstehende Schilderung bezieht sich zwar in obiger Fassung direkt auf den älteren Bruder, und nicht auf Samuel Lehrs; dennoch haben wir sie dem Leser an dieser Stelle nicht vorenthalten wollen: wer nämlich des Meisters eigene Erinnerungen an den zu früh verlorenen Freund des näheren kennt, wird in diesen letzteren – überalle a priori vorauszusetzende Familienähnlichkeit hinaus – gewisse übereinstimmende Züge finden. ›In der Musik‹, heißt es weiter in dieser Charakteristik, ›war Lehrs' Genußfähigkeit fast unerschöpflich; für den geistvollen Vortrag eines Beethovenschen Stückes, das ihm ein neues Verständnis eröffnete, war er stets sehr dankbar, und es gereichte in seinen Augen der Königsberger philosophischen Fakultät zur Ehre, daß sie (1842) Franz Liszt das Doktordiplom erteilt hatte.‹ ›Ich glaube‹, sagte er, nachdem er die Biographie Beethovens von Schindler mit eifrigem Anteil gelesen, ›wer sich solche Musik vormachen (!) konnte, konnte nie ganz unglücklich sein‹ (Allg. Deutsche Biographie XVIII, 164 u. 156). Leider reichte sein Verständnis deutscher Musik nur bis zur dieser Grenze und nicht darüber hinaus. Bei Wagner hörte es völlig auf. Bis zu seinem letzten Atemzug ist er in aller verschollenen Abgeschiedenheit seiner Königsberger Existenz einer der heftigsten Gegner des großen Reformators gewesen, und man kann den Unglücklichen angesichts seiner, in seinen Briefen festgehaltenen wüsten Schmähungen auf jedes einzelne Werk nur auf das Tiefste bedauern!14


