III.

Konzerte in Hamburg, Berlin und Köln.

[56] Dresdener Bankett. – Begrüßungsfeierlichkeiten und Konzerte in Hamburg. – Schwerin. – Berlin, Konzert und Vorlesung der ›Götterdämmerung‹. – Projekt einer Berliner ›Lohengrin‹-Aufführung – Unruhvolle Zwischenzeit in Bayreuth. – Kölner Konzert. – Partitur der ›Götterdämmerung‹ begonnen.


Ich stehe jetzt mitten in der aufopferungsvollsten Tätigkeit für meine große Unternehmung.

Richard Wagner.


Um 1/22 Uhr mittags aus Bayreuth abgereist, war er abends um 10 Uhr in der sächsischen Residenz eingetroffen, an der Stätte seiner einstigen bitteren Kämpfe mit den Unzulänglichkeiten, den schroffen Ecken und Kanten einer unwissenden und selbstgenügsamen Theaterbureaukratie, die ihm so manche schwere Stunde gekostet. Eine kleine Anzahl treuer, verständnisvoll ergebener und opferwilliger Freunde hatte er sich trotzdem noch aus der Zeit seines dortigen Wirkens bewahrt; das größere Publikum, einst in den Tagen der ersten ›Rienzi‹- und ›Tannhäuser‹-Auffüh rungen sein Rückhalt und seine Stütze, war ihm in der langen Zwischenzeit aber doch wesentlich entfremdet. Es hatte sich, bei dem endlichen Nachlassen künstlich gezüchteter Gegenströmungen, besonders seit den ›Meistersingern‹, mit großer Entschiedenheit für seine Werke erklärt, ohne sich deshalb sonderlich um den Künstler zu bekümmern Vollends die eigentliche Aristokratie, bis in die höchsten Hofkreise hinein, blieb unter dem Einfluß jahrelanger Aufreizung durch die persönliche gehässige Haltung einflußreicher Antagonisten – wir nennen hier nur die Namen v. Beust und v. Könneritz – in einen so nachhaltigen Groll gegen ihn verbissen, daß schon aus diesem Grund ein öffentliches Auftreten gerade hier – in diesem ›Grab seiner Kunst‹, wie er Dresden noch in seinen Briefen an Uhlig gelegentlich nennt – am wenigsten einen Reiz für ihr haben konnte. Noch immer hatte hier die veraltete gedankenlose Parole von seiner angeblichen ›Undankbarkeit‹ gegen den König von Sachsen ihre volle unangefochtene Gültigkeit, als wäre seine einstige Kapellmeister-Anstellung eine ihm erwiesene Gnade, und wiederum [57] seine aufopfernde Tätigkeit an dem ihm anvertrauten Institut der kgl. Kapelle nicht die vollwichtige Gegenleistung seinerseits für das ihm geschenkte Vertrauen gewesen und als hätte ihm jene königliche Gnade – gleichviel ob aus eigener Schwäche oder durch die trübende Einmischung von Hofschranzen aller Art – nicht gerade immer da versagt, wo sie ihm hätte von entscheidendem Nutzen sein können!

Wir glauben nicht, daß der Meister auf seiner Dresdener Fahrt mit bitteren Gedanken dieser Art beschäftigt gewesen sei. Das waren alte Zeiten, und ihre Nachwirkungen hatte er so anhaltend bis auf den äußersten Punkt ihrer Bitterkeit durchkosten müssen, daß er sie nun für abgetan halten durfte. In Dresden traf er außer Pusincilis und seiner Schwester Cäcilie noch das Wesendoncksche Paar, – seit wenigen Jahren erst vom Züricher ›grünen Hügel‹ in die Elbresidenz übergesiedelt. Die ›Rienzi‹-Aufführung am Montag Abend war besser, als die zuletzt in Wien von ihm erlebte; trotzdem hielt er es, wegen der sinnlosen Striche im 4 Akt, nicht bis zum Ende aus und verbrachte den Rest des Abends mit Wesendoncks. Für den folgenden Tag, Dienstag, den 14. Januar, war auf der Brühlschen Terrasse ein feierliches Bankett veranstaltet. ›Der große Saal war zum Erdrücken voll,‹ erzählt einer der Mitanwesenden, der Bildhauer Professor Gustav Kietz, einst als junger Mensch sein wöchentlicher Haus- und Tischgast.1 ›Als Wagner, mit seiner Gemahlin am Arm, den Saal betrat, wurde er mit Enthusiasmus von seinen Freunden und Verehrern empfangen.‹ Zu seiner öffentlichen Begrüßung war hier versammelt, was als die Auslese der damaligen Dresdener ›Intelligenz‹ betrachtet werden konnte. In erster Reihe der ausgezeichnete alte Freund Dr. Pusinelli, mit seiner Gattin, der ›kleinen, enthusiastischen Frau Hofrätin, geb. Chiappone‹ und sonstigen Angehörigen, sodann noch mehrere lebende frühere Genossen aus der Dresdener Hofkapelle, wie M. Fürstenau und Julius Rühlmann, oder der greise, aber geistesfrische Vionlincellovirtuos des Hoftheaters, Fr. A. Kummer, der dem Meister noch heute fest genug die Hand drückte. Den Ehrenplatz an seiner Seite nahm Tichatscheck ein, ihm gegenüber Pusinelli und Frau und das Wesendoncksche Paar. In langen glänzenden Reihen ordnete sich die fernere Tischgenossenschaft, nicht allein die hervorragendsten Mitglieder der Kgl. Oper, sondern auch Männer aus entfernteren Kreisen, wie der Galeriedirektor Julius Hübner, der angesehene Literaturhistoriker und Kunstforscher Dr. Hettner, der Leibarzt Dr. Carus, der Architekt Eberhardt, ja selbst ehemalige Gegner, wie der früher oft feindselig scharfe Kritiker Karl Banck, dessen Wagner-Verständnis im Laufe der Jahre leider nur so sehr allmählich über das einst von ihm belobte ›Liebesverbot‹ hinausgegangen war. Wohl mochte es ihm bei diesem Anblick zu Mute sein, [58] als erblicke er vor sich ein verkörpertes Stück seines früheren Ringens und Strebens. Selbst der umgebende Raum war ihm von früher her wohlbekannt, und in seiner Tischrede gedachte er ausdrücklich ›dieses herrlichen Saales, wo wir so viele Künstler feierten: Schnorr v. Carolsfeld, Prof. Bendemann, als er seine Fresken vollendet hatte, Ferd. Hiller etc.‹ Auch von seinen alten ›Liedertäflern‹ waren gar manche noch mit anwesend, deren ›Liedermeister‹ er einst gewesen. ›Von ihnen wurden in den Pausen verschiedene Chöre aus seinen früheren Opern vorgetragen. Sie waren so vorzüglich einstudiert, daß Wagner seine Freude über die gelungenen Vorträge den Herren Sängern in den Worten aussprach: »Aber Kinder, Ihr singt ja besser als vor Jahren, als ich noch bei Euch war.«‹2 Ein poetischer Trinkspruch Pusincilis knüpfte humoristisch daran an, wie er einst einige seiner damals entstandenen Tondichtungen mit den Mitgliedern dieser Gesellschaft eingeübt und zur Aufführung gebracht hatte. Noch in der Folge erinnerte der Meister, mit seinem scharfen Auge und Ohr, den alten Freund scherzend daran, wie seine ›herrliche liebe Frau‹ ihm bei diesem Trinkspruch souffliert habe.3 So kam es denn, daß er bei seiner Erwiderungsrede wiederholt mit Tränen der Rührung zu kämpfen hatte. ›Ich bin mir,‹ so sagte er, ›in Dresden lange Zeit recht fremd vorgekommen, was mich um so ernster berührte, als es mir gerade hier vom Schicksal vergönnt war, mit jugendlichem Eifer für meine Ideale zu arbeiten.‹ Auch sei es nicht das ›offizielle Dresden‹ gewesen, daß irgendwie bestimmend auf sein heutiges Hiersein eingewirkt habe, sondern ›die sanfte aber unwiderstehliche Teilnahme der Freunde seiner Kunst‹. Er warf dann einen Rückblick auf seine ersten Dresdener Jahre, wie er als ganz unbekannter junger Musiker mit einer ganz ungeheuer dicken Partitur hierhergekommen sei: ›es war der arme »Rienzi«, der jetzt noch dann und wann als gerupfte Henne hier vorgeführt wird‹. Stürmisch heiteres Lachen unterbrach bei dieser drastischen Wendung auf Augenblicke seine Rede. Er kam dann auf Tichatschek zu sprechen, der, als ein ›wahrer Heros an Musikstimme, von herrlicher, seelenvoller Pracht‹ für sein Werk eingetreten sei, und wie sich derselbe aus seiner anstrengenden Partie ›nichts habe streichen lassen‹ wollen.4 ›Ich erlebte da etwas, was mir in solcher Schönheit nie wieder begegnet ist: die Tränen in den Augen eines Künstlers, der enthusiasmiert war.‹ Tiefe Bewegung seitens der Zuhörer. Dann fuhr der Meister fort. ›Ich sage, meine einzige Stütze, meine einzige Hoffnung sind die Künstler. Wenn ich noch eine Hoffnung habe, so sind es nicht die, welche über die Kunst reden, sondern die, welche die Kunst wirklich üben und treiben: die Musiker und Sänger. Ich weiß, daß ich mich mit ihnen überall verstehe.‹ Von seinem Bayreuther Vorhaben sagte er, man habe [59] sein Werk ein ›nationales‹ genannt: ›Ich kann es nicht dazu machen, andere müssen es tun, die überall zerstreuten Freunde meiner Kunst. Ich darf mich freudig dessen rühmen, daß ich in keine Stadt Deutschlands eintrete, wo nicht eine Anzahl wirklicher Freunde meiner Kunst sind. Diese habe ich angerufen, und sie bilden eine so unangreifbare Masse, daß sie nicht bespöttelt werden können.‹ Und zur letzten Ansprache erhob er sich dann noch einmal von seinem Platz mit den Worten: ›Schiller sagt: »Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.« Mir ist bei der Kunst manchmal sehr ernst geworden. Ich habe die Kunst sehr ernst genommen und das Leben, wenn nicht heiter, doch leicht. Meinen Freunden habe ich das Leben manchmal schwer gemacht, sie hatten oft große Not mit mir. (Heiterkeit.) Ich möchte aber sagen: Schiller hat doch unrecht. Sehe ich hier die Versammlung an, so sage ich: Das Leben macht sich hier ganz heiter. Sagen wir also lieber: Ernst ist die Kunst, heiter sei das Leben. Dann kommen wir vielleicht dazu, daß das Leben einmal einen schönen Ernst bekomme und die Kunst eine ernste erhabene Heiterkeit!‹5

Mit herzlichem Vertrauen war damals der Meister in Dresden empfangen, mit allen Zeichen rührender Liebe und Begeisterung entlassen, als er tags darauf, am 15., schied. Am frühen Morgen hatte ihm ein kgl. Infanterie-Regiment zum Abschied noch ein Ständchen gebracht. In sinniger Weise dankte er dafür, indem er die Themen dieser Morgenmusik (aus ›Rienzi‹, ›Lohengrin‹ und ›Kaisermarsch‹) in einem Dokument für die Regimentskapelle niederschrieb.6 Gewiß hinterließ das geglückte Fest nicht allein bei den übrigen Teilnehmern, sondern auch bei ihm selbst eine ›schöne Rückerinnerung‹, und in diesem Sinne erkundigt er sich nachmals bei dem guten Pusinelli, wie denn ihm und seiner Frau die ›bengalische Nacht‹ auf der Brühlschen Terasse bekommen sei.7 Ernster klingt eine andere, spätere Erwähnung des gleichen [60] Zusammenseins, ebenfalls in einem Briefe an Pusinelli: ›Was hat unser schöner Abend auf der Terrasse andres bedeutet, als daß es für uns Wenige sehr rührend war, einmal wieder zusammenzusein und uns zu erinnern: aber hat er irgend etwas angeregt? Nein!‹8 Und damit war – für Dresden – leider alles gesagt. Die Zahl der dortigen Förderer und Gönner war, und blieb, wie das Verzeichnis der ausgegebenen Patronatscheine ausweist, eine ganz verschwindend geringe.

