Vorwort.

Indem der Verfasser den gegenwärtigen Band nach längerer Zwischenzeit wieder an die Öffentlichkeit hinaussendet, kann er sich der genugtuenden Wahrnehmung nicht verschließen, daß dieser Teil der Arbeit – in seiner nunmehr erneuten Gestalt – würdiger, als dies noch vor zehn Jahren möglich war, die Reihe seiner Nachfolger eröffnet. Einerseits haben sich darin die brieflichen Selbstzeugnisse gegen früher nicht unerheblich gemehrt Andererseits hat es nun aber der Verfasser auch für angezeigt erachtet, einige schon bei der letzten Durcharbeitung in seinen Händen befindliche biographische Dokumente, die er damals noch als entbehrlich zurückhielt, nunmehr am geeigneten Ort in seine Darstellung mit hineinzubeziehen, wo sie zur Ergänzung der vorhandenen Nachrichten oder zur besseren Beleuchtung der Tatsachen dienlich sein konnten. Allerdings hat dadurch dieser Band, bei aller auch jetzt noch durchgeführten Beschränkung des Stofflichen, im Verhältnis zu seiner früheren Fassung, fast um ein Fünfteil seines Umfanges zugenommen. Es ist aber in Betracht zu ziehen, daß er dafür die dreifache Zeitdauer jedes einzelnen der folgenden Bande, nämlich drei volle Jahrzehnte von Wagners Leben umfaßt und daß gerade diese Werde- und Lehrjahre des in seiner Entwickelung begriffenen Genius für das Verständnis alles Folgenden von nicht geringer Bedeutung sind.

Seinem ganzen Wesen und dem Bewußtsein nach, das er von sich selber hegte – so wenig leicht es ihm fiel, dies seiner jeweiligen Umgebung verständlich zu machen! – ist der früheste Wagner recht auffällig derselbe, wie nur in irgend einer späteren Periode seines Lebens: die Verkörperung des Schopenhauerschen Lehrsatzes von der Unveränderlichkeit des angeborenen Charakters, der Identität der Persönlichkeit auf ihren verschiedenen Lebensstufen. Aus allen seither uns bekannt gewordenen Zeugnissen hat sich uns die Darstellung bestätigt, der wir bereits in der ersten Ausgabe unter dem unmittelbaren Eindruck eigener Anschauung Worte verliehen. ›Nehmt diesem Antlitz,‹ so schrieben wir damals, ›die tiefen Furchen, welche schwere [3] und leidenvolle Kämpfe in dasselbe gezogen, und Ihr dürft es wagen, aus diesem kühn vorspringenden Kinn, dieser furchtlos offenen Stirn den Dichter des »Liebesverbotes« und des »Rienzi« herauszulesen, der von Riga aus seine verwegene Fahrt zur Eroberung von Paris antrat und dem es statt dessen gelang, sich selbst zu finden und das von seinem Genius gesteckte höchste künstlerische Ziel zu erkennen.‹ Diese ausgeprägte Erscheinung, einzig in ihrer Art, durch ihre Geisteshöhe, wie das Unbegrenzte ihrer Begabung, ihrer Aneignungsfähigkeit, durch das Eigenartige ihrer Kunst- und Lebensauffassung von ihrer gesamten Zeitgenossenschaft völlig verschieden, ist dafür in allen Epochen ihres Daseins sich selber gleich und treu geblieben; sie hat sich in dem weiten Lauf eines ereignisreichen, stürmisch wechselnden Lebens in keinem wesentlichen Zuge verändert. Es ist nur der Dürftigkeit und Beschränktheit unserer Nachrichten, dem unzureichenden Verständnis seiner Natur und Anlage durch die ihm Nahestehenden zuzuschreiben, wenn uns so wenig Züge erhalten sind, die uns schon in dem Knaben, dem Kinde alle Charakterzüge des Mannes, des schöpferischen Reformators bekunden: den Stolz wie die Weichheit; den unbeugsamen Wahrheitssinn, den Ernst der Überzeugung, wie den befreienden Humor; den durchdringenden Scharfblick der Beobachtung, der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung, wie die Kraft der Intuition; bis auf den Wechsel der Stimmungen, den früh bezeugten Gegensatz zwischen übermütiger, zur Ausgelassenheit gesteigerter Heiterkeit und tief schmerzlicher Melancholie, – erstere ihm aus dem Innern quellend, letztere durch äußere Hindernisse ihm aufgedrängt. Mit dieser inneren Identität und Kontinuität geht nicht allein das ihm eigene staunenswert helle und klare Gedächtnis für die geringsten Vorfälle seiner frühen und frühesten Jugendzeit Hand in Hand; sondern es erklärt sich daraus auf der anderen Seite nicht minder (wie nicht allein das Spätere das Frühere in sich schließt und umfaßt, sondern auch dieses Spätere dem Früheren bereits innewohnt!) jene, in seiner ersten Pariser Periode von Pecht an ihm beobachtete und treffend bezeichnete ›geheimnisvolle Magie seines Wesens,‹ – wenn man sich nämlich darüber klar wird, daß, was in ihm lebte, weit über seine zeitweiligen begrenzten Leistungen hinausging, daß ›Tannhäuser‹ und ›Tristan‹ als Möglichkeiten, ja als ideelle Wirklichkeiten bereits in ihm vorhanden waren, während er tatsächlich erst auf die vollendete Partitur seines ›Liebesverbotes‹ hinweisen konnte und sein ›Rienzi‹ nur erst im Entstehen begriffen war.