(Zu Seite 404/05: Projekt einer ›Beethoven-Biographie‹, mit welchem sich Wagner ein volles Vierteljahr ernstlich getragen). Am vollständigsten findet sich der Plan dazu in einem Briefe an Theodor Hell, vom 7. Mai 1841 dargelegt: ›Herr Anders, hiesiger Bibliothekar, hat bei seinen langjährigen gelehrten Forschungen und Studien in der Geschichte der Musik von jeher mit besonderem Eifer die erschöpfendsten Nachrichten und Notizen über seinen Bonner Landsmann, den großen Beethoven, gesammelt. Diese Sammlung, die zumal mehrere noch gänzlich unbekannte Mitteilungen über des Meisters Familie und Jugendgeschichte enthält, war bereits zu solchem Reichtum angewachsen, daß er ernstlich daran dachte, sein Vorhaben, eine große und umfassende Lebensgeschichte Beethovens zu schreiben, auszuführen, als vor kurzem das Schindlersche Buch über Beethoven erschien. Herr Anders fand dieses Buch, verglichen mit dem Reichtum seiner eigenen Sammlung von Nachrichten, nicht nur äußerst ärmlich ausgestattet, sondern jeder denkende und gefühlvolle Leser hat auch seine Meinung über dasselbe dahin ausgesprochen, daß es weit entfernt sei, den Anforderungen einer wahren Biographie, wie man sie erwartete, zu entsprechen. Zu dem kommt, daß dieses Buch, die unbeholfenste Zerrissenheit abgerechnet, in der es abgefaßt ist, nicht im mindesten einen klaren Überblick über das eigentliche künstlerische Leben des Tondichters gibt und sich der Verfasser desselben meistens mit einer verworrenen Mitteilung dessen begnügt, was er aus seinem eigenen beschränkten Gesichtspunkt zu übersehen und zu erkennen glaubte. Darüber sind alle öffentlichen Stimmen, selbst die, welche die Erscheinung jenes Buches mit lautem Jubel begrüßten, übereingekommen, daß es eigentlich nur Material abgebe. Nichtsdestoweniger hat aber die große Teilnahme, welche die Schindlersche Arbeit fand, bewiesen, mit welchem Interesse vom gesamten deutschen Publikum eine wirkliche und vollständige Lebensgeschichte aufgenommen werden würde, und somit fühlt sich nun erst recht Herr Anders veranlaßt, an die Ausführung seines langgehegten Planes zu gehen. Da ihm jedoch seine hiesige Anstellung, sowie seine außerordentliche Beschäftigung, fast gar keine Zeit übrig läßt, er auf der andern Seite aber auch selbst [509] gesteht, daß ihm eine leichte und fließende Ausarbeitung nicht allzu leicht falle, so hat er mir den Antrag gestellt, mir alle seine reichen Materialien an die Hand zu geben, das Ganze mit mir durchzusprechen, von mir selbst aber das Buch schreiben zu lassen. Da Beethoven von je mein Studium war und auch ich mir einige Kraft zutraue, in einem so begeisternden Thema nicht unwürdig mitsprechen zu können, so habe ich den mir gestellten Antrag angenommen, und teile über unsern gemeinschaftlichen Plan folgendes mit: – Unsre Biographie Beethovens soll ein Buch von zwei Bänden, jeder zu 30 Bogen mittleren Drucks, werden und in einer ansprechenden, dem Gegenstand nach vielleicht phantasievollen Sprache eine genaue und ausführliche Darstellung des künstlerischen, wie des bürgerlichen Lebens des großen Meisters enthalten. Bei Vermeidung von Auskramerei aller pedantischen Zitationsgelehrsamkeit, soll unser Buch mehr einem großen Künstlerromane als einer trocknen Aufzählung von chronologisch geordneten Daten und Anekdoten gleichen; bei alledem aber wird nichts mitgeteilt werden, was nicht der gewissenhaftesten und peinlichsten historischen Kritik Stich zu halten imstande sei. Zugleich aber, und zwar in die historische Darstellung eingewebt, soll unser Buch eine ausführliche Besprechung und Bezeichnung der großen musikalischen Epoche enthalten, die durch Beethoven geschaffen wurde und aus seinen Werken sich auf alle neuere Musik ausbreitete. Dieser Biographie sollen u.a. ein vollständiges Verzeichnis der Beethovenschen Kompositionen nach chronologischer Ordnung, – wie es bis jetzt noch nirgends gegeben worden ist, sowie Faksimiles u. dgl. beigegeben werden. – Jedenfalls soll es das reichste und vollständigste Werk werden, was unter allen Möglichkeiten über Beethoven erscheinen kann.

›Sollte nun Herr Arnold, den wir hier vorzüglich im Auge haben, durch Ihre überaus gütige Mitteilung des hier Angegebenen bewogen werden können, sich zum Verlage des entworfenen Buches zu verstehen, so könnte er darauf rechnen, noch im Verlaufe dieses Jahres das vollständige Manuskript dazu zu erhalten. Um dem Geschäfte, was bei so weiter Entfernung nicht unwichtig ist, die größte Kürze zu geben, hält es Herr Anders für nötig, sogleich die Bedingungen mitzuteilen, die für eine so umfangreiche Arbeit gestellt werden dürften. Das Honorar soll auf tausend Taler festgesetzt werden; ferner müßte Herr Anders, dessen Zeit durch die Ordnung seines gesammelten Materials, das sich natürlich in hundert Büchern zerstreut befindet und außerdem erst durch die Anschaffung dieses oder jenes Werkes vervollständigt werden dürfte, sich die Auszahlung eines Vierteils des Honorars als Vorschuß ausbitten, den er sich jedoch bereit erklärt, sobald es verlangt wird, erst nach Ablieferung eines ausführlichen Planes zu erwarten. Außerdem dürfte der Verleger sich dazu verständigen müssen, ein kompletes Exemplar der Leipziger musikalischen Zeitung Herrn Anders zur Durchsicht zuzuschicken, was durch Entremise der Avenariusschen Buchhandlung wohl eben nicht kostspielig sein würde‹.