Die Weiterreise ging über Berlin, wo er am 15, abends 7 Uhr, eintraf und im gewohnten Tiergarten-Hotel Wohnung nahm. Der Zweck seiner diesmaligen kurzen Anwesenheit in der Reichshauptstadt war hauptsächlich die Veranstaltung eines baldigst auch hier von ihm zu dirigierenden Konzertes. Zur Deckung der Kosten waren die Wagner-Vereine Berlins zusammengetreten. Vor einem auserlesenen privaten Zuhörerkreise hielt er außerdem am Freitag, den 17. Januar, in den Räumen des Hausministeriums in der Wilhelmstraße, noch eine Vorlesung der ›Götterdämmerung‹ nebst einleitendem Vortrag. So hatte er es einst – vor zwanzig Jahren – in Zürich versucht, durch die Rezitation der Nibelungen-Dichtung sich eine fördernde Mitwirkung für sein Vorhaben, zunächst Mitwisser seiner großen dramatischen Absicht zu gewinnen; so bewarb er sich jetzt – durch den Vortrag des umfassenden Schlußteiles dieser Dichtung – mit rastloser Angelegentlichkeit um die Teilnahme der Berliner Intelligenz, soweit ihm diese aus deren erlesensten Kreisen durch die ausgebreiteten gesellschaftlichen Beziehungen seiner hochgestellten Gönnerin zugeführt werden konnte. Wir nennen unter den Anwesenden, in deren vorderster Reihe die ehrwürdige Erscheinung des Feldmarschalls Moltke Platz genommen, bloß den Prinzen Georg von Preußen9, den Kronprinzen von Württemberg, Lothar Bucher, den Handelsminister Delbrück, Legationsrat Radowitz, die Professoren Lepsius und Helmholtz nebst Gemahlin, Dohm, Eckert, Liszts alten Freund Weitzmann etc. und übergehen die Aufzählung einer Reihe von Namen aus der hohen und höchsten Berliner Aristokratie, beiderlei Geschlechts, insbesondere sämtlicher in der Reichshauptstadt residierenden Gesandten der verschiedenen Staaten. Aber selbst die Größen der hohen Finanz, die Herren Dr. Strousberg und Bleichröder, waren mit der Einladung nicht übergangen, und der Saal mit einer äußerlich ansehnlichen und stattlichen Versammlung überfüllt. Mit einer kurzen Vorbemerkung leitete er seine Hörer zu dem Gegenstand hin. Unter den mancherlei ihm zugeschriebenen Neuerungen im Opernwesen sei er sich des einen durch ihn, wenn nicht gewonnenen, so doch mit Entschiedenheit ausgebildeten Vorteils bewußt, den dramatischen Dialog selbst (im Gegensatz zu den bisher gebräuchlichen abgeschlossenen Musikstücken) zum [61] Hauptstoff auch der musikalischen Ausführung erhoben zu haben. Das urproduktive Element der Musik sei es nun, was ihn, indem sie unablässig die innersten Motive der Handlung in ihrem verzweigtesten Zusammenhang zur Mitempfindung bringt, zugleich ermächtigte, eben diese Handlung in drastischer Bestimmtheit vorzuführen. Da die Handelnden über ihre Beweggründe im Sinne des reflektierenden Bewußtseins sich uns nicht auszusprechen haben, gewinne ihr Dialog jene naive Präzision, welche das wahre Leben des Dramas ausmacht. Dieser Gewinn ermögliche es ihm heute, ein zur vollständigen musikalischen Ausführung bestimmtes Gedicht – ohne Befürchtung eines Fehlgriffs – seinen Zuhörern nackt als solches vorzutragen, da er es als durchaus dialogisierte Handlung demselben Urteil unterwerfen zu können glaube, wie ein für das rezitierte Schauspiel geschriebenes Stück. ›Nicht einer Gesellschaft von Opernfreunden, sondern einer Versammelung ernst erwägender, für eine originale Kultur des deutschen Geistes besorgter, wahrhaft Gebildeter wünsche er sein Werk, wie sein Vorhaben empfohlen zu wissen.‹ Dann folgte der Vortrag der Dichtung von der Nornenszene bis zu Siegfrieds Tod, Brünnhildes Abschied und dem Untergang der Götter, – in der unvergleichlich vergegenwärtigenden Art, in der er z.B. auch Shakespeare vorzutragen pflegte, durch den Ton der Stimme, die Gewalt des Ausdrucks hinreißend, erschütternd. Daß nicht allein durch diesen einen Vortragsabend ein ganzer Herd von flammender Begeisterung entzündet wurde, läßt einen tiefen Blick in die ganze Art und Beschaffenheit der spezifisch Berlinischen Intelligenz – selbst der Höhergebildeten in ihren Geheimratskreisen! – tun, in welcher bei dem allesbeherrschenden platten Materialismus der Gründerperiode eine derartige Wirkung gar nicht möglich zu sein schien. ›Es fand,‹ berichtet er kurz darüber an Feustel, ›während meiner Anwesenheit eine Versammlung statt, deren Ergebnis von Herrn v. Radowitz10 auf 20 Patronatscheine angeschlagen wurde.‹ – Von hier begab er sich nach Hamburg, wo man ihm bereits mit Spannung entgegensah.

Am Sonnabend, den 18. Januar, 8 Uhr abends, traf er in der ihm fast gänzlich unbekannt gewordenen Stadt ein, in der er einst – vor dreißig Jahren – seinen ›Rienzi‹ zur Aufführung gebracht hatte.11 Als der Zug einlief, erblickte er auf dem – sonst möglichst unbelebten – Berliner Bahnhofe eine zahlreiche Menschenmenge in festlich erregter Erwartung versammelt. In Ermangelung eines bereits konstituierten stehenden Wagner-Vereins hatte sich eigens für den Zweck des Konzerts ein aus Schriftstellern, Musikern und angesehenen Kaufleuten bestehendes Komitee gebildet.12 Gleich nach dem ersten [62] Willkommengruß dieses Konsortiums brach die Menge in endlose Hochrufe aus, denen der Meister dankend mit den Worten wehrte: ›Macht mir das Herz nicht schwer!‹ Selbst als er schon im Wagen saß, wollte der Jubelgruß nicht schweigen, und in der heitersten Laune rief er aus dem Kutschenfenster: ›Macht es mir nicht zu arg, sonst werd' ich am Ende noch ausgewiesen.‹ Der Wagen rollte weiter nach dem Hotel de l'Europe am Alsterdamm, wo für ihn Quartier bestellt war: die schönsten Räume mit der Aussicht auf die Binnenalster. Für den Eifer, mit dem man seinen Aufenthalt so freundlich als möglich gestalten wollte, zeugten die ihn hier erwartenden mancherlei Zeichen der Aufmerksamkeit: die von verschiedenen Seiten geschickten prächtigen Buketts und Blumenarrangements rings auf den Tischen, der Flügel im Salon, der beste aus der Fabrik des Herrn Otto Börs, den der Besitzer dieser letzteren als sein vorzüglichstes Produkt in die für den Meister bestimmten Zimmer hatte schaffen lassen.

Am nächsten (Sonntag-) Morgen wurde ihm von der Militärkapelle der Hamburger Garnison, dem Musikkorps des Hanseatischen Regiments No. 76 – in voller Uniform – unter Leitung des Musikdirektors A. Ganzer, ein Ständchen gebracht. Von 9 Uhr früh bis 12 Uhr dauerte die erste Probe für das Konzert (Kaisermarsch, Lohengrin- und Tristan-Vorspiel). Das Orchester empfing ihn mit lautem Tusch; ein Lorbeerkranz schmückte das Dirigentenpult, welches der auswendig dirigierende Meister freilich nicht gebrauchte. ›Die begrüßenden Worte Wagners,‹ berichtet Julius Stinde als Mitanwesender, ›waren so innig und warm, daß er sich die Herzen sämtlicher ausführender Musiker wie im Sturm gewann: sie gingen mit ihm, wie er wollte, und verleugneten mit anerkennenswerter Bereitwilligkeit die Macht der Gewohnheit, welche sie bei der C moll-Symphonie anfangs in die Versuchung führte, in den alten Trott zu verfallen, der von gewissen versteinerten Taktschlägern als ›klassisch‹ und darum maßgebend angesehen wird. Die Hingebung der wackeren Künstler, das geistige Leben, welches sich in den Proben – im Gegensatz zum Gewohnten – kundgab, ließ das beste für das Konzert hoffen.‹13 Um sich zu schonen, begab sich der Meister gleich nach der Probe zu Bett; um 3 Uhr meldete sich bereits wieder eine Deputation des ›Vereins für Kunst und Wissenschaft‹, um ihn für den nächsten Tag zu einem Bankett einzuladen. Den Abend verbrachte er ruhig in seinem Gasthof, im Verkehr mit seiner nach Hamburg verheirateten jüngsten Nichte (Tochter Alberts) Marie Jakobi und der zum Besuch von Berlin herübergekommenen Johanna Jachmann.