Das erste Buch unseres gegenwärtigen Bandes geleitet uns bis zum Abschluß seiner Jünglingsjahre und zu seinem frühesten Eintritt in eine künstlerische Funktion am modernen Theater; es bringt zugleich seine rein musikalische [4] Entwickelungsperiode, als Komponist von Ouvertüren und Symphonien, zum Abschluß. Es sind dies die beiden ersten Jahrzehnte seines Lebens, von 1813–1833. Für die soeben von uns behauptete innere Kontinuität ist es inzwischen bezeichnend, wenn erst kürzlich R. Breithaupt, in seiner geistvollen Analyse der Fis moll-Fantasie (S. 143 dieses Bandes), in diesem so ganz jugendlichen Werke bereits den Tristantyp in vollster Schärfe und Plastik, die protoplasmische Urform des Sehnsuchtsmotives nachweist, und das ganze Tonstück in Fleisch und Blut, Schwung, Ernst, Tiefe und ›echter, weil verhaltener Leidenschaft‹ als einen echten Wagner, voll leidenschaftlicher Züge, kühner Ausblicke und dramatischer Ansätze bezeichnet. Der Schluß desselben, mit einem bedeutungsvollen Anklang an den dritten Tannhäuser-Akt (›Inbrunst im Herzen‹) ist nach ihm mehr als eine bloße Vorahnung, – ›das ist die Gewißheit des späteren Wagner.‹1 Mit vollem Recht ist darauf hingewiesen worden, daß, auch der Zeitfolge nach, nicht allein im apriorischen, idealen Sinne, der Dichter in Wagner älter sei als der Musiker; trotzdem finden wir ihn in diesem frühen Zeitabschnitt seiner Produktivität, im Ringen nach voller Aneignung des musikalischen Ausdruckes, fast ausschließlich als Musiker beschäftigt. Der Dramatiker, schon vor dem Musiker durch das ›große Trauerspiel‹ seiner Knabenzeit, sowie durch den Entwurf und die teilweise Ausführung der ›Hochzeit‹ angekündigt, tritt mit der zweiten Periode (1833–1843) vollends an das Tageslicht: die ›Feen‹, das ›Liebesverbot‹, der Entwurf der ›hohen Braut‹, ›Rienzi‹ und der ›Holländer‹ folgen – trotz aller Beunruhigungen durch die Peripetieen seiner äußeren Existenz – im Laufe eines Jahrzehnts aufeinander; im Entwurfe der ›Sarazenin‹, in der Konzeption des ›Tannhäuser‹, zeigt sich bereits seine weitere Entwickelung an. Der Dramatiker, der zur Verwirklichung seiner höchsten dichterischen Absichten die Allgewalt des musikalischen Ausdruckes als wesentlichen Faktor seines Kunstwerkes sich erkor, mußte, solange er noch nicht mit bewußtem Drange die Bahn des Reformators beschritt, zunächst in den notwendigen Irrtum der ›Oper‹ verfallen, und deren damaliger glanzvoller Höhepunkt, die Pariser ›große Oper‹, und somit die Vorstellung jenes Paris selbst, mit unwiderstehlicher Anziehungskraft, in immer engerer Umkreisung ihre magisch leisen Schlingen um ihn ziehen, wie der schwarze Pudel Fausten auf seinem Osterspaziergang umkreist. Mit kühnem Wagemut unternimmt er [5] die abenteuerliche Fahrt, unter tausend Nöten und Entbehrungen lernt er, an Ort und Stelle angelangt, die Nichtigkeit des berückenden Trugbildes durchschauen, das seine Phantasie so lange gefesselt. Noch bleibt ihm der andere Irrtum zu erkennen und zu überwinden, – der Irrtum über den tatsächlichen Wert oder Unwert unserer gesamten modernen Kunstübung. Auch ihn zu lösen, den er bereits bei seinem erneuten Eintritt in eine Theaterfunktion (sei es auch an einem Hoftheater ersten Ranges) in sicherem Vorgefühl sich eingestand, – das blieb die Aufgabe des dritten Zeitraumes in seinem Leben (1843–1853), welcher den Inhalt des nächstfolgenden Abschnittes unserer Darstellung bildet; der gegenwärtige geleitet ihn und uns bloß erst bis an die Schwelle seiner Dresdener Kapellmeisterschaft.

›Ich ersah‹, so berichtet er selbst ›einen außerordentlichen Glücksfall in dem, was sehr bald die Quelle eines verzehrenden Leidens für mich werden sollte.‹ Daß er dies dennoch vorausempfand, daß eine starke innere Abneigung ihn davor warnte, sich von neuem in den Dienst dieses Kunstlebens zu stellen, ist bedeutsam genug, für seinen reformatorischen Drang, wie für sein ausgesprochenes Bedürfnis nach produktiver Freiheit und Unabhängigkeit. Viel lieber hätte er schon damals durch seine Werke von außen her auf die deutschen Theater eingewirkt, als sich persönlich durch ein Amt an eines derselben zu binden. Nun aber gehört es mit zu dem Wertvollsten, was wir dem Leser in dieser neuen Ausgabe bieten können, daß wir ganz dieses gleiche Gefühl der Abneigung gegen ein derartiges Amt schon vor dem Eintritt in seine allererste – Magdeburger – Kapellmeisterfunktion in ihm wahrnehmen. Das Bild jener von uns betonten inneren Kontinuität seines Wesens und Charakters wird durch diesen einen Zug ganz erheblich bereichert. Um keinen Preis hätte er nach der gewaltsamen Abwerfung des Dresdener Jochs und der großen Umwälzung, die das Jahr 1849 in seinen Lebensverhältnissen bewirkte, je wieder eine Stellung an einem modernen Theater übernommen. Nun tritt aber schon im Sommer 1834 der gleiche Widerwille dagegen, sich an den Theaterdienst zu binden, der gleiche Unabhängigkeitstrieb, das gleiche Verlangen nach freier Schaffensmuße, aus einer brieflichen Äußerung an die Schwester Rosalie unwiderleglich hervor. Mitten im Genusse der letzten goldenen Tage seiner jugendlichen Freiheit durchschaudert ihn das Gefühl davon: ›sollten die glücklichen Tage, die ich jetzt genieße, sich vielleicht bald an mir rächen?‹ Es ist derselbe Schauder, den er späterhin, kurz vor dem Eintritt in die Dresdener Atmosphäre, vor einem banalen, langweiligen ›Glück‹ unter den dortigen ›Hofräten und Eseln‹ und dem ›Theatergesindel‹ empfindet. Und dieses noch unbestimmt sich äußernde Gefühl trügt ihn nicht: die Veranlassung [6] sich zu binden, jene goldene Freiheit und Schaffensmuße zu opfern, sie lauert hier wie dort bereits auf ihn, sie steht beidemal schon vor der Tür. Unmittelbar darauf meldet sich die Magdeburger Vakanz. Und von hier ab beginnt der Kampf und Krampf, die Unruhe, das Ringen mit Entbehrung und Not, – die Tragik seines Daseins. Der geborene Reformator der deutschen Kunst war nicht dazu bestimmt, als Musikdirektor an Theatern zweiten und dritten Ranges seine Existenz zu fristen. Er selbst spricht einmal, in der Autobiographie von 1842, von seiner ›schnell ergriffenen Selbständigkeit.‹ Diese Selbständigkeit war aber nicht aus freien Stücken von ihm ergriffen, sie war ihm aufgedrängt. Aufgedrängt durch den reichen Schwager Brockhaus, der sich die Sorge für seinen Unterhalt ersparen wollte, ohne einen Begriff von seiner Begabung, den er, wie es scheint, zeitlebens nicht gewonnen hat; aufgedrängt fast auch durch die eigene Mutter, wenn sie ihm zuredet, selbst ›mit der Hälfte Gage‹ an dem bankerotten Magdeburger Theater zu verbleiben. Er sollte mit einundzwanzig Jahren auf eigenen Füßen stehen; war es doch auch den andern Geschwistern nicht anders gegangen. Mit Ausnahme Alberts, der die ihm durch den Stiefvater zugedachte Möglichkeit eines mehrjährigen Studiums der Medizin freiwillig aufgab, um gegen Geyers Rat und Wunsch, die Laufbahn des Sängers und Schauspielers zu ergreifen! überblickt man jedoch den außerordentlichen Reichtum in Wagners erster jugendlicher Produktion, unmittelbar nach dem Abschluß seiner Studien bei Weinlig, so muß es einen noch nachträglich schmerzen, ihn aus dieser vollen glühenden Schaffensfreudigkeit gerissen zu sehen.