(Zu Seite 411: Verkauf des Textentwurfs zum ›fliegenden Holländer‹ an die große Oper). Eine ganze Kette unberufener, abenteuerlicher Erfindungen knüpft sich an die Entstehung der beiden gleichzeitigen Bearbeitungen desselben Stoffes des ›fliegenden Holländers‹ und des französischen ›Vaisseau fantôme‹. Als völlig unhaltbar muß zunächst die effektvoll verzerrte Ausmalung des Vorganges der Abtretung des ›Holländer‹-Entwurfs gegen ein Almosen von 5 Napoleonsd'or, die Léon Pillet aus der Westentasche gezogen, bezeichnet werden, wie sie E. Pasqué in der Zeitschrift ›Nord und Süd‹ 1884 als historische Tatsache zum besten gibt, – auf Grund der Erzählung eines lebhaften Franzosen, des Journalisten und Theaterdichters H. Revoil, als angeblichen Augenzeugen der Unterhandlung!15 [510] Von geradzu frappierender Unbefangenheit ist die Angabe des Herrn Catulle Mendès, Wagner sei damals in so bedrängter Lage gewesen, daß er seinen Hund habe verkaufen (!!) müssen (!), um einer Vorstellung des ›Vaisseau fantôme‹ beizuwohnen. Aber, wenn auch die erste Aufführung des Vaisseau fantôme nicht nachweislich erst am 9. November 1842, also nach Wagners Fortgang von Paris stattgefunden hätte, – was in aller Welt ging ihn denn diese französische Verarbeitung seines deutschen Originalwerkes an, daß er ihrer Aufführung überhaupt hätte beiwohnen müssen?? Und deshalb hätte er getan, was er unter keinen Umständen zu Wege gebracht haben würde, nämlich seinen Hundverkauft?! ›Elender, bist du auch wie der Engländer?‹ sagt Wagners »deutscher Musiker« in Paris. ›Nicht für ganz Britannien ist mein Hund mir feil!‹ (Ges. Schr. I, S. 155 und 162).


(Zu Seite 421: ›O Millionen, goldne Knöpfe!‹) Das hier erwähnte, zufällig erhaltene Notizenblatt, welches natürlich, wiewohl von Wagner Hand geschrieben, an sich nur den Wert einer bloßen Kuriosität hat, ist inzwischen von der Zeitschrift ›Die Musik‹ (III. Jahrg. 1903/04, Heft 20) in phototypischen Faksimiledruck veröffentlicht, und jeder kann sich durch eigenen Augenschein davon überzeugen, daß der in den zusammenhangslosen Notizen vorkommende scheinbare Ausruf: ›o Millionen!‹, richtig gelesen, vielmehr ›5 Millionen‹ zu bedeuten scheint. Daneben steht ein Entwurf zu einer Korrespondenz für die Abendzeitung mit dem zusammenhängenden Satze: ›Man sucht die 5 Millionen, die den Caballoschen (?) Generalen in Spanien von hier aus zugeschickt werden sollten‹. Die ausgeführte Korrespondenz vom 5. Nov. 1841 enthält nichts näheres darüber, sowie darin überhaupt nur ein Teil der hier verzeichneten Materialien tatsächlich zur Verwertung gelangt ist. Bekanntlich hielt damals – den ganzen Monat Oktober hindurch – der von O'Donnell im Interesse der, in Paris lebenden Königin Marie Christine erhobene Aufstand in Navarra, seine Einschließung in der Citadelle von Pamplona, die Ereignisse in Madrid usw. die politische Welt in atemloser Spannung, so daß die Zeitungen fast einzig davon erfüllt waren, wenn auch Hr. Guizot und das französische Kabinett sich gewissenhaft jeder Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Nachbarstaates zu enthalten schienen. Wohl aber meldete die ›Gazette des tribuneaux‹ schon zu Anfang Oktober, O'Donnell habe 3 Millionen mitgenommen16; außer den von Marie Christine selbst zur Verfügung gestellten Summen sollen fernere 2 Millionen Franken auf das Vermögen des Herzogs von Aumale hypothekarisch aufgenommen worden sein, um damit die Bewegung zu unterstützen, nach deren Gelingen dann der französische Prinz die Hand der jungen Königin Isabella im Einverständnis mit ihrer Mutter erhalten hätte.17 Das dürften dann etwa zusammen die obigen ›5 Millionen‹ gewesen sein? Da jedoch die Korrespondenzen Wagners für die ›Abendzeitung‹ politische Angelegenheiten nie in gravitätischem Ernst behandeln, sondern sie höchstens in humoristischem Tone streifen, wenn es galt einen Witzesfunken sprühen oder eine Scherzrakete steigen zu lassen, so ist es für uns unmöglich zu erkennen, welchen Witz oder Scherz der Verfasser jener Notizen dabei im Sinne hatte, den er nachher bei der Ausführung überging. Ohne jeden Zweifel war auch bei diesen Millionen Rothschild beteiligt, wie er es an den gleichzeitig für Straßenbau und Kanalisationen seitens der spanischen Regierung auf dem Wege einer Anleihe erhobenen 17 Millionen war;18 das bringt uns aber dem Verständnis jener Notiz auch nicht um einen Schritt näher. Von dem Gemisch politischer und theatralischer Aufzeichnungen sind tatsächlich in der genannten Korrespondenz nur die letzteren zur Verwendung gelangt, [511] diese dafür ziemlich erschöpfend. Unter den sonstigen Federproben desselben Blattes, unter denen sich nebst dem Namen ›Rothschild‹ auch derjenige der Pariser Modekomponistin ›Puget‹ (S. 348) einige Male befindet, ist für uns höchstens die vollständig ausgeschriebene Adresse des preußischen Gesandten: ›Rue de Lille 86‹ von Interesse; vermutlich hatte er mit diesem wegen seiner Eingabe an Friedrich Wilhelm IV. in Sachen des ›fliegenden Holländers‹ zu tun gehabt; wenigstens findet sich – immer auf demselben Blatte – auch noch die offizielle Anrede an diesen letzteren: ›Allergnädigster König! Großmächtiger König und Herr!‹ (vgl. S. 424).