Auch den folgenden Morgen – Montag, 20. Januar – eröffnete eine [63] Morgenmusik, diesmal von einer anderen Militärkapelle gebracht, aber ebenfalls in voller glänzender Uniform. Es war dies das ausgezeichnete Musikkorps des Thüringischen Regiments unter Leitung seines Musikdirektors Julius Laube. Von 10 Uhr ab wiederum mehrstündige Probe (C moll-Symphonie); abends um 1/210 Uhr das angekündigte glänzende Bankett im Sagebielschen Etablissement. Das Arrangement war brillant, die Gesellschaft ausschließlich aus den Notabilitäten der Stadt bestehend, der ›Aristokratie des Geistes, des Standes und des Geldes.‹ ›An diesem Abend,‹ so berichtet Stinde weiter, ›gelangte die längst im stillen gehegte Verehrung und Anerkennung in der weihevollsten Form zum Ausdruck: der freie Republikaner huldigte dem König im Reich der Geister! Die Worte, welche Richard Wagner an diesem für Hamburg denkwürdigen Abend sprach, waren goldene Worte; denn sie enthüllten das Riesenstreben des gewaltigen Geistes und befestigten den Glauben an seine Mission in allen Gemütern, welche noch einen Zweifel hegen konnten.‹ Leider befand sich in dem glänzenden Kreise nicht, wie soeben noch in Dresden, der Stenograph, um diese ›goldenen Worte‹ für die Mit- und Nachwelt zu fixieren, und selbst die ausführlichsten Berichte handeln daher im bloßen Reporterstil mehr nur von den Äußerlichkeiten des Festes und den wohlgemeinten Begrüßungsreden der Hamburger. ›Der gefeierte Meister‹, erzählt die Zeitung Reform, ›wurde von Frau Albertine Schön in den reich geschmückten Festsaal geführt, der mit Fahnen und gerade über dem Sitzplatz Wagners in sinniger Weise mit dem Stadtwappen Bayreuths geziert war Herr Dr. Baumeister (der Präsident der Bürgerschaft) als Präses des Banketts führte Frau Cosima Wagner zu Tisch. Abweichend von der gewöhnlichen Banalität solcher Festessen nahm Dr. Baumeister bereits vor Beginn der Mahlzeit das Wort, um dem Gaste im Namen aller Anwesenden den Willkommengruß zu bringen. »Nicht nur – begreifliche Neugier, den berühmten Meister persönlich kennen zu lernen, habe sie alle hier zusammengeführt. Es sei das Bedürfnis der Anerkennung des Mannes, der stets für die Einheit und Freiheit des Vaterlands gekämpft und schon seit mehr als dreißig Jahren sein Kunstideal voll und warm im Herzen trage.« Als Zeugnis dessen hob er sodann den Inhalt der Schriften des Meisters hervor; seine musikalischen Werke brauche man in Hamburg nicht zu preisen. Nach dieser Seite sei er, Wagner, ihnen schon lange kein Fremder; er sei ein Freund und gehöre zu ihnen. »Ehren wir den Gast, indem wir uns von unsern Sitzen erheben und heißen ihn herzlich willkommen, entschlossen zugleich, ihm sein Werk tatkräftig fördern zu helfen.« Richard Wagner ergriff hierauf das Wort und feierte die Musikheroen Bach, Beethoven, Mozart und Weber.14 Als er geendet, rings[64] Schweigen des Erstaunens: ist das der Mann, den Dummheit, Neid und Bosheit durch zusammenhangloses Herausreißen von Stellen aus seinen Werken so befehden konnten? Dann machte das Schweigen der Ergriffenheit sich in einem freudigen Hochruf Luft.‹ Nachdem der Berichterstatter noch anderweitige Reden während des Mahles registriert, deren letzte das Zögern des Meisters erwähnte, ihrer Aufforderung Folge zu leisten15, fährt er fort, wie folgt. ›Unser Meister nahm hierauf seine Stellung mitten in der Versammlung und es folgte ein Speech voller Humor und herzergreifender Wärme. Nachdem er bekräftigt, daß der Vorredner die Wahrheit gesagt und daß es langer Zeit bedurft, ihn aus seinem gewohnten Leben herauszureißen, fiel sein Blick auf das Stadtwappen von Bayreuth. Und jetzt schilderte er Ort und Leute, jetzt führte er die Versammlung plaudernd in das Ideal des »Kunstwerkes der Zukunft« ein, daß von vielen Ecken und Enden der Tafel die halblauten Rufe gehört worden: »Ja, ja! es geht, es ist möglich! Es sind keine Phantastereien, es sind Gedanken von erhabener Einfachheit und Klarheit, es ist ein sachlich kunstgerechter und technisch richtiger Kreis, in den wir eingeführt werden!« u.s.w.‹

Tags darauf, am Dienstag den 21. Januar, fand das erste Konzert statt. Denn dem allgemeinen Andrang willfahrend, hatte sich Wagner bereit erklärt, am Donnerstag noch ein zweites Konzert zu dirigieren. Der erste Teil des Abends brachte die C moll-Symphonie; sie machte einen überwältigenden Eindruck und trat wie neu erstanden vor die erstaunten Hörer.16 Im zweiten Teil kamen zur Aufführung: das Vorspiel zum ›Lohengrin‹, Siegmunds Lenz- und Liebeslied aus der ›Walküre‹, Vorspiel und Schluß aus ›Tristan und Isolde‹, der Kaisermarsch Wirkung und Aufnahme der einzelnen Tonwerke waren gewaltig; das ›Liebeslied‹ wurde stürmisch da capo verlangt und auch wiederholt. Herr Lederer vom Stadttheater sang mit außerordentlicher Lust, und nach dem zweiten Hören schien es, als wäre der Zauber dieses Liedes dem Publikum jetzt erst aufgegangen – es war kaum zu beruhigen und rief den Meister immer und immer wieder vor. Zum Schluß [65] des Konzertes wurde stürmisch ›Tusch‹ verlangt, nachdem sich zuvor der Enthusiasmus in lautestem Beifallsjubel Luft gemacht, als Wagner ein herrlicher Lorbeerkranz überreicht wurde. ›Es war‹, so schließen die gleichzeitigen Schilderungen, ›ein Abend des Triumphes‹. – Tags darauf, Mittwoch den 22. Januar, nahm ihn die Erwiderung zahlreicher ihm gemachter Besuche in Anspruch; am Abend konnte er sich einer – zu seiner besonderen Ehre veranstalteten! – höchst mangelhaften ›Meistersinger‹-Aufführung nicht entziehen. Das überfüllte Haus war in strahlender Pracht festlich erleuchtet und blieb es – nach altem, erst durch Bayreuth abgeschafftem Gebrauch! – auch während der ganzen Dauer der Aufführung. Auf der Brüstung seiner Loge lag ein reicher Lorbeerkranz, für seine Gemahlin ein Bukett aus weißen Kamelien, Maiglöckchen und Rosenknospen Beim Eintritt Richard Wagners in seine Loge erhob sich das gesamte Publikum wie ein Mann unter lautem Tusch des Orchesters; nach den einzelnen Aktschlüssen wiederholten sich die Ovationen. Als er das Theater verließ, bildete die Menge Spalier, bis weit auf die Straße hinaus, und gab ihm – unter lauten Hochrufen! – das Geleit bis an das nahegelegene ›Waterloo‹-Hotel. Hier nahm er noch für einige Stunden Teil an einem Bankett, das ihm die vereinigten Mitglieder des Stadttheaters und des Thaliatheaters gaben. In kurzen eindringlichen Worten legte der Meister den Jüngern die Heiligkeit und Hoheit ihres Berufes dar; wenn die Kunst verfalle, so trage der Künstler nicht minder die Schuld als das Publikum, das geleitet und emporgehoben werden könne, wenn auch nicht ohne Mühe und Kämpfe. Freilich sei es leichter, den wohlfeilen Beifall des Tages zu erringen, als dem Ideale treu zu bleiben.

Das Programm des zweiten Konzertes am Donnerstag glich demjenigen des ersten Abends, nur trat an die Stelle der Symphonie die ›Tannhäuser‹-Ouvertüre, und waren das ›Schmelzlied‹ und ›Schmiedelied‹ Siegfrieds hinzugefügt. Das zweite Konzert fiel noch glänzender aus als das erste, und den Höhepunkt bildeten die Lieder aus ›Siegfried‹. Der Beifallssturm wollte kein Ende nehmen; sie mußten, ebenso wie Siegmunds Lenz- und Liebesgesang, wiederholt werden. Mehr als alles andere mußten diese Bruchstücke des großen Nibelungenwerkes für Bayreuth begeistern, einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen und die Gewißheit des Gelingens wachrufen. ›Das Publikum ruhte nicht eher mit seinen Beifallsovationen, bis Wagner ihm in kurzer Rede gedankt und den Zweck seines Hierseins nachdrücklichst an das Herz gelegt hatte.‹17 – Die freie Zeit, welche Proben und Aufführungen ihm ließen, war teils den Besprechungen über den hier zu gründenden Wagner-Verein gewidmet, teils wurde sie vom gesellschaftlichen Leben in Anspruch genommen. Nicht bloß Dr. Baumeister, auch der hochverdiente Polizeipräsident Senator [66] Dr. Petersen, dessen ehernes Standbild heute den Hamburger Markt ziert, und dem die ›liberale‹ Gesinnung nicht eine Parteiphrase, sondern eine Sache des Herzens war, trat ihm mit seiner Familie nahe18; ferner der Bankier Zacharias, ein reicher und tätiger Handelsherr, der sich ihm – zu bester und wirksamster Empfehlung als persönlicher Freund Feustels vorstellte, und in seiner Bibliothek sämtliche Schriften des Meisters in den ersten Auflagen besaß. Auf seine feurigen Versprechungen und sein organisatorisches Talent setzte der Meister noch längere Zeit für seine Sache eine besondere Hoffnung, bis denn freilich diese in ihm genährten Erwartungen (nach kaum neun Monaten) zu seiner nicht geringen Enttäuschung wie eine Seifenblase zerplatzten.19 Endlich fand sich, als geborener Hamburger, auch Professor Rohde aus Kiel zu den Festtagen ein, der darüber recht eingehend brieflich an Nietzsche berichtet. ›Ich hatte die Genugtuung, meine Vaterstadt sich im ganzen sehr anständig benehmen zu sehen. Die eigentliche haute volée veranstaltete ein sehr gut geleitetes Bankett (an dem teilzunehmen ich leider verhindert war)20, mit guten Reden angesehener Leute; kurz, es zeigt sich eine Spur von Verständnis der über Theater, Kapellmeister, erste und zweite Tenöre hinausgreifenden – Bedeutung Wagners; und wahrscheinlich wird auch der pekuniäre Erfolg nicht unbedeutend sein; so lange es nämlich Mode bleibt und den guten Hamburgern nicht durch ihre einheimischen »Musiker« und »Kritiker« wieder ausgeredet wird, wozu sie eine bedenkliche Neigung haben.21 Was mir persönlich eigentlich das Bedeutendste war: eine ruhige persönliche Besprechung mit den Beiden, war bei dem ewigen Trubel und Wagners natürlicher Ermüdung, nicht recht zu erreichen Meine einfältige, ungeschickte Befangenheit zwingt mich, namentlich bei solchen wirbelnden Festereignissen, immer zu einer einigermaßen dummen Rolle; ich weiß dann oft weder zu reden noch zu schweigen, während ich inwendig so dumm gar nicht bin‹ – welcher Zartfühlende wäre dem Meister gegenüber aus reiner Ehrerbietung nicht oft in ähnlicher Lage gewesen! ›Eines bringe ich stets mit, die tiefe Empfindung: was doch unserem Leben und Sein dieser Mann [67] ist, für Verstand, Sinn, Herz und Willen! Und ich blute wirklich, wenn man dann endlich scheiden soll, im innersten Herzen.‹22 – Über das materielle Erträgnis der persönlichen Anstrengungen des Meisters bei der Hamburger Kampagne konnte man damals in den öffentlichen Nachrichten lesen: es sei, dank der hohen Preise, ›um so ansehnlicher gewesen, als die Kosten aus anderen Fonds bestritten und die ganze Einnahme dem Verwaltungsrat zu Bayreuth überwiesen worden sei.‹ In diesem Sinne war von einer Reineinnahme von 6000 Talern die Rede. Etwas anders nimmt sich die Sache allerdings in der authentischen Nachricht aus, die Wagner selbst wenige Tage später an Feustel richtet: ›Von Hamburg erhalten Sie dieser Tage Geld, über dessen Konvertierung in Patronatscheine ich mit Ihnen noch verkehren werde. Es ist nicht viel, da das Lokal zu klein war und die Kosten durch zweimalige Aufführung gesteigert wurden. Etwas über 5000 Taler ward eingenommen, allein die Kosten traten mit 1400 Talern auf. Doch hatte man recht getan, mich auf die bekannte Weise nach Hamburg zu locken; es galt der, durch meine persönliche Anwesenheit zu gebenden Anregung; wir dürfen dort schönen Ergebnissen hiervon entgegensehen, über welche nächstens Herr Zacharias, der sich als Ihren Freund rühmt, sich Ihnen bald vernehmen lassen wird.‹