Aus dieser frühesten Zeit seiner eifrigen rein musikalischen Produktion hat nun eine ausnahmsweise günstige Fügung, ein Glückszufall seltener Art, ein vereinzeltes, überaus kostbares biographisches Zeugnis in Gestalt eines Briefes an die ihm stets besonders nahestehende Schwester Ottilie (nachmals Frau Prof. Hermann Brockhaus) bis auf unsere Tage erhalten. Dasselbe ging dem Verfasser erst in letzter Stunde, nach dem völligen Abschluß des vorliegenden Bandes (nebst Anhang!) durch die besondere Güte der Tochter Ottiliens zu. Die darin enthaltenen biographischen Daten dem Leser bis zu einer ungewissen erneuten Durchpflügung dieses Zeitgebietes – in einer späteren Auflage – vorzuenthalten, würde uns wie eine Versündigung erschienen sein. Da wir sie nun aber doch nicht am rechten Orte verwerten (nämlich die darin enthaltenen wichtigen Angaben auf Seite 151/52 dieses Bandes in den Text hineinverarbeiten) konnten, blieb uns kein anderes Auskunftsmittel übrig, als das Dokument selbst der gegenwärtigen, einzig noch offenen Stelle – dieses Vorwortes – als eine Perle von höchstem Werte einzufügen. Zum Verständnis [7] der Situation sei erwähnt, daß die Schwester Ottilie im Sommer des Jahres 1831 zu fast einjährigem Besuch nach Kopenhagen gegangen war, in das Haus des dänischen Dichters Adam Oehlenschläger, der durch wiederholte Aufenthalte in Dresden mit den dortigen Verhältnissen in mannigfacher Berührung stand und mit dessen Tochter Charlotte sie befreundet war. Sie verweilte daselbst bis zum vorgerückten Frühjahr des folgenden Jahres; ›die Nachricht von Goethes Tode (22. März 1832) hat sie noch in Kopenhagen empfangen.‹ Gerade diese, ungefähr neun-bis zehnmonatliche Abwesenheit gab dem Bruder Veranlassung, in seinem vom 3. März datierten, aber erst am 21. März zum Abschluß gelangten Schreiben einen eingehenden Rückblick auf seine Erlebnisse während des für ihn so ereignisreichen Jahres zu werfen, der bis auf den Moment ihrer Abreise zurückgreift. ›Wie sehr hat es mich doch betrübt, daß ich nicht von Dir Abschied nehmen konnte, als Du von hier wegreistest!‹ ›Recht wehmütig war mir es, als ich in dem Gasthofe bei Kulm verweilte, wo Du, wie mir die Mutter sagte, den letzten Abschied genommen hattest.‹ Gemeint ist die sächsische Ortschaft Kulm auf dem Wege von Dresden nach Teplitz, die uns schon in der älteren Familiengeschichte (Seite 12 dieses Bandes) begegnet und deren Bäder die Mutter nach den uns vorliegenden Angaben ›regelmäßig‹, und somit auch im Sommer 1831, besuchte. Der Brief selbst, 4 eng beschriebene Oktavseiten, zeigt uns auf seinen vergilbten Blättern so recht den jungen Wagner auf dem Wendepunkt seines frühen Jünglingsalters zu beginnender männlichen Reise; ergreifend berührt uns darin der fast noch kindliche Ton, in welchem er von seiner Liebe zu Weinlig, von dem Wohlgefühl seiner Freude über seine ersten, vor der Öffentlichkeit seiner Vaterstadt errungenen Erfolge berichtet, im Verein mit den ausgeprägten Schriftzügen, die schon dieselbe Federführung, dieselben Eigenheiten, wie in der ganzen nächstfolgenden Periode von den ›Feen‹ bis zum ›Rienzi‹ aufweisen.