(Zu Seite 425: Die Annahme des ›fliegenden Holländers‹ in Berlin eine durch Meyerbeer veranlaßte, gänzlich erfolglose Gefälligkeitsbezeigung). Werfen wir an dieser Stelle, zur Gewinnung eines zusammenfassenden Urteils über den Wert der ihm von Meyerbeer erwiesenen Dienste, einen Rückblick auf dieselben in ihrer chronologischen Folge, so finden wir mit unbestreitbarer Gewißheit, daß ihn Meyerbeer tatsächlich nur dahin empfohlen hat, wo er eine Erfolglosigkeit seiner Empfehlung aus inneren oder äußeren gründen mit Bestimmtheit voraussehen konnte (S. 348 und 365). Seine Empfehlung des ›Rienzi‹ nach Dresden war ihm fast nur mit Gewalt zu entringen gewesen; er zögerte damit, so lange es nur irgend anging (S. 391 und 403). Mit seiner Empfehlung des ›fliegenden Holländers‹ nach Berlin – so viel Mühe es kostete dieselbe von ihm zu erlangen (S. 426 ff)! war noch nichts geschehen, als daß er Wagner für den Augenblick beschwichtigte; er behielt dort immer noch alle Fäden in Händen, um alles bereits Eingeleitete wieder zu hintertreiben. Er war über die Maßen höflich, an verbindlichen Redensarten fehlte es ihm nie; aber seine Pläne und Interessen sollte ihm niemand durchkreuzen, weder in Paris, noch in Berlin. Laube hatte ein Schauspiel ›Struensee‹ geschrieben und die Intendanz es mit dem Bemerken angenommen, die Aufführung werde bereits vorbereitet. Nach langem Warten fragte er der Ursache der Verzögerung nach. ›Da erfuhr ich denn‹, so erzählt er selbst, ›daß der Name Struensee Tote auferweckt habe. Meyerbeers Bruder, Michael Beer, hatte früher auch ein Drama ›Struensee‹ geschrieben, das sei jetzt aus der Vergessenheit hervorgezogen und, mit einer begleitenden Musik des Bruders, dringend zur Aufführung empfohlen. Nicht nur dringend, nein, auf das Dringendste von vielen hundert Seiten. Der in Berlin mächtige Meyerbeer betreibe es, seine Musik sei nicht bloß eine begleitende; es sei eine große Musik, gegen welches mein mageres Stück ohne Musik nicht werde aufkommen können. Es helfe nichts, daß mein Stück an mehreren Bühnen starken Erfolg gehabt, das Michael Beersche aber nicht; es helfe nichts, daß Küstner (der Intendant) für mein Stück sei, daß er es früher angenommen, daß wichtige Personen ihm beistimmten; – es sei alles umsonst, denn Meyerbeer entwickele eine force majeure, welcher auch der Intendant des Hoftheaters nicht zu widerstehen vermöge. Und so geschah es denn auch: das Beersche Stück wurde aufgeführt, und die öffentlichen Stimmen flossen über von Lob. Ich mußte mich in Gesellschaft des Intendanten ergeben und bat nur noch, das meinige hinterher auch aufzuführen. Aber auch das fand unermeßliche Schwierigkeiten, obwohl der Intendant es wollte, obwohl einige Leute in der Nähe des Königs es wollten, ja obwohl am Ende der König selbst es wollte. Es fand sich, daß der Hauptschauspieler für den Beerschen gewonnen war und die Achseln zuckte zur Erlernung eines neuen Struensee. Küstner war außer sich über die unterirdische Macht, der er ohnmächtig gegenüberstand. Erst nach langer, langer Not zwang ich jenen Schauspieler; mein Stück wurde gegeben und hatte den glücklichsten Erfolg. Nach einigen Vorstellungen aber erkrankte der Schauspieler und wurde erst wieder gesund, als er den Beerschen Struensee wieder spielen durfte‹.19 Ein Vorfall, wie dieser, gibt im kleinen das [512] getreue Abbild dessen wieder, was Wagner in der Folge im Großen mit seinen Werken in Berlin zu erleben hatte. Der ›fliegende Holländer‹ gelangte erst nach Jahren zu einer Berliner Aufführung: ›ich konnte den Erfolg nicht anders als durchaus günstig betrachten; dennoch verschwand die Oper sehr bald vom Repertoire‹. Die Berliner Aufführung des ›Rienzi‹ verzögerte sich bis in das Jahr 1847; die ›öffentlichen Stimmen hatten jede Möglichkeit ihres Erfolges im voraus nach Kräften untergraben; Meyerbeer war ›höchst eilig abgereist‹ usw. Unleugbare Erfolge von Wagners Werken wurden in der deutschen, wie in der französischen ›Presse‹ entweder verschwiegen, oder doch solange als möglich der Name des Autors entstellt und statt dessen der Name Meyerbeers eingeschwärzt, selbst in Blättern, die, wie die Schlesingersche ›Gazette musicale‹ oder die mehrgenannte Stuttgarter ›Europa‹, sich ihm früher wohlgesinnt bewiesen hatten. Eine Dresdener Korrespondenz des Journal des Débats vom Oktober 1845 bringt die Notiz: ›Au Théâtre Royal de notre capitale on travaille activement à la mise en scène d'un opéra en cinq actes (sic) ayant pour titre ›Tannhäuser‹ et donc la musique est de Mr. Robert (sic) Wagner, élève de l'illustre Meyerbeer‹.20 Eine fernere Korrespondenz ergänzt die vorstehende Nachricht auf die folgende Weise: ›La nouvelle oevre de M. Wagner (sic) a été accuillie par notre public avec le plus grand enthousiasme. L'auteur a été appelé sur le scéne après chaque acte, et lorsque le spectacle a été fini, tous les membres de l'orchestre et plus de deux cents jeunes gens se sont rendus processionellement, chacun muni d'un flambeau, à la maison oú demeure M. Wagener (sic) et ils ontexécuté sous les croisées de ce jeune compositeur une sérénade composée de morceaux choisis dans ses ouvrages et dans ceux de M. Meyerbeer.‹ Daß die Erwähnung von Wagners Hervorruf nach allen fünf (!) Akten seines Tannhäuser, sowie die Fabel von einem ihm gebrachten Fackelzuge nach der Aufführung lediglich der Geschäftigkeit des Meyerbeerschen internationalen Preßbüreaus ihre Entstehung, beziehungsweise Erfindung verdankt, liegt ebenso auf der Hand, wie die Absichtlichkeit der Namensfälschung, unter beständiger Hereinziehung des›illustre Meyerbeer‹. Zu gleicher Zeit tischt die ›Europa‹ (A. Lewald) ihren Lesern die folgende Nachricht über das Dresdener Ereignis auf: ›Man schreibt uns aus Paris: Tannheuser (sic!), die neue Oper von Wagner, hat zu Dresden am 23. Oktober allgemeinen Beifall erlangt. Der Komponist ist einer der Lieblingsschüler Meyerbeers und will, wie sein Meister, für die französische (!) Oper schreiben ...‹21 Es ist dies dieselbe Methode, welche i.J. 1850 beim ersten Hervortreten des Lohengrin, von der namhaftesten Berliner Musikzeitung eingehalten wurde, die bei aller ›systematischen Inundation‹, welche die Kanzellisten des großen Maëstro mit ihren Notizen über den ›Propheten‹ in jeder Wochennummer zustande brachten, in ihrem ganzen Jahrgang nach W. Tapperts genauer Prüfung nur fünfmal ganz kurz des ›Lohengrin‹ gedenkt, zweimal mit unkenntlich gemachtem Titel (›Longrie‹ und ›Longnin‹), einmal mit Verschweigung des Komponisten; sodann mit Erwähnung einer Ehrengabe, welche – Liszt bei der Aufführung empfing, und endlich mit der – unwahren – Meldung von dem geringen Erfolge der Novität.