Am Sonnabend, den 25. Januar, verließ er – nach genau einwöchentlichem Aufenthalt – den gastlichen Ort. Zum Abschiede brachten ihm die Militärkapellen von Hamburg und Altona, eben jene beiden, uns schon bekannten Musikkorps des Hanseatischen Regiments Nr. 76 und des Thüringischen Regiments Nr. 31, die ihm bisher einzeln ihre Morgenmusiken gewidmet, nunmehr (unter der abwechselnden Leitung ihrer Musikdirektoren Ganzer und Laube) vereinigt ein solennes Ständchen dar, wofür ihnen der Meister in höchst origineller Form ein Dankesdiplom für die ›ihm erwiesene hocherfreuliche künstlerische Ehrbezeigung‹ improvisierte. Dasselbe bestand aus zwei zusammenhängenden Blättern eines Bogens, auf welchem rechts und links die gesonderten Widmungen an jeden einzelnen der Herren Militärkapellmeister, nebst den entsprechenden Anfangstakten der Musikstücke jener ihm am Sonntag und Montag dargebrachten Ständchen, auf der unteren Hälfte des Blattes aber über beide Seiten hinweg die entsprechenden Themen der gemeinschaftlichen Morgenmusik des letzten Tages geschrieben waren, dazu – halb links, halb rechts – die scherzhaften Widmungsverse:


›Ein Ganzer ist der Laube – nicht halb ist Ganzers Glaube;

Doch wenn Thüringer und Hanseaten – symphonisch sich begatten,

Dann zeigt sich noch ganzer das Ganze – und Ganzer mit Laube im Glanze.‹


Um demnach die aufgezeichneten Themen der letzten – vereinigten – Musikaufführung, nebst den dazugehörigen Versen, überhaupt vollständig lesen zu[68] können, durfte das Doppelblatt weder zerschnitten noch sonst geteilt werden. Selbst seinen Namenszug hatte er in der entsprechenden Weise so darunter gesetzt, daß auf der Seite links bloß ›Richard‹, und auf der Seite rechts bloß ›Wagner‹ zu lesen war.23 Dann fuhr er von seinem Hotel auf den Lübecker Bahnhof, wo ihn das Konzertkomitee und einige neugewonnene Freunde erwarteten, unter ihnen der Präsident der Bürgerschaft, Obergerichtsrat Dr. Baumeister. In herzlichen, warmempfundenen Worten dankte der würdige alte Herr im Namen der Stadt Hamburg dem Meister für die Ehre seines Beuches, so innig, daß dieser in überströmendem Gefühl ihn umarmte und auf beide Wangen küßte. ›Es war ein Abschied‹ (sagt Stinde in seiner Schilderung dieses Moments), ›der ganzen ereignisreichen Zeit würdig, die in Hamburgs Kunstgeschichte unvergeßlich dastehen wird Fürsten erhalten nicht mehr Auszeichnungen, als Richard Wagner in unserer Republik zuteil wurden; schon aus dem einfachen Grunde, weil die republikanische Handelsstadt keine weiter zu vergeben hat, als die, welche sie Richard Wagner zollte.‹

Von Hamburg aus ging die Reise zunächst nach Schwerin, wo für ihn im Hotel Stern, mit dem Ausblick auf den Pfaffenteich, Wohnung bestellt war. Hier nahm er schon am folgenden Abend (26. Januar) im großherzoglichen Hoftheater an einer Aufführung des ›fliegenden Holländers‹ teil, in welcher Karl Hill die Titelrolle sang, derselbe ausgezeichnete Künstler, den er elf Jahre früher als Postbeamten in Frankfurt a. M. zuerst kennen gelernt24 und von dessen Tüchtigkeit er später dem König erzählte, so daß dieser geneigt war ihn für München zu gewinnen.25 Schon bei dem allgemeinen Hervorruf des tüchtigen Sängers und genialen Darstellers nach dem ersten Aufzug zeigte der Meister durch Aufstehen und Hutschwenken an, wie sehr er mit ihm zufrieden sei. Auf dem nach der Vorstellung stattfindenden Bankett sprach er dem Künstler noch einmal öffentlich seinen Dank aus für seine vorzügliche Leistung die er in bezug auf Auffassung, Gesang und Darstellung noch nie so ergreifend erlebt habe; er gestehe gern, daß er davon tief gerührt sei. Nicht minder dankte er dem Kapellmeister Aloys Schmitt für die künstlerische Art und Weise, mit denen er seinen Intentionen gerecht geworden. Seine Tischnachbarin beim Bankett war die Sängerin der ›Senta‹, ein Frl. Cornelia v. Czanyi. Auch diese junge Sängerin hatte einen guten Eindruck auf ihn gemacht, der ihn für ihre fernere Entwickelung hoffnungsvoll stimmte. Er fragte sie damals, ob sie viel Courage hätte, und erinnerte sie noch ein Jahr später daran, wie sie seine Frage kräftig und bestimmt bejaht habe. Leider hatte sie sich inzwischen (mit dem Kapellmeister Schmitt) vermählt und damit, wie es scheint, der Bühne für [69] immer entsagt, so daß sie ihre ›Courage‹ am Bayreuther Werk nicht betätigen konnte.26 Während seines Aufenthaltes in der mecklenburgischen Hauptstadt war er der Gegenstand lebhaftester Huldigungen seitens des großherzoglichen Hofes und des dortigen Publikums. ›Einstweilen‹, schreibt er am 27. Januar an Feustel, ›habe ich hier für eine kleine Komplettierung der Summe‹ (nämlich der hinter den Erwartungen zurückgebliebenen Hamburger Erträge) ›gewirkt. Der Großherzog von Mecklenburg nimmt sechs Patronatscheine, und verlangt sie sofort auszuzahlen Seien Sie so gut, an Herrn Baron Wolzogen, Intendanten des großherzoglichen Hoftheaters, das für die Erwirkung dieser Auszahlung Nötige in meinem Namen besorgen zu lassen!‹27 Auch bleiben uns von diesem kurzen Schweriner Aufenthalte noch zwei besondere Begegnungen mit Personen vom Theaterpersonal zu erwähnen Erstens mit dem hochbetagten Regisseur Wilhelm Schmale, seinem einstigen Textdichter zu jenem Magdeburger ›Neujahrsfestspiel‹ von 183528, der nunmehr schon seit bald vierzig Jahren dem Schweriner Theater angehörte, und zweitens mit dem vortrefflichen Theaterrendanten Stocks, einem jener Altgetreuen aus den Zeiten der allerersten Schweriner ›Tannhäuser‹-Aufführungen von 1852.29 Doch rief ihn schon an demselben Montag den 27, von welchem der Brief an Feustel datiert ist, die Angelegenheit des Berliner Konzertes nach der Reichshauptstadt ab, wo er sich einer lang verzögerten Zahnkur wegen zehn bis zwölf Tage aufzuhalten gedachte, und seinen Wohnsitz abermals in dem schon gewohnten, leider sehr geräuschvollen Tiergarten-Hotel an der Bellevuestraße nahm.

Zu dem rückhaltlosen Willkommen, welches die freie Stadt Hamburg ihm soeben entgegengetragen, stand die Atmosphäre der Berliner Öffentlichkeit noch immer in merklichem Gegensatz. Was sich ihm dort freudig und freiwillig darbot, war an dem eigentlichen Herd einer altüberlieferten, eingerosteten Opposition immer erst noch mühsam zu erringen. Auf dem breiten Fundament einer selbstgenügsamen großstädtischen Bevölkerung, im Vollbesitz der ›Presse‹ mit all ihren journalistischen Spaßmachern und feilen Zeitungskrakehlern, unterstützt durch den Anhang noch lebender Vertreter eines jahrzehntelangen paradiesischen Hindämmerns, fühlte sich das offizielle Theater- und Konzertwesen sicher genug gebettet, um durch eine passive Haltung allen Bestrebungen zugunsten des, im Grunde nur als lästig empfundenen Bayreuther Unternehmens jeden Schritt zu erschweren. So hatte dem Vorstand des Berliner Wagner-Vereins allein die Lokalfrage für das Konzert viel zu schaffen gemacht. Nach [70] einer Zeitungsnotiz30 habe der Generalintendant Herr v. Hülsen der Deputation des Wagner-Vereins, die sich an ihn gewandt, um das Kgl. Opernhaus dafür zu erlangen, rundweg erklärt ›es sei nicht Usus‹ das Kgl. Opernhaus für ›Privatkonzerte‹ zu überlassen!31 Er könne dies ohne besondere Genehmigung des Kaisers nicht bewilligen; einen dahinzielenden Antrag an Se. Majestät zu stellen, fühle er sich aber nicht veranlaßt, da er ›bei aller Anerkennung der künstlerischen Fähigkeit R. Wagners doch Bedenken tragen müsse, diesem Komponisten (!) eine so außergewöhnliche Rücksicht zuteil werden zu lassen Herr Wagner seinerseits versäume ja keine Gelegenheit, privatim wie öffentlich in rücksichtslosester Weise sich über die der Generalintendanz ressortierenden Kunstinstitute und deren Mitglieder zu äußern, wiewohl er sich gewiß nicht über die Sorgfalt, welche man auf seine älteren und neueren Werke verwende, beklagen könne (!!).‹ Unter diesen Umständen mußte man befriedigt sein, daß der Besitzer des Berliner Konzerthauses Lokal und Musiker bereitwillig zur Verfügung stellte; die Hauskapelle bildete den Kern des Orchesters, der sich durch die Meldung begeisterter Freiwilliger auf 105 Mann verstärkte. Dabei trug sich indeß noch mancher für das Milieu der Reichshauptstadt charakteristische Vorfall zu; es verlautete z.B., der Chefdirigent der Berliner Symphoniekapelle, Ritter L. v. Brenner, habe infolge ihrer – vermutlich eigenmächtigen – Beteiligung an dem von Wagner dirigierten Konzerte drei Orchestermitglieder aus dem Verbande der Kapelle entlassen!32 – Wir sprachen soeben von dem ›Berliner Wagner-Verein‹ in der Einzahl, wogegen es allerdings wiederum als eine weitere Spezialität der reichshauptstädtischen Verhältnisse zu betrachten ist, daß Berlin um jene Zeit nicht bloß einen, sondern drei Vereine aufzuweisen hatte, die sich nach dem Namen des Meisters nannten, und für den besonderen Konzertzweck zusammengetan hatten. Zu dem ältesten und ursprünglichen Kreis Wagner-freundlicher Männer (Polizeipräsident Herr v. Wurmb, als Obmann, Redakteur George Davidson33, Kapellmeister Eckert, Bankier Kuczynski, Maler Wilhelm Scholz34) war nämlich bereits vor der Grundsteinlegung – im April 1872 – ein akademischer Wagner-Verein getreten, der bei energischer und einheitlicher Leitung seine lebenskräftigen Wurzeln mehr und mehr ausbreitete, sein Augenmerk vorzugsweise auf die Universitätsstädte lenkend, und demgemäß zahlreiche auswärtige35, im ganzen damals etwa hundert Mitglieder zählte. Als dritter [71] Berliner ›Wagner-Verein‹ war nun erst ganz kürzlich (7. Januar 1873) unter dem Vorsitz des uns bereits bekannten Kommerzienrats Löser36 ein Wagner-Verein gebildet, der zwar seine Dienste der Bayreuther Sache widmete, dafür aber doch mit zäher Aufdringlichkeit den, jenem Herrn ursprünglich eigenen, Gedanken einer Berli ner Aufführung des Nibelungenwerkes (!) festhielt und demgemäß statutenmäßig bloß die Hälfte seiner Einkünfte für den Ankauf von Bayreuther Patronatscheinen verwandte, die andere Hälfte aber für jenen imaginären, dem Meister schon der Idee nach verhaßten, Lokalzweck zinstragend anlegte! Es ist alles damit gesagt, daß gerade dieser Verein sogleich nach seiner Begründung die größte Menge von Mitgliedern aufwies, nämlich drei hundert an der Zahl. Dies waren, nach oben wie nach unten, die Beziehungen und Verhältnisse, mit denen der Schöpfer des Bayreuther Werkes für die Hauptstadt des deutschen Reiches zu rechnen hatte. In der numerisch stärksten unter diesen Vereinigungen kam durch dessen Sonderprojekt nicht der Bayreuther Gedanke, sondern dessen Berliner Zerrbild zum Ausdruck. Wäre nicht, unabhängig von all diesen korporativen Regungen, eine edle Gönnerin aus den höchsten gesellschaftlichen Kreisen in Frau Marie v. Schleinitz auch jene Vereinsverhältnisse den Umständen gemäß mit Klugheit und Umsicht nach Kräften beeinflussend – für Berlin und weit darüber hinaus, als die wahre und eigentliche ›Patronin‹ seines Unternehmens zur Seite gestanden; welche Anziehung und Bedeutung hätte diese ganze reichshauptstädtische Öffentlichkeit für ihn haben können? – –