›Vielleicht erfährst (Du) doch gerne, wie es mit mir steht, da Du Dich noch in einem Deiner letzten Briefe so sorgfältig um mich bekümmertest‹, so beginnt der erzählende Teil des Schreibens. ›Ach, wie schmerzt es mich, Dir sagen zu müssen, daß ich wohl eine Zeitlang recht lüderlich und durch den Umgang mit Studenten sehr von meinem Ziel entfernt worden war‹ (S. 135 ff.) ›und deshalb der guten Mutter recht viel Sorgen und Not machte; bis ich mich endlich ermannte und durch meinen neuen Lehrer so in meiner Besserung befestigt wurde, daß ich jetzt auf dem Punkte stehe, von dem aus ich meinen höheren Lebensplan schon für fast betreten halten kann. Du mußt nämlich wissen, daß ich schon über ein halbes Jahr der Schüler des hiesigen [8] Kantors Weinlig bin, den man wohl mit Recht für den größten, jetzt lebenden Kontrapunktisten halten kann, und der dabei als Mensch so ausgezeichnet ist, daß ich ihn durchaus wie einen Vater liebe. Er hat mich mit einer solchen Liebe herausgebildet, daß ich schon jetzt meine Lehrzeit, nach seinem eigenen Ausspruche für beendet betrachte, und er mir jetzt nur noch als ratender Freund zur Seite steht. Wie sehr er mich selbst liebt, kann Dir das beweisen, daß er, als ihn die Mutter nach halbjährigem Unterricht um die Bestimmung des Honorars fragte, äußerte: es würde unbillig von ihm sein, wenn er für die Freude, mich unterrichtet zu haben, noch Bezahlung annehmen wollte; mein Fleiß und seine Hoffnungen von mir belohnten ihn hinlänglich‹. Man vergleiche hierzu seinen auf S. 143/44 dieses Bandes erwähnten Besuch bei der Mutter, der durch die vorstehenden eigenen Angaben Wagners auf das Willkommenste ergänzt wird.

›Nun kannst Du Dir wohl auch denken‹, fährt der Bericht fort ›daß das Alles Früchte getragen hat. – Vergange(ne) Weihnachten wurde im Theater eine Ouvertüre von mir aufgeführt2, und vorige Woche sogar eine im Großen Konzert3. Du mußt nämlich wissen, daß das letztere keine Kleinigkeit ist; denn ehe etwas für das Konzert von einem jungen Komponisten angenommen wird, muß das Werk von allen Musikverständigen der Konzert-Direktion für würdig gehalten werden; daß meine Ouvertüre also angenommen wurde, kann Dir beweisen, daß etwas dahinter ist – Jetzt muß ich Dir aber den für mich gewiß wichtigen Abend der Aufführung berichten: Rosalie und Luise waren zugegen. Von lebhaftem Erfolg konnte ich mir keinesweges etwas erwarten, da erstlich in (diesem) Konzert selten Ouvertüren applaudiert werden, und zweitens kurz vorher neue Ouvertüren von Marschner und Lindpaintner, ohne eine Hand in Bewegung zu setzen, aufgeführt worden waren; – meine Spannung war aber demohngeachtet ungeheuer, und ich verging fast vor Angst und Zagen (Ach, wärest Du nur da gewesen!). Denke Dir also mein freudiges Erstaunen, als nach dem Schluß meiner Ouvertüre der ganze Saal zu applaudieren anfängt, und zwar so, als ob sie das größte Meisterwerk gehört hätten; ich wußte nicht wie mir zu Mute war, das kann ich Dir versichern! – Luise war so ergriffen, daß sie weinte: – wie hab' ich mir da gewünscht, daß Du zugegen gewesen wärest, Du hättest Dich gewiß auch ein wenig gefreut!‹ –

[9] ›Genug davon! – – Noch eine andere Nachricht: – in dieser Woche wird eine Klaviersonate von mir im Druck erscheinen, die ich meinem Weinlig dediziert habe4. Ich habe dafür für 20 Thaler Noten bekommen. Gern würd' ich Dir ein Exemplar davon zuschicken, wenn ich nicht bedächte, daß der Transport fast noch den Preis übersteigen würde, für den Du sie in Kopenhagen selbst bekommen kannst; gehe deshalb nur in eine Musikalienhandlung und laß sie Dir unter dem Titel: »Sonate für das Pianoforte von Richard Wagner, 1. Werk, Leipzig bei Breitkopf und Härtel« aus Leipzig verschreiben. Sie ist nicht sehr schwer, und im Fall Du sie selbst nicht gleich solltest spielen können, so bitte nur in meinem Namen Fräulein Lottchen‹ (Oehlenschläger) ›Dir dieselbe vorzuspielen; – es soll mich sehr freuen, wenn sie Dir gefällt. – Neuerdings hatte ich auch zu König Enzio, einem neuen Trauerspiel von Raupach‹ (S. 151) ›eine Ouvertüre komponiert, die bei jedesmaliger Darstellung des Stückes im Theater aufgeführt wird Sie gefällt allen. – Nun aber nichts weiter von meinen Produkten; sobald Du wieder bei uns sein wirst, wird es mir ein Vergnügen machen, Dir, meine gute Schwester, Alles mitzuteilen‹. So weit reichen die – unabgesandten – Mitteilungen unter dem Datum des 3. März, sie werden erst nach mehreren Wochen (21. März) wieder aufgenommen, um nun als Einlage zu einem Briefe Rosaliens abzugehen, nachdem inzwischen auch die Adressatin wieder von sich und ihrer Absicht einer baldigen Heimkehr hat vernehmen lassen. ›Wie sehr hab' ich mich in Deinem letzten Briefe besonders darüber gefreut, daß Dir die Sehnsucht nach uns zurück sehr ankommt; sie wird gewiß Deine Herreise beschleunigen; ach komm nur ja recht bald, daß, wenn Rosalie weggeht, ich nicht ganz allein bin, ohne Jemand, der mir auch durch die Musik verwandt ist – Ich habe übrigens während der Zeit der Unterbrechung dieses Briefes wieder eine Ouvertüre geschrieben, die ich in dem Musikverein dirigieren werde5; vielleicht bringe ich sie auch noch in dem Großen Konzerte dran – Ach! Gott, da fange ich schon wieder von meinen Kompositionen an; um dies alte Lied zu unterbrechen, will ich nur gleich den Brief schließen.‹