Der ›Lieblingsschüler Meyerbeers‹ war somit buchstäblich zur ›eisernen Maske‹ geworden, unter welcher die lebendige Erscheinung des großen Wegebahners, wenn es irgend anginge, lebenslänglich schmachten und dazu verurteilt sein sollte, vor der Öffentlichkeit seinem wahren Antlitz nach verborgen zu bleiben. Der nicht erst in diesem Jahr – 1904 – verstorbene Wiener Hofrat Hanslick (›gestorben in diesem Jahr‹ hätte, von ihm gesagt, etwa nur den Sinn der Aufschrift gewisser alter Bücher ›gedruckt in diesem Jahr‹) drängte sich [513] seinerzeit nach dem ›Tannhäuser‹, als junger Musikenthusiast aus Meyerbeers Schule, mit seinen zweideutigen Lobeserhebungen an Wagner heran. Dessen ablehnendes Schreiben vom 1. Januar 184722 ist ein Musterstück von Taktgefühl und eingehender Widerlegung derjenigen banalen Irrtümer, mit welchen von jener Seite andauernd gegen ihn operiert wurde. ›Was mich um eine Welt von Ihnen trennt, ist Ihre Hochschätzung Meyerbeers‹, heißt es in jenem privaten, nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Schreiben. Für den Empfänger desselben war mit dieser Erklärung der Ausgangspunkt einer konsequent durchgeführten Feindschaft gegeben, die vor den giftigsten Waffen der Entstellung und Verleumdung nicht zurückschreckte. Die Aufdringlichkeit jener Meyerbeerschen Preßagenten forderte endlich (nachdem er lange genug damit gezögert!) mit Notwendigkeit auch einen öffentlichen Protest gegen diese Zusammenstellung mit seinem äußersten polaren Gegensatz heraus, wie er im ersten Teile von ›Oper und Drama‹ sich kundgibt. War und blieb es ihm doch eine der widrigsten, steht wiederholten Erfahrungen, sich in seinen reinsten und höchsten künstlerischen Leistungen mit dem raffinierten Ausbeuter des öffentlichen Kunstverfalles auf eine Stufe gestellt zu finden, als habe sein bewußt reformatorisches Schaffen mit jener Verzerrung, des ihm vorschwebenden Kunstideals nur das Mindeste gemein. ›Ich kann als Künstler vor mir und meinen Freunden nicht existieren, nicht denken und fühlen, ohne meinen vollkommenen Gegensatz zu Meyerbeer zu empfinden und laut zu bekennen. Es ist dies ein notwendiger Akt der vollen Geburt meines gereiften Wesens, und – so Gott will – gedenke ich Manchem damit zu dienen, daß ich diesen Akt mit solchem Eifer vollziehe.‹