Doch wäre es unrecht, an dieser Stelle nicht auch der beiden künstlerischen Säulen Albert Niemann und Franz Betz zu gedenken, sowie auch der zu allem Guten willigen Herren jenes ersten ›Wagner-Vereins‹, deren Schuld es nicht, deren Verdienst es war, auf einem so spröden Boden wirken zu müssen. Sind ihrer aller Namen in Ehren zu nennen, so möge hier doch – neben den Herren Dohm und Scholz vom ›Kladderadatsch‹ – noch ganz besonders George Davidsons gedacht sein, der dem Bayreuther Werk, auch über das Leben Richard Wagners hinaus, in einer ganz einzigen Weise unverbrüchlich die tätige Treue gewahrt, ja – auch über sein eigenes Leben – dem von ihm geleiteten einflußreichen Organ eine bis zum heutigen Tage deutlich unterscheidbare Tradition einer unbedingten Ergebenheit eingepflanzt hat.

Die erste Probe am Sonnabend den 1. Februar leitete Kapellmeister Eckert, da der Meister, noch ermüdet von den Anstrengungen der letzten Tage, zu dem Werke der ersten Verschmelzung dieser zusammengesetzten Instrumentalmasse nicht Hand anlegen konnte. Doch wohnte er persönlich dem ersten Versuche bei. Am Montag ergriff er selbst den Taktstock. Seine unvergleichliche [72] Fähigkeit, den Tonkörper zu beseelen, jedem einzelnen Gliede Leben einzuhauchen, bewährte sich auch hier wieder in vollstem Maße. Zur Generalprobe am Konzerttage selbst (Dienstag, den 4. Februar) zehn Uhr vormittags, waren – zur Mehrung der Einnahmen – Eintrittbillets verkauft und der Saal gefüllt von den Anhängern und Vertretern des Meisters und vielen jüngern Musikern, die sich herandrängten, um hörend und sehend zu lernen Allen vorausgegangenen Schwierigkeiten zum Trotz bot das Konzerthaus am Abend ein festliches und buntbewegtes Bild. Der Hof wohnte der Aufführung in der großen Mittelloge bei, wohin der Kaiser und die Kaiserin von Mitgliedern des Wagner-Vereins geleitet wurden Des Meisters Gemahlin befand sich in der Loge des Hausministers Schleinitz. Eine Bewegung, der ähnlich, die sich kundgab, als Richard Wagner, von dreimaligem Tusch begrüßt, an das lorbeergeschmückte Dirigentenpult trat, hatte Berlin noch nicht erlebt. Es regnete förmlich Blumen und Lorbeerkränze auf den Gefeierten und die jauchzenden Hochs übertönten fast noch die ersten Klänge der ›Tannhäuser‹-Ouvertüre. Das Programm war im wesentlichen das gleiche, wie in Hamburg. Als am Schluß der Beifall und die jubelnden Zurufe kein Ende nahmen, trat der Meister vor das Publikum und sprach mit bewegter Stimme etwa folgendes: ›Verehrte Anwesende! Haben Sie den herzlichsten, innigsten Dank für die liebevolle Teilnahme. Wie ich Ihnen heute nur Versuche, nur Bruchstücke geben konnte, wie Ihr Beifall nur einer Hoffnung gilt, geht doch mein Streben auf die Vollendung, die Ausführung des Kunstwerks, wie es mir vorschwebt. Für die Teilnahme Dank, herzlichen Dank!‹ Wirklich hatte dieses warme Echo ein freudiges Gefühl in ihm wachgerufen. Insofern er bei solchen Gelegenheiten aber in Proben und Aufführungen jedesmal ein Stück seines Wesens und Lebens, seines Herzblutes hingab, mußte eine so aufreibende Betätigung den um ihn Besorgten mit Recht als eine Verschwendung edelster Kräfte erscheinen, – an solche, die es nicht verdienten. Er konnte nicht anders als auch bei solchen Gelegenheiten immer aus der Tiefe schöpfen, und verbrauchte demnach auf den bloßen Umwegen der Werbearbeit eine Kraft, die einzig den letzten und höchsten Zielen der Kunst hätte gelten dürfen! Keine noch so zahlreiche Anmeldung von Patronatschaften im Einzelnen und im Ganzen konnte dafür entschädigen, und der Gesamtgewinn von 12000 Talern als Erträgnis der Hamburger und Berliner Konzerte war durch solche Anstrengungen allzu teuer erkauft.

Einer ähnlichen Wertschätzung dieser Erfolge gibt ein, dem Verfasser zu Gesicht gekommenes Schreiben der edlen Frau, die an der Seite des Meisters, stets über seinem Wohlsein wachend, diese Beunruhigungen mit ihm teilte, einen überzeugenden Ausdruck. Es ist, bereits nach der Heimkehr, an den getreuen Neffen Clemens Brockhaus gerichtet, und niemand könnte das darin Ausgesprochene besser und unmittelbarer sagen, als es mit ihren eigenen Worten [73] geschieht. ›Dein liebevolles Verständnis für die Stimmung, mit welcher wir stets unsere »Kunstreisen« antreten, hat mich gerührt und mir sehr wohlgetan! Wir müssen uns hüten, daß die Wehmut, die uns erfüllt, nicht in große Bitterkeit umschlägt, die denn ein jedes Opfer nutz- und wertlos machen müßte Gestern bemerkte Dein Onkel traurig, daß von allen, die er nun gewonnen, die in die Konzerte laufen, und aus persönlicher Teilnahme, Be- und Verwunderung, zu Patronen werden, keiner eigentlich seinen Gedanken aufnehme und er der einzige bleibe, der die Idee fasse und vertrete.‹ Und mit Bezugnahme auf das damals soeben erschienene, überall förmlich in Mode befindliche Evangelium des Materialismus, das Buch des ehemaligen Tübinger Theologen und Lachner-Verehrers David Strauß (›Der alte und der neue Glaube‹) heißt es dann weiter von Wagner: ›Als ein letzter Künstler kommt er mir zuweilen wohl vor, betrachte ich die Zeit, wohin sie drängt, mit »alten und neuen Glaubens«-Thesen, mit Fabriken und Maschinen, der Zusammenhanglosigkeit aller Glieder, einem Proletariat sonder Geduld und einem Patriziat sonder Güte Niemals, glaube ich, tat die Religion, als Band, so not, und dieses wollen die Seichten vernichten, jede Inbrunst verleugnend? Und fehlt diese, wo soll die Kunst ihren Boden finden? Diese großartige Vereinsamung Deines Onkels, die er nur zu Zeiten fühlt, hat mich von je zu staunender Liebe gezwungen; ich kann sein Wollen wie sein Können immer nicht begreifen und frage mich oft, welche Macht die größere sein wird, die seinige oder die der ihn umgebenden Welt?‹ – – –

Zu den in jenen erregten Berliner Tagen in Verhandlung schwebenden und immer wiederkehrenden Gegenständen gehörte insbesondere das Projekt einer ›Lohengrin‹-Aufführung (anfänglich hatte es sich um ›Tannhäuser‹ und ›Lohengrin‹ gehandelt) im Kgl. Hoftheater zugunsten des Bayreuther Unternehmens. Als der Berliner Wagner-Verein des Meisters Mitwirkung für die persönliche Leitung eines ›Konzertes‹ in Anspruch nahm, hatte er gleich anfangs erklärt, wie widerwärtig es ihm sei, aus dürftigen Fragmenten seiner dramatischen Werke immer noch Konzertprogramme zusammenstellen zu müssen, um auf diesem, leider einzig ihm zugänglich gelassenen Wege, die Teilnahme für sein Unternehmen anzuregen. Da nun hier ein reich dotiertes wirkliches Theater mit den ausgezeichnetsten Kräften zur Benutzung bereit stehe, böte es sich ganz von selbst dar, die Aufführung eines seiner hier häufig gegebenen Werke zu dem gewünschten Zweck zu verwenden. Allerdings könne zu solchem Zweck nur eine wahrhaft korrekte, zum mindesten unverkürzte Aufführung seines Werkes in Betracht kommen. Und hier begann die Schwierigkeit des prinzipiellen Gegensatzes zwischen dem Künstler und der Generalintendanz. Am 6. Februar kehrte der Meister über Dresden und Chemnitz nach Bayreuth zurück; die Berliner ›Lohengrin‹-Frage schleppte sich noch durch mehr als einen vollen Monat hin. Endlich scheiterte sie an der Erklärung der Intendanz, [74] eine korrekte und unverkürzte Aufführung der Oper würde eine sehr bedeutende Zeit (man sprach von sechs Wochen!) erfordern und der Geschäftsgang des Kgl. Operntheaters hierdurch wesentlich gestört werden. Dagegen wurde ihm freigestellt, eine der am Kgl. Operntheater üblichen Aufführungen, mit allen hergebrachten Strichen und Verunstaltungen, zum Besten seines Theaters zu dirigieren! Ein Bescheid von echter Berliner Lokalfarbe, der dem ›Tannhäuser auf der Wachtparade‹ vor dreißig Jahren37 glich, wie ein Ei dem andern! ›Es tut mir nun leid,‹ erklärte er sich in einem Schreiben vom 18. März, ›an den durch Ihr Gesuch der Kgl. Generalintendanz verursachten Beunruhigungen Schuld zu tragen.‹ Die ihm unerläßliche Teilnahme der ersten Stadt des deutschen Reichs für das Bayreuther Unternehmen meine er sich aber in richtigem Sinn nur dann gewinnen zu können, wenn er dem bisher an seinen Opern gezeigten Gefallen des Publikums diejenige Richtung gegeben wisse, welcher die beabsichtigten Bühnenfestspiele in Bayreuth eben das Ziel zeigen sollten. Seiner Annahme nach wäre die Wiederherstellung einiger Auslassungen, bei dem jedenfalls vorauszusetzenden freundlichen Willen des Künstlerpersonals, durch einige wenige Proben ins Werk zu setzen gewesen. Die Erklärung der Kgl. Generalintendanz werfe hingegen allerdings ein erschreckendes Licht auf den Charakter der bisher üblichen Aufführungen des ›Lohengrin‹ auf dem Kgl. Hoftheater. Er müsse jetzt einsehen, daß er nur den vereinzelten Bemühungen mehrerer vorzüglicher Talente den Erfolg seines Werkes beim Publikum schulde, keineswegs aber einem deutlichen Verständnis der Intentionen des Autors, welche bei der an ihnen ausgeübten Verstümmelung stets unkenntlich bleiben mußten!38