Wie durch einen Zauber setzen uns diese frühesten ausführlichen Nachrichten in eine unmittelbare Berührung mit seiner damaligen Entwickelungsperiode, in welcher die innere Fülle der Gesichte, die Erscheinungen neuer Tongestalten seiner jungen schaffenden Phantasie ohne Unterlaß rastlos sich [10] zudrängten und das Publikum seiner Vaterstadt, selbst in den exklusiven ›großen Konzerten‹ seine ersten Versuche mit teilnehmender Ermutigung entgegennahm. Schon nach zwei Jahren hat sich das Verhältnis völlig verschoben: der Stern Mendelssohns war über dem Leipziger Gewandhause aufgegangen, eine neue glänzende musikalische Ära über diese Stätte hereingebrochen. Vor dieser strahlenden, die Augen der Leipziger blendenden Sonne mußte sich das Gestirn des werdenden jungen Meisters in weite nebelhafte Ferne zurückziehen; erst mit der vollendeten Partitur des ›Rienzi‹ und des ›fliegenden Holländers‹, dem bereits konzipierten ›Tannhäuser‹ im Kopf und Herzen, kehrte er in die deutsche Heimat zurück. Inzwischen hatte er den großen entscheidenden Schritt aus dem Konzertsaal auf die Bühne, als den eigentlichen Raum für seine schöpferische Geistesentfaltung getan, aber auch die Produkte seiner dramatischen Muse fanden in seiner Vaterstadt keine freundliche Aufnahme. Konzertsaal und Theater blieben ihm hier auf Jahrzehnte hinaus verschlossen. Vierzehn Jahre nach jener ersten wohlwollenden Begrüßung seiner orchestralen Versuche, erlebt in dem, inzwischen architektonisch glanzvoll erneuten Gewandhaussaale, seine ›Tannhäuser‹-Ouvertüre unter Mendelssohns Leitung ihren Durchfall; wiederum sechzehn Jahre später, als er aus dem Exil zum ersten Mal wieder in die ihm entfremdete Vaterstadt heimkehrt, gähnt ihm zu seiner Begrüßung ein leerer Saal entgegen und eine neidverblendete, parteiisch gegen ihn eingenommene Lokalkritik durfte sich erdreisten, sein reichgegliedertes, in den Details, wie im Gesamtaufbau lebenstrotzendes ›Meistersinger‹-Vorspiel als ›reizlos, wüst und unüberschaulich‹ zu verurteilen.

So war es mit jener, bürgerlichen und künstlerischen ›Selbständigkeit‹ bestellt, in die er sich im ersten Beginn seiner Laufbahn wider seinen Willen gedrängt sah; sie war gleichbedeutend mit einer andauernden Abwendung von ihm, beim ersten Hervortreten seiner wirklichen Eigenart. Gewahrt man die Sicherheit seines dramatisch-musikalischen Gestaltens gleich in seinem Erstlingswerke, den ›Feen‹; die Leichtigkeit und den Schwung in der Anlage des ›Liebesverbotes‹, die Präzision und die Gedrängtheit der theatralischen Wirkung in dem Entwurf dieser Szenen: so drängt sich einem vollends die Überzeugung auf, wie überflüssig diese ›praktischen Lehrjahre‹ an verkommenen deutschen Theatern, die unfruchtbaren Kämpfe mit schweren äußeren Sorgen und Nöten für ihn waren; daß er als schaffender Künstler ihrer nicht bedurfte, um auf dem ihm angestammten Boden der Bühne heimisch zu sein. Nach dem Magdeburger Zusammenbruch erstrebt er vorübergehend ein ähnliches Asyl, wie es Schiller in Bauerbach gefunden, bei seinem begüterten [11] Freunde Apel auf dessen Landgut Ermlitz; vielleicht wäre es bei Erfüllung dieses Wunsches auch nicht zu seiner verfrühten Heirat gekommen! Er muß als Antwort erfahren, es ginge nicht an; weil daselbst – ›gebaut würde‹! (Siehe seine Kritik dieser Antwort auf S. 267 dieses Bandes!) Das sind Züge, die wir dem Leser noch in keiner früheren Ausgabe bieten konnten, weil die brieflichen Belege dafür einstweilen noch im Privatbesitz ruhten und die Tatsachen dem Verfasser selbst noch nicht in diesem klaren Lichte sich darstellten. In voller Heimatlosigkeit sucht er sich – von den Seinigen abgeschieden – im fernen Nordosten ein Heim, eine Häuslichkeit zu erzwingen und gerät dadurch in nur noch verworrenere Komplikationen seines Daseins. Dann – Riga, dann – Paris! Den dortigen, zufällig angetroffenen Verwandten kommt er (nach Kietz Erzählung S. 346) ungelegen; alles, was ihm ›verwandt‹ ist, zieht sich ostensibel von ihm zurück; der Buchhändler Avenarius, so eben sein Schwager geworden, darf sich rühmen, daß, unter all seinen Angehörigen keiner so bereitwillig sein würde, wie er, ihm nützlich zu sein, wenn er – dazu in der Lage wäre. Wirklich hat er dem in der fremden Weltstadt Ringenden damals, soweit dies in seinem Vermögen stand, aus seinen bescheidenen Mitteln geholfen.