Als es unmöglich geworden war, den gewaltigen Neuschöpfer noch ferner mit künstlicher Namensentstellung als élève de Meyebeer im Dunkel zu erhalten, war die Taktik nur noch: Zurückhalten und Verschweigen. Die Parole dazu gab der Mann selber, um dessen willen Wagner in Paris als ›Lieblingsschüler Meyerbeers‹ ruhig hätte verhungern können. Er zitterte innerlich vor ihm und suchte sich und andere zu überreden, daß er nicht existiere. Sein eifriger Verehrer, Blaze de Bury, berichtet, schon der bloße Name Wagners habe ihn erblassen gemacht: ›er konnte ihn nicht aussprechen hören, ohne eine unangenehme Empfindung zu verraten, und nur durch eine hervorbrechende Erwiderung konnte man die Enthüllung seiner wahren Gesinnung erraten‹. Im Jahre 1853 fand sich der russische Komponist Alexander Sseroff in Baden-Baden mit Meyerbeer zusammen. Die Wiesbadener ›Lohengrin‹-Aufführung stand bevor; Sseroff verriet seine Absicht daran teilzunehmen. ›N'y allez pas‹, sagt Meyerbeer haftig, ›ce serait du temps perdu‹. Aber Sseroff ging dennoch und ersah, der illüstre Komponist des Propheten habe nicht so sehr Grund, für andere, als für sich selbst besorgt zu sein.