Der nächste Erfolg dieser anstrengenden Wochen war eine große Ermüdung mit anhaltender Schlaflosigkeit in den Nächten. ›Es gelang mir,‹ heißt es in einem seiner Briefe, ›in Hamburg und Köln unserm Unternehmen durch meine härtesten Anstrengungen förderlich zu werden, doch waren diese Anstrengungen so groß, daß ich der ganzen Zeit seitdem bis jetzt bedurfte, um mich davon zu erholen. An eine strenge Arbeit (es ist die Wiederaufnahme der »Götterdämmerung« gemeint) war nicht zu denken.‹39 Den größten Teil der Konzertlästigkeiten meinte er zunächst zwar überwunden zu haben; doch sah er wie seine Geschäftsfreunde es deutlich voraus, daß nach den bisherigen Erfolgen an ein sicheres Einlaufen der nötigen Gelder doch immer nur dann zu denken sei, wenn er es nicht aufgebe, ab und zu selbst wieder einzutreten. In diesem Sinne handelt es sich darum, ob er noch imstande sein werde, eine [75] Reihe neuer Konzerte mit garantierten großen Einnahmen zu übernehmen. Köln, auch Mainz, boten sich dazu an; Wien konnte nicht ausbleiben, auch hatte sich für den gleichen Zweck – durch den tätig regsamen Ed. Dannreuther – bereits seit Ende vorigen Jahrs London gemeldet. Aus dieser Zeit (Ende Februar 1873) stammen die charakteristischen Zeilen an Nietzsche: ›Fordern – oder erwarten – Sie übrigens von mir nichts, was irgendwie gemütliche Expansion vorstellen könnte. Ich habe heute die erste Nacht wieder, ungestört von widerlichen Zuständen, geschlafen. Mir vergeht jetzt manche Lust. Es kommen die Momente, wo ich mich tief besinne, und dann kommen Sie gewöhnlich auch mit vor, – so zwischen mir und Fidi. Aber es dauert kurz, und dann drehen sich Wagner-Vereine und Wagner-Konzerte im lieblichen Zirkel vor mir herum. Also – Geduld! Wie ich sie ja auch mit Ihnen habe!‹40 Kaum nach Hause zurückgekehrt, war ihm übrigens durch seine unermüdliche Gönnerin Frau v. Schleinitz die Nachricht zugekommen, der Khedive von Ägypten habe eine größere Summe (500 Pfd. Sterling) für Patronatscheine gezeichnet; zur Erweckung guter Laune setzte er Feustel sogleich davon in Kenntnis, hat aber doch an diese Unterstützung seines Werks, im Hinblick auf deutsche Fürsten und hochgestellte, hochbegüterte Privatpersonen, nie ohne Bitterkeit denken können. Bereits im Herbst (28. September 1872) hatte sich auf gleiche Veranlassung der türkische Sultan mit zehn Patronatscheinen unter seine Förderer gestellt! Angesichts dieser Vereinsamung mitten im Vaterlande erneute sich ihm dann wohl immer wieder die Frage (S. 74): ›wessen Macht die größere sein werde: die seinige oder die der ihn umgebenden Welt?‹

Als Nachklänge des Berliner Aufenthaltes meldete sich sonst wenig Erfreuliches; die Verhandlungen wegen der dortigen Lohengrin-Aufführung zogen sich, wie schon bemerkt, bis zum 18. März Kurz darauf hatte er den unerfreulichen Eindruck, in dem neuesten Supplement des berühmten Brockhausschen Konversations-Lexikons, also eines angeblich wissenschaftlichen Nachschlagewerks, das noch dazu unter der Ägide seines eigenen Schwagers erschien, eine boshaft verleumderische Entstellung seiner Berliner Beziehungen zu lesen, als hätten seine dortigen Freunde jemals den Wunsch gehabt ihn ›in die seit Meyerbeers Tode unbesetzte Stelle eines kgl. preußischen Generalmusikdirektors (!) zu bringen‹; da dies mißlungen sei, habe er sich ›mit erneuerter Liebe nach Bayern zurückgewandt.‹ Sein Protest gegen diese perfide Unterstellung41 ist vom 25. März datiert. Ein abgeschmacktes Gedicht des alten Züricher Freundes Herwegh, in dem ihm einzig noch eigenen demokratischen Bänkelsängerton42 fertigte er – als er davon Kenntnis erhalten mit Humor, aber nur privatim [76] für den engsten Freundeskreis ab43, da es ihm nicht in den Sinn kommen konnte, es öffentlich zu berücksichtigen. Dagegen entstand um diese erste Frühjahrszeit (Ende März) sein für das ›Musikalische Wochenblatt‹ bestimmter Aufsatz: ›Über den Vortrag der neunten Symphonie Beethovens‹44, sowie der zugleich herzliche und humoristische Trostbrief (in französischer Sprache) an seine italienische Verlegerin Frau Lucca, inbezug auf das grausame Schicksal, das seinem ›Lohengrin‹ in Mailand durch dortige chauvinistische Patrioten widerfahren ›Ich gebe mich,‹ heißt es darin, ›der Hoffnung hin, daß Sie sich wegen des, anläßlich meines Werks entbrannten Kampfes nicht zu sehr aufgeregt haben; unter uns gesagt, möchte ich ihn nicht so ernst nehmen, denn sowohl. »Lohengrin« als ich selbst sind nicht mehr in dem Alter, um uns vor dem Auspfeifen zu fürchten.‹ Endlich gehört dieser Zeit auch noch die Schrift über ›Das Bühnenfestspielhaus in Bayreuth‹ an, als ein Bericht an die Patrone und Gönner seiner Unternehmung über den Stand derselben seit der Grundsteinlegung, mit sechs architektonischen Plänen in Holzschnitt nach den Neumannschen Zeichnungen, in großem Quartformat in vornehmer Ausstattung gedruckt und bei E. W. Fritzsch, seinem Leipziger Verleger, erschienen.

Inzwischen war das Übel fortdauernder Schlaflosigkeit noch immer nicht überwunden – um so schlimmer, als sich Sorgen und Nöte immer höher auftürmten. In den Tagen vom 7. bis 12. April (Ostersonnabend) stellten sich die beiden Freunde Nietzsche und Rohde zu einem telegraphisch angekündigten Besuche ein, jener direkt aus Basel, dieser von Heidelberg kommend, wohin er sich während der Ferienzeit zum Besuch eines Freundes45 begeben. Der Vorschlag dazu scheint von Rohde ausgegangen zu sein, Nietzsche hatte ihn mit großer Freude ergriffen.46 Er brachte zu diesem Besuch nach alter Gewohnheit zwei Manuskripte mit, eines, wie er selbst angekündigt, zum Vorlesen. ›Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‹; das andere – eine vierhändige musikalische Komposition, ein Hochzeitsgeschenk zur Vermählung von Malvida v. Meysenbugs Zögling (Olga Herzen) mit dem Pariser Professor Gabriel Monod, welcher er mit Anspielung auf diesen Namen den Titel ›Une Monodie à deux‹ verliehen. Nach seinem eignen Bericht sei [77] dieses vierhändige Stück damals in dem Hause an der Dammallee von ihm und dem Meister am Klavier gespielt worden; jedenfalls nicht zur Freude des letzteren, der es zu ernst mit seiner Kunst nahm, um an dilettantischen Spielereien Gefallen finden zu können, sondern zu dem, sehr einseitigen, Vergnügen seines Gastes! Mit Bezug auf den kirchlich klingenden Schluß und den Umstand, daß das Ehepaar Monod bei seiner Trauung die kirchliche Segnung vermieden, habe er scherzhaft gemeint: ›der Komponist habe den armen Monods nun doch noch den Papstsegen aufgedrängt.‹ Zu den Unterhaltungsgegenständen dieser Tage gehörte unter anderem das kürzlich erschienene David Straußsche Buch: ›Der alte und der neue Glaube‹, über welches (in Nietzsches Biographie) der Ausspruch von Frau Wagner zitiert wird: sie hätten auf ihren Reisen im ›deutschen Reich‹ überall großen Enthusiasmus für dieses Buch angetroffen, das ›auf Grund einiger Helmholtzschen Zitate uns von Erlösung, Gebet und Beethovenscher Musik befreie‹ (vgl S. 74). Im übrigen fanden die beiden Freunde im Hause des Meisters eine ›ziemlich ernste und gedrückte Stimmung‹. Von den, zur Sicherstellung des Unternehmens nötigen dreizehnhundert Patronatscheinen waren mit allem Kräfteaufgebot kaum 200 gezeichnet und der ganze Plan demnach in seinen finanziellen Grundlagen recht unsicher und schwankend geworden. Die Wirkung davon auf Nietzsche wird in dem eben erwähnten Lebensbericht geschildert, wie folgt: ›Sein Herz betrübte sich aufs tiefste und er machte sich leb haste Vorwürfe. Die Freunde litten, das große Werk drohte zu scheitern, und er hatte inzwischen in den fernen Höhen der alten griechischen Philosophie gelebt, abseits von den Kämpfen und Enttäuschungen der Bayreuther Gemeinde. Er legte das Werk, an dem er arbeitete. (»Die Philosophie der Griechen etc.«) fast beschämt beiseite; er fühlte, daß es seine Pflicht sei, sich an dem Kampf der Gegenwart zu beteiligen.‹47 So faßte er, da für die Verwirklichung der geplanten ›Bayreuther Blätter‹48, als ›Reformations‹-Zeitschrift, gerade in dieser Lage der Dinge am wenigsten etwas geschehen konnte, von sich aus den Entschluß einer periodischen Veröffentlichung unter der Gesamtaufschrift: ›Unzeitgemäße Betrachtungen‹.49 Das erste Heft sollte sich gegen David Strauß wenden: er wollte an einem so berühmten Beispiel zeigen, wie es mit der deutschen Kultur bestellt sein müsse, wenn selbst ein so hochstehender Gelehrter [78] im Ton und Geschmack der Bierbank ernste Bildungs- und Glaubensfragen erörtere. So schreibt er bereits wenige Wochen später an Rohde: ›Gersdorff hat Recht, wenn er meint, Basel sei vulkanisch geworden. Auch ich habe wieder etwas Lava gespieen: eine Schrift gegen Strauß ist ziemlich fertig, wenigstens in der ersten Skizze. Ich kam von Bayreuth in einer solchen anhaltenden Melancholie zurück, daß ich mich nirgend anderswohin retten konnte als in die heilige Wut‹. Die erste Ankündigung der beabsichtigten Schrift gegen Strauß – nach Bayreuth hin – stammt aber schon vom 18. April, unmittelbar nach seiner Rückkehr; sie war durch den Bayreuther Besuch und die dortigen Unterredungen in ihm angeregt.