›So ein Lebenslauf, wie der meinige, muß den Zuschauer immer täuschen‹, ruft er in späteren Jahren, wiederum in Paris, unter entsprechenden Verhältnissen aus; ›er sieht mich in Taten und Unternehmungen, die er für die meinigen hält, während sie mir im Grunde ganz fremd sind: wer gewahrt oft den Widerwillen, der mich dabei beseelt?‹ Aber er weiß dann auch seines ›Dämons‹ zu gedenken, der ihn auf den wilden Pfaden des Exils und der Entbehrung zu dem Ziele fortreißt, zu welchem ihm die gebahnten Wege verschlossen bleiben. Auch zu dem tollkühnen Pariser Unternehmen, so innerlich notwendig es sich in seiner jugendlichen Entwickelung ausnimmt, wurde er durch die Umstände gedrängt. Was davon ihm gehört, ist der eine, immer wiederkehrende Zug all seiner Pläne und Entschließungen: wo irgend die Bahn sich ihm verschloß, hat er nie den schwächlicheren, geringeren, immer den kühneren, größeren, weiterreichenden Ausweg vorgezogen, und so schon aus dem Königsberger Elend heraus an Paris gedacht; aus dem dumpfen Dresdener Druck an die große Menschheitsrevolution und das Kunstwerk der Zukunft; aus den trüben unausgleichbaren Münchener Kompromissen an das freie, dem Interessenzwiespalt der Großstadt entlegene Bayreuth, als einzig berufene Stätte für dieses Kunstwerk. ›Hätte ich das Glück gehabt‹, schreibt er 1841 an Friedrich Brockhaus ›in Leipzig Musikdirektor zu werden, so wäre ich nie auf den ausschweifenden Plan verfallen, in Paris mein Glück zu versuchen.‹ [12] In dieser Beziehung sind die beiden einander entgegengesetzten Urteile derer, die als Berater der Familie an dem Ausfall seines Schicksals mitbeteiligt waren, Weinligs (S. 144) und Marschners (S. 159) über die musikalische Befähigung des jungen Künstlers nicht ohne geschichtliche Bedeutung. Sein Lehrer Weinlig hat diese Begabung besser erkannt. Marschner hingegen berühmt sich noch zwanzig Jahre später seines Scharfblickes, schon damals, aus der ihm vorgelegten Partitur der jugendlichen C-dur-Symphonie, die geringe musikalische Befähigung Wagners durchschaut und erkannt zu haben: Verstand, aber keine Phantasie, kein Erfindungsvermögen! In diesem Sinne habe er der Familie geraten, ihn der Musik fern und hingegen, wie sein Schwager Brockhaus es wolle, tüchtig zur Schule anzuhalten! Wenn dieses Urteil des damals auf dem Höhepunkt seines Rufes stehenden Komponisten auch nur imallergeringsten für die Entscheidung der Seinigen über ihn und seine Zukunft ins Gewicht gefallen ist, so konnte es den Schwager nur in der Zurückhaltung dagegen bestärken, seiner Entwickelung als Musiker irgend welche fördernde Teilnahme zuzuwenden.

Nur jenes lieblos triviale, in stets veränderter Gestalt und Nüancierung immer wieder sich einschleichende Philisterdogma, als seien dem Künstler Leiden, Kämpfe, Verkennung zur reicheren Entfaltung seiner Produktivität irgend vorteilhaft, als erwerbe sich somit eine verständnislose Mitwelt durch die drei Hauptfaktoren ihres Verhaltens, den Neid, die Dummheit und die gleichgültige Indolenz, noch eigens ein Verdienst um den Genius, indem sie es ihm recht schlecht ergehen lasse – findet durch Wagners Leben so wenig, wie durch das irgend eines großen, die Menschheit fördernden Geistes, eine Bestätigung. Im Gegenteil. Nicht allein aus seiner ersten Periode würden wir um eine Reihe bedeutsamer Mittelglieder in der Kette seiner Schöpfungen reicher sein; nein, vor allem auch aus seiner reifsten Schaffensperiode um Werke von ewiger Bedeutung. Die ›Sieger‹, zu deren Gestaltung es ihn im Jahre 1856 dergestalt drängte, daß er alles Dazwischenliegende an anderen Plänen zu überspringen wünschte, um zu ihrer Ausführung zu gelangen, wären ausgeführt worden; der ›Ring des Nibelungen‹ ohne den geringsten Zweifel in einem Zuge bis zum Jahre 1859 (anstatt erst ein Vierteljahrhundert später!) zur Vollendung und zur Aufführung gelangt, wenn die üppige Züricher Plutokratie, an welche diese Forderung zunächst sich richtete, aus ihren reichen Mitteln ihm damals das verlangte provisorische Festspielhaus errichtet haben würde ›Ja, Kinder!‹ ruft er deshalb Wesendoncks noch nach seinem Scheiden von der mehrjährigen gemeinsamen Wohnstätte zu ›hättet Ihr in Zürich aus Dank für meinen ehrlichen Schweiß, den ich dort vergossen, es nur soweit gebracht, mir [13] ein halbwegs anständiges Theatergebäude zu errichten, so hätte ich für alle Zeiten, was ich brauche, und dürfte nach keinem Menschen mehr fragen. Wie nobel, wie schön, wie mir ganz entsprechend wäre das (gewesen)! Ich brauchte dann keinen Fürsten, keine Amnestie, kein gutes und kein böses Wort: frei stände ich da, und wär' aller Sorgen um meine Nachkommenschaft‹ (seine Werke!) ›ledig. Und nichts weiter als ein anständiges, keineswegs luxuriöses Theatergebäude. Man sollte sich doch recht schämen! Meinen Sie nicht auch??‹ Wie frühzeitig übrigens die einzelnen Elemente und Erfordernisse dieses Theatergebäudes, dessen amphitheatralische Anordnung, die Dunkelheit des Zuschauerraumes, das verdeckte Orchester, die Schallwand, in seiner Phantasie aufgetaucht und zu einem Ganzen zusammengeschossen waren – dafür bringen wir in diesem vorliegenden Bande eigens noch zwei, bisher noch nicht beachtete Belege (S. 288 und 355), jeder an seinem Platz dazu dienend, jene Kontinuität seiner künstlerischen Entwicklung zu dokumentieren. Aus frühen Erfahrungen und Beobachtungen hatte sich ihm diese seine – architektonische – Geistesschöpfung als seine eigenste Erfindung, sein geistiges Eigentum in allmählichem Werden kristallisiert. Wie es auf dem von ihm selbst erkorenen Bayreuther Hügel vor uns dasteht, ist es demnach recht eigentlich die Verkörperung seines Wesens und Wollens, als ein steinernes ›Mahnzeichen‹ nach seinen eigenen Worten in die moderne Welt hineinragend.