Fußnoten

1 Dr. Max Koch in seinem vortrefflichen ›Leben Shakespeares‹ (Stuttgart, Cotta 1885) gibt auf S. 317 im bibliographischen Teil seiner Arbeit irrtümlich ›W. Wagner‹ als Übersetzer an, wobei ihm der Herausgeber der neueren Hamburger Shakespeare-Ausgabe (1888 ff.) vorschweben mochte, welches Versehen hiermit berichtigt wird.


2 Die Grundlage des Spotornoschen Buches war jener Codex diplomaticus Columbi, der im J. 1670 durch Lorenzo Oderigo der Republik Genua geschenkt, durch Ereignisse der neueren Zeit nach Paris verschleppt, und 1821 als wichtigste Urkundensammlung über den großen Entdecker in dessen Vaterstadt zurückgebracht, erst durch diese Rückversetzung zur allgemeinen Kenntnis gelangte.


3 Brieflich an Albert W., 9. Februar 1818. Zur Sache vgl. Richard Wagner, Ges. Schr. VIII, 105–7 Deutsche Kunst und deutsche Politik') und ›Wagner-Encyklopädie‹ s.v. Kotzebue.


4 Alexander Ritter (der Wort- und Tondichter des ›faulen Hans‹) in einem Briefe vom 22. Oktober 1877.


5 Luigi Lanzis Geschichte der Malerei in Italien, vom Wiederaufleben der Kunst bis Ende des 18. Jahrhunderts. Aus dem Italienischen übersetzt und mit Anmerkungen van J.G.v. Quandt, herausgegeben von Adolf Wagner. 3 Bände, Leipzig 1830–1833.


6 Bruno Nolano, Giord, Opere, ora per la prima volta raccolte e pubblicate da Ad. Wagner. 2.Voll. Leipzig, Weidmann 1830.


7 Burns, Robert, Complete Works with selected notes of Allan Cunningham, a bibliographical and critical introduction, and a comparative etymologic glossary to the Poet. By Adolf Wagner. Leipzig Fr. Fleischer, 1835.