Zwei Tage vorher (16. April 1873) kündigt aber auch der Meister in einem Briefe an Schott die Aussicht an, daß die Zeit für ihn herannahe, um sich wieder seiner großen künstlerischen Arbeit zuzuwenden. ›Vom 1. Juni an werden Sie regelmäßige Zusendungen von der Partitur der »Götterdämmerung« erhalten; Sie mögen dann die Güte haben, den Stich sofort beginnen und energisch fortführen zu lassen. Die einzelnen Szenen schicken Sie dann immer sofort, vielleicht noch im Revisionsabzüge, nach Moskau an Klindworth. Wenn wir so unausgesetzt gemeinschaftlich fortarbeiten, dürfen wir wohl darauf rechnen, bis Ostern 1874 alles fertig zu haben.‹ ›Jetzt gehe ich noch nach Köln, wo man mir eine Einnahme von 5–6000 Talern in Aussicht stellt. Ich hoffe von dort in erträglichem Zustande zurückzukehren, um dann für etwa drei Monate meiner Arbeit mich unausgesetzt widmen zu können. Erreichen die Garantieen, welche ich für mehrere im August in Wien zu gebende Konzerte verlange, die von mir angesprochene schickliche Höhe, so unterziehe ich mich wohl noch dieser letzten äußeren Anstrengung, um von dann an jedoch die Ära der Konzerte meinerseits gänzlich zu schließen.‹50

Gegen das Ende des Monats erfolgte der Aufbruch nach Köln, um auch dort am Donnerstag, den 24. April, im großen Gürzenichsaale mit gleichem äußeren Erfolg wie in Hamburg und Berlin ein Konzert zugunsten des dortigen Wagner-Vereins zu dirigieren Sämtliche Vorarbeiten hatten in der Hand des vortrefflichen Lesimple gelegen. Bei der großen Teilnahmlosigkeit, ja Feindseligkeit eines großen Teils der Kölner musikalischen Kreise in der Residenz Ferdinand Hillers war die Aufgabe, nach Lesimples Versicherung, für ihn keine leichte gewesen. ›Ein lebhafter Briefwechsel entspann sich bis zum Tage des Konzerts, um alles ins Reine zu bringen, besonders in bezug auf die Feststellung des Programms. Das letztere enthielt außer Beethovens, »Eroica« ausschließlich Kompositionen Wagners.‹51 Im Einzelnen umfaßte es [79] (außer der Eroica) die ›Tannhäuser‹-Ouvertüre, Walters ›Preislied‹ aus den ›Meistersingern‹, das ›Lohengrin‹-Vorspiel, Siegmunds Liebesgesang und den Kaisermarsch. Die Gesangsfragmente waren dem Tenoristen Diener (S. 14) anvertraut, der zu ihrer Ausführung sein Bestes tat Nicht allein aus Köln und Umgegend, aus allen rheinischen Städten, sogar aus Belgien und Holland liefen trotz der hohen Preise Bestellungen ein. ›Mit Richard Wagner und seiner Frau trafen zugleich hohe Gäste ein, einflußreiche Gönner vom Berliner Hofe‹ (es kann, als einziger Gast von Berlin, nur Frau v. Schleinitz gemeint sein). ›Ein prächtiges Orchester war zusammengebracht, welches den Meister in hohem Grade befriedigte. Er hatte mir mitgeteilt, er wolle bei der Probe‹ (zur Vermeidung von Ovationen, die ihm immer störend kamen, da sie die Sache ins Gemütliche zögen und den Ernst der Arbeit beeinträchtigten) ›möglichst ungesehen an seinem Pulte erscheinen, und wählte deshalb den Weg von oben durch das Orchester. Die hierdurch überraschten Musiker stimmten dennoch mit allen Instrumenten einen Begrüßungsgruß an; es war ein so merkwürdiges Durcheinander, daß Wagner mit beiden Händen in der Luft herumfuchtelte und sich Stille erbat. Dann dankte er dem Orchester warm und wiederholt für den jubelnden Zuruf. Die Proben verliefen zur größten Zufriedenheit. Glänzend über alle Erwartung war der Erfolg des Konzertes selbst, welches eine Begeisterung hervorrief, wie solche im Gürzenich selten erlebt worden war.‹52 Applausstürme und Lorbeerkränze wollten kein Ende nehmen Freilich hing das Orchester buchstäblich an dem Taktstabe des Dirigenten; so nur war es möglich, daß der Meister trotz der wenigen Proben seine Auffassung in die Ausführung hineinlegen und zu klarem Ausdruck bringen konnte. Mit großer Naivetät äußerte sich die musikalische Berichterstattung, dieser Abend sei ein ununterbrochener ›Triumph‹ für Wagner als Komponisten wie als Dirigenten gewesen (!); wer ihn dirigieren sehe und die Ausführung höre, sei sofort überzeugt, einen Mann von genialster Begabung und eminentem musikalischen Verständnis vor sich zu haben. ›Ich glaube, Wagner könnte seinen musikalischen[80] Tendenzen nicht besser Eingang verschaffen, als wenn er überall, wo der Boden für ihn weniger vorbereitet ist, persönlich erschiene und ein Konzert dirigierte!!‹ Das war die Mitwelt, mit welcher es der Künstler für sein großes Reformwerk zu tun hatte!

Eine echt Kölnische Anekdote berichtet Lesimple von dem Abschiedstage. ›Als ich im Laufe des Vormittags Wagner besuchte, erzählte er mir unter fortwährendem Lachen folgende Episode. Es war am frühen Morgen im Gasthof von einer Militärkapelle ein Ständchen gebracht worden; da habe er sich nur denken können, dasselbe gelte ihm und er sei deshalb hinuntergegangen, dem Kapellmeister seinen Dank abzustatten. Zu seinem Erstaunen habe er jedoch erfahren müssen, die Morgenmusik sei einem im selben Gasthof logierenden General gebracht worden. Als der Vorfall dem General gleich darauf bekannt wurde, habe er den Kapellmeister sofort kommen lassen und ihn heruntergeputzt, wie er so taktlos sein könne: auf der Stelle solle er eine neue Morgenmusik dem Meister bringen. Die ganze Geschichte belustigte Wagner ungemein Beim Abschiede küßte er mich aufs herzlichste und lud mich zu sich nach Bayreuth ein. Noch auf der Reise sandte er mir folgende Zeilen des Grußes: »Seien Sie noch herzlichst von mir und meiner lieben Frau gegrüßt, sowie für Ihren liebenswürdigen Eifer bedankt, und halten Sie mich für Ihren ergebenen dankbaren Freund! Grüßen Sie unsere werten Genossen, vor allem Herrn Ahn, den vortrefflichen, ernsten, nicht minder freundschaftlich von uns, und bleiben Sie meiner wahren Hochachtung versichert!«‹53

Somit war denn auch Köln erledigt, und prangte der dortige Wagner-Verein, durch die eigene Arbeit des Meisters, mit zehn Patronatanleiten, also genau ebenso vielen, wie der türkische Sultan und der Vizekönig von Ägypten, in dem Verzeichnis der ausgegebenen Patronatscheine.54 Aber zu weiteren Unternehmungen dieser Art konnte ihn die Kölner Expedition nicht begeistern. Im Gegenteil ›Konzerte gebe ich nicht mehr‹, das stand von jetzt ab bei ihm fest ›Sie schaden nur; anstatt zu Weiterem anzuregen, glaubt alles eben mit dieser Konzerteinnahme genug getan zu haben, und die Sache ist nun aus. So in Köln, wo der Wagner-Verein auch noch nicht das mindeste infolge des Konzerts zustande gebracht hat. Überhaupt –!!!55‹ Er machte die Rückreise über Kassel, wo er abends 10 Uhr eintraf, im ›Kronprinzen‹ nächtigte und am nächsten Vormittag (Sonntag, 27. April) die herrliche Gemäldegalerie mit ihren reichen Kunstschätzen in Augenschein nahm. Dürer, Rembrandt, [81] Vandyck sprachen vor allem zu ihm in ihrer unvergänglichen Sprache; für Rubens glühende Sinnlichkeit hegte er von jeher weniger Sympathie. Um 12 Uhr mittags ging es weiter in der Richtung nach Leipzig, um dort einen Tag des Beisammenseins mit Liszt zu verbringen, der zu diesem Zwecke von Weimar herübergekommen war, wo er Ende des Monats seinen ›Christus‹ mit den ihm dort zu Gebote stehenden Mitteln zum erstenmal vollständig aufführen wollte. Doch machte er noch an demselben Sonntag zwischen Kassel und Leipzig eine mehrstündige Unterbrechung seiner Fahrt, um, auf den Wunsch seiner Gemahlin, in dem kleinen Eisleben nach so langer Zwischenzeit die Stätte wieder zu betreten, an der er einst, vor mehr als einem halben Jahrhundert, sein achtes Lebensjahr verbracht hatte. Er zeigte seiner Frau das Wohnhaus am Markte und die Stelle, wo er durch ein Pferd einen Schlag auf die Brust erhalten, der ihn ohnmächtig werden ließ, das von ihm besuchte Schulhaus und das Lutherhaus, an welches sich für ihn so manche Kindheitserinnerung knüpfte. Er erkannte den unveränderten Bäcker- und Buchbinderladen, auch ein Privathaus wieder, worin er damals viel gespielt. Unverändert war im Lauf der Jahre selbst der alte Brunnen geblieben, und er war bloß betrübt über die, in dieser treuen Konservierung sich ausdrückende Verkümmerung des Ortes. Er nahm dann mit seiner Gemahlin im ›Goldenen Schiff‹ das Abendbrot, und um 9 Uhr ging es weiter nach Leipzig. Hier war dasHôtel de Prusse zum Zusammenkunftsort mit Liszt verabredet. Mit diesem verlebte er den folgenden Tag, traf auch am Abend desselben wieder mit ihm bei Brockhausens zusammen, um am 29. früh 6 Uhr bei großer Kälte den letzten Teil der Fahrt – nach Bayreuth – zurückzulegen, wo er um die Mittagszeit eintraf. Dann endlich trat für eine Weile eine Unterbrechung in den andauernden Beunruhigungen ein, die ihn seit mehr als sechs Monaten unausgesetzt und schonungslos in Anspruch genommen.

Am 1. Mai unterzeichnete er das an ›Freifrau Marie v. Schleinitz‹ gerichtete Widmungs-Vorwort seiner bereits erwähnten, bald darauf (gegen Mitte Juni) zur Versendung gelangenden Schrift ›Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth‹ (S. 77). Er folgte damit dem Antrieb des Wunsches: ›die lebendigste Teilnehmerin, deren unermüdlichem Eifer und Beistande meine große Unternehmung fast ausschließlich ihre Förderung verdankt, laut bei dem Namen zu nennen, der von mir und jedem wahrem Freunde der Kunst mit inniger Verehrung genannt wird.‹ – Auf der ersten Seite der Partitur des 1. Aktes der, ›Götterdämmerung‹ aber steht mit den festen und schwungvollen Zügen seiner Handschrift das vielsagende Datum: ›Bayreuth, 3. Mai 1873.‹

Fußnoten

1 Band II des vorliegenden Werkes, S. 43. 450/52.


2 Gustav Adolf Kietz, Erinnerungen an Richard Wagner (Dresden 1905), S. 141/42.


3 Bayreuther Blätter, 1902, S. 121.


4 Vgl. Band I des vorliegenden Werkes, S. 460/61.


5 Beide auf dem Dresdener Bankett gehaltenen Ansprachen sind sogleich an demselben Abend, während der Meister sprach, in dankenswertester Weise durch den Redakteur – früher kgl. Stenographen – Dr. Bierey aufgezeichnet worden, zum großen Teil wörtlich, und in den ›Dresdener Nachrichten‹ veröffentlicht (abgedruckt in Musikal. Wochenbl. 1873, S. 54/55). Auch die Herzen derer unter den Tischgenossen, die ihn bisher nicht gekannt, hatte er sich dadurch wie durch seine ganze Erscheinung im Sturme gewonnen. ›Stunden genügten‹, heißt es in einer damaligen Auslassung über diesen Abend, ›jede Bedenken zu verwischen, die dem übelangeschwärzten, vielbeneideten Bayreuther, »Gründer« vorausgeschickt worden waren.‹


6 ›Das bei R. Wagners Abreise demselben gebrachte Ständchen des kgl. Infanterieregiments, »König Jo hann«‹, lautet eine gleichzeitige Notiz, ›hat dessen Dirigenten Ehrlich nicht, wie man vermutete, einen Verweis eingebracht – »weil das Militär Sympathien und Antipathien nicht auszudrücken habe« – sondern überall Anerkennung verschafft; die hübscheste von Wagner selbst‹ – s. oben! (Mus. Wochenbl. 1873, S. 74.)


