IV.

Zögernder Fortgang.

[83] Bayreuther Idyll: 60. Geburtstagsfeier. – Fortschreiten des Hausbaues von ›Wahnfried‹. – Ein an Bismarck gerichtetes Schreiben bleibt – unbeantwortet. – Gustav Kietz modelliert seine Büste des Meisters. – Hebefeier des Festspielhauses. – Liszts Besuch. – Abschluß des Druckes der ›Gesammelten Schriften‹. – Drohende Stockung wegen mangelnder Eingänge.


Mir ist es, als ob ganz andere Wege eingeschlagen werden müßten, um einem so außerordentlichen und gänzlich neuen Unternehmen sein Gelingen zu versichern.

Richard Wagner.


Wie zu einem erhebenden Familienfest wurde für die Stadt Bayreuth der hochbedeutsame Tag, an welchem der Meister das erste in seiner neuen Heimat verbrachte Lebensjahr abschloß: der auf den Himmelfahrts-Donnerstag fallende 22. Mai, sein sechzigster Geburtstag. Wer hätte es damals ahnen mögen, daß er den siebzigsten nicht mehr erleben würde! Welche Kämpfe, welches Ringen mit bitterster Feindschaft und trostloser Gleichgültigkeit standen ihm nicht noch in diesem einen, letzten Jahrzehnt bevor, welche Stacheln und Dornen des Neides und Hohnes starrten ihm von überall her entgegen, anstatt daß sich ganz Deutschland endlich dazu hätte einigen sollen, ihm die Spenden seiner Liebe und Verehrung zu Füßen zu legen, vor allem aus freien Stücken ihm sein großes Werk zu ermöglichen. Dies war denn auch der tiefere eigentliche Sinn der Feier des Tages, von einem großen Herzen ersonnen und auf das glücklichste durchgeführt: in den engen Grenzen einer solchen Lokalfeier ein Beispiel der Liebe zu geben und somit auch andere zu ihrer Betätigung anzuregen.

Schon die letzten Wochen hindurch die ersten vorbereitenden Schritte fielen schon in die Mitte April – herrschte geheime rührige Tätigkeit, um ihm eine völlige Überraschung zu bereiten. In sinniger Weise hatte seine Gattin selbst alles angeordnet, was ihn an diesem Tage erfreuen konnte. Die Möglichkeit einer großen, hervorragenden Kunstleistung war ganz ausgeschlossen; es konnte sich demnach nur um etwas intim Persönliches handeln. Zu diesem Zweck wurden zwei frühe Jugendarbeiten des Meisters hervorgesucht: die vor [83] vierzig Jahren im Leipziger Gewandhause aufgeführte Konzertouvertüre in C dur1 und jene, bald darauf von dem jungen Magdeburger Musikdirektor flüchtig hingeworfene Musik zu der Schmaleschen Neujahrs-Kantate, deren wir soeben (S. 70) gelegentlich seines Schweriner Wiedersehens mit dem einstigen Kollegen am Magdeburger Theater gedachten Natürlich war der ursprüngliche Text, zu dem sie komponiert war, nicht zu gebrauchen; es war mithin zu der vorhandenen Musik eine völlig neue, auf irgendwelche Weise dem Tage, wie dem Gegenstande entsprechende Dichtung abzufassen. Zum Dichter war Peter Cornelius ausersehen, trotz seines äußerst schwierig zu behandelnden Charakters doch im Grunde seines Herzens dem Meister in Liebe zugetan.2 Das verbindende Gedicht wurde bei ihm bestellt, ohne seine schaffende Phantasie durch bestimmte Vorschriften einzuengen; Alexander Ritter in Würzburg und seiner Gemahlin Franziska war die musikalische und deklamatorische Ausführung übertragen. Mit ihnen verständigte sich Cornelius in persönlicher Aussprache; dann machte er sich an die Ausführung. Er hatte nach dem Voranschlag zehn Tage Arbeitszeit, da seine Worte erst noch in die Chorstimmen eingetragen und die Chöre studiert werden mußten; konnte es aber doch schließlich erst in vierzehn Tagen (Anfang Mai) zum völligen Abschluß bringen. Es hatte den Titel ›Künstlerweihe‹ und war mit mehr gutem Willen und selbsttätiger Einbildungskraft, als historischer Genauigkeit, als eine Art ›Novelle‹ gedacht. Während ihres Münchener Verkehrs hatte der Meister ihm davon erzählt, wie er als junger Mensch im Hause seines Schwagers Brockhaus mit dem (um fünfzehn Lebensjahre älteren) genialen Bonaventura Genelli verkehrt und von ihm einen nachhaltig günstigen Eindruck erhalten habe Hieran anknüpfend, entstand in Cornelius' Phantasie die Vorstellung einer Szene zwischen beiden, die in erzählender Form zunächst den mit sich selbst und dem noch unverstandenen Drang des eigenen Genius ringenden jungen Wagner darstellt. In diesen beängstigenden Zweifeln trifft ihn ein gereifterer künstlerischer Freund, eben Genelli, und weist ihn auf das ›Drama‹ als das erlösende Schaffensgebiet, indem er ihm zugleich die dem Charakter der Musikstücke entsprechenden Bilder sichtbar vor das geistige Auge zaubert. Der Musikdilettantenverein und der Liederkranz von Bayreuth stellten mit Freuden ihre Mithilfe zur Verfügung. Dazu gleicher Zeit im alten markgräflichen Opernhause eine Schauspielergruppe ihre Vorstellungen gab, konnte [84] der musikalischen Feier mit ihren lebenden Bildern auch noch eine theatralische vorausgeschickt werden. Um auch durch diese dem Meister eine, der Bedeutung des Tages angemessene, Jugenderinnerung zu erwecken, hatte Frau Wagner hierfür das Geyersche Lustspiel: ›Der bethlehemitische Kindermord‹3 ausersehen. Um die Ausführung des gesamten Arrangements erwarb sich der tätige Vorstand des Bayreuther Wagner-Vereins, Assessor Mattenheimer, ein hervorragendes Verdienst; den dekorativen Teil besorgte Herr Brandt jun. aus Darmstadt, der talentvolle Sohn des hochverdienten Mitarbeiters Karl Brandt. Von auswärts waren, außer Cornelius, eine Anzahl befreundeter Musiker aus München, Dresden und Leipzig eingetroffen, darunter drei Konzertmeister: Abel aus München (diesen hatte Cornelius, nebst einem Lieblingsschüler Bülows, dem jungen Giuseppe Buonamici, eingeführt), Kummer aus Dresden und Alexander Ritter aus Würzburg. Letzterer hatte sich zugleich das Verdienst erworben, zur Ergänzung der einheimischen Orchesterkräfte aus seinem Wohnort eine ganze Kapelle, insonderheit eine Abteilung Blechbläser mitzubringen. Und nun ging es mit Feuereifer an die Ausführung, zunächst an die Proben der Kantate und Konzertouvertüre unter Alexander Ritter und Kapellmeister Zumpe, einem der jungen Musiker aus der Nibelungen-Kanzlei, während gleichzeitig durch Direktor Wittmann die ausgeschriebenen Rollen des Lustspiels unter seine Schauspieler verteilt wurden. – Obgleich die Vorbereitungen für die Festfeier die kleine Stadt in all ihren Kreisen schon seit Wochen in Spannung erhielten, gelang es der Sorgfalt aller Beteiligten, den Meister bis zum letzten Moment ahnungslos über das Unternehmen zu erhalten. Wurden doch zu diesem Zweck für ihn eigene Exemplare der Bayreuther Tageblätter gedruckt, in welchem alle darauf bezüglichen Mitteilungen und Inserate ausgelassen waren.4

Früh am Morgen des 22., der, wie gesagt, auf den Himmelfahrts-Donnerstag fiel, fanden sich die Würzburger Musiker vor dem Hause des Maurermeisters Wölfel an der Dammallee ein und nahmen ungesehen hinter dem Zaune des gegenüberliegenden Gartens Aufstellung. ›»Wach' auf! es [85] nahet gen dem Tag!« dieser herrliche Chor aus den Meistersingern erscholl feierlich und tief ergreifend durch die jugendlich grünen Baumwipfel am Dammalleewäldchen‹, so schildert ein Lokalblatt die festliche Inaugurierung des Tages. ›Woher kommen diese weichen, vollen Klänge, leise anschwellend, mächtig aufrauschend? Wem gilt der Zaubersang? Es ist der Morgengruß, der Richard Wagner zu seinem sechzigsten Geburtstag gebracht wird ... Verdeckt durch die Planken des Hoffmannschen Gartens sendet die Würzburger Kapelle ihre Töne hinüber zu den noch dicht verschlossenen Fenstern der Wohnräume Richard Wagners, und eine zahlreiche Menge teilt ihre Aufmerksamkeit zwischen den Klängen der Musik und den verschleierten Fenstern‹ ...

Dem Beginn des Tages entsprach der Fortgang, an welchem sich alles die Hände reichte, um dem Meister Ehrfurcht und Liebe zu beweisen Zwar kein deutsches Hoftheater entsandte ihm eine Deputation, kein Fürst seinen Hausorden, keine philosophische Fakultät ein Doktordiplom oder eine Ehrenadresse, – aber von nah und fern liefen die Segenswünsche derer ein, die seiner in Treue und Ergebenheit gedachten, und das telegraphische Bureau hatte stundenlang einzig mit der Expedition der dem elektrischen Draht anvertrauten Grüße zu tun. Unter den eingangenen Geburtstagsgaben befand sich unter anderm ein prächtiges Leopardenfell und ein zierlicher Seidenpudel, namens Putz, vom Grafen Krockow, dem er wenige Tage später in einem launigen Gedicht seinen Dank dafür aussprach.5 Aus Leipzig traf die Nachricht ein, das Geburtshaus im Brühl, ›Zum weißen und roten Löwen‹, sei soeben mit einer marmornen Gedenktafel geziert: in München und Wien ward der Tag durch ›Lohengrin‹-Vorstellungen begangen; in Nürnberg spielte die Militärkapelle auf der Wachtparade ausschließlich Wagnersche Kompositionen! Um die Mittagszeit versammelten sich die Würzburger Musiker abermals im Ruckriegelschen Garten, gegenüber dem Wohnhause Wagners und brachten dem im Kreise der Seinen befindlichen eine Tafelmusik.