Wir haben hiermit in großem Umriß einige der Hauptpunkte hervorgehoben, in welchen diese gegenwärtige Ausgabe sich von der ihr vorausgegangenen unterscheidet. Sind es nur Details an dem großen Gesamtbilde, so tritt doch das Ganze dieses Lebens in den inneren Motivierungen seiner wechselnden Übergänge durch sie deutlicher, schärfer zutage. Für den Reichtum an brieflichem und anderweitigem Material, durch welchen es uns möglich war, in diesem wie in den folgenden Teilen eine quellengemäße Darstellung zu geben, hat der Leser in erster Reihe dem Hause Wahnfried zu danken, dessen archivarische Schätze uns stets rückhaltlos offen gestanden haben. Dazu kam für die vorliegende Ausgabe noch die großmütige Bereitschaft des Herrn Ferdinand Avenarius, der, dem soeben genannten Beispiele folgend, mit nicht genug zu rühmender Liberalität den ganzen bedeutenden Reichtum der in seinem Besitz befindlichen Familienbriefe Richard Wagners dem Verfasser ohne Vorbehalt zur Verfügung stellte. In gleicher Weise hat sich die einzige Tochter Rosalie Wagners, Frau Professor Rosalie Frey geb. Marbach, um diese Ausgabe verdient gemacht, nicht allein durch die Mitteilung brieflicher Dokumente, sondern auch durch Erteilung der Erlaubnis, von dem bisher noch in keiner Weise an die Öffentlichkeit getretenen, als häusliches Heiligtum jedem [14] fremden Blick unzugänglichen Porträt ihrer Mutter (im Brautschleier) eigens für den vorliegenden Band eine photographische Kopie zu veranstalten. Auch sei in diesem Zusammenhang nachgeholt, was in der früheren Ausgabe auszusprechen unterlassen war: der öffentliche Dank an die Verlagsbuchhandlung Breitkopf & Härtel für die weitgehenden Bemühungen, mit denen sie uns seinerzeit bei der Erforschung der älteren Familiengeschichte behilflich gewesen ist. Das Meiste, in dieser Beziehung von uns Gebotene, ist – bei der großen Entfernung des Verfassers von dem hier in Frage kommenden Forschungsbereich, diesen Bemühungen einzig zu danken gewesen.

Von Irrtümern ist ohne Zweifel auch die gegenwärtige Neubearbeitung nicht frei, wie es denn noch kein historisches Werk ohne solche gegeben; gleichwohl haben wir uns nach Kräften bemüht, ihnen aus dem Wege zu gehen und manche Ungenauigkeit der älteren Fassung beseitigt. Einige Berichtigungen, hauptsächlich kleine textliche Auslassungen und Varianten in den Zitaten betreffend, haben wir ganz am Schlusse gegeben; auf einen uns begegneten lapsus calami möchten wir hingegen an dieser, auffallenderen Stelle hinweisen. Auf S. 288 ist in der Fußnote von zwei Theaterstücken die Rede, die in Wagners frühesten Knabenzeiten auf ihn ›von Eindruck gewesen wären.‹ Wir bitten den Leser, an Stelle dieser nur entfernt der Wirklichkeit entsprechenden, für das zweite Stück (den ›Goldschmied von Paris‹) durch keinerlei Erinnerung unterstützten,6 uns recht unversehens entschlüpften Wendung einfach zu lesen: ›die in des Meisters frühen Knabenjahren in Dresden gegeben wurden‹. Endlich wäre hier noch des Umstandes zu gedenken, daß durch Überführung einiger, bisher im Beginn des zweiten Bandes vorgebrachten Details in bezug auf die erste Dresdener ›Rienzi‹-Zeit in den gegenwärtigen ersten Teil einige scheinbare Wiederholungen entstanden sind, welche, bei der demnächst bevorstehenden Neubearbeitung auch jenes Bandes, durch Streichung am dortigen Platze in Wegfall kommen werden.

Wir geben uns demnach der Hoffnung hin, unserem Bericht über die ersten Entwickelungsperioden von Wagners Genius durch Eintragung des im Laufe eines ganzen Jahrzehnts angesammelten Materiales diejenige Fassung gegeben zu haben, in welcher der vorliegende Band für eine neue Jahresreihe seine Schuldigkeit tun kann. Sollte dies wiederum, wie zuletzt, ein volles Jahrzehnt sein, so wäre damit der Zeitpunkt der hundertjährigen Geburtsfeier des schöpferischesten Geistes und größten Reformators bereits überschritten. Möchte bis dahin die richtige Ehrung für ihn dem deutschen Volke eindringlicher klar geworden [15] sein, als es heute noch – gegen den eigenen Wunsch und Willen des Meisters – in dem herrschenden törichten Denkmaltaumel der Fall sein konnte. Der unerbittliche Feind alles ›Monumentalen‹ in der Kunst7 hat sich im voraus über die Art einer öffentlichen Feier auch seines Lebens und Todes ausgesprochen: ›Nur die Handlung ist eine vollkommen wahrhafte, ihre Notwendigkeit uns klar dartuende, an deren Vollbringung ein Mensch die ganze Kraft seines Wesens setzte, die ihm so notwendig und unerläßlich war, daß er mit der ganzen Kraft seines Wesens in ihr aufgehen mußte. Die letzte vollständigste Entäußerung seines persönlichen Egoismus gibt uns ein Mensch mit seinem Tode kund. Die Feier eines solchen Todes ist die würdigste, die von Menschen begangen werden kann. Nicht in widerlichen Leichenfeiern, durch beziehungslose Gesänge und banale Kirchhofsreden, sondern durch die künstlerische Wiederbelebung des Toten im dramatischen Kunstwerke werden wir die Feier begehen, die uns Lebendige in der Liebe zu dem Geschiedenen hoch beglückt und sein Wesen zu dem unsrigen macht‹.8 Und wiederum, mit besonderer Beziehung auf die gedankenlose Verwendung der Bildhauerkunst zu Gedächtnis- und Erinnerungszwecken. ›Erst wenn wir die Erinnerung an geliebte Tote in ewig neu lebendem, seelenvollem Fleisch und Blut, nicht wiederum in totem Erz und Marmor uns vorführen; wenn die starre Einsamkeit dieses einen, in Stein gehauenen Menschen in die unendlich strömende Vielheit der lebendigen wirklichen Menschen sich aufgelöst haben wird; wenn wir aus dem Steine uns das Bauwerk zur Einhegung des lebendigen Kunstwerkes errichten, nicht aber den lebendigen Menschen in ihm uns mehr vorzustellen nötig haben werden, dann erst wird die wahre Plastik auch vorhanden sein‹.9

Schutz, Erhaltung, Förderung seinem lebendigen Bayreuther Werke, dem ersten Keim einer kommenden deutschen und allgemein menschlichen Kultur in seinem Sinne – das ist die einzige, große Pflicht des Dankes gegen seinen Schöpfer, der es in heißem Ringen aus dem starren Nichts hervorgerufen. Jeden Augenblick hat man es sich bewußt und gegenwärtig zu erhalten, daß dieses Bayreuther Werk keineswegs abgeschlossen, vollendet und gesichert dasteht; daß vielmehr der erbitterte Kampf gegen dasselbe und gegen seine hochherzigen Erhalter und Weiterführer in jedem Moment durch den Widerstreit der Interessen, den unkünstlerischen Merkantilismus der Bühnenleitungen, die Verdorbenheit einer korrumpierten und unwissenden Presse weitergeführt wird; mit ganz denselben altbewährten Mitteln, denen sich neuerdings bloß noch das verächtlichste Kampfmittel der Heuchelei hinzugesellt: [16] einer geheuchelten Ehrerbietung vor dem Meister, die sich dabei gleichzeitig durch Aneignungsversuche an seinem lebenden Werke und der ihm zugrundeliegenden Idee vergreift! Mehr als bloß eine Aufgabe ist hier dem deutschen Volke gestellt; möge ihm die gesamte kultivierte Menschheit aller Nationen zu ihrem eigenen Heil in deren würdiger Lösung behilflich sein. Gedenken wir jener traurig unwürdigen Sitzung im deutschen Reichstage, in welcher die verlängerte Schutzfrist für die Werke Wagners auf die Rede eines Abgeordneten hin abgelehnt wurde, der über die Angelegenheit urteilte, wie der Blinde über die Farbe oder der Frosch über den Hahn auf dem Kirchturm, ohne einen Begriff davon, um welchen, seinem Horizont gänzlich entlegenen Gegenstand es sich dabei handelte, so tritt uns neben der auf S. 6 hervorgehobenen Aufgabe einer Monumentalisierung des Bayreuther Baues, als eine andere, nicht minder wichtige der Schutz des letzten uns von dem Meister hinterlassenen Werkes vor der Ausbeutung resp. Befleckung durch die Spekulation entgegen! Sollte ein Ausnahmegesetz für ›Parsifal‹ sich als unmöglich erweisen, was doch einstweilen durch nichts erwiesen ist, so wird viel darauf ankommen, daß die Vorlage einer verlängerten Schutzfrist abermals an den Reichstag gelangt, und daß sie dieses zweite Mal einen besser vorbereiteten Boden finde. Die Ausführung auch des letzten, uns hinterlassenen Vermächtnisses, die entscheidende Kräftigung des auf den eigenen Antrieb Wagners entstandenen ›Stipendienfonds‹ ist die dritte der Aufgaben, an welcher die deutsche Öffentlichkeit ihre moralische Zugehörigkeit zu dem großen deutschen Reformator zu erweisen hat. Wird die Nation dieser dreifachen Ehrenpflicht gegen ihren größten Künstler genügen? ›Ja, wer Eure Dankbarkeit nicht kennte! Euch, nicht ihm baut ihr Monumente!‹ hat schon Goethe bei ähnlichen Anlässen zur Charakterisierung der schon damals grassierenden Denkmalsucht gesagt. Nun aber gilt es in Wahrheit, daß deutsches Volk dem deutschesten aller deutschen Meister seine ›Dankbarkeit‹ zeige! Möge es noch in der kurzen Frist, die uns von der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages trennt, in breiteren und breitesten Schichten zu dieser Einsicht und – deren kraftvoller Betätigung gelangen!


Riga, am 12. Oktober 1904.

Fußnoten

[17] 1 Vgl. die ausführlichen Mitteilungen aus dieser Analyse im Anhang dieses Bandes S. 495 f., oder noch besser den lesenswerten, mit Notenbeispielen ausgestatteten Originalaufsatz selbst (auf welchen jene Zitate nur hinweisen sollen!) unter dem Titel ›Richard Wagners Klaviermusik‹ von Rudolf M. Breithaupt, in der Zeitschrift, Die Musik Jahrg. III, Heft 20.


2 Nach einer älteren Notiz Tapperts (in der Allg. Deutschen Musikzeitg. 1877, S. 378) wäre diese ›im Theater zu Leipzig am 25. Dezember 1831 gespielte‹ Ouvertüre die Konzertouvertüre in D moll gewesen, vgl. S. 145 u. 151 dieses vorliegenden Bandes. –


3 Am 23. Februar 1832 im 16. Abonnements-Konzertdes Gewandhauses, vgl. S. 151 dieses Bandes.


4 Seite 143 dieses Bandes, nebst der in der Anmerkung erwähnten auf die ›Ostermesse 1832‹ bezüglichen Anzeige. –


5 Der ›Musikverein‹ ist die ›Euterpe‹ S. 152 dieses Bandes, die Ouvertüre die in C dur mit der ausgearbeiteten Fuge im Schluß-Allegro (S. 151).


6 Es ist durch nichts erwiesen, daß er es überhaupt gesehen hat!


7 Gesammelte Schriften IV, S. 295/97. –


8 Ebenda III, S. 194/95. –


9 Ebenda, S. 166.


Wagners Mutter.
Wagners Mutter.

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905.
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