8 Veröffentlicht in H.S. Chamberlain, Richard Wagner, S. 32 der illustr. Ausgabe.


9 ›Der Pietist‹, Novelle von G. O, Marbach. (›Jahreszeiten‹, Leipzig 1839.)


10 Gegenwärtig sind sämtliche Rechte der Aufführung und Veröffentlichung durch die Liebenswürdigkeit der Frau Cosima Wagner (unter Hintansetzung ihres eigenen Wunsches, das jugendliche Werk des Meisters der Öffentlichkeit zu entziehen) der Londoner Firma Metzler & Co. übertragen.


11 Sie soll, so wird uns geschrieben, des öftern in verschiedenen Zeitungen zum Abdruck gelangt sein; uns ist sie bloß abschriftlich bekannt geworden. Das Original befindet sich zur Zeit im Besitz des Herrn Regierungsrat Heinrich Steger in Wien.


12 Minnas jüngste Schwester, damals in Wagners Hause.


13 Der alles künstlerische Denken Wagners durchdringende Grundgedanke, zuerst erlebt und erfahren 1831 (vgl. S. 220), sodann 1850 im ›Kunstwerk der Zukunft‹ dem Abschnitte über die ›Tonkunst‹ kernhaft einverleibt.


14 Ein ›greulicheres, unpoetischeres Machwerk (!) als das ›dumme und läppische Lohengrin-Textbuch‹ sei ihm nicht vorgekommen; die ›Meistersinger‹ sind ihm ›ein Lustspiel ohne Charaktere, ohne Intrigue, ohne irgend etwas, was einen interessieren kann; auf nichts berechnet, als auf Dekoration und Spektakel‹. Der ›Humbug in Bayreuth‹, den er noch in seinen letzten Lebensjahren aus der Ferne beobachtet, erfüllt ihn mit bitterem Verdruß; er durchliest nochmals von Anfang bis zu Ende die Dichtung vom ›Ring des Nibelungen‹ und bezeichnet sie als ein ›barockes Ballet‹ mit ›Götterpetern und Heldenlümmeln‹ (Briefe von und an Lehrs, S. 648, 787, 989).


15 Es scheint nicht unnötig, vor der Unglaubwürdigkeit dieses Berichtes (so sehr ihm der Stempel der Windbeutelei bereits durch sich selbst aufgedrückt ist) noch besonders zu warnen, da ihr sonst mancher doch wenigstens teilweise Glauben schenkt, wie es dem geschätzten Verfasser des vortrefflichen ›Holländer‹-Aufsatzes im ›Bayr. Taschenbuch‹ (1893, S. 144) begegnet ist: woher hätte er sonst seine Angabe, daß die Abfindungssumme gerade ›bare einhundert Franken‹ betragen habe, – während doch Liszt, Ges. Schr. III2, S. 234, Richard Pohl, ›R. Wagner‹ S. 144 u.A. den richtigen Betrag (fünfhundert Franken) übereinstimmend angeben?


16 Vgl. Augsb. Allg. Zeitung Nr. 128 vom 12. Oktober 1841, S. 2276.


17 Ebendaselbst Nr. 304 vom 31. Oktober, S. 2426. –


18 Ebendaselbst Nr. 274 vom 1. Oktober 1841, S. 2186.


19 Heinrich Laube, Erinnerungen 1810–1840. S. 388–89.


20 Georges Noufflard, R. Wagner II, S. 9, bemerkt dazu treffend: Sans donte un ami de Wagner eût su qu'il ne s'appelait pas Robert et que ›Tannhäuser‹ n'a que trois actes. On est donc conduit à attribuer l'insertion ces correspondances au désir qu'avait Meyer de faire croire qu'il ... faisait école en Allrmagne.2 Vgl. N. Oesterlein. Katalog einer Richard Wagner-Bibliothek II, 108.


21 Glasenapp, Richard Wagners Leben. I.


22 Vgl. Band II1, S. 176/179.

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 488-514.
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