Und als der Abend kam, da begann in den Straßen ein Wogen und Treiben festlich geschmückter Menschen. Alles eilte dem alten Opernhause zu, dessen Logen und Sperrsitze schon längst durch Vermittelung des ›Lohndieners Johannes‹ ausverkauft waren. Ein von der bunten Menge bis in das letzte Winkelchen besetztes Haus erwartete ihn, als er, mit Frau und Kindern, die für ihn reservierte Mittelloge des Theaters betrat. Er hatte ebenso wenig von der ganzen Aufführung, als – noch weniger! – von dem Vortrag seiner beiden Jugendwerke vorher Kenntnis erhalten, auch war ihm kein Programm der Festfeier überreicht worden. Aufmerksam hörte er den Klängen der Konzertouvertüre zu, und nach der Hälfte der Einleitung, einer ausdrucksvollen Violioncell-Kantilene, fragte er nach dem Komponisten. ›Frau Wagner hüllte [86] sich in Schweigen. Der Meister hörte weiter sehr gespannt zu, und bemerkte dann humoristisch: es sei doch sonderbar, das Stück könne weder von Beethoven noch von Bellini sein und mute ihn ganz eigenartig an. Endlich fand er die rechte Spur und mit Rührung überkam ihn die Erinnerung an die seinem Gedächtnis vollkommen entschwundene Komposition aus frühester Jugend6.‹ Daran reihte sich, alle Anwesenden in Ernst und Heiterkeit sichtlich ansprechend, das Geyersche Lustspiel.


4. Zögernder Fortgang

In der Zwischenpause des zweiaktigen [87] Stückes erklang aus dem Orchester das Volkslied: ›Üb' immer Treu' und Redlichkeit,‹ welches der junge Richard Wagner kurz vor dem Tode seines Stiefvaters gespielt hatte, als der Sterbende fragte: ob er vielleicht Talent zur Musik habe?7 Im Aufschluß an das Lustspiel trug hierauf Konzertmeister Alexander Kummer, der Sohn des alten Dresdner Freundes, das von August Wilhelmj instrumentierte ›Albumblatt‹, und die ›Träume‹ in Wagners eigener Bearbeitung für Violine und Orchester8 vor, deren schwärmerischer Klangzauber unvergleichlich schön wirkte, – so zart und duftig hauchte die Geige ihre elegischen Klänge aus. Dann folgte, als der Schwerpunkt der ganzen Festaufführung, Cornelius' ›Künstlerweihe‹ mit der Magdeburger Neujahrsmusik, für deren Wiedergabe Alexander Ritter die Leitung des Orchesters übernahm, während seine Gattin Franziska sich ihrer Aufgabe, der Deklamation des verbindenden Gedichtes, mit Meisterschaft entledigte. Zum Andante sostenuto der Ouvertüre erschien in gelungener Nachbildung eines Genellischen Gemäldes ein lebendes Bild: ›Die Nacht und die sieben Todsünden‹, zum Allegretto mit Chor ›Das Licht und die Tugenden‹, welchem sich als Schlußtableau die Hauptgestalten aus Wagners dramatischen Werken anreihten, in der Beleuchtung eines eigens hierfür von Brandt aus Darmstadt mitgebrachten elektrischen Apparates. Die günstige Wirkung des letzteren erhöhte den Eindruck der Bilder auf das Publikum; sie wurden mit lebhaftem Applaus begrüßt, besonders die ›Tugenden‹, bei welchen die kleine Julie Ritter das ›Licht‹ darstellte. Wiederholt dankte der Gefeierte, durch den ganzen Verlauf überrascht und gerührt, den Mitwirkenden, indem er sich von seinem Sitz erhob und ihnen in verbindlicher Weise zuwinkte Tief bewegt verließ er das Theater, wo ihm in ganz unerwarteter Weise solche Jugenderinnerungen zugeführt worden waren.

Nach der Vorstellung versammelten sich alle bei dem Arrangement wie bei der Aufführung beteiligten Herren und Damen im freundlich hellen Saale des Gasthofs zum ›goldenen Anker‹ zu einer Reunion, zu welcher auch der Meister mit seiner Gemahlin und der Ritterschen Familie erschien. Einen Hauptreiz derselben bildeten die Triovorträge der soeben in Europa weilenden Gebrüder Ximenez, wirklicher Mohren aus Trinidad auf Cuba, mit deren überraschend seinen und geistvollen Darbietungen ein weitentlegener fremder Weltteil an den Huldigungen des Tages sich zu beteiligen schien. Noch einmal sprach er hier beim festlichen Mahle allen Mitwirkenden seinen gerührten Dank aus Wohl habe er gemerkt, daß hinter seinem Rücken etwas geplant werde, und das habe er nun heute bestätigt gefunden. Die heutige Vorstellung sei zum Besten ›hilfsbedürftiger Musiker‹ veranstaltet worden; hieran anknüpfend erklärte er sich selbst für den hilfsbedürftigsten aller Musiker: er bedürfe wahrer Liebe. Und diese sei ihm heute im reichsten Maße zuteil [88] geworden; er ersehe dies aus der sinnvoll arrangierten Art und Weise des wunderbaren Festes, welches ihm zu Ehren veranstaltet wurde: das sei ein Wert der größten Liebe. Er sei bei dieser Verschwörung der Liebe lautlos, die Überraschung sei vollständig geglückt und er, als hilfsbedürftigster aller Musiker, habe eine reiche Einnahme an Liebe gehabt, die er dankerfüllt einkassiere. In das hierauf vom Assessor Mattenheimer ausgebrachte Hoch auf ›den Meister und Bürger der Stadt Bayreuth Richard Wagner‹ fielen alle Anwesenden dreimal begeistert ein.

Wenige Tage nach dieser lieblichen Feier folgte er der Einladung Liszts nach Weimar, um daselbst der am 29. Mai stattfindenden ersten vollständigen Aufführung des ›Christus‹ in der dortigen – protestantischen – Stadtkirche beizuwohnen, unter persönlicher Leitung des Komponisten. ›Vielleicht,‹ so schreibt dieser (11. Mai) an seine römische Freundin, ›wird man die Bemerkung machen, daß der Herr Abbé Liszt sich nicht um Musik in einer protestantischen Kirche zu kümmern hat. Ich werde mich auf keine Widerlegungen einlassen – nicht aus Mangel an guten Argumenten, sondern aus Friedensliebe9.‹ Auch lehnte er es ab, dem Rate der Fürstin gemäß, die höhere katholische Geistlichkeit zu dieser Aufführung einzuladen10; dagegen kamen von überallher die, Freunde des großen Tomneisters zusammen, unter ihnen Frau Marie Muchanoff und seine ungarischen Landsleute: Mihalowich, Cornel Abrányi, Graf Apponyi u.a.m. Von Jena und Erfurt her waren Kontingente zur Verstärkung der Chöre gestellt, bereits an Ort und Stelle (wie der Weimarer Chor durch Müller-Hartung) durch dortige ergebene Dirigenten (Naumann und Mertel) einstudiert. Die Mittel der Aufführung waren nichts weniger als glänzend, Zeit und Kräfte der Hofkapelle durch das gleichzeitige Studium irgend einer Oper11 stark in Anspruch genommen und daher von dem großen ernsten Werke nur – zwei Gesamtproben möglich. Doch schwanden gegenüber der Macht des Eindruckes die mancherlei Ausstellungen, die an der Aufführung selbst am Haupttage gemacht werden konnten. Am Abend des denkwürdigen Tages nahm der Meister mit seiner Gemahlin auch noch an der geselligen Nachfeier des Ereignisses in den Räumen der Vereinsgesellschaft teil. Bis Anfang Juli wollte Liszt in Weimar bleiben, am 6. Juli in Leipzig einer Aufführung seiner ›Missa choralis‹ beiwohnen und nach Erledigung mehrerer anderer Besuche gegen Ende Juli zu vierzehntägigem Verweilen in Bayreuth eintreffen, wo für diese Zeit die Hebefeier des Festspielhauses in Aussicht genommen war.

Während im Laufe des Juni die Arbeit am ersten Akte der ›Götterdämmerung‹ unter allerlei Störungen langsam fortschritt, übergab die Schottsche Offizin den im Stich vollendeten ersten Teil der Partitur des Nibelungenwerkes, [89] das ›Rheingold‹, der Öffentlichkeit – fast zwei volle Jahrzehnte nach ihrer ersten Niederschrift.12 Sie trug auf dem Gesamttitel den vielsagenden Zusatz: ›Im Vertrauen auf den deutschen Geist entworfen und zum Ruhme seines erhabenen Wohltäters, des Königs Ludwig II. von Bayern, vollendet von Richard Wagner.‹ So verflochten sich Anfang und Ende des Werkes in verheißungsvoller Weise miteinander. Und wiederum: während in der gleichzeitig veröffentlichten Schrift ›Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth‹ die Konstruktion des Gebäudes und seine äußere Erscheinung durch die beigefügten architektonischen Pläne und Zeichnungen den Freunden des, im Werden begriffenen Hauses vor Augen gestellt werden, war auch der Bau selbst rüstig weiter gefördert und täglich in sichtbarem Wachsen begriffen. Hoch überragt von den vier Ecktürmen, hatte sich das imposante Quadergemäuer des Bühnenraumes aus der Tiefe emporgehoben; die Umfassungsmauern waren bis über das zweite Stockwerk hinausgeschossen und die Rüstungen des Bühnenraumes hatten eine Höhe von gegen 100 Faß über dem Niveau der Bühne erreicht Gleichzeitig war aber auch, unter steter persönlicher Beaufsichtigung auf seinen Spaziergängen, auf jenem, gleich bei seinem ersten Bayreuther Besuch von ihm auserkorenen Grunde, weit unten am ›Rennweg‹ (der heutigen Richard Wagner-Straße) der Bau seines Wohnhauses, des künftigen Hauses ›Wahnfried‹, so weit vorgerückt, daß alle inneren Räume dastanden, wie sie der Baumeister nach seinem – des Meisters – eigenhändig gezeichneten Grundriß angeordnet, so daß sie bereits betreten werden konnten. ›Es gab darin noch viel zu tun,‹ erzählt Professor Gustav Kietz, der sich – am 25. Mai – den Neubau zum ersten Male betrachtete, ›aber der Eindruck des Ganzen war ein sehr vornehmer. Ich bewunderte die harmonische Anlage der großen Halle mit dem oberen Rundgang und dem schönen daranstoßenden Saal, mit der großen, nach dem Schloßpark zugelegenen Rotunde, der zu Wagners eigenem Gebrauch dienen sollte. Den darüber liegenden schönsten Raum im Hause, mit dem freien Blick über Garten und Park‹ (den noch heute sogenannten ›Kindersaal‹) ›hatte er, wie er mir selbst sagte, für seine Töchter bestimmt‹ u.s.w.

Mit dem Kietzschen Besuch hatte es die folgende Bewandtnis. Dieser treue vortreffliche Freund (der nur noch die echt Dresdenerische Gewohnheit hatte, den Meister von seiner früheren Bekanntschaft her ›Herr Kapellmeister‹ anzureden!) war von ihm bei seinem letzten Dresdener Besuch (im Januar) nach Bayreuth eingeladen worden. Er hatte diese Einladung dankbar angenommen, mit den Worten: ›wenn ich komme, bringe ich aber auch (Modellier-) Ton mit.‹ Das war der Ausgangspunkt zur Entstehung seiner herrlichen Arbeit, der ›Wagner-Büste‹ par excellence, die alle anderen Versuche dieser [90] Art durch sprechende Ähnlichkeit und geistige Bedeutung in den Schatten stellt. An einem regengrauen Tage (25. Mai) unterbrach demnach Kietz seine Reise nach Stuttgart (in Angelegenheiten eines Uhland-Denkmals für Tübingen), um von Neuenmarkt aus in halbstündiger Fahrt nach Bayreuth zu gelangen. ›Es war,‹ so erzählt er, ›ein böser, regnerischer Tag, und ich beeilte mich mein Gasthaus zu verlassen und Wagner in seiner Wohnung auf der Dammallee aufzusuchen. Das war aber nicht so leicht als ich dachte. Der Diener verweigerte mir entschieden den Eintritt: er habe strengsten Befehl, niemand vorzulassen; außerdem säßen die Herrschaften gerade beim Kaffee. »Da komme ich ja gerade recht,« entgegnete ich, denn mir wurde bei dem schlechten Wetter ganz behaglich bei dem Gedanken an eine Tasse warmen Kaffees; »hier nehmen Sie sofort meine Karte und melden Sie mich an.« Widerstrebend ging er die Treppe hinauf, kam aber im Moment zurück, mir die Türen weit öffnend, und lud mich ein, hinauszugehen Wagner kam mir mit großer Herzlichkeit entgegen, und nach Begrüßung Frau Cosimas und der anderen Herrschaften (Alexander Ritter und Frau) mußte ich mich sofort an den Tisch setzen und an ihrer Kaffeestunde teilnehmen. Auf seine Frage, was es denn gäbe, daß ich bei dem greulichen Wetter unterwegs sei, sagte ich, wohin mich meine Reise führe, und daß ich auf der Rückreise wieder nach Bayreuth kommen würde, um seine Büste zu modellieren. Er hätte mich aufgefordert zu kommen, und mit einem Bildhauer lasse sich nicht spaßen, zu ihm gehörten Ton und Werkzeug. Er lachte sehr amüsiert und die Unterhaltung wurde immer lebendiger Nach dem Kaffee verabschiedete ich mich, ging aber in Begleitung Herrn und Frau Ritters vor meiner Abfahrt noch nach dem Neubau von Wagners Haus und dem Theaterbau hinauf und verbrachte so, trotz des bösen Wetters, in Begleitung des liebenswürdigen Ehepaars einen interessanten Nachmittag.‹13 Dies war der erste Eintritt des alten Dresdener Freundes in die neue Umgebung; nach Erledigung seiner Geschäfte in Stuttgart kehrte er wieder, um nun erst in mehrwöchentlichem Verweilen Bayreuth und seine landschaftliche Umgebung ›bei hellstem Sonnenschein in vollem Glanze zu sehen.‹14

Es war trotz aller gelegentlichen Heiterkeit im Freundesumgang eine schwere, sorgenvolle Zeit, in welcher die letzte Arbeit an der Partitur der ›Götterdämmerung‹ unter Unterbrechungen mancher Art langsam fortschritt und die Schrift über das Bühnenfestspielhaus zur Versendung an seine Freunde gelangte. Ein Brief an Pusinelli vom 13. Juni gibt dieser sorgenvollen Stimmung einen freundschaftlichen offenen Ausdruck. ›Ach Gott,‹ heißt es darin, ›ich möchte mich gern so ganz zur Ruhe setzen und sehe nun noch solche Teufelsjahre vor mir. Mannigmal ists mir denn doch, als sollte ich alles [91] fahren lassen und den Rat befolgen, den ein alter Soldat Friedrich dem Großen nach der Schlacht bei Collin gab: »Jetzt lassen Ew. Majestät Bataille Bataille sein!« Jedenfalls gratulierst Du mir zu meiner Entbindung bereits im nächsten Jahr zu früh: vor 1875 sind die Aufführungen nicht zu bewerkstelligen Einstweilen werden die Herren Patrone aber eingeladen werden, nächsten Herbst in Bayreuth sich das Theatergebäude anzusehen, das bis dahin unter Dach sein wird.‹15 ›Jetzt will ich zunächst einmal sehen, welchen Eindruck unser fertiger Bühnenfestspielbau auf alle, die ihn kennen lernen, hervorbringen wird. Dieser Tage wird an meine Patrone hierüber auch eine neueste Broschüre (mit 6 Plänen) zugesendet werden. Ich tue alles, was ich vermag: reißt der eine Faden, so spinne ich einen anderen; endlich werde ich ja einmal das rechte Ziel treffen.‹

Als ein solcher ›neugesponnener Faden‹ muß uns der Versuch erscheinen, dem größten gleichzeitigen Staatsmanne und Wiederaufrichter des deutschen Reiches nun doch noch durch eine erneute Bewerbung einen Beweis seines Interesses, seiner fördernden Teilnahme auch an der großen Neuschöpfung im Gebiete der deutschen Kunst zu entlocken. ›Großherzige Illusionen zu nähren, ist dem deutschen Wesen nicht unanständig‹ – mit diesen Worten blickt er fünf Jahr später auf diesen Versuch zurück; denn auch hierbei handelte es sich in der Tat um eine solche ›großherzige Illusion‹.16 ›Nachdem eine Zusendung meiner Schrift über »Deutsche Kunst und deutsche Politik« dort keine Beachtung gefunden hatte, setzte ich meine Werbung durch eine, brieflich sehr ernst motivierte Bitte, wenigstens die zwei letzten Seiten meiner Broschüre über das »Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth« einer Durchlesung zu würdigen, unentmutigt fort.‹ Der in diesem Sinn an den Fürsten Bismarck gerichtete Brief vom 24. Juni 1873 ist in zu hohem Grade ein geschichtliches Dokument, um ihn nicht an dieser Stelle seinem vollen Umfang nach unserem Berichte einzufügen. ›Hochzuverehrender Fürst!‹ so beginnt das Schriftstück. ›Ew. Durchlaucht würden vielleicht aus der Durchlesung der Schlußseiten meiner Schrift die beste Erklärung dafür gewinnen, weshalb ich es für unerläßlich hielt, wenigstens den Versuch zu machen, Sie zur Kenntnisnahme derselben zu bewegen. Niemand wird es besser begreifen als ich, wenn [92] Ew. Durchlaucht selbst die soeben angedeutete flüchtige Gunst mir nicht erweisen können; wohl aber würde es manchen als eine bedauerliche Unterlassung meinerseits erscheinen, wenn ich durch die Befürchtung mich davon abschrecken ließe, irgend einen schicklichen Weg unversucht zu lassen, dem großen Neubegründer deutscher Hoffnungen den Kulturgedanken mitzuteilen, welcher mich beseelt, und welchem ich mit den angestrengtesten Bemühungen meines ganzen Lebens einen der Nation verständlichen Ausdruck zu geben mich angetrieben fühle Muß mich jeder weitere Versuch, Ew. Durchlaucht durch Überredung zu jener Kenntnisnahme zu bewegen, ebenso unschicklich als unnütz dünken, so wünsche ich mit diesen Zeilen zunächst einzig nur die mögliche Belästigung durch meine Zusendung selbst entschuldigt zu haben. Immerhin dürfte es mir selbst in Ihren Augen gestattbar erscheinen, mein tief beklommenes Gefühl darüber auszudrücken, daß die Ausführung eines Unternehmens, wie des von mir entworfenen, ohne Teilnehmung von seiten der einzig im wahren Sinn fördernden und adelnden Autorität, an welcher es mir im tiefsten Grunde gelegen sein muß, sich vollziehen sollte, und ich in diesem Falle mit dem Schicksal der Neugeburt des deutschen Geistes durch unsere großen Dichter der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mich trösten müßte, welcher der große Friedrich, obwohl der wahrhafte Held dieser Neugeburt, fremd und kalt gesinnt blieb. Mit dem Ausdruck unbegrenzter Verehrung Ew. Durchlaucht tiefergebener Bewunderer Richard Wagner.‹17 Für alle Zeiten bleibt es eine traurige, durch, nichts zu beschönigende Tatsache, daß dieses stolz bescheidene, vertrauensvoll an die Person eines großen Zeitgenossen gerichtete Schreiben des sechzigjährigen Meisters (in dem es sich keineswegs um eine materielle Unterstützung seines großen Werkes handelte!) einfach – ohne alle Antwort blieb .Mußte das völlige Schweigen des darin Angerufenen ihm nicht noch viel mehr sagen, als das etwaige briefliche Zugeständnis einer Verlegenheit oder Schwierigkeit, in welcher sich derselbe etwa befand? Um so mehr, als dessen uneingeschränkieste Verehrer sich noch heute in der Versicherung gefallen, er sei zeitlebens ein höflicher Mann gewesen, der nicht leicht eine Zuschrift unbeantwortet gelassen habe?18 Auch in diesem Fall hatte der Meister das seinige getan. Er durfte sich mit ruhigem Gewissen sagen, daß die Schuld nicht an ihm gelegen, wenn unter seinen Zeitgenossen eben derjenige teilnamlos sich von ihm abwandte, den er, was die Höhe seiner Ziele, die eiserne Willenskraft in seinem Ringen danach betraf, als einzig sich ebenbürtig anerkannte. ›Das Ausbleiben jeder Erwiderung hatte mich davon in Kenntnis zu setzen, daß mein Anspruch auf Verachtung in der obersten Staatsregion für anmaßend gelten zu müssen schien, [93] womit, wie ich ebenfalls ersah, man sich zugleich in dort nie aus dem Auge verlorener Übereinstimmung mit der großen Presse erhielt.‹19

Gerade in die Zeit zwischen den beiden, hier eingefügten Briefen, dem an Pusinelli gerichteten mit dem tiefen Verlangen nach Ruhe, und dem kurzabgeschnittenen Versuch, über jene ›Presse‹ hinweg in eine vorurteilsfreie Beziehung zu einem hochgestellten deutschen Zeitgenossen zu treten, fällt der, nun über einen ganzen Monat sich ausdehnende Besuch des trefflichen Kietz. Es hätte weder Sinn noch Zweck, die vielen einzelnen, mit liebevoller Natürlichkeit wiedergegebenen Züge seiner Erinnerungen, in denen die Persönlichkeit des Meisters nach allen Richtungen des täglichen Lebens ihre Strahlen wirst, in den Zusammenhang unserer Erzählung einordnen zu wollen; wir müssen den Leser dafür vielmehr an jenes liebenswürdige Erinnerungsbüchlein verweisen, wo sie in behaglicher Breite ausgesponnen sind. Auf der anderen Seite würden wir durch ein völliges Übergehen ihrer Einzelheiten unserer Darstellung keinen Dienst erweisen; gerade, weil sie einer, nach außen hin so schwer bedrückenden Zeit der Sorgen und des Nachsinnens angehören, bieten diese Züge aus dem täglichen Leben zu allem bisher Berichteten eine ganz wesentliche Ergänzung. So erfahren wir darin unter anderem von einer Erkrankung des treuen Ruß, der uns schon von den Artichauts und Triebschen her wohlbekannt ist.20 Er war zu besserer Pflege auf das Land gebracht; da aber der Befürchtung nach möglicherweise seine letzte Stunde bevorstand, fuhr die ganze Familie eines Nachmittags zu ihm hinaus, um ihn noch einmal zu sehen. Das war gerade am Tage von Kietz' erneuerter Ankunft. Nun hatte dieser aber bereits in Erfahrung gebracht, der Meister käme täglich in die kleine Bierwirtschaft von ›Angermann‹, um dort frisch vom Faß das ihm ärztlich verordnete Bier, ›Weihen-Stephan‹, zu trinken. Er begab sich also in vorgerückter Nachmittagsstunde dahin und wirklich trat nach kurzer Zeit zu seiner Freude der Erwartete ein. ›Erst sprach er von seinem kranken Hunde Ruß; dann kam er auf seinen Sohn Siegfried zu sprechen, der seine größte Freude sei, und seine Augen glänzten, als er mir von seinem Liebling erzählte. Obgleich es unterdessen spät geworden war, mußte ich ihn doch noch nach Hause begleiten. Als wir ankamen, schlief Siegfried schon; Wagner führte [94] mich aber an sein Bettchen und zeigte mir voll Stolz die schönen kräftigen Glieder des vierjährigen Knaben. Ein herzerfreuender Anblick war es, als aus dem Nebenzimmer bei unserem Eintritt vier junge Mädchen, das jüngste noch im zartesten Kindesalter, auf ihn zuflogen, sich zärtlich an ihn schmiegten, und er so herzig und lustig mit ihnen war. »Morgen, lieber Kietz,« rief er mir noch beim Abschied nach, »morgen müssen Sie zu uns zu Tisch kommen; Mittwochs ist große Kindertafel, da müssen Sie dabei sein und mich als Patriarchen sehen.« Natürlich fand ich mich ein; es war ein reizender Mittag: Wagner und Frau Cosima so herzlich und liebenswürdig und der Meister als »Patriarch« in seiner glänzendsten Laune. Mir pochte das Herz vor Freude, ihn mit der kleinen fröhlichen Schar am Tische zu sehen. Er hatte eine reizende innige Art und Weise mit ihnen umzugehen, wußte sie prächtig anzuregen und wurde von ihnen verstanden.‹21

Als passender Arbeitsraum zum Modellieren der Büste erwies sich schließlich ein soweit hergerichtetes Zimmer des im Bau befindlichen neuen Wohnhauses. Dort konnte der freundliche Künstler bequem seine Werkstatt aufschlagen, und ist somit tatsächlich der erste Bewohner von ›Wahnfried‹ gewesen, ein Umstand, dessen er sich späterhin immer gern gerühmt hat. Dort suchte ihn der Meister täglich auf, um ihm zu ›sitzen‹, was für den nie Rastenden, immer Tätigen und Beweglichen freilich nicht das rechte Element war; daher denn Kietz' Erinnerungen von den hierbei vorgekommenen verschiedenartigsten Zwischenfällen ganz erfüllt sind. War er gerade recht eifrig bei der Arbeit und wandte sich dann einmal zu seinem Gegenüber, um eine Form genauer zu verfolgen, so erblickte er wohl zu seinem Entsetzen eine fürchterliche Grimasse, mit verdrehten Augen, den Mund mit beiden Fingern weit aufgerissen, oder Wagner hatte den Kopf zurückgeworfen und sang. Auch kamen gelegentlich wohl die Kinder mit, oder der wieder genesene Ruß.22 Eines Abends (19. Juni) traf Kietz bei dem Meister mit dem Professor Nohl zusammen, der mit Grüßen von Liszt aus Weimar gekommen war. ›Am anderen Tage erzählte ich dem Meister, daß ich noch lange mit Nohl im Hotel Anker zusammengesessen, und wie außerordentlich interessant die Unterhaltung mit ihm gewesen wäre. Er hörte das stillschweigend an, aber in den nächsten Tagen kam die Wirkung davon heraus. Er behauptete nämlich, um meine Begeisterung für Nohl zu dämpfen,23 daß ich beim Modellieren nur noch an Nohl dächte, und sagte [95] beim jedesmaligen Eintritt zur Sitzung, während er wie verwundert den Kopf schüttelte: »Merkwürdig, die Büste wird Nohl immer ähnlicher – der ganze Nohl!« – obgleich Professor Nohl auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihm hatte. Endlich, als er wohl merkte, daß mir die Wiederholung fatal zu werden anfing, sagte er eines Tages: »Jetzt hat er den Nohl heraus, jetzt bin ichs wirklich!«‹ Ein anderes Mal (3. Juli) wurden der Meister und Kietz direkt von der Sitzung durch Feustel mit seinem Wagen auf den Riedelsberg abgeholt, weil das historisch politische Kränzechen heute dort seine Zusammenkunft hatte. ›Ist das ein prächtiger Mann!‹ ruft Kietz bei Feustels Anblick aus. ›Man braucht nur in seine klaren, von Herzensgüte und Treue leuchtenden Augen zu sehen, um ihm sofort anzugehören.‹ Und so freute es den bescheidenen Künstler, daß Feustel seine Arbeit im Ausdruck wie in der Ähnlichkeit belobte und sich warm darüber aussprach. Auf dem schönen Riedelsberg trafen sie die Herren Muncker, Dittmar, Rektor Großmann u.a.m., und es wurde mit sichtlicher Genugtuung aufgenommen, daß Kietz, bevor er sich setzte, sein Glas mit den vorschriftsmäßigen Worten erhob: ›Es lebe der deutsche Kaiser!‹ (S. 7) Durch Kietz' sächsische Herkunft kam in der lebhaften Unterhaltung die Rede auf die Dresdener ›Revolution‹ und einer der Herren fragte Wagner: ›Was waren das eigentlich für Leute, die sich daran beteiligten?‹ Aller Augen hätten gespannt auf den Meister geblickt, und dieser ironisch geantwortet: ›Das waren Leute wie Kietz hier und ich. Mir war es ganz gleich, wer regierte, ob die Herren unten oder oben; mir war es einzig um meine Reformpläne und Verbesserungen für meine Musiker und meine Kunst zu tun.‹ Die Herren, so erzählt Kietz weiter, hörten mit größter Spannung auf jedes Wort, was von Wagner und mir über jene Periode gesprochen wurde und da man sich nicht entschließen konnte, dieses Thema abzubrechen, so wurde erst sehr spät an den Aufbruch gedacht. ›Herr Feustel hatte für den späten Abend seinen Wagen wieder zur Heimfahrt bestellt; er wurde aber von mehreren anderen Herren benutzt, da er, wie Wagner und ich, es vorzogen, den Weg gemeinsam zu Faß zurückzulegen. Mir war das sehr recht, da jeder Meinungsaustausch der beiden Herren für mich von höchstem Interesse war Wagner kam nochmals auf die Tage der Revolution zu sprechen und erzählte, daß er bei der Rückkehr in seine Wohnung nach Friedrichstadt, während der unausgesetzten Beschießung des Turmhauses (jetzt Webers Hotel), einen Umweg über den Freiberger Platz hätte einschlagen müssen. Als er dabei über die Barrikade an der Annenkirche gestiegen, hätte ihm ein stattlicher Bürger plötzlich zugerufen: »Herr Kapellmeister, der Freude schöner Götterfunken hat gezündet!« – »Das war sehr sonderbar«, [96] fügte Wagner hinzu, es war ein Ausdruck, der mir schon aus frühester Zeit an ihm bekannt war.‹24 ›Als ich‹, so fährt Kietz in seiner Erzählung fort, ›im September wieder nach Bayreuth kam, sagte mir Feustel, dies wäre der interessanteste Abend im Klub gewesen.‹25 – Auf den regelmäßigen Spaziergängen des Meisters, die meistenteils auf das Festspielhaus mündeten, war damals Kietz sein ständiger Begleiter, und weiß manch köstliche Episode davon zu berichten. Auch bei Angermann tat er dem ›Weihenstephan‹ in Gesellschaft Wagners gern die Ehre an. Bei rauhem Wetter, wenn die Feuchtigkeit des Neubaues empfindlicher zu spüren war, wurden die Sitzungen zuweilen abgekürzt, um zu ›Angermann‹ zu gehen. Ein enger Flur führte in diesem nachmals weltberühmt gewordenen Lokal nach rechts und links in höchst bescheidene, enge und niedrige Gastzimmer, die jedem älteren Bayreuthbesucher noch erinnerlich sind; im ersten Stock gab es wohl u.a. auch einen größeren Saal, aber ebenfalls ohne den mindesten Anschein von Luxus, man saß dort, wie in den unteren Räumlichkeiten, auf einfachen Bänken an langen Tischen aus ganz primitivem weißen Holz. Im unteren Zimmer links war des Meisters regelmäßiger Platz, es war immer vollgeraucht und von Bayreuther Bürgern, auch Militärs im bayrischen blauen Rock, gefüllt; Ruß lag – als treuer Wächter – meist quer vor dem Eingang, so daß die Eintretenden über ihn stolperten, Wagners hellgrauer Paletot aber irgendwo auf einer Bank, und fremde Leute saßen darauf. Aber es war eben ›Angermann‹ und der ›Weihenstephan‹, was den Reiz ausübte.

Nach vier- bis fünfwöchentlichem Verweilen verließ Kietz Bayreuth mit dem festen Versprechen, im September wiederzukommen, um dann, auf Wagners Wunsch, auch die Büste seiner Gemahlin in Angriff zu nehmen. Aus seiner eigenen Büste mache er sich nicht viel, sagte der Meister, an der Büste seiner Frau läge ihm alles. Bald darauf traf Liszt ein, zu dem versprochenen längeren (zehntägigen) Besuch. Es gab schöne gemeinsame Ausflüge und Spaziergänge, z.B. nach Eremitage26; das Hauptereignis während seiner Anwesenheit aber war die Hebefeier des Dachstuhles am Bühnenfestspielhause. Die Feier war, nach althergebrachter Sitte, in erster Reihe ein Arbeiterfest; weiterhin war eine Beteiligung der Mitglieder des Bayreuther lokalen Wagnervereins in Aussicht genommen; endlich hatte es der Meister nicht unterlassen, ihr Stattfinden auch öffentlich in vier Hauptzeitungen anzukündigen (deren Auswahl er Feustel überließ), für diejenigen auswärtigen Freunde und Gönner, welche eben auf Reisen und Sommerausflügen in der Nähe des Ortes sich befinden mochten. Ursprünglich war der Zeitpunkt dafür in Übereinstimmung [97] mit den Werkmeistern auf Sonnabend den 27. Juli fixiert gewesen; da aber Feustel gerade um diese Zeit in dringenden Geschäften verreisen mußte, wurde sie um eine Woche, auf den 2. August, verschoben.27 Es war ein ausgesucht prächtiger Sommertag, an welchem der bedeutungsvolle Akt unter lebhafter Beteiligung der ganzen Bevölkerung vor sich ging. Fremde waren dazu nicht eingetroffen, selbst nicht Heckel, so nahe dieser durch seine verdienstliche Tätigkeit den Männern des Verwaltungsrates stand; die Anzeige in den Zeitungen war von ihm, wie von den meisten, übersehen worden.28 Bei herrlicher Abendwitterung strömte in Scharen die Einwohnerschaft nach dem Bauplatz hinaus. Im Malersaal hinter dem Theaterbau hatte sich der Wagner-Verein versammelt und in Begleitung der Herren des Verwaltungsrates, der Vereinsmitglieder und Werkmeister stieg gegen halb sieben Uhr abends der Meister das Gerüste hinan bis unter das Dach, wo die Kapelle des garnisonierenden Chevauxlegers-Regiments Posto gefaßt hatte. Auf demselben lustigen Platze hatten sich zugleich mit dem Meister auch seine Gemahlin mit den Kindern und Liszt eingefunden. Der erste Hebespruch war einem der an dem Bau beteiligten Arbeiter (Zimmerpolier Hoffmann) anvertraut. Die drei Strophen waren vom Kirchenrat Dittmar gedichtet und schlossen refrainartig mit Hochrufen auf Wagner, auf die Werkmeister und das vollendete Werk Wagner hatte aber die erste, auf ihn selbst bezügliche, gestrichen und sie durch ein Hoch auf den ›deutschen Geist‹ ersetzt, so daß sie folgendermaßen lautete:


Nun setzten wir aufs Haus das Dach, bewahr' es Gott vor Sturz und Krach!

Lass' ich jetzt den Bauherrn leben, welchen Namen soll ich ihm geben?

Ob Wagner oder seine Patrone, oder gar der im Lande trägt die Krone?

Der sich als besten Bauherrn erweist, es lebe, so ruf' ich, der deutsche Geist! Hoch!


Vom Rande des Gerüstes aus wurden alle drei Strophen mit kräftiger Stimme aus der Höhe in die Tiefe hinabgesprochen; bei jedem der drei aufeinander folgenden ›Hoch!‹ leerte der Sprecher das inzwischen gefüllte Weinglas und schleuderte es nach dem letzten Ruf in weitem Bogen über das Gerüst hinaus. Die Musik intonierte den Choral: ›Nun danket alle Gott!‹, in welchen alle Anwesenden einfielen. Dann trat der Meister selbst an den Rednerplatz. Seine gereimte Ansprache wies darauf hin, daß das Vertrauen den Bau errichtet und den Plan dazu entworfen:


Es vertraute Einer auf deutsches Wesen; nun hört, ob er damit unglücklich gewesen!

In langen Jahren schuf er sein Werk, ihm gab das Vertrauen Kraft und Stärk':

Und daß er sein Werk getrost vollende, reicht' ein König ihm selbst die Hände.

Im bayerischen Frankenland bot ihm der Bürger nun auch die Hand;

[98] Und hatt' er auf sich selbst vertraut, Vertrauen nun auch das Laus ihm baut,

Darin sein Werk aus seinem Plan nun deutlich auch tret' an die Welt heran. –

Drum sag' ich, der Grund, auf dem wir bauten, ist, daß mir Bayreuths Bürger vertrauten.


Der tiefe Ernst in seinen Worten bemächtigte sich schnell aller Herzen. Jeder der am Bau Mitwirkenden, vom Baumeister Brückwald bis zum Zimmermeister Weiß und dem Maurermeister Wölfel bekam außerdem sein Teil an humoristischem Dank, nur der junge tüchtige Bauführer Runckwitz, den er sonst sehr gern hatte, nicht; auf seinen Namen, sagte er später, habe er keinen Reim finden können.29 Und als nun der Meister mit einem schallenden Hoch auf die freundliche Stadt endete, die dort unten zu seinen Füßen mit ihren Türmen im lieblichen Maintal gelagert, beschienen von dem rötlichen Licht der sinkenden Sonne, umrahmt von den im sommerlichen Abendduft sanft verschleierten Bergen, ihre stillen Straßen und Häuser ausbreitete, und der Vorstand des Wagner-Vereins zum Schluß ihn selber leben ließ, rang sich aus aller Brust der allgemeine jubelnde Hochruf hervor. Es war für alle Teilnehmer ein herzergreifender Augenblick. Noch einmal schüttelte Richard Wagner den umstehenden Männern die Hand, dann trat man, durch das Gerüstwerk hinab, den Rückweg an, und die Feier war zu Ende. Auf kurze Zeit begab sich der Meister mit seiner Gemahlin und Liszt noch auf die von den Bewohnern der Stadt dichtbesetzte Bürgerreuth oberhalb des Bauplatzes; im Genusse des erquickenden Abends ward hier noch manch herzliches Wort gewechselt, bis die allmählich eintretende Kühle zum Heimweg zwang Zuvor aber machte er auch noch dem im Malersaal zunächst dem Theaterbau bewirteten Arbeiterpersonale einen Besuch. Hier waren lange Tische und Bänke aufgeschlagen, an denen es sich die rüstigen Männer nach Schweiß und Mühe bei klingendem Spiel wohl sein ließen.30 Auch hier Jubel und Hochrufe, sobald der Meister sich zeigte, bis er sich den ihm dargebrachten Huldigungen entzog und unter den Klängen der ›Rienzi‹-Ouvertüre den Festplatz verließ, auf welchem unter Feuerwerk und Gesang der Jubel bis tief in die Nacht hinein fortdauerte.

Wenige Tage später (am 5. August) reiste Liszt wieder ab, um sich von Bayreuth zu seinem alten Freunde, dem Fürsten von Hohenlohe-Schillingsfürst[99] zu begeben. Für den 8. lag eine, durch Feustel vermittelte Einladung der ›Kranzbrüder‹ zu einem Ausfluge vor; es war dem Meister nicht möglich, ihr Folge zu leisten ›Viele ernstliche Sorgen, wie sie überhaupt keine, noch so angenehme Landpartie verscheuchen können würde, nehmen mich ein und fordern, daß ich ihnen nicht ausweiche‹. Insbesondere drängte ihn der, durch einen Leipziger Setzerstreik verzögerte, Druck des neunten (und letzten) Bandes der ›Gesammelten Schriften und Dichtungen‹. Er war seit Jahren gewohnt, dem König zu seinem Geburtstage eine Sendung aus seinen Werken oder Schriften zu machen. Das Jahr zuvor war es das Manuskript der Komposition des eben vollendeten dritten Aktes der ›Götterdämmerung‹ gewesen (S. 22); diesmal sollte es ein Prachtexemplar des 9. Bandes der Schriften sein; um es aber noch rechtzeitig zu erhalten, es einbinden und nach München versenden zu können, hatte er die Bedingung umgehender Zurücksendung der Revisionsbogen eingehen müssen, so daß er sich mindestens für drei Tage als Gefangener seiner Arbeit betrachten mußte. Das begleitende Gedicht (›Ein neues Werk nicht, was ich heut' Dir sende‹) verglich die neun Bände der ›Gesammelten Schriften‹ mit den sibyllinischen Büchern des alten Rom:31


›Neun Bücher bot dem König Roms Sibylle,

Neun biet ich Dir: erfülle sie Dein Wille!‹


Der Vollständigkeit wegen erwähnen wir an dieser Stelle auch den Versuch, durch den bereits einmal genannten Hofrat Hemsen in Stuttgart (S. 40) auf die förderliche Gesinnung des Königs von Württemberg einzuwirken. ›Reißt der eine Faden, so spinne ich einen andern‹, das gilt auch von dieser Anknüpfung. Ihm war von der Teilnahme des württembergischen Monarchen in so hoffnungerweckender Weise berichtet worden, daß er es an dieser Bemühung nicht fehlen lassen wollte. ›Ich wünschte‹, so heißt es in dem an Hemsen gerichteten Briefe (vom 12. September 1873), ›zu diesem Zweck eigens eine Reise nach Stuttgart zu unternehmen, finde mich aber durch die dringendsten Geschäfte und Besorgungen so fortgesetzt von der Ausführung meines Wunsches abgehalten, daß ich, für jetzt auf die hohe Ehre einer Audienz bei Seiner Majestät verzichtend, es vorziehen muß, zum Vortrage meines Anliegens Sie, hochgeehrter Herr, zu bewegen zu suchen. Muß ich gänzlich darauf verzichten, unseren konstituierten Staatskörpern Teilnahme, ja nur Verständnis meines, mit den Bühnenfestspielen zu Bayreuth verbundenen Vorhabens zu erwecken, und darf ich mich hierfür nur an die näheren Freunde meiner Kunst und ihrer Tendenzen wenden, so kann das Unternehmen doch nur dann seine wahre Weihe erhalten, wenn die Teilnahme der deutschen Fürsten ihm auch die Würde einer im edelsten Sinne nationalen Tendenz zuführt.‹ Vergeblich [100] haben wir indeß im Verzeichnis der ausgegebenen Patronatscheine nach dem hiermit angerufenen fürstlichen Gönner uns umgesehen, so daß es scheint, als wenn er sich schließlich – trotz anfänglicher Willigkeit – durch irgend einen anderen Einfluß bestimmt, der an ihn ergangenen Einladung gegenüber unzugänglich gezeigt habe. Man darf nicht vergessen, daß in der württembergischen Residenz – Herr Professor Wilhelm Lübke, ein Gesinnungsgenosse des Leipziger Kollegen Otto Jahn, seinen Sitz hatte und auch außerhalb des durch ihn vertretenen Gebietes der bildenden Künste sich bei Hofe der Gunst eines autoritativen Beraters in Kunstangelegenheiten überhaupt erfreute!!

In dieser beginnenden Herbstzeit führte die alte Freundin Malwida von Meysenbug eine Idee aus, die ihr seit der Verheiratung ihrer Pflegetochter Olga Herzen mit Prof. Monod (S. 77) vorgeschwebt hatte: sie brach ihren bisherigen Florentiner Aufenthalt ab, den sie in der plötzlichen Vereinsamung nicht zu ertragen fähig war und siedelte (17. Aug.) nach Bayreuth über ›In dem Lichtglanz‹, so erzählt sie selbst, ›den die Grundsteinlegungstage über das Städtchen im Bayernland ergossen, erschien mir kein Ort so geeignet, meinem Alter eine Heimat zu werden, als diese, der hohen Kunst geweihete Stätte. Ich kam nach Bayreuth, nicht nur um der mir so innig befreundeten Familie des großen Meisters nahe zu sein, sondern fortan auch ganz in der idealen Kunstsphäre zu leben, die sich durch ihn und um ihn dort entwickeln sollte. Von Wagner liebevollst empfangen, richtete ich mich häuslich ein und gedachte hier den Rest meines Lebens zu verbringen Dort, den Freunden verbunden, im engsten Familienkreis mit ihnen verkehrend, schien mir die glücklichste Wahl getroffen‹ Leider war für einen derartigen Ortswechsel nicht die richtige Jahreszeit gewählt. Sie hatte den Sommer auf der Insel Ischia verbracht, wo sie mit gutem Erfolg die Heilquellen benutzt hatte und kam nun, nachdem sie in Florenz noch einige Zeit mit den Vorbereitungen zur Übersiedelung beschäftigt gewesen, gerade zum Beginn der rauhen Jahreszeit in das ihr ungewohnte Bayreuther Klima. Die Folgen davon sollten nicht ausbleiben und zeigten sich im Lauf des Winters in einem zunehmend belästigenden Kopfleiden, das sie am Ende ganz von dort vertrieb.

Der Beginn des September brachte noch einen weiteren überraschenden Besuch in dem französischen Freunde Eduard Schüré, den es seit Triebschen und der politischen Spannung durch den Krieg zum ersten Male wieder drängte, den Meister persönlich aufzusuchen und acht Tage in dessen neuer Heimat mit ihm zu verbringen Kurze Zeit nach ihm (6. September) stellte sich auch Freund Kietz, inzwischen zum Dank für sein gelungenes Uhland-Denkmal von der Universität Tübingen zum Ehrendoktor der Philosophie ernannt, auf das pünktlichste wieder ein Seine erste Sorge war, sich zu überzeugen, ob in dem Neubau inzwischen die Fensteröffnungen verglast seien. Es war in dem naßkalten Sommer oft ein böses Arbeiten in dem zugigen Raume gewesen, er [101] hatte daher stets den Plaid auf dem Rücken gehabt und Wagner und er dabei gleichmäßig gefroren. ›Ich wollte also sehen, wie weit alles vorgeschritten wäre, ob ich diesmal einen wärmeren und geschützteren Arbeitsraum haben würde. Dabei dachte ich weniger an mich, als an Frau Cosima, da ich schon im voraus wußte, wie pflichteifrig sie mir Modell stehen würde, um ihrem Mann eine Freude zu machen. Ich traf dort Wagner, der mich aufs herzlichste begrüßte, trotzdem er in ärgster Aufregung wegen allerlei Fatalitäten war. Er lud mich auch sofort für den Abend ein.‹ Es gab ein angeregtes Zusammensein. Malwida, Schüré, der Dekan Dittmar, Feustel und Kietz, wobei der Meister, wie gewöhnlich, die Hauptkosten der Unterhaltung trug Zwei Tage später ging in Kietzens Werkstatt die erste plastische ›Sitzung‹ vor sich, um sich von nun ab, der kurzen Zeit wegen, die ihm dafür zu Gebote stand, zweimal täglich, vormittags und nachmittags, zu wiederholen. Kietz sagte dabei dem Meister, er hätte Bayreuth in diesem Sommer in einer Beziehung sehr unbefriedigt verlassen: da er nämlich gar nichts von seinen neueren Arbeiten gehört und kennen gelernt hätte. Sofort wurde derselbe Abend (8. Sept.) zu einer musikalischen Beschäftigung bestimmt, an welcher wiederum Schüré und Malwida als Zuhörer sich beteiligten. ›Zu meiner größten Freude‹, so erzählt Kietz, ›kamen nach dem Abendessen die Herren Musiker aus der Nibelungenkanzlei (Zumpe und Anton Seidl), mit denen ich in der Eremitage zusammengetroffen war, und wir gingen hinauf in das Musikzimmer. Es wurden hohe Lampen gebracht und auf den Flügel gestellt; Wagner holte die »Meistersinger« aus der Bibliothek und setzte sich mit Zumpe zum Spielen hin. Im dritten Akt mußte Seidl seine Stelle einnehmen. Da hielt er manchmal arge Strafreden, es mußte alles wiederholt werden und es war zum Erstaunen, wie anders dann alles klang! Später nahm er den zweihändigen Klavierauszug, spielte und sang Sachs: »Wie duftet doch der Flieder«, und darauf, ungeheuer komisch, den Beckmesser. Das war für mich ein höchst interessanter Abend und rührend die Bereitwilligkeit Wagners, mir sofort eine Freude zu machen.‹

Bald nach dem Künstler selbst kam auch seine fertige Arbeit, zwar noch nicht in ihrer definitiven Gestalt als Marmorbüste, aber doch als Gipsabguß nach dem Modell, unversehrt am Ort ihrer Bestimmung an und erregte allgemeine Befriedigung. Ohne Zögern war er inzwischen an seine neue Aufgabe geschritten. ›Frau Cosima steht mir musterhaft Modell,‹ heißt es in den brieflichen Nachrichten des Künstlers an seine Frau, ›sie ist (in dieser Beziehung) das gerade Gegenteil von Wagner, da ist es denn eine wahre Lust zu arbeiten. Es scheinen sich alle über die Arbeit zu freuen‹ ... ›Heute früh war ich allein, da habe ich die Zeit benutzt und Kopf und Hals der Büste im Charakter bewegt, worauf ich vorher keine Rücksicht nehmen konnte, da ich anderes zu beobachten hatte Wagner war immer ganz unruhig über den [102] starren Hals und sagte wiederholt: »Den Hals bringt er aber doch nicht.« Als Frau Cosima mit Fräulein v. Meysenbug heute nachmittag kam, gefiel ihr die Bewegung der Büste sehr. Später kam Wagner und rief: »Jetzt hat er den Schwanenhals!« Dann stieß er staunend so wunderliche Töne aus, daß wir alle laut lachen mußten. Er war den ganzen Nachmittag im höchsten Gluck, stand immer hinter mir, krabbelte mir in den Haaren und sagte dabei: »Der gute Kietz! Der gute Kietz!« Ich glaube selbst, eine größere Freude kann ihm kaum jemand machen, als ich, wenn mir die Arbeit gelingt. Eine besondere Freude war es für mich, das geöffnete schöne volle Haar Frau Cosimas zu sehen, wenn sie es selbst nach meinen Angaben ordnete. – Am Abend kam die Belohnung für mich Wagner war in fröhlichster Laune; er hatte wieder Seidl und Zumpe nach dem Abendessen bestellt. Erst wurden wieder die »Meistersinger« vorgenommen: das Arrangement zu vier Händen war gerade am Nachmittag aus Mainz32 angekommen und sollte nun teilweise probiert werden Seidl und Zumpe spielten das herrliche, wundervolle Quintett, die Aufzüge und Tänze und, zur allgemeinen Belustigung, die Prügelei, bis der Mond aufgeht und der Nachtwächter kommt. Wagner griff selbst von Zeit zu Zeit mit in die Tasten. Später aber kam für mich das Neueste, Schönste, mir noch Unbekannte: Wagner holte die Nibelungen und spielte selbst aus seinen Manuskripten, die an sich schon interessant genug zu sehen waren! Mit der »Götterdämmerung« begann er, beschrieb die ganze Szenerie und spielte und sang dazu Zuerst den Hagen, Hagens Hochzeitsruf, Gutrune, die Rheintochter, dann ganz erschütternd Siegfrieds Tod und zum Schluß mit unsagbarem Ausdruck die bis ins Innerste ergreifende Trauermusik. Der Eindruck läßt sich nicht in Worte fassen; es existiert nichts, was man damit vergleichen könnte. Es ist alles überlebensgroß gedacht und behandelt, neben der größten Kraft die wunderbarste zarteste Schönheit. Der »Hagen« hatte ihm den Rest gegeben, er mußte sich vollständig umziehen. – Ich dachte mit großer Sorge daran, daß er sich geschadet haben könnte und den anderen Tag – nach diesen kolossalen Anstrengungen sicher krank sein würde und war daher erstaunt und seelenfroh, als er am anderen Morgen ganz heiter zu mir hereintrat, um mir bei der Arbeit zuzusehen. Er versicherte mir, daß diese Anstrengungen nur ein außerordentliches Wohlbefinden bei ihm hervorgebracht hätten. Man staunt immer von neuem, was für eine wunderbare, begnadete Kraft in diesem Manne lebt. Möge ein gütiges Geschick sie ihm noch lange, lange Jahre erhalten!‹33

Die fortgesetzten Modellsitzungen bewirkten, daß täglich ein gut Teil Lebens sich in Kietz' Nähe abspielte, weshalb seine Erinnerungen an kleinen [103] ernsten und heiteren Begebenheiten reich sind Wir wollen hier nur noch eines ebenfalls in diese Zeit fallenden Besuches von Anton Bruckner gedenken. ›Als ich gestern Nachmittag bei meiner Arbeit noch allein war, brachte der Diener Wagners ein Fäßchen Bier herein. Ich frug: »Was soll das?« und er antwortete: »Es kommt Besuch.« Nicht lange darauf kamen Wagner, seine Frau und ein kleiner Herr, den mir Wagner als Herrn Anton Bruckner, Komponisten aus Wien vorstellte. Da ich mit meiner Büste, zu der mir Frau Cosima stand, beschäftigt war, achtete ich nicht viel auf die Unterhaltung; ich hörte nur, daß von Musik gesprochen wurde, der fremde Herr von der Begeisterung der Wiener über den »Lohengrin« erzählen wollte, und Wagner immer abwehrend sagte: »Ach, lassen Sie das, ich kenne das, da kommt ein Schwan mit einem Ritter, das ist einmal etwas Neues hier, trinken Sie lieber, das ist ein herrlicher Trank, Weihen-Stephan« und dabei hielt er ihm ein großes volles Glas hin – »auf Ihr Wohl!« – »Um Gottes willen, Meister, das kann ich ja nicht, es wäre mein Tod, ich komme soeben aus Karlsbad!« – »Ach was,« rief Wagner, »das macht Sie gesund, trinken Sie!« Und er schenkte von neuem das Glas voll, und der gute Bruckner trank und trank, trotz Jammer und Gegenwehr, die seine musikalischen Gespräche immer von neuem in komischer Weise unterbrachen. Ich mußte über die drollige Szene lachen und Frau Cosima sagte lächelnd zu mir: Das ist ein echtes Wiener Kind.‹ Aber die drollige Szene hatte ein fast noch drolligeres Nachspiel. Bruckner hatte dem Meister eine seiner Symphonieen dedizieren wollen, und ihm zu diesem Zweck drei derselben zur Auswahl gesandt. Und nun konnte er, über dem vielen von ihm genossenen ›Weihen-Ste phan‹, sich um keinen Preis darauf besinnen, welche davon Wagner denn eigentlich gewählt habe? Als ein unglücklicher, geschlagener Mann fühlte er sich, als er am andern Morgen früh, im ›Anker‹, Kietz beim Frühstück traf und wußte sich dann vor Glück nicht zu lassen, als er durch diesen, der nur halb auf das Gespräch hingehört, darauf gebracht wurde, es dürfte wohl die D moll- Symphonie gewesen sein.34

Und noch einen letzten bedeutungsvollen Zug führen wir hier aus Kietz' Aufzeichnungen an, wie er ihn damals, unmittelbar nach dem Leben, in brieflicher Mitteilung niedergeschrieben. ›Da es jetzt immer sehr unfreundliches Wetter ist, wollte ich Frau Cosima nicht so oft zu mir bemühen, aber doch gern weiterarbeiten, und so bat ich Wagner, mir eine Photographie von seiner Frau zu leihen. Nach einigem Nachsinnen und mir wie prüfend in die Augen sehend, zog er das gewünschte Porträt aus der Tasche und gab es mir mit den Worten: »Hier, mein lieber Kietz, ist was Sie wünschen. Ich bitte aber, daß Sie das Bild niemand zeigen und es heilig halten. Was es für mich [104] ist, kann ich nicht aussprechen bewahren Sie mir es gut!« Und nun sprach er, an die alten gemeinsam verlebten Zeiten anknüpfend, von dem überreichen Glück, das er an der Seite dieser so hochstehenden Frau, in ihrer edlen, ihn unendlich beglückenden Liebe und dem vollen Verstehen seiner Werke und Ziele gefunden. Nie würde er vergelten können, was sie alles an Leid für ihn auf sich genommen habe.‹

Um diese Zeit erschien denn endlich auch, durch ein Augenleiden des Verfassers verzögert, Nietzsches Schrift über ›David Strauß‹, als erstes Stück jenes hoffnungsvoll von ihm unternommenen Zyklus ›Unzeitgemäßer Betrachtungen‹ Bereits hatte sich Wagner bei vorkommender Gelegenheit ermunternd gegen ihn vernehmen lassen: ›In betreff Ihrer Straußiana empfinde ich nur die Pein, daß ich sie gar nicht erwarten kann; also heraus damit!‹ Nun waren sie da, und stolz erstattet der Verfasser seinem Freund Gersdorff über das Urteil Bericht, das ihm der Meister in einem ›herrlich heiteren Briefe‹ (vom 21. September) über seine Straußiade ausgesprochen: ›Ich schwöre Ihnen zu Gott, daß ich Sie für den Einzigen halte, der weiß, was ich will!‹35 Im übrigen enthält dieser ›heitere Brief‹ trotz allen Humors seiner Abfassung doch eigentlich nur sehr Ernstes. Über seine Gesundheit heißt es darin: ›Mein Arzt versichert mir immer, ich sei ein unverwüstlich gesunder Mensch, während ich durch den Tag und die Nacht mich mit elenden Zuständen dahinschleppe, von denen er lächelnd behauptet, daß seien die ganz gewöhnlichen Leiden des »Genies«. Nun, Gott gebe, daß Ihr Medikus ein weniger enthusiastisches Wesen sei!‹ Wer möchte sich jene ›elenden Zustände‹ aber nicht aus dem Allgemeinbefinden erklären, dessen Mißlichkeit nicht durch einen störenden Mangel des eigenen stählernen Organismus, sondern durch das Verhalten der Mitwelt und alle daraus erwachsenden Hindernisse bedingt war? Auch diese werden in demselben Briefe deutlich genug bezeichnet. ›Seit 3. Mai habe ich nun angefangen, an der »Götterdämmerung« zu instrumentieren: und wie weit glauben Sie, daß ich es gebracht habe? Derjenige Tag, an welchem ich einmal eine Seite Partitur zustande bringe, verdiente in meinem Lebenskalender jedesmal rot angestrichen zu werden. Kaum setze ich einmal an, so kommen »Briefe« oder sonstige liebliche Nachrichten, aus denen Nötigungen zu neuen Erfindungen für den Verkehr mit der Welt entstehen, welche dann meine ganze arme »geniale Phantasie« einnehmen!‹36

Diese Nötigungen sind am besten aus dem ganzen Stande der damaligen Angelegenheit zu erkennen. Und mit dessen Betrachtung kehren wir, nach so mancher heiteren oder ernsten Episode dieses Kapitels zu dem vollen Ernst der Situation zurück, in welchem das Unternehmen sich damals befand. Sein erster Aufruf hatte, genau betrachtet, eine Anfrage an das deutsche Publikum [105] enthalten, ob es tausend Kunstfreunde in sich schließe, denen es durch günstige Vermögensverhältnisse gestattet sei, mit einem Opfer von je 300 Talern sich zu Patronen seiner Unternehmung zu er klären. War es möglich, die geforderte Smmme, wie dies bei Aktienausschreibungen oder Staatsanleihen geschieht, prompt gezeichnet und eingezahlt zu erhalten, so war die Ausführung seiner Absicht ebenfalls gesichert. Hiergegen stellte die Erfahrung heraus, daß der Charakter des deutschen Publikums eine so einfache Beantwortung seiner Frage nicht zuließ. Der vermögende Teil derselben, namentlich die wirklich Reichen, für deren Verhältnisse der geforderte Betrag überhaupt gar kein Opfer bedeutet haben würde, fand weder in einer persönlichen Neigung für seine künstlerischen Leistungen und Tendenzen, noch weniger aber in dem Geist der von der Zeitungspresse geleiteten ›öffentlichen Meinung‹ einen bestimmenden Antrieb zur Beteiligung. Während namentlich auch die politischen Kreise des Reiches von seinem Gedanken völlig unberührt blieben (wofür wir das hervorragendste Beispiel soeben noch wahrnahmen!), hatte sich hingegen der unvermögendere Teil des Publikums auf dem Wege der Vereinsbildung um die Förderung seiner Zwecke verdient gemacht. Aber auch hier fehlte die eigentlich kräftige Klarheit, die allein zur Betätigung im rechten Sinn drängen konnte Wir haben gesehen, daß ein einflußreicher Berliner Verein dieser Art, während die wahre Aufgabe noch völlig ungelöst blieb, die Hälfte seiner Einnahmen für Lokalzwecke bestimmte (S. 72), während dem Meister andererseits gemeldet wurde, daß einige namentlich außerdeutsche – Vereine Kapitalien anlegten, welche nicht nur zur Bezahlung des vermeintlichen ›Eintrittspreises‹, sondern selbst zur Bestreitung der Reisekosten ihrer Mitglieder dienen sollten! Solchen Abirrungen von der ursprünglichen einfachen Patronatsidee gegenüber hatte er sich schon unterm 30. August in einem ausführlichen, an seine Patrone gerichteten Schreiben dahin ausgesprochen, daß er ›in der Tat die ihm, durch die Benennung jener Vereine nach seinem Namen erwiesene Ehre fernerhin durchaus würde ablehnen müssen,‹ sobald die Tendenz für lokale Nebenzwecke aller Art und nicht für das Zustandekommen seiner Unternehmung von ihnen beibehalten würde; daß es sich ferner nicht um einen, zu beliebiger Zeit, womöglich kurz vor den Aufführungen zu entrichtenden ›Eintrittspreis‹ handele, sondern nach dem Ausweis des Rechnungsführers spätestens im Monat Oktober bedeutende Zuflüsse nötig seien, um einer Stockung der Arbeiten vorzubeugen.

Bereits dieses Rundschreiben vom 30. August enthielt zugleich eine Einladung an seine Patrone und Gönner, sich am letzten (31.) Oktober d. J. zu einer beratenden Versammlung in Bayreuth zusammenzufinden und ihm bis Ende September eine Benachrichtigung darüber zukommen zu lassen, ob sie sich zu diesem Termin persönlich an Ort und Stelle einzufinden, oder von welchem hierzu sich bereit erklärenden Patrone sie sich bei diesem Besuch vertreten [106] zu lassen beabsichtigten. Die Aufforderung zu einer weitverbreiteten Nationalsubskription war dabei wesentlich mit ins Auge gefaßt; nur wünschte er begreiflicherweise nicht, daß dieselbe von ihm oder dem Verwaltungsrat, sondern von einem Konsortium einflußreicher Männer aus verschiedenen deutschen Orten ausginge. Und hier war es namentlich der bereits erwähnte, Feustel befreundete, Hamburger Bankier Zacharias (S. 67), auf welchen der Meister rechnete. In jenen hochgehenden Tagen seines dortigen Besuchs hatte dieser allein in der begüterten Hamburger Gesellschaft – und wie leicht hätte ihm das der Natur der Sache nach fallen müssen! – 20 Patronatscheine unterbringen wollen, und außerdem die weitreichendsten Pläne zur Begründung eines umfassenden Nordwestdeutschen Wagner-Vereins auseinandergesetzt. Dies war noch an dem letzten, in seiner gastlichen Häuslichkeit verbrachten Abend (24. Jan) geschehen; aber weder aus dem einen noch dem anderen bisher sehr viel geworden Anstatt der für sicher geltenden 20 Patronatscheine hatte er alles in allem in der ganzen Hamburger Ortsgruppe mit all ihren vermögenden Angehörigen deren nur 10 ermöglichen können, und die geplante Vereinsorganisation im großen Stil war überhaupt nicht zustande gekommen. Die Ungunst der Verhältnisse war zu groß und seine Anknüpfungen erfolglos geblieben. Einstweilen hatte er in Aussicht gestellt, für den 15. Oktober eine Vorversammlung der Patrone einzuberufen. Es war anzunehmen, daß sich bei dieser Versammlung jenes Patronats-Konsortium bilden würde. Entschloß sich dieses zu eigener Zeichnung bedeutender Unterstützungen, so fiel ihm mit gutem Fug auch das Recht zu, sich in einem Aufruf an das deutsche Publikum zu wenden, um zur Befolgung seines Beispiels aufzufordern.37 Auch Heckel war seitens des Meisters als Mitglied dieses Konsortiums vorgeschlagen, ihm sollten noch eine Reihe anderer Befugnisse zuerteilt werden Bereits am 12. Oktober erhielt er jedoch die telegraphische Anzeige von dem Unterbleiben der Hamburger Konferenz Herr Zacharias, der sie zuerst angeregt und mit dem Wagner eingehend darüber korrespondiert hatte, hielt sich – plötzlich – nicht für berufen, sie anzuberaumen und zu organisieren. Das ganze vielversprechende Anerbieten löste sich in eitel Nichts auf.38

So stand die Sache um die Mitte Oktober, und wir können uns damit noch nachträglich den Kietzschen Passus (S. 102) erklären, er habe den Meister ›in ärgster Aufregung wegen allerlei Fatalitäten‹ gefunden. Schlimmer, als hiermit geschehen, konnte er nicht von allen Seiten im Stich gelassen werden! Alles Folgende war nur die weitere Konsequenz des bis hierher Erlebten. Ganz und gar blieb der große Reformator der deutschen Kunst auf sich allein angewiesen, denn seine nächsten Freunde gehörten nicht der Öffentlichkeit an, sie gehörten zu ihm selbst. Wer es nicht versteht, weshalb Richard Wagner [107] seinen Bayreuther, Freunden vom ›Verwaltungsrat‹ trotz mancher gelegentlichen Schwächen des einen oder des andern denn gewiß waren auch sie nicht vollkommen! – eine so einzige Stellung anweist und sie so unvergleichlich hoch hielt, der ist sich nicht darüber klar geworden, in welchen Bedrängnissen sie es mit ausgehalten haben, ohne den Kopf und den redlichen guten Willen zu verlieren! – So blieb denn einstweilen nur die Versammlung am 31. Oktober bestehen: hier war mit den wenigen ganz Getreuen, die sich dazu einfanden, zu beraten, auf welche Weise einer völligen Stockung noch vorzubeugen wäre.

Fußnoten

1 Band I des vorliegenden Werkes, S. 146. 154.


2 Wie schwierig er zu behandeln war, wie er immer und immer nur auf seine eigenen Interessen, insonderheit seine – bei seiner Lyrikernatur – von Haus aus verunglückten musikalisch-dramatischen Produktionen bedacht war, denen er trotz ihrer Unzulänglichkeit in verhängnisvoller Selbsttäuschug eine weittragende Bedeutung zuschrieb: das lehren seine kürzlich veröffentlichten brieflichen Auslassungen in fast irreführend einseitiger Weise; im persönlichen Verkehr wurde dieser selbstsüchtige Ehrgeiz doch fast durchweg von seiner liebenswürdigen Anspruchslosigkeit überwogen.


3 Band I des vorliegenden Werkes, S. 71/72. 74.


4 So kündigte schon zehn Tage vor dem Stattfinden der Feier die ›Oberfränkische Zeitung‹ vom 12. Mai in zurückhaltender Weise eine bevorstehende ›Musikalisch-theatralische Festvorstellung im kgl. Opernhause dahier‹ an, deren Programm ›aus besonderen, bei uns zu erfragenden Gründen noch nicht bekannt gegeben werden könne, aber ganz besondere Kunstgenüsse erwarten ließe‹. Die Aufführung sei eine öffentliche, die Reineinnahme solle ›einer Stiftung für hilfsbedürftige hiesige Musiker‹ zugewiesen werden; ›den theatralischen Teil habe das Hoftheaterensemble des Herrn Wittmann, den orchestralen das Orchester unseres Musikdilettantenvereins unter Leitung des Herrn Kapellmeister Zumpe, den gesanglichen Teil die Herren Sänger unseres Liederkranzes übernommen; Lohndiener Johannes sei beauftragt, Vormerkungen zu dieser Vorstellung entgegenzunehmen.‹ Am 19. Mai erfolgte die Angabe der Eintrittspreise, mit dem Versprechen, ›übermorgen das Programm der Festvorstellung zu bringen‹ u.s.w.


5 Richard Wagner, Gedichte, S. 94: ›Ballade‹ (an Graf Krockow).


6 Wir folgen in diesen letzten Sätzen einem Bericht des Kapellmeisters H. Zumpe, der ihn seinerseits aus dem Munde von Frau Wagner so vernommen haben will.


7 Band I des vorliegenden Werkes, S. 76.


8 Band III (früher II2). S. 169.


9 Liszts Briefe VII, S. 1849.


10 Ebendaselbst, S. 20.


11 Berlioz' ›Beatrice u. Benedikt‹?


12 Die Partitur der ›Walküre‹ folgte im September 1874 (18 Jahre nach ihrer Vollendung), ›Siegfried‹ und ›Götterdämmerung‹ im Januar und Juni 1876.


13 Gustav Kietz, ›Erinnerungen an Richard Wagner‹ (Dresden 1905), S. 143/45, stark verkürzt.


14 Ebendaselbst S. 145/46.


15 Der Brief ist die Antwort auf eine Anfrage und Bitte Pusinellis, ein in Dresden beabsichtigtes Konzert durch die Übersendung einer besonderen Komposition aus seinen Papieren zu unterstützen. ›Ach! beste Freunde!‹ ruft da der Meister, ›glaubt Ihr ernstlich, daß Ihr selbst mit einem so sinnreich angeordneten Konzerte in Dresden etwas zustande bringt? Mir ist es, als ob ganz andere Wege eingeschlagen werden müßten, um einem so außerordentlichen und gänzlich neuen Unternehmen sein Gelingen zu versichern.‹


16 ›Hätte Herr Dr. Busch,‹ so fügt er bei dieser Gelegenheit hinzu, ›die Versailler Tischreden unseres Reichsreformators bereits damals zu veröffentlichen für gut gehalten, so würde ich jedoch wohl der Illusion, welche mich in jenen Sphären Teilnahme für meinen Gedanken erwecken zu können annehmen ließ, jedenfalls keinen Augenblick mich hingegeben haben.‹ (Ges. Schr. X, S. 145.)


17 Ursprüngl. abgedruckt: Bayreuth Bl. 1901, S. 220/21.


18 Siehe z.B. Hv. Poschingers wohlgemeinten, leider aber doch in seiner Darstellung der Verhältnisse verworrenen, nämlich alles durcheinander werfenden Aufsatz: ›Fürst Bismarck und Richard Wagner.‹


19 ›So tapfer unsere Soldaten auf dem Schlachtfelde sein mögen, am häuslichen Herde fürchtet sich alles vor der »Presse« (Ges. Schr. X, S. 6).‹ ›Heutzutage ist es so weit gediehen, daß unsere Staatenlenker weniger die Meinungen der durch allgemeines Stimmrecht gewählten Volksvertreter, als vielmehr die Auslassungen der Zeitungsschreiber beachten und fürchten.‹ (Ebenda, S. 176.)


20 Vgl. Bd. IV (III1) d. vorl. Werkes, S. 163. 172 f. 440. Ein sehr schönes Porträt desselben findet sich auf S. 274 des 5. Jahrg. (1903) der Zeitschrift ›Bühne u. Welt‹ als Illustration zu einem Aufsatz von Dr. Erich Kloß: ›Natur und Tierwelt bei R. Wagner‹; ferner auf S. 959 der Leipziger Zeitschrift ›Welt und Haus‹ (Jahrg. 1904, Nr. 32), ebenfalls zu einem Aufsatz von Dr. Erich Kloß. ›Richard Wagner als Natur- und Tierfreund‹.


21 Kietz, Erinnerungen, S. 146. 154/56.


22 ›Der kleine Siegfried‹, heißt es in einer gleichzeitigen Kietzschen brieflichen Nachricht an seine Frau, ›ist oft, während mir Wagner Modell sitzt, mit im Arbeitszimmer oder, mit einem großen Strohhut auf dem Kopf, im Garten und singt meist vergnügt vor sich hin. Wagners Gesicht strahlt dann vor Freude. Heute sang der Kleine ganz korrekt aus dem Kaisermarsch »Heil Kaiser Wilhelm«, und als ich Wagner ansah, sagte er: »Ja, mein Fidi, der versteht mich.«‹ (Kietz, Erinnerungen, S. 170.)


23 Sehr richtig, und ganz in des Meisters Sinne, urteilte Rohde über diesen: ›Beiläufig, dem wackern Nohl sollte man den Mund verbieten; ich bin überzeugt, daß er der guten Sache nur schadet, da wo ihr noch genützt werden könnte. Im Grunde sind ... die Herolde geradezu gefährlich, die zu einem wahren Verständnis nicht ganz befähigt sind‹ etc. (22. Dezember 1871, Briefwechsel mit Nietzsche, S. 280.)


24 Wir haben dieser kleinen Episode in voller Ausdehnung hier Raum gegeben, wie sie uns Herr Prof. Kietz schon früher brieflich mitgeteilt, weil er mit ihrer Wiedergabe im vorliegenden Werk (Band II, S. 141 A.) auf Grund einer Dingerschen Angabe nicht übereinstimmen konnte.


25 Kietz, a.a.O., S. 161/65.


26 Liszts Briefe VII, S. 27.


27 So schreibt Liszt der Fürstin Wittgenstein (Liszt-Briefe VII, S. 26). Die bereits unterm 25. Juli veröffentlichte öffentliche Anzeige Wagners gibt bereits den richtigen Termin an.


28 Heckel, ›Briefe Richard Wagners‹ etc., S. 62.


29 In vollem Umfang und Wortlaut findet sich der ›Spruch beim Hebefeste des Bühnenfestspielhauses zu Bayreuth‹ in den, ›Gedichten‹ (Berlin, Grote, 1905), S. 97 ff.


30 Des Meisters lebhaftes persönliches Interesse an seinen Arbeitern zeigte sich in vielem; wir führen hier beispielsweise nur die an Feustel gerichteten Zeilen vom 20. September 1873 an. ›Sollte ein Maurer mit zerquetschter Nase sich mit einer Karte von mir einstellen, so bitte ich ihm von meinem Baufonds ein Benefiz von 10 fl. auszuzahlen; er hat von der Grundsteinlegung Tag für Tag an meinem Bau gearbeitet, und ist mir durch seinen Fleiß und freundliches Benehmen immer vorteilhaft aufgefallen. Er ist seit heute Abend von meinem Bau entlassen und nahm sehr anständigen Abschied.‹ (Bayr. Blätter, 1903, S. 188/89.)


31 Richard Wagner, ›Gedichte‹ S. 101/02


32 Kietz schreibt in leicht zu verbesserndem Irrtum: ›aus Leipzig‹. Doch scheint die ganze Angabe uns fraglich.


33 Kietz, Erinnerungen, S. 179/82.


34 Kietz, Erinnerungen, S. 182/85.


35 Nietzsche, Briefe I, S. 243.


36 E. Förster, Leben Nietzsches II, S. 130/31.


37 Briefe R. Wagners an E. Heckel (Berlin, S. Fischer, 1899), S. 67.


38 Ebenda, S. 68.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 5, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 83-109.
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