7 Der Ausdruck ›bengalische Nacht‹ scheint, da er sich doch im Monat Januar nicht auf eine ›bengalische‹ Hitze beziehen kann, auf allerlei bei diesem Anlaß mit in Anwendung gebrachte Beleuchtungseffekte zu beziehen.


8 Bayreuther Blätter, 1902, S. 122.


9 Dem Leser aus Band IV (III1) des vorliegenden Werkes von seinem Besuch in Triebschen her erinnerlich.


10 Legationsrat I. v. Radowitz, früher in Konstantinopel, damals in Berlin im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, selbst persönlicher Patron des Unternehmens und treuester Verehrer, neuerdings wieder vielgenannt als deutscher Delegierter bei den Marokko-Konferenzen in Algeciras.


11 Band II des vorlieg. Werkes, S. 63/65.


12 Es waren die Herren Dr. Julius Stinde und Wilh. Marr, Kapellmeister Adolf Mohr und Adolf Müller jun., Verlagsbuchhändler E. Richter und Musikalienhändler M. Leichsenring und Fritz Schubert.


13 Dr. Julius Stinde in einem mit -d- unterzeichneten Bericht für das ›Musikal. Wochenblatt‹ 1873, S. 87 ff.


14 Das ist alles, was wir aus dieser Quelle über des Meisters Worte vernehmen, nicht eine Spur auch nur von dem bloßen Gedankengang, der es erklärte, aus welchem besonderen Grunde er gerade hier und unter diesen Umständen ›Bach, Beethoven und Weber‹ gefeiert (!) haben sollte!


15 ›Nur schwer‹, so berichtet auch Stinde, ›konnte Richard Wagner sich entschließen, dem Drängen einiger begeisterter, ihm persönlich unbekannter Anhänger nachzugeben und auf seiner Rundreise auch in Hamburg vorzusprechen. Aus seinen Briefen ging hervor, daß er keine allzugroße Sympathie für Hamburg hegte; auch fehlte ein Wagner-Verein, und wenn nicht schon der Konzertsaal längst ausverkauft gewesen wäre – wer weiß, ob er sich der Mühe und Arbeit unterzogen hätte, in Hamburg ein Konzert zu dirigieren?‹ (Mus. Wbl. 1873, S. 87.)


16 ›Allerdings‹, bemerkt Stinde, ›kamen kleine Unzulänglichkeiten bei einzelnen Instrumenten vor, denen es nen war, daß der Geist in das Werk einzog, den der Taktstock dirigierender Philister nach und nach hinausgeschlagen; aber diese Störungen, welche der hergebrachte Gebrauch verschuldete, konnten den Totaleindruck nicht abschwächen. Selbst Wagner faßte diese kleinen Fehler humoristisch auf und rief bei seiner Abreise noch aus dem Wagen: »Sagt dem Kontrabassisten, daß er in der C moll-Symphonie nicht wieder vorhaut!«‹


17 ›Signale‹, Nr. 15 vom 26. Januar 1873.


18 Seine heute noch in voller Rüstigkeit lebende Tochter, Frl. Toni Petersen, ist zeitlebens eine verehrte Gönnerin des Bayreuther Werkes geblieben; noch im November desselben Jahres (1873) widmete ihr der Meister auf der Rückseite seines Porträts die humorvollen Verse: ›Immer in Not und Sorgen, doch in Fräulein Petersen geborgen.‹


19 Vgl. E. Heckel, Erinnerungen, S. 66/68.


20 Er traf nämlich erst am folgenden Tage ein.


21 Hanslick-Sporen sich zu verdienen unternahm, auf Grund dieser Konzerte, ein gewisser A. v. Dommer; sein Artikel in Nr. 21 des ›Hamb. Korrespondenten‹ (dessen ständiger Musikkritiker er war) rief sogar eine Entgegnung in Broschürenform von M. A. Souchay hervor. ›Ja, sie haben,‹ ruft J. Stinde, ›die Gesichter grimmig verzogen, diese Beckmesser, und weidlich räsonniert – es hat aber nichts geholfen, gar nichts; das Publikum läßt sich nicht irre machen, seitdem es den Glauben an den Meister gefunden hat!‹


22 Rohde, Briefwechsel mit Nietzsche, S. 389/90.


23 Eine verkleinerte Nachbildung des interessanten Doppelblattes findet sich im Anhang der ›Gedichte‹ von Richard Wagner (Berlin, G. Grote 1905).


24 Band III (II2) des vorliegenden Werkes, S. 396.


25 Band IV (III1), S. 33.


26 Wiederholt hat sich Wagner in den nächstfolgenden Jahren nach ihr erkundigt, so in einem Briefe an den Hofkapellmeister Aloys Schmitt (ihren Gemahl) vom 3. April 1874, ferner in einem solchen vom 11. Juni 1874, auch, wie uns dünkt, einmal in einem Briefe an Hill – bis er es endlich aufgab.


27 Diese 6 Patronatscheine des Großherzogs von Mecklenburg finden sich im Verzeichnis der ausgegebenen Patronatscheine unter Nr. 250/55.


28 Bd. I des vorliegenden Werkes, S. 226.


29 Band II, S. 430.


30 Signale f. d. mus. Welt 1873, Nr. 8.


31 Wir erinnern uns des buchstäblich entsprechenden Bescheides, den eben derselbe Herr Generalintendant genau zehn Jahre früher Bülow erteilt, als sich dieser zum Zweck einer von dem Meister zu dirigierenden Musikaufführung um eben dasselbe Lokal bewarb (Band III des vorliegenden Werkes, S. 426).


32 Vgl. die unwidersprochene Notiz darüber im Musikal. Wochenblatt 1873, S. 142.


33 Vom ›Berliner Börsenkurier‹.


34 Vom ›Kladderadatsch‹.


35 So ist z.B. der Verfasser damals – von Riga aus – zunächst als Mitglied dieses Berliner akadem. Wagner-Vereins der Bayreuther Sache auf dem Vereinswege nahegetreten, wofür er ihm heute noch dankbar ist.


36 Vgl. Band IV (III1) des vorliegenden Werkes, S. 393/94. 398.


37 Band II des vorlieg. Werkes, S. 124.


38 Das ganze in seiner Würde und Feinheit des großen Reformators würdige Schriftstück, dessen Wortlaut wir hier nicht reproduzieren können, ist zum ersten Male vollständig, d.h. ohne Auslassungen, abgedruckt in der ›Festgabe des Wagner-Vereins Berlin zur Feier des 25 jährigen Bestehens der Bayreuther Festspiele‹ (Berlin, P. Thelen, 1901), S. 11/13.


39 Brieflich an Franz Schott, 16. April 1873.


40 E. Förster, Leben Nietzsches II, S. 229.


41 Erschienen im ›Musikal. Wochenblatt‹ vom 28. März 1873.


42 Georg Herwegh, Neue Gedichte, S. 235 (damals mit dem Datum des 8. Februar 1873 in irgend einer demokratischen Zeitung gedruckt).


43 Richard Wagner, ›Gedichte‹, S. 91.


44 Zunächst im ›Musikal. Wochenblatt‹ vom 4. u. 11. April 1873, sodann in Band IX der ›Gesammelten Schriften‹.


45 Des Philologen Prof. Otto Ribbeck, damals in Heidelberg, später in Leipzig.


46 Vgl. sein Schreiben an Gersdorff vom 5. April 1873: ›Ich begreife selbst noch nicht, wie schnell und plötzlich sich dies gemacht hat; vor acht Tagen dachte keiner von uns an so etwas. Schon jetzt wandelt mich Rührung und Ergriffenheit an, wenn ich mir denke, wie wir selbander auf dem Bahnhofe dieses Ortes ankommen und nun jeder Schritt Erinnerung wird‹ – er hatte die Stadt seit den Grundsteinlegungstagen nicht betreten! ›Ich hoffe,‹ fügt er hinzu, ›daß mein Besuch wieder gut macht, was mein weihnachtliches Nichtkommen schlecht gemacht hat‹ u.s.w.


47 E. Förster, Nietzsches Leben II, S. 126.


48 Bd. IV (III1) des vorliegenden Werkes, S. 341. 386.


49 Auch der Ausdruck ›Bayreuther Horizontbetrachtungen‹ findet sich als ein ähnlicher Kollektivtitel unter seinen damaligen Aufzeichnungen. In welchem Maße aber auch das an sich bloß ablehnende ›Unzeitgemäß‹ direkt als Bejahung auf Wagner von ihm bezogen wurde, darauf weist die Briefstelle an Rohde, in welcher er den Ausdruck zum ersten Male braucht: ›Dafür steht er auch da, festgewurzelt durch eigne Kraft, mit seinem Blick immer darüber hinweg über alles Ephemere und unzeitgemäß im schönsten Sinne.‹ (Vgl. Band IV (III1) des vorliegenden Werkes S. 290.)


50 An Franz Schott in Mainz, 16. April 1873, abgedruckt in der ›Festgabe des Wagner-Vereins Berlin zur Feier des 25 jähr. Bestehens der Bayreuther Festspiele‹ (Berlin, P. Thelen), S. 15.


51 August Lesimple, Richard Wagner, Erinnerungen (Dresden 1884), S. 21/22.


52 A. Lesimple, R. Wagner, Erinnerungen, S. 22/23. Am Morgen des Konzertes, berichtet derselbe Gewährsmann an anderer Stelle, ließ mich Wagner zu sich bitten, um die Höhe der Einnahme zu erfahren. Er begann die Unterredung mit der Geschichte von einem Kaiser des grauen Altertums (?)A1, der im Begriff stand, eine große Schlacht zu liefern. ›Vorher befragte er seinen Oberfeldherrn nach der Zahl seiner Streiter. »Ein ungeheures Heer«, erwiderte der Feldherr »unübersehbare Heeresmassen.« Der Kaiser erwidert: »Die genaue Zahl will ich wissen.« »Zehntausend,« antwortet nun der Gefragte. »Dann bin ich zufrieden,« sagte der Kaiser, »denn sie genügen.« Nun sagen Sie mir, lieber Freund, was wird das Konzert heute einbringen?‹ ›Dreitausend Taler,‹ antwortete ich. ›Sehr schön,‹ sagte er, ›dann bin ich so zufrieden, wie jener Kaiser, und Sie haben Ihre Sache gut gemacht.‹ (Kürschner, Wagner-Jahrbuch 1886, S. 86.)


53 Musikalisches Wochenblatt 1873, S. 286.


54 Lesimple, Erinnerungen, S. 23/25.


55 Außerdem lief von Köln aus in letzter Stunde nur noch ein Patronatsbeitrag ein: die Redaktion der ›Kölnischen Zeitung‹ ließ es sich 300 Taler kosten, ihren Mitarbeiter Dr. Wilhelm Mohr, den Verfasser der Broschüre über. ›Das Gründertum in der Musik‹ (S. 16/17) dieses Bandes, als ihren Berichterstatter zu den Festspielaufführungen zu delegieren!! – Brief an Heckel, vom 19. September 1873.


A1 Nicht ein Kaiser des ›grauen Altertums‹, sondern Alexius Comnenus war von dem Meister gemeint und wahrscheinlich auch genannt worden.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 5, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 56-83.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon