XIV.

Weiteres bis zur Heimkehr.

[565] Villa Gangi an der Via Porazzi. – Erkrankung Siegfrieds an einem typhösen Fieber. – Verhandlungen mit Neumann über Paris. – Verlobung Blandines v. Bülow. – Abschiedsmatinée in Palermo. – Vier Wochen in Acireale. – Durchzug des schwerkranken Garibaldi. – Vierzehn Tage in Venedig. – Neumanns stürmische Einladung nach London. – Heimkehr nach Bayreuth.


In Wahrheit hat mich die Beendigung meiner letzten großen Arbeit sehr ermüdet! Nun, sie ist beendigt, und möge mir nun die Weiterförderung des Werkes bis zur letzten Verwirklichung leicht fallen!

Richard Wagner.


Zwei Umstände waren es gleich im ersten Anfang, welche auch die neue Behausung nicht unbedingt befriedigend erscheinen ließen, und der fürstliche Schlichtheit ihrer ganzen Einrichtung, die selbst für einen kürzeren Aufenthalt manche Veränderungen und Anschaffungen an Teppichen usw. notwendig machte; andererseits die zwar schöne, doch aber einsam entfernte Lage, zu deren richtiger Beurteilung man den besonderen Charakter der sizilianischen Bevölkerung in Betracht ziehen muß. Es hieß, auf S. Martino seien erst kürzlich Engländer überfallen und geplündert worden, und man riet, dem Präfekten die Übersiedelung anzuzeigen. Gleich der erste Abend, zu welchem sich auch Rubinstein einfand, verlief recht heiter, doch in einer Art ›Fra Diavolo‹-Stimmung; da trotz des herrlichen Mondscheins draußen man den Rat befolgen mußte, die, Fensterläden gut zu verschließen. Die Nacht war frostig, und gleich am ersten Tage war es trotz hellen Sonnenscheins recht kalt. Für Ausfahrten, insbesondere zur Stadt, stand ein schöner Wagen zur Verfügung; von Spaziergängen aber wurde abgeraten. Als Graf Tasca an diesem ersten Tage erschien, um sich nach dem Wohlbefinden aller zu erkundigen und in jeder Beziehung seine Dienste anzubieten, war er unruhig, da er erfuhr, die jungen Mädchen seien ohne Begleitung spazieren gegangen.[565] Er schickte ihnen den bewaffneten Fachino nach und ging ihnen dann selbst entgegen; als der Meister mit seiner Gemahlin ihnen mit zwei Wagen nachfuhr, begegneten sie zuerst dem Grafen, dann den Kindern, von dem Abgesandten, der sie glücklich erreicht hatte, mit einer mächtigen Flinte auf dem Rücken begleitet. Dies alles gab viel Anlaß zur Heiterkeit; man verteilte sich in die beiden Wagen, fuhr gemeinschaftlich in weitem Bogen über Madonna delle Grazie hinaus durch die entzückende Gegend und kehrte dann durch die Stadt wieder heim Besuche in der Villa Camastra wurden häufig zu Fuß gemacht, aber gleich beim ersten dieser Besuche gab die Sorge des Grafen Tasca dem Meister zwei bewaffnete Sicherheitswächter mit, welche er anfangs mit heiterer Betroffenheit annahm, die ihn dann aber doch, auf Schritt und Tritt ihm nachfolgend, ärgerten. Der Graf erzählte die merkwürdigsten Geschichten von dem Banditen Valvo, der eben in der Umgegend hause, von dem Besuche, den ihm vor gar nicht langer Zeit sieben Banditen auf dem Lande gemacht, und fügte mancherlei hinzu, was die Notwendigkeit einer solchen Bewachung rechtfertige, doch hielt der Meister diese ihm beigegebene Sicherheitswache kaum drei Tage aus und verabschiedete sie dann mit einer gebührenden Belohnung für ihre geleisteten Dienste.

Dies alles wäre zu ertragen gewesen. Ein viel größerer Übelstand aber war von entsprechend ernsteren Folgen begleitet. Nicht allein, daß die neubezogene Villa für so viele Personen nun auch neu möbliert und ausgestattet werden mußte: sie war durchaus nur als Sommerwohnung gedacht und angelegt, mit reichlichem Schatten, aber wenig direktem Zugang für Sonnenlicht und -wärme, und daher selbst für einen sizilianischen Monat Februar nicht hervorragend geeignet. Es gab Tage, an denen es zugleich schneite und hagelte, die Kinder zitterten abends beim Schlafengehen vor Kälte in ihren Betten, und das dumpfe Gefühl davon, mit dieser Übersiedelung schließlich doch vorschnell und mit Außerachtlassung der nötigen Vorsicht gehandelt zu haben, beschlich vor allen Den, der sich für die ganze Veränderung verantwortlich fühlte, mit drückender Schwere. Er verglich das Aufgeben des gesicherten Hotels zugunsten des zweifelhaften neuen Logis mit jenem plötzlichen Aufbruch aus Neapel aus der schönen Villa Angri (S. 379); er klagte heftig sein Temperament an und daß, wer sich ihm vertraue, den wildesten Irrfahrten ausgesetzt sei. Dr. Berlin, der ihm bereits während des bisherigen Aufenthaltes mit seinem ärztlichen Rat zur Seite gestanden, riet zur Einführung von Öfen, und es wurden solche, nebst zahlreichen warmen Teppichen für die Wände, angeschafft; aber dem Übel war, solange die Kälte fortdauerte, nur teilweise abgeholfen, während die Ausgaben für den Haushalt sich immer mehr steigerten. Zuerst war der Meister selbst erkältet, hustete und blieb auf sein Zimmer angewiesen, wo er sich mit George Sands ›Piccinino‹ so gut es ging die Zeit vertrieb. Dann aber kam es noch schlimmer: eine Erkältung [566] Siegfrieds entwickelte sich schnell zu einem bedenklichen typhösen Fieber, mit hoher Temperatur, Milzanschwellung und allen ernsten Erscheinungen einer gefährlichen Erkrankung. Die schwere Sorge wirkte höchst ungünstig auch auf sein eigenes Befinden zurück: ließ der Husten allmählich nach, so waren doch die schlimmsten Gedanken mit Mühe von ihm fernzuhalten; er geriet außer sich vor Unmut und Sorge, als der Doktor beim Anblick des jungen Patienten den Kopf schüttelte, uns die Krampfzustände stellten sich wieder ein. Unzufrieden mit dem ganzen Hause, gereizt und ärgerlich, sich hier einlogiert zu haben, selbst auf den wiederaufgenommenen diätetisch wohltätigen Spazierfahrten finster in sich geschlossen, klagte er sich an, daß er fühle, er müsse seiner ganzen Umgebung zur Last sein. Einige Heiterkeit bewirkten Zeitungsnotizen über seine Übervorteilung durch Herrn Ragusa, welche diesen letzteren sehr aufregten, sowie die gerade in diese Tage fallende Klärung des Mißverständnisses mit dem auszustopfenden Uhu (S. 563). Auch konnte er nicht umhin, immer wieder die ganz wunderbar herrliche Luft Siziliens überhaupt und seines neuen Wohnsitzes insbesondere zu rühmen, dessen Garten er, allein oder mit seiner Gemahlin wandelnd, in seiner ganzen Ausdehnung durchmaß, mit reger Freude an dem reichen Baum- und Pflanzenwuchs.

Mit Hilfe kalter Einpackungen zur Bekämpfung des Fiebers, die auch nachts immer wieder mit lauem Wasser neu angefeuchtet werden mußten, wurde bei dem jungen Kranken, wenn auch sobald noch keine entscheidende Besserung, so doch ein normaler Verlauf des Übels, ein Zustand erreicht, in welchem er mit regelmäßigerem Atem die heilende Wohltat des Schlafes genießen und der Meister, bei seinen Besuchen der im oberen Stock befindlichen Krankenstube in bezug auf die Temperatur des Zimmers schon einmal zu dem Leidenden scherzen konnte: ›Du hast es gut, Du hast Fieber; aber wir andern, wir haben es kalt!‹ Doch erklärte der Arzt, es werde wohl noch einen Monat dauern, bevor der Patient sich wieder ganz frei werde bewegen dürfen. Immerhin nahm das, Familienleben seinen gleichmäßigen Gang wieder auf, und die erwachsenen Töchter entzogen sich selbst den glänzenden Festlichkeiten nicht, mit denen die Gesellschaft Palermos sich ihres Daseins und der prachtliebenden Repräsentation ihrer Standeswürde und ihres Reichtums erfreute. Das erstemal hatte Blandine – damals noch allein – am Silvesterabend des dahingeschiedenen Jahres sich von der Fürstin Filangeri zu einer derartigen, Festlichkeit im Palaste der Fürstin Butera geleiten lassen und durch die bezaubernde Anmut ihrer lieblichen Erscheinung die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt; nun war auch ihre ältere Schwester von Rom aus hinzugekommen. Nach eingetretener Beruhigung über die Gefahr im Befinden des Sohnes und Bruders veranlaßte Wagner selbst seine Gemahlin, die beiden Töchter zu einem Ball im Hause des Fürsten Gangi, seines freundlichen Wirts, zu geleiten, der es sich stets angelegen sein ließ, seine Teilnahme [567] für den Kranken dadurch auszudrücken, daß er ihm vorzügliches Weingelee oder andere Erfrischungen teils übersandte, teils selbst in das Haus brachte. In den abendlichen Unterredungen mit seinen beiden freundlichen Gönnern, Tasca und Gangi, entspannen sich die mannigfachsten Gespräche über die volkstümliche Bewegung in Sizilien, an welcher der Fürst – wie beinahe der ganze Adel teilgenommen; er setzte ihnen in lebhafter Darlegung das ganze System Gobineaus auseinander, wobei man es nicht mit dem Begriffe l'homme, sondern les hommes zu tun hätte und in diesem Sinne der weitsichtige Betrachter dieser Verhältnisse zu jeder Schroffheit berechtigt sei. Oder er wies ihnen auf das unwiderleglichste nach, wie es mit dem, allzu nachsichtig beurteilten Börsenspiel beschaffen sei, und daß jeder Gewinn dabei notwendig nur auf dem Verlust eines andern beruhen könnte. In betreff Gobineaus kränkte es ihn ungemein, daß der Graf für die von ihm beabsichtigte neue Auflage seines vergriffenen großen Rassenwerkes keinen Verleger bereit fand, die Gefahr eines erheblichen Verlustes auf sich zu nehmen, und sie daher schließlich auf seine eigenen Kosten zu veranstalten im Begriff stand.1 Bei diesen Unterredungen mit den liebenswürdigen Gastfreunden war ihm einzig die Nötigung des Französischsprechens störend widerwärtig, weshalb er sich zuzeiten die Kosten der Unterhaltung gern durch Rubinstein abnehmen ließ, der einmal den Huldigungsmarsch, ein anderes Mal Beethovens Es dur Quartett am Klavier zum Vortrag brachte.

Noch im Hotel des Palmes hatte ihn, gleich nach Vollendung seiner Partitur, Renans ›Marc Aurèle‹ beschäftigt, ohne jedoch viel Befriedigung zu gewähren: er fand die Gestalt dieses Kaisers darin überschätzt. Eine Seite daraus – über Glauben und Gewißheit – die ihm sehr gefallen, las er einmal abends vor; im allgemeinen aber stimmte ihn die süßliche Darstellung ironisch, und er behauptete, der berühmte Forscher müsse von jüdischer Herkunft sein, da das Ganze auf eine Verherrlichung des Judentums ausginge. Im gleichen Sinne frappierte ihn der Passus über den Wucher, wonach das Christentum durch Untersagung des Zinsnehmens die Zivilisation um so viele Jahrhunderte verspätet habe. Das Schlußkapitel interessierte durch seine Analyse und empörte durch seinen jüdischen Optimismus. ›Une tendance vers le bien‹, sagte er, ›das lasse ich gelten, aber gleichdarauf: une grande bonté, die Renan überall findet, dieser Optimismus ist ganz eines Strauß würdig. Elegance und Beschränktheit – das sind die heutigen Franzosen.‹ Er habe daran gedacht, fuhr er fort, für die ›Bayreuter Blätter‹ etwas über (und gegen) dieses letzte Kapitel zu schreiben. [568] Er hob hervor, wie seicht Renans Auffassung des Wunders sei, und stellte ihr die tiefsinnige Theorie desselben bei Schopenhauer gegenüber, die er mit herrlicher Beredsamkeit auseinandersetzte. Um so peinlicher empfände er dies alles gerade bei einem Schriftsteller, der so Vortreffliches über die Kloster, den Heiligenkultus und die Umbildung des Christentums seitens der Massen vorgebracht. Mit Vergnügen kehrte er hiernach zu Kant zurück, dessen Theorie des Erdbebens er den Seinigen anschaulich demonstrierte. Daß ihn während der Krankheitsperiode als Zerstreuung George Sands ›Piccinino‹ beschäftigte, ward schon erwähnt. Er machte dabei die scherzende Bemerkung, daß in Frauenromanen immer, Frauen die überlegene Rolle spielen; trotz aller Schwächen, ausführlicher Schilderung nichtssagender Nebenpersonen und unmöglicher Gespräche aber erklärte er auch diese Lektüre für nützlich; alles diene zur Schärfung der Grunderkenntnis der Dinge. Die Verfasserin sei leider in ihren weitestgehenden Hoffnungen für die Menschheit nicht weitergekommen als bis zu der Möglichkeit, daß auch ein Arbeiter geadelt werden könne. Zwei Turgenjewsche Romane, ›Väter und Söhne‹ und ›das adlige Nest‹,schlossen sich daran, immer in französischer Übersetzung. In dem Vorwort Mérimées zu dem erstgenannten erschreckte ihn die echt französische Hohlheit der Bezeichnung Schopenhauers als des Vaters der nihilistischen Bewegung in Rußland (!), auch bemerkte er in der Erzählung selbst hier und da ein wenig die Schablone, rühmte aber mehreres darin und erklärte dadurch zu einem lebhaften Anteil am russischen Wesen gelangt zu sein. Dagegen schreckte ihn in dem, ihm durch Wolzogen übersandten Alexisschen Roman ›Ruhe ist die erste Bürgerpflicht‹ gleich die erste Szene von einer weiteren Kenntnisnahme des übrigen ab. Ein Aufsatz Hillers über Liszts Auslassungen gegen die Juden kam ihm unter die Augen: derartiges, so erklärte er, verursache nicht erst einen Schaden, sondern bedeute ihn in sich, selbst: ›in der Wunde eines armen Pferdes sieht man gleich, einen Schwarm Fliegen‹. Er freute sich an Humboldts Buche über die ›Kawisprache‹: die Periode der Sprachbildung interessiere ihn in der Geschichte der Menschheit; alle Geschichte und Zivilisation sei nur Mord und Gewalttätigkeit. Doch versparte er sich ein eindringenderes Studium für eine spätere, ruhigere Zeit. Nicht dem Meister selbst, sondern, Frau Wagner hatte Stein einige seiner Dialoge aus jugendlicher Zeit, in der französischen Revolution spielend, zur Einsicht übersandt; er warf einen Blick hinein; durchlas sie dann aufmerksam, fand sie aber unreif, so daß sie ihn in seinem Vorsatz erschütterten, eine Sammlung derselben in Buchform durch ein Vorwort einzuleiten.2 Sehr gefielen ihm die Zitate aus ›Rameaus Neffen‹ im [569] Februarstück der ›Bayreuther Blätter‹ mit dem an Gluck anknüpfenden prophetischen Ausspruch Herders. Auch beschäftigte ihn eine Biographie seines Lieblings unter den Zeitgenossen, Thomas Carlyle, die ihn durch viele Einzelheiten fesselte. Ihn frappierte darin der Ausspruch, wonach der berühmte Weise von Chelsea zeitlebens zwischen Prophetie und Komödianterie geschwankt habe; aber er fand ihn nicht ganz unwahr: ein Teil der Schriften Carlyles war für ihn stets ungenießbar geblieben (S. 195). An seiner Schätzung des Mannes änderte sich dadurch nicht das mindeste: er blieb dabei, daß er in seiner Lektüre nur entweder mit den ›ganz Großen‹ oder den ›begabten Exzentrischen‹ verkehren könne, zu denen er neben Carlyle auch E. T. A. Hoffmann zählte.

Viel Verhandlungen gab es fortgesetzt mit Neumann, besonders da dieser seinen Pariser Eroberungsplan trotz aller Abmachungen keineswegs so schnell aufzugeben geneigt war. Außerdem bestand zwischen ihm und dem Dirigenten Lamoureux ein merkwürdiger Streit über die Rechtsfrage der Pariser ›Lohengrin‹-Aufführung, indem Lamoureux auf Grund eines Vertrages mit Wagners Pariser Verlegern, Durand und Schönewerk, das ausschließliche Aufführungsrecht für ganz Frankreich zu besitzen behauptete.3 Daß diese Rechtsfrage keineswegs so ganz durchsichtig sei, entging Neumann um so weniger, als ihm der Einblick in jenen Vertrag konsequent verweigert wurde. Aber auch sein Pariser Advokat vermied es, den rechten Weg einzuschlagen, um auf kürzestem Wege zum Ziel zu gelangen, sondern belästigte Neumann und durch diesen wiederum den Meister mit allerlei überflüssigen Nachfragen und Erkundigungen, über seine Mitgliedschaft in der Pariser Société des Auteurs et Compositeurs dramatiques, die er an Ort und Stelle in Paris durch Wagners vieljährigen dortigen Bevollmächtigten, den uns schon von 1861 her wohlbekannten treuen Freund Charles Nuitter (Truinet) hätte erledigen können.4 An diesen letzteren hatte daher der Meister den Pariser Rechtsbeistand [570] Neumanns, Herrn Reutlinger, schon im November vorigen Jahres im ersten Beginn dieser künstlich erregten Schwierigkeiten verwiesen und war trotzdem immer wieder – telegraphisch und brieflich – dazu genötigt, dieselbe Verweisung an Truinet,5 als die beste und zuverlässigste Quelle für jede Kenntnis seiner Pariser Autorrechtsverhältnisse, zu wiederholen. ›Mr. Reutlinger‹, schreibt er an Neumann über diesen Punkt, ›scheint sonderbar zu sein: sehen Sie sich vor! Weshalb kommt er immer wieder mit seinen langweiligen Fragen? Schließlich sehen Sie aus dem beiliegenden Briefe, wie sich alles verhält, und werden es mit mir unbegreiflich finden, daß Ihr Pariser Anwalt nicht lange schon davon unterrichtet ist.‹ Wie sehr jedoch Neumann mit all seiner geschäftlichen Tüchtigkeit und der Sonnenklarheit der Autorrechte des Meisters auf diesem Pariser Boden der wehrlose Spielball in den Händen von Mächten war, die ihn bloß zu dupieren strebten, geht wohl am besten aus dem Umstand hervor, daß ganz unabhängig von seinen Verhandlungen mit Wagner eine französische Autorität im Gebiete des Urheberrechts, der Advokat Ed. Clunet, sich unaufgefordert und aus rein theoretischem Interesse an der in den Pariser Journalen unaufhörlich verhandelten Sache, an Prof Holtzendorff in München, eine deutsche Autorität auf dem gleichen Gebiete, mit der Frage wandte: ›Kennen Sie diesen Herrn Neumann? Und glauben Sie, daß Ihr berühmter Landsmann Wagner einschreiten werde, um seine Rechte zu wahren? Das ist eine Frage, die des Interesses wohl wert ist.‹ Diesen Brief übermittelte der ebengenannte Prof. Holtzendorff dem Meister mit besonderer Empfehlung Clunets als eines völlig geeigneten Mannes, um etwaige rechtliche Ansprüche vor Gericht zu vertreten. Von dieser Empfehlung machte der Meister keinen Gebrauch; einfach aus dem Grunde, weil jene ›question d'interêt‹ des französischen Rechtsgelehrten für ihn gegenstandslos war und blieb. Er wollte die Pariser Aufführung nicht (S. 558). ›Ich bin zu dem Entschlusse gekommen, nie – solange mir das Eigentumsrecht darauf zusteht – eine meiner Opern in Paris aufführen zu lassen, und die Ihnen gemachte Zession gedenke ich – solange sie dauert – nur zur Verhinderung anderer Aufführungen zu benützen. Sie selbst werden ja auch wohl endlich einsehen, daß Sie Paris fahren zu lassen haben: möchten Sie dies jetzt schon und mir einfach unsern Vertrag zurückstellen. Ich kenne Paris, und finde es gegen meine Ehre, mir den Anschein zu geben, als läge mir etwas an Pariser Erfolgen.‹ So schrieb er am 26. Februar, hatte aber denselben Ratam 7. März nochmals zu erteilen, mit den Worten: ›im [571] übrigen wiederhole meinen allerernstlichsten Wunsch, daß Sie Paris aufgeben – wie ich‹.6

In allem übrigen war er mit dem Wirken Neumanns zufrieden und freute sich seines begeisterten Tätigkeitstriebes. So auch der nach fünfmaliger Wiederholung des ›Tristan‹ – erneuten Vorführung des gesamten Nibelungenzyklus' (5., 6., 8. und 9. Februar), während eben auch die ›Meistersinger‹ in Vorbereitung waren. Der Leipziger war damals stolz darauf, sein Stadttheater, insbesondere seine ›Oper‹ auf der Höhe der Leistungsfähigkeit zu sehen – um so verhängnisvoller war dann natürlich die Wendung des bevorstehenden Direktionswechsels (S. 488). Als daher ein Leipziger Kunstfreund, Dr. Martin Görres, den Meister darüber interpellierte, daß er diesen herrlichen Aufführungen fernbleibe, erwiderte er demselben: ›Herr Neumann weiß, woran er mit mir ist, und wie sehr ich seine Verdienste um die Aufführung meiner Werke schätze; woran ich mit meiner Vaterstadt Leipzig bin, die ihm die Möglichkeit der ferneren Pflege meiner Werke entzogen hat, weiß ich dagegen nicht. Da meine zeitherigen Beschäftigungen es mir nicht anders gestatteten, hatte ich einen Besuch Leipzigs – etwa zur Erinnerung an die vor jetzt bereits fünfzig Jahren dort stattgefundene erste Aufführung einer meiner Jugendarbeiten7 – mir vorbehalten; wenn im jetzt hierauf verzichte, so geschieht dies aus einem wohl nicht unschicklichen Gefühle, da ich bei Ihnen mich einer fremden, mir gleichgültigen Direktion des Theaters gegenüber befinden würde, und demnach hierbei keine Veranlassung erhalten konnte, den bisherigen, mir so wohlgeneigten Leitern der Leipziger Kunstanstalt meine Anerkennung öffentlich zu bezeugen (Palermo, 20. Februar 1882).‹ Das wichtigste Unternehmen des rüstigen Mannes war glücklicherweise nicht an eine bestimmte Stadt, einen einzelnen Ort gebunden. Wir erinnern uns der Verhandlungen, die seinerzeit mit ihm wegen eines Berliner ständigen Richard Wagner-Theaters, als Ausgangspunkt eines ›Wandernden Wagner-Theaters‹ gepflogen waren (S. 532 ff.); dieser Ausgangspunkt selbst war nun, mit voller Zustimmung des Meisters, ein für allemal fallen gelassen; dagegen war der Plan jenes Wander theaters mit kühnem Wagemut von ihm aufgenommen und festgehalten worden, und nach Erledigung der bevorstehenden Londoner Campagne dieses Sommers hatte er sich eine vom 1. September des laufenden Jahres bis zum 31. Mai 1883 dauernde Tournee mit eigenen Darstellern, eigenem Orchester und eigenem Chor als nächstes Ziel gesteckt: ›sechsunddreißig Zyklen will ich im Laufe von neun Monaten geben‹. Die große Energie Neumanns, sowie dessen stete Bereitwilligkeit, seinen Wünschen und Vorschlägen nachzukommen, bestimmten den Meister, der solche Eigenschaften [572] zu schätzen wußte, ihn bei seinem Vorhaben einer Aufführung des ganzen ›Ring‹-Zyklus in denjenigen deutschen Städten, denen dieses Werk bisher noch nicht vorgeführt worden war, durch eine – für jetzt in der Zeit limitierte Vollmacht zu unterstützen. ›Indem ich hierdurch dem Publikum solcher Städte den Vorteil zuwende, sofort mit dem ganzen Zyklus, und zwar in möglichst vortrefflicher Weise bekannt gemacht zu werden, glaube ich zugleich den Direktoren solcher Theater einen anderen Vorteil zuzuführen, da ich ihnen sobald der ganze Zyklus schnell folgend dem Publikum vollständig bekannt und somit das Verständnis der einzelnen Stücke erleichtert worden ist – gern diejenigen dieser einzelnen Stücke, welche sie leicht und erfolgreich geben zu können vermeinen, zur ferneren Wiederholung im Repertoire ihrer Theater zu überlassen gewillt bin.‹8

Eine anspruchsvolle Beschäftigung, die ihn seit der Vollendung seiner Partitur bei weitem mehr fesselte, als ihm lieb war und mannigfachen großen Ärger verursachte, war seine Beteiligung an der Durchsicht der Korrekturbogen des Klavierauszuges. In Verbindung mit den materiellen Schwierigkeiten des Lebens, wie z.B. ungenügenden Möbelstücken in seiner gegenwärtigen provisorischen Niederlassung, war er durch diese anhaltende Anstrengung oft unwillig, oft auch niedergedrückt und verstimmt. Am 16. Februar, mitten in der Krankheit Siegfrieds, beschloß er diese Durchsicht der Korrektur und sandte das Ganze, mit dem Titel versehen, zum Drucke nach Mainz ab. Viel erwog er in seinen täglichen Unterredungen die Frage des Patronatvereines, der nach fünf Jahren des Bestehens so äußerst wenig vor sich gebracht, und wie er es wohl einrichten solle, daß seine große Sache nach seinem Tode nicht in die kleinlichsten Hände fiele und Siegfried als der Erbe und Fortführer seines Werkes nicht in allem durchaus gehemmt sei: ob man alles gehen lassen oder manches Bestehende rechtzeitig aufheben und anderes an dessen Statt neuzubegründen versuchen solle? Er fragte sich, ob er Lust und Kraft behalten würde, nebst dem ›Parsifal‹ in Verfolgung seines Schulgedankens dort seine anderen Werke aufzuführen; er müßte dann alles, z.B. den ›Tannhäuser‹, so genau wieder vornehmen. ›Nicht ohne Grauen‹, schrieb er daher in seinem offenen ›Brief an H. v. Wolzogen‹ vom 13. März, ›könnte ich jetzt der Aufgabe mich gegenübergestellt sehen, meine älteren Werke in gleicher Weise, wie ich dies für den »Parsifal« beabsichtige, zu Musteraufführungen für unsere Festspiele vorzubereiten; bei ähnlichen Bemühungen traf ich, selbst bei unsren besten Sängern, als Entschuldigung für die unbegreiflichsten Mißverständnisse, ja Vergehen, auf die Antwort meines reinen Toren: »Ich wußte es nicht!« Dieses Wissen zu begründen, hierin dürfte unsre »Schule« bestehen, von welcher aus dann erst auch meine älteren Werke mit[573] richtigen Erfolge aufgenommen werden könnten Mögen die hierzu Berufenen sich finden: jedenfalls kann ich ihnen keine andre Anleitung geben, als alljährliche Wiederholungen unseres Bühnenweihfestspiels.‹ In bezug auf den Patronatverein erklärte er, bei innigster Wertschätzung aller von dieser Seite ihm bekundeten Teilnahme, andererseits doch ›den Zeitpunkt für gekommen, welcher die gegenseitigen Verpflichtungen unserer Vereinigung löst‹. ›Mußten wir darauf verzichten, die Möglichkeit der Fortdauer unsrer Bühnenfestspiele aus dem Vermögen eines Patronatfundus zu gewährleisten, und sahen wir uns genötigt, sofort bereits die Beisteuer des allgemeinen Publikums in Anspruch zu nehmen, dessen Beitrag nicht mehr der Verwirklichung einer Idee, sondern für einen Theaterplatz gezahlt wird, so ist, wie Sie dies sehr richtig erfanden, das Band der bisherigen Vereinigung unsrer Freunde zu einer nur noch rein theoretischen Beziehung geworden ... Als Herausgeber dieser sonach erweiterten Monatschrift werden Sie zu dem Publikum etwa in dieselbe Lage geraten, in welche ich für meine Bühnenfestspiele gegen den Patronatverein versetzt sein werde. Vielleicht treffen wir beide dadurch auf das Richtige, schon weil es unter den obwaltenden Umständen das einzig Mögliche erscheint.‹ ›Da zu jeder Erkenntnis zweies gehört, nämlich Subjekt und Objekt, und für unsern Gegenstand als Objekt unser Kunstwerk gestellt war, so war eine Kritik des Publikums, dem das Kunstwerk vorzuführen war, als des Subjektes nicht zu umgehen. Ja, es mußte uns endlich eine vorzüglich gründliche Untersuchung der Eigenschaften des Publikums nicht minder zweckmäßig dünken, als dem großen Kant die Kritik der menschlichen Urteilskraft erschien, als er aus dieser Kritik erst richtige Schlüsse auf die Realität oder Idealität der Welt als Objekt zu ziehen sich getrauen vermochte. Gern werde ich, was ich an Mitteilungen aus den von mir betretenen Gebieten der Kritik des »Subjektes« noch schulde, an Sie einzig zur freundlichen Verwendung für die »neuen Bayreuther Blätter« abliefern, und dies vielleicht dann mit weniger Befangenheit, als jetzt, wo ich manchen unserer geneigten Patrone gegenüber oft wohl etwas zu weit ausschweifte. Immerhin aber muß ich glauben, daß eben in der Kritik des Publikums die weiteste Ausschweifung aufweckender und deutlicher wirken dürfte, als wofür wir uns hüten müssen zu enge Einzwängung in das, wegen zu nahe liegender Bekanntschaft damit, einschläfernde sehr Gewohnte. Stellen wir uns immer auf die Bergesspitze, um klare Übersicht und tiefe Einsicht zu gewinnen! Vor allem, scheuen wir uns vor jedem Behagen, selbst bei Vegetarierkost!‹9 – Sehr stark beschäftigte ihn auch bereits die Frage der Rollenverteilung an die einzelnen Sänger. Er befürchtete Rangstreitigkeiten und daß sie alle bei der ersten Aufführung würden mitwirken [574] wollen. Man vergleiche hierzu – neben den im offenen Schreiben an Wolzogen gegebenen Andeutungen – seine beiden Briefe an Levi vom 3. und 15. März, wie auch das Schreiben an seinen trefflichen Ballettmeister Fricke vom 4. März; sie zeigen seine Gedanken in dieser Richtung in voller Tätigkeit.10

Inzwischen war das Befinden Siegfrieds so weit vorgeschritten, daß er am 21. Februar nach vierzehntägigem schwerem Krankenlager zum erstenmal nach Anordnung des Arztes auf eine Stunde das Bett verlassen durfte. Seine weitere Ausbildung gab dem Meister immer wieder zu denken: woher ihm sowohl Gespielen, als auch den Lehrer schaffen? Der noch aus der Heimat mitgebrachte Lehrer war mit Beginn der Krankheit, da er auf lange hinaus nicht mehr nötig und in jedem Fall auch nicht der rechte Mann für seine Aufgabe war, nach Deutschland zurück entlassen worden. Gern hätte der Meister wenigstens den Geschichtsunterricht für ihn übernommen; doch beklagte er es, immer ein so unruhiges Leben zu führen und beispielsweise zurzeit durch die Neumannsche Affäre weit mehr als ihm lieb war, beansprucht zu werden. Inzwischen machte ihm dessen fortgesetztes aufgeregtes Zeichnen und Im-Bädeker-Lesen fast bange: ›so bin ich‹, sagte er von sich, ›selbst mit der Musik nicht gewesen; ich fürchte, der Junge wird für alles andre ganz kalt‹. Der Schluß des Februar war ganz sommerlich: im Garten der Villa Camastra, dem Ziel der meisten Nachmittagsspaziergänge, blühten die roten Aloe und jeden Tag etwas anderes. Es freute ihn, ein schönes Zelt auf der Terrasse errichten zu lassen, unter welchem – bei wundervoller Luft – der Kaffee genommen und einige von Dr. Berlin mitgebrachte Flaschen Bier, als heimatliche Erinnerung, geleert wurden; kaum aber war es vollendet, so trat wieder Sturm und Regen ein, und man mußte lachen, daß gerade gestern das Zelt fertig geworden war. Er war eine Weile von den Beschwerden seiner Krampfanfälle verschont geblieben; ein Erfolg der von ihm bei den morgenlichen kalten Abwaschungen geübten Vorsicht. Diese letzteren hatte er sich bereits im Hotel des Palmes selbst verordnet; er wisse sehr gut, hatte er dabei gesagt, wie er daran wäre, und ärgere sich, wenn man ihn wie einen schwächlichen, über seine Gesundheit künstlich in Besorgnis zu erhaltenden Menschen behandle. Als aber wieder allerlei Ärgernisse sich häuften, stellten sich auch die Brustkrämpfe wieder ein. Wir haben eine Tatsache noch nicht erwähnt: zu allem übrigen, das ihm an Haus und Lage unerfreulich war, gehörte auch die Nähe eines Exerzierplatzes des örtlichen Militärs mit seinen Schießübungen: es bedurfte nur noch, daß diese in der ersten Woche des März wirklich stattfanden, und der Ungewißheit, ob sie nicht durch längere Zeit andauern würden, um den Zustand recht [575] lästig werden zu lassen. Da überdies auch Siegfried noch recht matt und angegriffen war, wurde eine Ortsveränderung ins Auge gefaßt und als Erholungsaufenthalt das köstliche Acireale am Fuße des Ätna, an der Ostküste Siziliens, ins Auge gefaßt.

Aus den letzten vierzehn Tagen seines Verweilens in den ›Porazzi‹ sind noch einige gesellschaftliche Beziehungen zu erwähnen, die zum Teil durch das zufällige Verweilen des Erbgroßherzogs von Mecklenburg-Schwerin veranlaßt waren. Dieser hatte dem Meister mit seiner fürstlichen Gemahlin einen ersten Besuch gemacht, den Wagner mit seiner Frau tage darauf er widerte; er hatte sich eines überaus liebenswürdigen Empfanges zu erfreuen, und das freie offene Wesen des freundlichen Herrn gefiel ihm sehr. An diese erste Begegnung schloß sich noch eine fernere, indem der Erbgroßherzog den Meister nebst Gemahlin zu einem Diner einlud, an welchem auch der junge russische Großfürst Konstantin teilnahm. Aber auch die Beziehungen zu seinen einheimischen Gönnern und Gastfreunden schlossen sich gerade in diesen letzten Tagen noch enger. Um sich für das ihm von allen Seiten erwiesene freundliche Entgegenkommen dankbar zu bezeigen und eine dauernde Erinnerung an sein Verweilen in ihrem Gedächtnis zu hinterlassen, veranstaltete er ganz kurz vor seinem Scheiden von Palermo eine Abschiedsmatinée, welcher außer dem Präfekten von Palermo, Graf Tasca und Fürst Gangi nebst ihren Angehörigen, noch eine Anzahl hervorragender Persönlichkeiten der Palermitaner Gesellschaft beiwohnten. Der Meister selbst dirigierte eine im Garten aufgestellte Militärkapelle, mit der er an den vorausgehenden Tagen eifrig geprobt hatte, und führte seinen Gästen den ›Kaisermarsch‹, den ›Huldigungsmarsch‹ und das ›Siegfried-Idyll‹ vor. Trotz der sehr mäßigen Beschaffenheit der Kapelle, die ihm dafür zur Verfügung stand, hatte er die Musiker doch in den wenigen Proben durch seine Heiterkeit und Liebenswürdigkeit so völlig für ihre Aufgabe gewonnen, daß sie mit Begeisterung jeder geringsten Bewegung seiner leitenden Hand und Miene folgten und die Werke den gewaltigsten Eindruck ausübten; nach seinem eigenen Gefühl wohl am wenigsten das ›Idyll‹, obgleich dasselbe von der auserlesenen Zuhörerschaft sogleich nach dem Verklingen des letzten Tones stürmisch zur Wiederholung verlangt wurde. Auch war der Meister ermüdet und hatte zwischen ›Huldigungsmarsch‹ und ›Idyll‹ einen seiner Brustkrämpfe, wovon aber die Zuhörer nichts erfuhren. Als alles vorbei war, lachte er selbst über den Leichtsinn, mit welchem er sich in ein solches Unternehmen gestürzt. Eine ähnliche vertrauliche Musikaufführung am Klavier (hauptsächlich durch Rubinstein) hatte bereits einige Tage zuvor im Stadtpalais des Grafen Tasca vor einem auserlesenen Publikum stattgefunden und die lebhafteste Begeisterung erregt. Graf Tasca und Fürst Gangi überboten sich in ihrer südlichen Lebendigkeit in den Äußerungen ihres Entzückens und versicherten ihn, daß sie all ihre [576] Güter für seinen ›Ruhm‹ dahingeben würden. ›Was ist Ruhm?‹ erwiderte Wagner und zitierte ihnen das Schopenhauersche Gleichnis von den Austernschalen (S. 73). Aber noch in einer ganz anderen Weise sollte sich ein Band zwischen ihm und den freundlichen Palermitanern anknüpfen. Bald nach seiner ersten Ankunft hatte der junge Graf Biagio Gravina, der bevorzugte und verwöhnte Liebling der ganzen Aristokratie Palermos, aus dem altberühmten Geschlechte von reinstem Normannenblut, dessen gefeierter Name in der ganzen Geschichte Siziliens und Italiens widerhallt,11 die Bekanntschaft der zweitältesten Tochter des Hauses, Blandine von Bülow gemacht. Bier Monate war er sodann in seinem Beruf als Marineoffizier von Palermo entfernt gewesen; der von ihrer bezaubernden Persönlichkeit empfangene Eindruck aber so lebhaft in ihm gegenwärtig geblieben, daß Anfang März wieder zurückgekehrt sein erster Gedanke eben derjenige war, mit dem er seine Vaterstadt verlassen hatte: der Gedanke an die junge blonde nordische Schönheit, welcher er hier begegnet war. Graf Tasca trug als erbetener Brautwerber das Herzensanliegen des jungen Freundes vor, die beiderseitige Neigung war ausgesprochen, und die einzige Sorge für die Zukunft des Paares lag wohl darin, daß die Vermögensverhältnisse des Bewerbers nicht eben die glänzendsten waren. Das Entscheidende aber blieb doch die Persönlichkeit, und der Meister bestimmte daher, er möchte zunächst zu ihnen nach Acireale kommen, damit man ihn näher kennen lerne Einstweilen fand er sein Benehmen vortrefflich und brachte ihm jede hoffnungsvolle Sympathie entgegen.

In vorgerückter Nachtstunde des 19. März, d.h. einige Stunden vor dem Sonnenaufgang des 20., erfolgte der Aufbruch: am Bahnhof anwesend waren der Präfekt von Palermo, Graf Tasca, Gravina, Rubinstein und einige andere Freunde. Nach herzlichem Abschied von allen setzte der Zug sich in Bewegung, um sie über Catania nach dem freundlichen Acireale, einer reichen Landstadt mit umgebenden Dörfern, zu führen, welches am Nachmittag erreicht ward und dem Meister ungemein gefiel. So insbesondere auch die für ihn bestellte Wohnung im Grand Hotel des Bains, dessen Wirt, der Cavaliere Dr. Grassi Russo, mit dem stolzen Titel eines Generaldirektors der von ihm verwalteten Gebäude, sofort den Eindruck eines anständigen, zuverlässigen Mannes machte. Nach allen Leiden und Beschwerden des letzten Aufenthaltes gab es ein Aufatmen der Befriedigung: er erfreute sich der Lage und der wohlanständigen Ruhe der Räumlichkeiten und überließ sich der Hoffnung, hier auch wieder zu ungestörter Arbeit zu gelangen. Als solche schwebte ihm damals zunächst das Vorwort zu Steins Dialogen vor. Er kam dabei u.a. auch auf die dramatische Szene zwischen Shakespeare und [577] Giordano Bruno (S. 373) zu sprechen: Shakespeare, meinte er, sei darin nicht bedeutend genug dargestellt; doch gebe er zu, daß es ungemein schwierig, wenn nicht unmöglich sei, gerade Shakespeare reden zu lassen. Wie z.B. seine Ansicht über Katholizismus und Protestantismus sich vorstellen? Und welchen Eindruck das Schicksal des Dominikanermönches wohl auf ihn gemacht haben dürfte? Um die Mittagszeit eines der nächsten Tage kam auf die Einladung des Meisters der junge Graf Gravina an, um die nächsten Wochen mit der Familie zu verbringen, und die Tafel, an welcher nun durcheinander deutsch, italienisch und französisch gesprochen wurde, umfaßte jetzt acht Personen Wegen seines unzureichenden Vermögensstandes war als erste Hauptbedingung eine Beschäftigung irgendwelcher Art für den zukünftigen Schwiegersohn ins Auge gefaßt worden, und Graf Tasca selbst sollte ihm durch seinen Einfluß eine solche vermitteln; doch schien allerdings die Erziehung, welche der ritterliche junge Mann genossen, ihn für eine Anstellung im Staatsdienst nicht genügend ausgerüstet zu haben, während andererseits der fernere Dienst in der Marine ihm durch einen stattgehabten Konflikt mit seinem Vorgesetzten für immer verschlossen blieb. Daß auch dieser Vorgesetzte im gleichen Anlaß mit einem Verweis bedacht worden war (er hatte den Befehl erteilt, daß die Mannschaft des Schiffes drei Tage hungern sollte), konnte leider an der ungünstigen Lage Gravinas nichts ändern. Dafür empfahl er sich durch eine treffliche Naturbegabung, an welcher sich Wagner im täglichen Umgang erfreute; er scherzte viel mit ihm, und nach einem anhaltenden Ausbruch seiner Heiterkeit schloß er damit, daß er zu Gravina sagte: er hatte ihn gewiß für einen fou, und glaube wohl nicht, daß er den ›Lohengrin‹ geschrieben habe. Nur der Zwang des Französischsprechens blieb ihm dabei störend. Mit Siegfried unternahm der junge Graf einen Ausflug nach Catania und war bald ein Glied des ihn umgebenden Kreises geworden, dem er fortan durch enge Bande angehören sollte.

Ein romantischer steiler Felsweg führt von der 160 Meter hoch gelegenen, auf Lavaströmen sich auftürmenden und aus Lavamassen errichteten Stadt zum Meere hinab, in welches sich der von Theokrit und Ovid12 gefeierte Acis ergießt, dem die umliegenden Ortschaften ihren Namen verdanken. Vor den Fenstern und dem Balkon des Hotels breitete sich Terrasse und Garten aus, darüber hinaus die mächtig weite Fläche des Meeres, aus dessen Schoß sich morgens rotglühend die Sonne erhob. Nach Süden, wie nach Norden hin gab es Gelegenheit zu schönen Ausflügen. Zunächst ging es nach Catania, unter großem Wohlgefallen an der Schönheit des Weges auf felsiger Meeresküste, vorüber an Acicastello und den sagenberühmten sieben Zyklopeninseln nebst dem Hafen des Odysseus. In der Stadt selbst angelangt, überließ man sich [578] der liebenswürdigen Führung des Marchese San Giuliano, der es sich zur Ehre anrechnete, dem gefeierten deutschen Künstler und den Seinen die Honneurs von Catania zu machen, und bei Tische zu seiner Begrüßung den Willkommengruß des Landgrafen aus dem ›Tannhäuser‹ in seiner Ansprache zitierte Nicht ohne Eindruck betrachtete der Meister die neben der Königlichen Gruft belegene Gruft der Gravinas, deren jüngster Sprößling neben ihm stand. Eine Wagenexkursion am folgenden Tage wurde wegen unsicheren Wetters aufgegeben und statt dessen mit der Bahn nach den nahebelegenen Orten Giarre und Riposto gefahren, unter beständigen lauten Aufschreien des Entzückens von seiten aller Teilnehmer der herrlichen Fahrt Beim Aussteigen in Giarre trug es sich zu, daß er beim Verlassen des Kupees mit lauter Stimme nach Schnappauf rief, und – ›Schnappauf!‹ wiederholte sich sein Ruf wie ein Echo aus der Schar sonnegebräunter sizilianischer Gassenbuben, wie sich solche jederzeit bei Ankunft eines Zuges einzufinden pflegen. Der kleine Vorfall erregte großes Gelächter, an welchem der Meister zu allererst teilnahm, und in allgemeiner Heiterkeit begab man sich zum Meer, um sich auf der Terrasse des Zollhäuschens gelagert des Mondaufganges zu erfreuen. Auf der Rückfahrt genoß man zum erstenmal den Anblick, den Schneegipfel des Ätna gänzlich wolkenfrei und im hellen Mondschein silbern erglänzend vom sternklaren Nachthimmel zauberisch sich abheben zu sehen. Dann wieder ging es einmal nach Taormina mit den guterhaltenen ausdrucksvollen Überresten seines antiken – griechisch-römischen – Theaters auf ragendem Vorgebirge, mit prachtvollem Ausblick auf den Ätna, auf das Meer und das hochgelegene Mola mit seinem am Felsen klebenden Kastell. Das Gefühl der Freude an dem höchsten Ausdruck einer Volkskultur, wie dieses Theater, mit seinen edlen Proportionen und den aus ihren Trümmern teilweise wiederaufgerichteten Säulen, ging Hand in Hand mit den, durch den Anblick der immer höher aufgenisteten Burgen der mittelalterlichen Landesherren (vom Kastell von Taormina bis zu dem von Mola) angeregten Empfindungen: mußte man einerseits über die darin ausgedrückte Vorsicht in Heiterkeit geraten, so gab es zugleich die anschaulichste Vorstellung von der Beschaffenheit dieser alten Kulturen als bloßer ›Räuberkulturen‹. Wozu es denn auch paßte, daß von alters her all diese Ansiedelungen sich bloß auf das Küstenland beschränkten, während das Landvolk im Innern sich selbst überlassen und daher unverändert sich gleich geblieben sei. ›Ach!‹ rief der Meister, ›ich werde immer gobinistischer gesinnt!‹

Während dieses Ausfluges wurden er und die Seinen in der Locanda Timeo durch die ganz unerwartete Begegnung mit Siegfrieds Bayreuther Lateinlehrer Professor Toussaint (S. 439) überrascht, – ein Zufall, der seine Gedanken von neuem auf die für ihn so wichtige Frage der weiteren Erziehung des Knaben lenkte. Wie sehr er gegen die gewöhnliche Gymnasialerziehung [579] eingenommen war, das bekundet bereits der dritte Abschnitt seiner Abhandlung über ›Publikum und Popularität‹, wo von der Überbürdung der Schüler durch ein Übermaß täglicher Unterrichtsstunden ›namentlich in den Gymnasien‹ die Rede ist. ›Frägt ein um die Gesundheit seines Sohnes bekümmerter Vater z.B. einen Gymnasial-Direktor, ob der, den ganzen Tag einnehmende Lehrstundenplan nicht wenigstens einige Nachmittagsstunden, etwa schon für die nebenbei immer noch zu Hause auszuarbeitenden Aufgaben, frei lassen dürfte, so erfährt er, daß der Herr Minister von allen Vorstellungen hierüber nichts wissen wolle: der Staat gebrauche tüchtige Arbeiter, und von früh an müsse das junge Blut auf der Schulbank sich das Sitzfleisch gehörig abhärten, um dereinst auf dem Bureaustuhle den ganzen Tag über behaglich sich fühlen zu können.‹13 Auf das lebhafteste erfreute es ihn daher, aus der Zeitung zu vernehmen, daß der sächsische Kultusminister v. Gerber in einem an die Direktoren der Gymnasien und Realschulen des Königreichs Sachsen gerichteten Reskript gegen diese Überbürdung Stellung nahm,14 und er war halb und halb daran, diesem Herrn Minister seinen Dank und seine Freude darüber brieflich zum Ausdruck zu bringen, so sehr er sich anderseits sagen mußte, daß durch diese alleinstehende Verfügung das allgemeine Übel nicht aufgehoben werden könne! In diesem Sinne trug er sich mit dem Gedanken, einen Aufruf in den ›Bayreuther Blättern‹ zu erlassen, um in Bayreuth selbst eine Erziehungsanstalt zu gründen und zu sehen, ob er etwa von sechs oder zehn vernünftigen Eltern eine Anzahl von Knaben in Siegfrieds Alter anvertraut erhalten würde, damit sie unter der Leitung Steins durch tüchtige Lehrer eine freie Erziehung genössen. ›Überlegen Sie sich‹, schrieb er (24. März aus Acireale) an Stein, ›was ich damit im Sinne habe, und teilen Sie mir Ihre Gedanken mit. Im würde gern mir es wo anders absparen, und die kleine Volksschule so gut ausstatten, daß jeder und auch (vor allem!) Sie es dabei aushalten könnten! – Dies wäre denn so hingeworfen, aber nicht etwa zum Verlorengehen!‹ – Stein zögerte keinen Augenblick mit [580] der enthusiastischen Erklärung seiner Bereitwilligkeit und hielt lange diesen Plan des Meisters fest, indem er nur die rechte Zeit für seine Ausführung erwartete. Inzwischen war es diesem jedoch bereits schwer aufs Herz gefallen, welche Schwierigkeit er mit diesem Unternehmen auf sich lade; er sah im Geiste voraus, was für Kinder ihm dabei zugewiesen werden und wie wenig sie zu seinem Sohne passen würden. Es würde sich alles für ihn finden, der in seiner bisherigen häuslichen Erziehung unter den Augen der Eltern verständig und kindlich zugleich geworden, an dem gar nichts zu ›erziehen‹ wäre. ›Er ist besser, als wir!‹ rief er aus, ›denn er ist ohne Leiden zu dem gekommen, wozu uns Nöte und Qualen geführt. Was braucht der Junge Knabenumgang? Lernt er die Welt nicht so am besten kennen? Lassen wir das Schicksal walten! Die Erziehungsanstalten sind für Wesen da, die nicht hätten geboren werden sollen!‹ In gleicher Weise hielt er selbst Züchtigungen für überflüssig: ›entweder sei das Herz schlecht, dann helfe doch nichts, oder es sei gut. Ob man gut geboren, aus der Liebe entsprossen, darauf käme es an, und dann ergebe sich alles von selbst.‹

Seine Lektüre machte in diesen Wochen wieder hauptsächlich Shakespeare aus, und zwar ›der Sturm‹ und ›Heinrich VIII.‹. Über das erstere Werk sprach er sich dahin aus, er wäre erst jetzt dazu gekommen, einzelne Schönheiten der Komposition dieses wunderbaren Stoffes ganz zu verstehen. Er hob die eigentümliche Lebhaftigkeit in Prosperos Charakter hervor, die Ausführlichkeit seiner ersten Szene mit Ariel, auch wie bezeichnend es sei, daß er den jungen Prinzen Holz hacken ließe. Die Clownszenen des Trinkulo überschlug er für diesmal, sprach aber mit Staunen und Begeisterung über die Worte Prosperos beim Zerbrechen des Zauberstabes. ›Alles gibt er dahin, die Wunder des Wissens es ist mir, als ob ich die stolzen Errungenschaften unserer modernen Welt darunter verstehen könnte, dahingegeben für die Musik!‹15 Dann las er die Worte Gonzalos beim Anblick der Insel über den Naturzustand, worüber er von den seichten Fürsten gehänselt wird, obwohl er gerade das sage, was er (Wagner) ebenfalls meine. Mit welcher Platitude habe Rousseau16 das Problem angefaßt! So begriffe er auch nicht, wie unsere modernen Materialisten zu ihrem Optimismus kämen; dazu wären eigentlich nur die ausgesprochenen Deisten berechtigt. Ob wohl eine Gemeinde zu erhoffen sei, die sich nach dem Untergang alles Bestehenden bilden und mit inniger Auffassung des christlichen Gedankens und Verehrung der Tiere17 zu besseren Regionen hinwandern würde? Er möchte das hoffen! [581] Das Christentum sei in seiner Reinheit zu zart gewesen, um Boden zu fassen, und in seiner Anbequemung an die Welt habe es nur Inkonsequenzen hervorbringen können. ›Daß der Heiland im eigentlichen Sinne keine Gemeinde gehabt und für die Wenigen, die sich an ihn schlossen, sich kreuzigen ließ das sei erhaben!‹ rief er aus. In der Ritterschaft des Grales sei dieser ›Gemeinde‹-Gedanke von ihm ausgedrückt: die ›Sieger‹ könnten dasselbe nur schwächlicher, unbedeutender wiederholen; deshalb sei der ›Parsifal‹ gewiß sein letztes Werk. ›Er ist unausstehlich‹, rief er im weiteren Verlauf von Shakespeare, ›denn er ist absolut unbegreiflich! Aeschylus, Sophokles waren von ihrem Kultus getragen, – aber Er! Und alles hat er gewußt!‹ Noch einmal kam er auf Gonzalo zurück, und wie dieser eigentlich seicht und unbedeutend erscheinen könnte und dabei aus dem Herzen, welches eine gute Tat vollbrachte, nun die wahrhaftige Erkenntnis des Wünschenswerten empfängt, auch von Prospero als Guter begrüßt wird. Vom Leben des Dichters meinte er, es sei gewiß allen Miseren preisgegeben gewesen; das 16. Jahrhundert sei sicherlich nicht besser gewesen, als unseres; darüber müsse man bloß Cervantes und Shakespeare befragen. Den Ausruf aus dem Don Quixote: ›O du Verfolger Gottes und aller seiner Heiligen!‹ gebrauchte er gern und in größter Heiterkeit und behauptete, er sähe förmlich die physiognomische Ähnlichkeit beider, Cervantes' und Shakespeares, vor Augen. Von der Lektüre des ›Sturm‹ ging er dann zu ›Heinrich VIII.‹ über, mit Staunen über diese, im Verhältnis zu den vorausgehenden Königsdramen so ganz andere höfische Welt, die Feste gebenden Kardinäle usw.: die Grausamkeit aber sei geblieben, nur mit mehr Tücke und Heuchelei gepaart. Er bewunderte die Freiheit, mit welcher der Dichter diesen Charakter gezeichnet; Kleist würde sich das selbst mit dem großen Kurfürsten nicht herausgenommen haben; so bände uns der höfische Zwang. ›Das ist bei uns alles assyrisch!‹ Auch hob er die merkwürdige Stelle hervor, wo die Königin es ihrem Kämmerer Griffith verweist, auf den Ruf zu hören, der sie vor ein unwürdiges, von ihr verworfenes Gericht ladet. Von der Exposition im ›Sommernachtstraum‹ sagte er: ›Bei Shakespeare muß man sich nur einmal einbilden, etwas sei unbedeuten (wie hier die [582] Szenen der Liebespaare), – da kommt man gut dran. Ganz meine Gedanken über die Liebe finde ich darin, wie ich überhaupt alle meine Gedanken bei ihm finde.‹ Bei Tisch erklärte er Gravina die Geistererscheinungen im Schopenhauerschen Sinne und scherzte über das Brautpaar: ›zwei Schäfchen, ein schwarzes und ein weißes‹. Von der herrlichen Szene des Liebespaares aber rief er: ›also das sag' ich immer: es kommt darauf an, treu zu sein!‹ Sonst beklagte er das viele Akademisieren im ›Sommernachtstraum‹, die ›Cynthia‹ usw. Von dem Eindruck des ›Hamlet‹ auf der Bühne erklärte er, er sei am Schlusse, so furchtbar großartig in seiner Wahrhaftigkeit, dennoch erschlaffend, und so sei es mit allen Tragödien Shakespeares; man scheide von ihnen erschöpft und niedergeschmettert. Die Seele lechze heute im Theater nach der Musik, nach der vollkommenen Idealität des Klanges; in Shakespeares Theater müsse es anders gewesen sein. Es war gerade Karfreitag, und alles draußen in vollem Blumenflor. Er gedachte dabei des Karfreitags im Norden, der doch manchmal so schön und durch das erste Hervorblicken von Knospen und Blümchen rührend sei, so z.B. im Züricher ›Asyl‹, wo der erste Gedanke zum ›Parsifal‹ ihm gekommen sei.18

Wir greifen hier um eine Weite zurück, die Erwähnung eines eindrucksvollen Erlebnisses nachzuholen: der Durchfahrt des schwerkranken Garibaldi auf dem Wege von Catania über Messina nach Palermo. Es war ein ergreifender Anblick: die ganze Bevölkerung des kleinen Ortes auf dem Bahnhof versammelt, der Zug langsam nahend, zuerst bei dessen Anmeldung eine sichtbare Bewegung der Menge, dann ehrerbietiges Schweigen, endlich, wie der Wagen des Helden erkannt wurde, laut tönende herzliche Zurufe. Dann feierliches Weiterziehen des Kranken, den keiner sehen konnte, da er unbeweglich an sein Lager gefesselt war. Die Kinder, welche den Vorgang am Bahnhof in nächster Nähe beobachteten, empfingen von den Blumen und weißen Tüchern fast den Eindruck eines Leichenzuges, Gravina brach in Schluchzen aus, und der Meister und seine Gemahlin beobachteten von ihrem Balkon aus den Vorgang bis zum Verschwinden der ruhig weiterziehenden Wagenreihe, und der langanhaltende Ton der Lokomotive bei diesem Weiterziehen klang wie die laute Klage der heimatlichen Erde um den besten ihrer Sohne Mondschein und bengalische Feuer beleuchteten die Szene, in der Volksmenge ein Schwirren, wie in einem riesigen Vogelnest; aber ein harmonisches Geräusch, das dem Meister wohlgefiel. Die Gespräche nach der Heimkehr der Kinder waren den ganzen Abend hindurch dem greifen Helden gewidmet Wagner rühmte ihn aus vollem Herzen, er erwähnte das Tragische seines Loses, daß er ohne Bewußtsein in der Komödie von Napoleon III. und Lord Palmerston mitspielte; aber diesmal habe die Komödie einer guten [583] Sache gegolten. Der Politik, welcher er zuerst gedient, war er unbequem geworden, und nun wurde er gefangen genommen: ›alles die scheußliche Politik, qui suit sa course à l'abîme‹, wandte er sich zu Gravina. Wo er ihn am meisten bewundert hätte, das sei bei Capua gewesen; da scheine er ihm die größten Beweise von Ausdauer und Unermüdlichkeit gegeben zu haben. Alle Taten seines Lebens aber hob er hervor, den Rückzug von Rom u.a.m., und alles in warmer Begeisterung. Schon in dem Gespräch auf dem Balkon hatte er erwogen, was bei einer etwaigen Begegnung zwischen ihnen gewesen sein würde; sie würden sich nichts zu sagen gehabt haben. ›Ob er liberal, ob er Demokrat sei?‹ würde Garibaldi ihn gefragt haben. So einen müsse man durch seine Taten kennen, sonst liege eine unüberbrückbare Kluft dazwischen. Auf die Einwendung, daß er doch die Größe, die Unabhängigkeit des Charakters geschätzt haben würde, erwiderte er: ›ja, aber durch was würde sie seinem Verständnis vermittelt?‹ Und ob der Jubel des Volkes den Kranken nicht stören würde, hatte er hinzugefügt ›Freude könne er ja kaum daran haben; er kenne es ja, wie es in der Gefahr ausgerissen sei; wie er die meisten fortschicken mußte!‹ Und doch empfand er die zwischen dem Helden und seinem Volke bestehende Fühlung mit Ergriffenheit, als er das soeben Erlebte wenige Tage später von Palermo aus in genau entsprechender Weise vernahm: wie auch dort zuerst lauter Jubel erschallt, dann aber, als die Menge ihn sah, tiefe Stille eingetreten sei. Nach einer ganz anderen Richtung trat die produktive Eigentümlichkeit des sizilianischen Volkscharakters ihm durch Volksschauspieler entgegen, die Gravina im Einvernehmen mit Frau Wagner für ihn in das Hotel bestellt hatte, und deren Talent ganz hinreißend auf ihn wirkte. Gleich das erste Eintreten der beiden darin mitwirkenden Frauen bezauberte ihn dadurch, daß sie sich gar nicht um das anwesende Publikum kümmerten, sondern ganz ernsthaft miteinander sprachen. Er belohnte sie königlich, indem er die kleine, durch Gravina akkordierte Summe um mehr als das Fünffache überbot und gewahrte mit Rührung das ernst dankende Gesicht des Pasquino, als Leiters der Truppe.

Ein Besuch bei dem Baron Pasquale Pennisi, dem berühmten Besitzer einer, durch eigene Mühewaltung allmählich von ihm erworbenen großartigen Sammlung sizilianischer Münzen bis in die fernste griechische Zeit zurück, fällt noch in die erste Hälfte des etwa vierwöchigen Aufenthaltes, und obgleich er sonst durchaus keine hervorragende Hochschätzung für derartige Sammlungen kundgab, wandte er dieser doch viel Interesse zu und ließ sie sich eingehend zeigen. Von Catania aus stellte sich der freundliche Marchese San Giuliano ein, um den ihm gemachten Besuch zu erwidern, er brachte den Meister in große Erregung, indem er bei der Unterhaltung über die Semitenfrage es als einen Vorteil für Italien hervorhob, sie sich amalgamiert zu haben. Dieser übersandte ihm daher im Anschluß an ihr Gespräch zu [584] seiner Selbstbelehrung ein Exemplar seines ›Erkenne dich selbst‹ (S. 430 s.). In die letzten Tage von Acireale hingegen fällt die Anwesenheit des Fürsten Ramacca, des Vaters des jungen Gravina und zukünftigen Schwiegervaters Blandines, gegen den er sich sehr gütig und liebenswürdig erwies. Dabei war es auffallend, wie überaus wohl und jugendlich sein Aussehen war, er schien der jüngste von allen. Dies war der Erfolg der Ausspannung dieser letzten Zeit; denn nachdem er in der Villa Gangi zuletzt noch sehr unruhige Nächte durchgemacht, hatte er noch in der ersten Woche von Acireale einen seiner stärksten Krampfanfälle erlitten, war elektrisiert worden und noch nach allmählicher Beruhigung seines Zustandes sehr angegriffen. Der Ausflug nach Catania aber war ihm sehr gut bekommen und so auch die daran sich schließenden Exkursionen der nächstfolgenden Tage. Auch war es für sein Wohlergehen nicht unvorteilhaft, daß das quälende ›Draußen‹ ihn einigermaßen verschonte: er sah sich mit dringenden Briefen nicht überhäuft. Noch von der Villa Porazzi aus hatte er einen Teil seiner Sorgen für die Besetzung seines Werkes in Levis Hände niedergelegt; Neumanns dringende Bitte um den Vorhang seines Festspielhauses war ihm peinlich genug gewesen, doch hatte er sie ihm nicht abschlagen wollen und ihm denselben leihweise überlassen, so daß er ihm am 10. März zugleich mit dem gesamten Nibelungen-Inventar von Bayreuth nach Leipzig zugegangen war. Wenig Vergnügen hatte ihm ein weiterer Brief Neumanns bereitet, in welchem er, mit gänzlicher Verkennung seines Gesundheitszustandes und der äußersten Notwendigkeit, gerade jetzt sich die unumgänglich nötigen Kräfte für die in Bayreuth seiner harrenden Aufgabe zu sammeln und zu erhalten, ihn etwas ungehörig stürmisch zu seinen Londoner Aufführungen einlud. Doch war das alles noch in Palermo abgetan. Von Frau Materna erfuhr er zu seinem Bedauern, daß er sie sich nicht in London mitwirkend vorstellen dürfe und zwar, weil sie (in ewigen Geldnöten) vor Bayreuth in aller Eile noch eine Tournee in – Amerika zu erledigen wünschte!›Daß Sie jetzt nach Amerika gehen‹, schrieb er ihr, ›hat mich ganz erschreckt; wie gern hätte ich Sie dagegen in London gewußt! Warum hat sich das zerschlagen?‹ In dem gleichen herzlichen Schreiben beruhigt er sie über die von ihr gefürchteten ›tiefen Stellen‹ in der Partie der Kundry, weil diese nirgends Stärke des Tones erforderten; im dritten Akte der ›Walküre‹ (›war es so schmählich‹ usw.) habe sie gezeigt, wie sehr auch diese Tiefe ihr zu Gebote stehe: mit dem Gemüte mache man eben alles. ›Gern hätte ich von Ihnen vor Ihrer Meerfahrt noch ein freundliches Wort! Ich bleibe bis 10. April noch hier am Fuße des Ätna – von dann ab treffen mich Briefe in Venedig (Hotel d'Europe): Anfang Mai gedenke ich wieder in das Schlechtwetterland zurückzukehren: dort möge es dann der Himmel gnädig machen!‹19 Das schlimmste war, daß Lilli Lehmann, auf [585] die er sich ganz verlassen zu können glaubte, für die ihr zugedachte ehrenvolle Aufgabe einer Einstudierung der Blumenmädchen, die ganz ihren Händen anvertraut war (S. 425, 505), plötzlich ihre Mitwirkung verweigerte!! Gerade dies aber wurde ihm für jetzt, um sein Befinden nicht einer neuen Erschütterung auszusetzen, verschwiegen; wogegen sich einstweilen Frau Wagner mit aller Wärme, die sie zu äußern fähig war, noch einmal an die ganz unersetzlich Scheinende wandte, um das drohende Übel, wenn irgend möglich, noch abzuwenden!

So nahte der Abreisetag heran, leider mit demselben grauen Wetter, das schon die letzten Tage in Acireale unerfreulich gemacht hatte und ihn bis nach Messina begleitete, von wo er zu Schiff nach Neapel zu gehen gedachte. Hier mußte er erfahren, daß das Schiff, auf welches er für die Überfahrt gerechnet, keinen Raum für ihn habe, weil der Er-Khedive von Ägypten, von Alessandria zurückgewiesen, mit seinen Frauen darauf sich befinde. Um die Zeit auszufüllen, unternahm er, nachdem er dem Domplatz seine Bewunderung gezollt, eine Spazierfahrt die Strada Garibaldi hinauf, bis zur Kirche Sta Maria dei Catalani, der ältesten Normannenkirche Messinas, deren antike Säulen noch darauf hinwiesen, daß an ihrer Stelle einst ein Poseidontempel gestanden, über dessen zerfallenden Trümmern erst eine Moschee, und dann eine christliche Kirche errichtet wurde. Das Meer spiegelte die merkwürdigsten Farben in violett und grün, und die Ufer zeigten auch beim einförmig grauesten Wetter ihre Schönheit; aber der Regen zwang ihn zur Umkehr ins Hotel und zur Lektüre. Es wurde der ›Braut von Messina‹ gedacht, die niemand herrlicher als er selbst gepriesen;20 doch rief er, mit Bezug auf das Künstliche einer solchen Rekonstruktion der Antike: ›Nur der Würde keine Maske anlegen wollen! Wenn sie sich nicht von selbst aus dem Kultus ergibt, wie bei den Griechen, wo jede Anrufung der Götter so furchtbar wirkt, da muß man es lassen!‹ Dagegen erhob er den ›Faust‹: ›Goethe konnte ruhig sterben, nachdem er dieses Lied der Nichtigkeit der Welt, und diese Verherrlichung der Liebe und des christlichen Gedankens gegeben!‹ Er nahm dann die Kaiserszenen aus dem ›Faust‹ vor und bewunderte die originell populäre Art, wie alles darin ausgedrückt sei: der Charakter des Kaisers so prägnant in seiner Schwäche und doch Anständigkeit. Es sei ein noch gar wenig gekanntes Buch, und schlechthin ›das Buch‹. Dann griff er zu einem Bande Turgenjewscher Novellen, der ihn schon in Acireale beschäftigt, und erwähnte rühmend, daß das russische Volksleben dem Erzähler noch naive [586] Motive zuführe, während die französischen Bücher nur Widerliches darböten. Auch unterhielten ihn die im Hotel vorgefundenen ›Fliegenden Blätter‹ und eine ihm mitgeteilte Notiz der ›Kölnischen Zeitung‹, wonach ein Straßburger den Vorschlag gemacht habe, die Ausnützung der Elektrizität zu monopolisieren, da ein Staat nur eine im Entstehen begriffene, nicht aber eine bereits blühende Industrie mit Vorteil sich aneignen könne ›Das wäre ja aber‹, rief er aus, ›ein eigener Gedanke, und wir müssen ja immer erst nachahmen, was andere Völker schon vor uns gehabt!‹ Selbst zu einer Whistpartie kam es; da ihm aber durch die Anwesenheit Gravinas die Nötigung des Italienisch- und Französischsprechens immer beschwerlich fiel, zog er sich für den Rest des Abends mit seiner Gemahlin zurück, die Jugend sich selbst überlassend.

Am 13. April nachmittags erfolgte dann endlich der Ausbruch zur Weiterreise, und tags darauf die Ankunft in Neapel, wobei der Meister dem Monte Pellegrino die Ehre eines Gedenkens erwies, indem er erklärte, die Felsen von Capri wollten ihm danach keinen rechten Eindruck mehr machen. Neapel selbst aber blieb ihm, was es stets gewesen, einzig berückend in seiner Lebensfülle. Wiederum wurde die Fahrt den Posilipo hinunter gemacht und die hochthronende Villa Angri begrüßt. Das Hauptanliegen aber war die ungesäumte Weiterreise und vorher der ergreifende Abschied von Gravina, der ihn bis hierher geleitet ›Soyez homme et vous nous avez pour amis‹, sagte er zu ihm und sprach ihm die Anerkennung seiner guten ehrenhaften Natur, und was dieser zu tun zukomme, in so wundervoller Weise aus, daß der Schmerz des Scheidens sich in eine sanfte Wehmut auflöste. Ein baldiges Wiedersehen in Bayreuth war verabredet, dort sollte im August die Vermählungsfeierlichkeit am Schluß der Aufführungen stattfinden. Dann ging es ohne weiteren Aufenthalt in einem Zuge bis Venedig, das ihm immer besonders lieb war. Ein Gang auf die Marmorquadern des Markusplatzes mit seinen umgebenden Prachtgebäuden entzückte ihn vollständig. Nur ein Abenteuer erregte ihm Ärger: er wurde von dem Sohne des amerikanischen Impresario Strakosch angeredet, der ihm die Verdienste seines Vaters um die Aufführungen seiner Werke anpries, und verwies ihm heftig die Unverschämtheit. ›Wenn ich so etwas nur mit kalter Malice sagen könnte‹, klagte er darüber, ›aber ich werde gleich leidenschaftlich, und mein Krampf kam wieder.‹ War dies zu verwundern, da – wo er auch weilte – dieser fremdartige Geist des Undeutschen ihn mit gleicher zäher Zudringlichkeit verfolgte? Soeben war Angelo Neumann in London mit den Vorbereitungen zu seiner ›Ring‹-Aufführung beschäftigt. Wir wissen bereits, mit wie empfindlicher Eifersucht er dabei auf das, Francke-Richtersche Unternehmen blickte, welches mit Bewilligung des Meisters gleichzeitig im Drury Lane-Theater den ›Tannhäuser‹, ›Lohengrin‹, ›Tristan‹ und die ›Meistersinger‹ bracht e; wir wissen aber auch, daß Wagner mit seiner Voraussage völlig [587] recht behielt, wonach in der ungeheuer ausgedehnten Weltstadt die beiden gleichzeitigen deutschen Unternehmungen sich ebensowenig schädigen würden, wie z.B. die zwei nebeneinander spielenden italienischen Opern Schwierigkeiten genug hatte Neumann in London zu überwinden, daran ist um so weniger zu zweifeln, als er diese selbst in eingehendster Weise zu schildern nicht unterlassen hat;21 die Franckesche Unternehmung gehörte darunter aber zu den mindestgefährlichen. Nichtsdestoweniger lag er dem Meister direkt und durch Vermittelung anderer mit dem Vorschlage an, seine Aufführung durch persönliche Anwesenheit auszuzeichnen. Am 15. April war dieser in Venedig angekommen, und fast durch die ganzen vierzehn Tage, die der Erholung in der schönen Lagunenstadt gewidmet sein sollten, zogen sich die Londoner Briefe und Telegramme, die in allen Tonarten auf das gleiche Ziel ausgingen. Um ihm Gedanken dieser Art fernzuhalten, hatte zunächst seine Gemahlin ihm die Mühe abgenommen, indem sie in seinem Auftrag Neumann mitteilte, daß er nach reiflicher Überlegung ihm notgedrungen die Meldung machen ließe, daß er nicht nach London kommen könne. Er wolle nur zufrieden sein, wenn seine Kräfte der Aufgabe, die seiner in Bayreuth harre, gewachsen seien. Damit aber war die Sache nicht abgetan Unmittelbar darauf traf, durch Neumann veranlaßt, ein Brief von dessen Leipziger Kollegen Dr. Förster ein, der mit wahrer ›Komödianten-Beredsamkeit‹, wie der Meister es nannte, ihm eine Folge von Gründen darlegte, die wohl für ihn – den Briefschreiber – verlockend scheinen, auf Wagner aber durchaus nur abschreckend wirken konnten. Er begann damit, ihm die den Herren Francke und Richter erteilte Erlaubnis gleichzeitiger Wagner-Aufführungen in London als einen begangenen Fehler vorzuhalten, den er nur durch sein persönliches Erscheinen wieder ausgleichen könne; durch sein Fernbleiben würde er nicht allein Neumann schädigen, sondern seiner eigenen Sache für jetzt und für die Zukunft einen tödlichen Streich versetzen. Dann kamen die Verlockungen dran. Am Tage der Ankunft Wagners in London würde von einer speziellen Vereinigung Londoner Kunstfreunde eine telegraphische Bestellung von wenigstens 500 Plätzen nach Bayreuth abgehen (!). Der Herzog von Edinburg biete ihm seinen Palast zur Wohnung an und würde dessen Einladung an ihn bereits ergangen sein, wenn der englische Prinz die Gewißheit hätte, daß sie akzeptiert würde (!). Die Universität Oxford harre nur seiner Ankunft, um ihm ihre höchste akademische Würde zu offerieren, die seit Vater Haydns Zeiten keinem Tondichter verliehen worden sei (!), und der Doktorhut von Oxford werde für die englische Welt ein weithin leuchtendes Ehrenzeichen auf Wagners Haupte sein (!!).22 Zweifellos aber sei es, daß noch andere großartige Ehrenbezeigungen [588] diesen bis jetzt beschlossenen folgen würden! Was war hierauf zu antworten? Wir geben hier sein, an Förster gerichtetes, von diesem an Neumann weitergesandtes Schreiben auf den wunderlichen Überredungsbrief im Auszuge wieder: ›Mein geehrter Freund und Gönner! Das hat man davon, wenn man in einer Welt lebt, worin nur gelogen wird! Herr Neumann ist gestern von meiner Frau direkt nach London benachrichtigt worden, daß, wenn ich auch wollte (wozu ich mich nie verpflichtet hatte!), nicht nach London kommen könnte, weil es mir mein Gesundheitszustand auf das bestimmteste verwehrt. Wenn ich unter solchen Beschwerungen die bevorstehenden Aufführungen des »Parsifal« künstlerisch zu überwachen nicht aufgebe, so geschieht dies einerseits in der Annahme, daß dort all es strikte nach meinen längst getroffenen Anordnungen ausgeführt wird, andrerseits ich aber in Bayreuth bei mir zu Hause bin, mich stets nach Bedürfnis pflegen und isolieren kann, und vor jeden Ansprüchen von außen auf meine Person bewahrt bin Gerade die Herrlichkeiten, die Sie mir für London als verlockend in Aussicht stellen, sind es, die mich in die bedauerlichste Lage versetzen würden, in welcher ich Neumann eher schaden als dienen würde. Unter solchen Umständen habe ich auch bereits für den mir von Oxford angetragenen Doktorhut, welcher (Sie irren mit Vater Haydn!) bereits neuerdings den Herren Joachim und Brahms vortrefflich steht – danken lassen. Alles, was ich jetzt, zur Aufrechterhaltung der Prävalenz unseres Nibelungen-Unternehmens, tun kann, ist, daß ich es Neumann überlasse, in ähnlichen, für ihn empfehlenden, Ausdrücken mein Ausbleiben zu entschuldigen, welche ihm gestern meine Frau an die Hand gegeben hat. – Bitte um etwas Glauben an meine Wahrhaftigkeit!‹23 Bekanntlich glaubt und begreift aber derjenige am schwersten, der aus irgendwelchem Grunde eben nicht begreifen und glauben will. Und so bezeichnet sich Neumann tatsächlich noch in einem Telegramm vom 21. als ›tief unglücklich über Ihr (Wagners) Nichtkommen‹. In seiner eigenen jugendlichen Kraftfülle und Rüstigkeit, und unter dem – aus jeder Begegnung mit ihm gewonnenen und bestärkten – Eindruck der nicht bloß geistigen, sondern ersichtlich selbst physischen Überlegenheit des Genius konnte er, wie er selbst später reuig bekannte (S. 489), selbst jetzt noch nicht an des Meisters Krankheit als maßgebenden Verhinderungsgrund glauben, sondern hielt sich offenbar, zur Erklärung seines Fernbleibens, allzu ausschließlich an ein eigenes dunkel [589] empfundenes Gefühl davon, daß es außerdem für ihn immerhin moralische Abhaltungsgründe dafür geben mochte, die wohlfeilen Ehrenbezeigungen einzuernten, welche die englische Gesellschaft ihm zu Füßen zu legen bereit war! Immerhin wäre es unrecht, gerade Neumann, den unverwüstlich Tätigen, wegen eines solchen Mißverständnisses besonders anklagen zu wollen, wo die ganze umgebende Welt, sobald es sich um Wagner handelte, mit Behagen darin fortfuhr, ihm alles aufzubürden und jede Art der Betätigung von ihm allein zu erwarten, dem sie ihrerseits nur Hemmnisse in den Weg warf!24

Von diesem Zoll an die Außenwelt abgesehen, erwies sich Venedig recht erfreulich. Wiederholt besuchte er, allein und mit den Seinigen, das Innere der Markuskirche und die Academia delle belle Arti aber auch – zu abendlicher Zerstreuung – gelegentlich das Teatro Goldoni oder Teatro Rossini. Die Markuskirche war und blieb sein erklärter Liebling: er begreife nicht, wie man den warmen Stil der byzantinischen Kirche zugunsten der antikisierenden Weichlichkeit habe aufgeben können, wie sie ihn z.B. in dem kalten Innern der Sta Maria della Salute förmlich zurückstieß. Einmal stellte Siegfried die, Frage, warum denn die schönen Klöster aufgehoben würden. Ernst erwiderte er dem Knaben: er wisse nicht, welcher erbarmungslosen Macht diese prächtigen Gebäude dienten, welche Stätten des Hochmutes diese nach ihrer ursprünglichen Bestimmung so ganz anders beabsichtigten geworden wären, Freilich, die Macht, welche sie jetzt zu ersetzen bestrebt sei, sei dem Erhabenen ebenso abgeneigt; und so sei alles ernst: wir erlebten wohl jetzt die letzten Tage des angenehmen Scheins. ›Wir aber mögen trachten zu erhalten, die Geschichte als die große Lehrmeisterin ansehen und nicht alles niederreißend von vorn anfangen‹, sägte er hinzu, mit Ergriffenheit darauf hinweisend, wie viele Jahrhunderte an dem herrlichen Bau des Markusdomes gearbeitet. Die schönen Glocken Venedigs ertönten feierlich bei diesen Worten; tiefe Schatten breiteten sich aus, während im Westen goldig die Sonne unterging. Wir gedachten soeben der von ihm besuchten, nach Goldoni und Rossini benannten Theater: in dem ersteren traf er, anstatt eines der Goldonischen Originalstäcke, von denen ihn ein Vierteljahrhundert zuvor, bei seinem ersten Venediger Aufenthalt, die ›baruffe Chioggiote‹ durch ihre Volkstümlichkeit angezogen hatten – auf das übersetzte Scribesche Lustspiel ›battaglia di donne‹: die schwache Exposition, in welcher das viele Hin- und Herreden die Handlung nicht aufkommen läßt, bewirkte bald seine Ungeduld;[590] aber die Durchführung interessierte ihn. Auch im Teatro Rossini fand er, daß in dem aufgeführten Stück zuviel geredet wurde: ›ich will Aktion‹; aber es wurde doch sehr gut und natürlich gespielt; auch in der Posse am Schluß. In den belle arti fesselte ihn u.a. das Mahl in Emmaus von Marziale und auf diesem der Mann mit dem großen Hut, selbst den etwas konventionell behandelten Christus wollte er darauf nicht tadeln; auch die daneben hängende kleine Madonna von Bellini machte ihm Freude; den glorreichsten Eindruck aber bewirkte wiederum die über alles erhabene ›Assunta‹ in ihrer leuchtenden Farbenpracht und überirdischen Verklärung. Auf die Bemerkung, daß es sich hier um einen Höhepunkt der Kunst handle, wie etwa in der neunten Symphonie, rief er lebhaft: ›o! in der Musik haben wir nicht so Vollendetes, es sind Versuche!‹ Das glühende Antlitz der Heiligen erweckte ihm wieder den Gedanken, wie hier das einzig Mächtige in der gesamten Natur, der Geschlechtstrieb, von allem Begehren befreit, der Wille entzückt und von sich selbst erlöst sei in der Sehnsucht, den Heiland zu erzeugen. Bei einem Besuch des Arsenals faszinierte ihn der eine der vier antiken Löwen: ›so ein ideales Wesen, das man nie gesehen! so sollten mein Fafner und Fasolt aussehen!‹ Dann wiederum nannte er ihn seinen ›Wotan‹ und erklärte steif und fest zu glauben, er sei symbolisch gemeint und habe einst in Marathon als Siegesdenkmal gestanden. Unter anderem Gesichtspunkt wurden mehrere der großen Palazzi eingehend beachtet und geprüft: es galt für den nächsten Aufenthalt – nach überstandener Aufführung des ›Parsifal‹ einen geeigneten Wohnort im voraus zu sichern. Der Palazzo Loredan nahm ihn wiederum ganz für sich ein; doch konnte mit dem Agenten seines Besitzers eine Einigung nicht erzielt werden. Wohl aber wurde am letzten Tag vor der Abreise das Mezzanin des Palazzo Vendramin zu gleichem Zwecke besichtigt. Die Liebe zu der schönen Stadt, die dem Meister von je so gefallen, gab Frau Wagner eines Tages die Äußerung ein: sie wünsche hier zu sterben. Worauf Siegfried entgegnete: ›Ich wünsche in Bayreuth zu sterben; denn wie schon alles auch sei, man kehrt doch am liebsten zur Heimat zurück.‹ Den Meister freute dieses frühausgeprägte Heimatsgefühl: ›Wehe dem‹, rief er, ›der es nicht hat!‹ Ihm und allen den Seinigen ist es unter aller Unbill des rauhen nordischen Klimas immer zu eigen geblieben.

Zu Ehren Venedigs las er den Seinen einmal (an zwei Abenden) Gozzis ›Raben‹ vor, mit Vergnügen daran Turgenjew in der französischen Übersetzung mochte er nicht mehr; dagegen griff er – vielleicht durch die Beschäftigung mit Gozzi dazu veranlaßt – wieder einmal zu den ›Serapionsbrüdern‹ E. T. A. Hoffmanns und las mit Interesse darin. ›Das schlechteste deutsche Buch ist mir lieber, als das beste französische‹, sagte er, ›es wird doch immer etwas Sympathisches darin angeregt, wovon die andern keine Ahnung haben.‹ Doch, sägte er hinzu, das sei nicht zu genau zu nehmen! Von auswärtigen [591] Ereignissen waren es hauptsächlich zwei, die, in diese Periode fallend, seine Beachtung auf sich zogen: die Verlobung Bülows mit einer Hamburger Schauspielerin und – der Tod Darwins, dessen Protest gegen die Greuel der Vivisektion ihn mit Sympathie erfüllt, und dessen nachherige öffentliche Erklärung zugunsten der Physiologie überhaupt (wenn auch nicht eben der vivisektorischen Ausschreitungen) für ihn und andere doch etwas Zweideutiges gehabt hatte. Auch einige Besuche bei der ihm so ergebenen Fürstin Hatzfeldt wären hier zu erwähnen: unter herrlichem Mondschein, nebst bengalischem Feuer und Gesang venezianischer Volkssänger, wurde er hin und zurückgeleitet und war den Abend über recht munter aufgelegt. Am Tage seiner Abreise selbst (29. April), kurz vor der eben erwähnten Besichtigung des Palazzo Vendramin, erzählte er, er habe zufällig in einer Buchhandlung die Adresse seines alten Bekannten und damaligen jungen Freundes Karl Ritter erfahren, den er seit seinem ersten Aufenthalt in Venedig nicht wiedergesehen,25 und der es übers Herz gebracht hatte, den Aufführungen des ›Tristan‹, der ›Meistersinger‹, und endlich des ›Ring des Nibelungen‹ fernzubleiben! Er habe von dieser zufällig gewonnenen Kenntnis sofort Gebrauch gemacht und nach vielem Suchen endlich auf der Riva das richtige Haus und die richtige Tür gefunden, wo aber eine Frau, mit einem Säugling auf dem Arm, ihm gesagt habe: ›Herr Ritter sei nicht zu Hause‹. Auf seine bestimmte Gegenerklärung: ›er ist wohl zu Hause‹, sei die Frau verlegen geworden und habe gefragt: er sei wohl der Herr Wagner? ›Ja, ja!‹ habe er erwidert, einen Zettel verlangt, worauf er die Worte geschrieben: ›Was bist Du für ein Mensch!‹ und sich entfernt. Dies war und blieb denn für Den, der einst seinem Herzen nahegestanden, die letzte Veranlassung, in der er sich dem von ihm verlassenen und auf gegebenen großen Freunde und Meister wieder hätte nähern können; Wagner selbst hatte in seiner großherzigen Weise den ersten Schritt dazu getan, jener aber – aus Scham oder Trotz – nicht den Mut gehabt, dies Entgegenkommen zur Heilung alter Wunden seiner, durch Wagner unwissentlich verletzten Eitelkeit zu benutzen. Die Gelegenheit kam nicht wieder, und Ritter blieb, was er gewesen: der einsam verkommende, verbitterte Sonderling, zu dem sein unglückliches Naturell ihn gemacht.

Seine Abreise erfolgte direkt vom Hotel, wiederum unter dem Geleit des Gesanges venezianischer Volkssänger und großer Menschenansammlung auf allen Brücken. In München wurde er bei der Ankunft wiederum durch Levi und Herrn v. Bürkel am Bahnhof empfangen; auch Lenbach gesellte sich im Lauf des Nachmittags hinzu, und der Abend wurde mit den Kindern im Theater verbracht, wo das damalige Volkszugstück: ›Die Reise um die Welt in 80 Tagen‹ gegeben wurde: ein schlechtes Stück und schlecht gespielt. Auf [592] der Weiterreise durch Nürnberg rastete er ein wenig, um mit den Seinen der St. Sebaldus- und der Lorenzkirche einen Besuch abzustatten, in inniger Befriedigung darüber, daß sie auch hier in der deutschen Heimat eine solche Freude an plastischer Schönheit empfinden könnten. Und weiter ging es, unter beständigem Genießen der hübschen Gegend zwischen Nürnberg und Bayreuth mit Wald und Flur im Sonnenschein. Dann von fernher sichtbares Auftauchen der heimischen Berge und Hügel, des Festspielhauses, endloses Winken, Hut- und Tücherschwenken der am Bahnhof versammelten Menge, als hielte ein geliebter Fürst seinen Einzug, endlich die einzelnen Gestalten der Getreuen, Begrüßung mit den Freunden Großens am Bahnhof, mit Wolzogen und Joukowsky in Wahnfried, Wiedersehen der Hunde, Eintritt in den Saal, das Zwitschern der Vögel im Garten – mit einem Wort: ein rechter ›1. Mai‹ in Bayreuth.

Fußnoten

1 Bereits hatte er zu dieser zweiten Auflage das Vorwort geschrieben, aber die gewünschte zweite Ausgabe erlebte er nicht mehr. Vgl. hierüber Prof. L. Schemanns fundamentales Buch ›Gobineaus Rassenwerk‹ (Stuttgart, 1910), S. 7/8.


2 Sie gehören noch Steins erster Periode an und wurden aus der Sammlung ›Helden und Welt‹ von ihm ausgeschieden. Später, nach Steins Tode, gelangten sie in den ›Bayreuther Blättern‹ zum Abdruck (1893, S. 324. 1894, S. 41. 230).


3 Der berühmte Leiter der von ihm begründeten Concerts Lamoureux, mit seinem eigentlichen Namen Israel, hatte soeben – 11. Februar 1882 – den ersten Akt des ›Lohengrin‹ in seinen Konzerten vor einem Publikum von Tausenden unter größtem Enthusiasmus aufgeführt, wovon der Meister nur sehr wenig erbaut war. ›Solange man Fragmente meiner Oper in Ihren Konzerten ausführte, habe ich keinen Widerstand gezeigt. Nun man aber von den Fragmenten zu den ganzen Akten geschritten ist, kann ich Ihnen, werter Herr, nicht verhehlen, daß mir dies sehr unerwünscht erscheint‹ (brieflich an Lamoureux, 17. Mai 1882).


4 Vgl. über ihn Band III des vorliegenden Werkes, S. 271. (269 A.). Truinet wußte genau, daß der Meister seit 1859 Mitglied jener Gesellschaft und das Aufführungsrecht seiner Werte nie von ihm an seine Verleger abgetreten war: er hatte bereits vor Jahren im Auftrag des Direktors der Großen Oper, Perrin, wegen des ›Lohengrin‹ verhandelt und hierbei erfahren, daß das Aufführungsrecht in den Händen des Autors lag, während jenen Verlegern einzig das Recht auf den Verkauf des Klavierauszuges und der musikalischen Arrangements zustand; ebenso 1869 mit Pasdeloup (vgl. Band IV, S. 280), dem nicht jene Verleger, sondern einzig Wagner die Erlaubnis zur Aufführung des ›Rienzi‹ erteilte, was nicht möglich gewesen wäre, hätte nicht das Recht dazu ausschließlich in seinen Händen gelegen.


5 Neumann in seinen ›Erinnerungen‹, S. 220 und 221, schreibt statt dessen konsequent: Truchet!


6 Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 220/21.


7 Gemeint ist die C dur-Symphonie, vgl. Band I des vorliegenden Werkes, S. 176 ff.


8 Brieflich an Direktor Goldberg in Königsberg, vgl. Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 219.


9 ›Bayreuther Blätter‹, 1882, S. 99/100 (Gesammelte Schriften X, S. 368/70).


10 ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 338/43.


11 Vgl. Adolf Friedrich Graf v. Schack, ›Geschichte der Normannen in Sizilien‹.


12 Vgl. im 13. Gesang von Ovids Metamorphosen die Episode von Acis und Galathea.


13 Gesammelte Schriften IX, S. 111.


14 Zunächst sei das Maß der Hausaufgaben einzuschränken und dafür zu sorgen, daß der durch eine große Menge von Unterrichtsstunden ohnehin ermüdete Schüler nicht durch das Übermaß der Memorieraufgaben und der schriftlichen Aufgaben erdrückt, daß ihm nicht die zur Erholung notwendige Zeit und die Frische genommen werde, die doch schließlich die Voraussetzung eines wirklichen Erfolges des Unterrichts sei. Aus der Spezialtechnik der neuen Philologie gehe ferner für den Schüler eine große Gefahr hervor, daß manche, namentlich jüngere, Gymnasiallehrer die Gesichtspunkte eines auf der Universität gewonnenen Fachstudiums unvermittelt auf das Gymnasium übertrügen, so daß der humanistische Zweck einer allgemeinen geistigen Ausbildung der fachmännischen Philologie zu erliegen drohe. Ähnliche Gefahren seien aber in nicht minder gefährlichem Maße bei dem Unterricht in der Geschichte, Naturwissenschaft usw. wahrzunehmen. Auf allen diesen Wissensgebieten war daher durch das erwähnte Reskript den Direktoren der sächsischen Schulen eine sehr genaue Kontrolle zur Vorschrift gemacht.


15 Vgl. die entsprechenden Gedanken der ›Beethoven‹-Schrift, Ges. Schr. IX, S. 144.


16 Er hatte gerade an Steins Abhandlung ›über Werke und Wirkungen Rousseaus‹ bei erneuter Durchlesung viel Wohlgefallen gehabt und ihm dies in dem ebenerwähnten Briefe ausgesprochen (›An Freunde und Zeitgenossen‹, S. 594).


17 Ges. Schr. X, S. 264: ›Da wir die Tiere bereits dazu verwenden, an ihren künstlich herbeigeführten Leiden zu erkennen, was uns selbst etwa fehle, wenn unser durch unnatürliches Leben, Ausschweifungen und Laster aller Art zerrütteter Leib mit Krankheiten behaftet wird, so dürften wir sie jetzt dagegen in förderlicher Weise zum Zwecke der Veredelung unserer Sittlichkeit, ja, in vieler Beziehung, als untrügliches Zeugnis für die Wahrhaftigkeit der Natur zu unserer Selbsterziehung benützen. Wo unter Menschen hingebende Treue bis zum Tode angetroffen wird, hätten wir schon jetzt ein edles Band der Verwandtschaft mit der Tierwelt keineswegs zu unserer Erniedrigung zu erkennen, da manche Gründe sogar dafür sprechen, daß jene Tugend von den Tieren reiner, ja göttlicher als von den Menschen ausgeübt wird. Ein wirklicher Erfolg dürfte wohl nur davon zu erwarten sein, daß der Mensch zu allernächst sich seiner selbst in einem adeligen Sinne bewußt würde‹ (Ebendaselbst, S. 267. 264).


18 Vgl. Band III des vorliegenden Werkes, S. 140.


19 ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 343/44. Auch für Scaria, von dem er viel für seinen Gurnemanz hoffte, enthält dasselbe Schreiben freundliche Worte; ›Grüßen Sie doch Scaria sehr von mir; es ist mir ungemein lieb, daß er diesmal mit bei uns ist! Wenn Siehr auch schon gut ausreicht, so ist es mir doch erst wohl, daß ich Scaria habe– dessen Wotan mir Etwas gesagt hat!!‹


20 Ges. Schriften VIII, S. 124 (vgl. Band IV, S. 34).


21 Angelo Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 222/25.


22 Der gleiche Antrag, mit dem gleichen Hinweis auf Haydn, war zuvor durch Vermittelung eines Herrn Schulz-Curtius, Dirigenten der Symphonie-Konzerte in St. James Hall, zunächst in Form einer Anfrage an Frau Wagner, an ihn gelangt und von der Empfängerin in der liebenswürdigsten Weise dahin erwidert worden, daß eine derartige schmeichelhafte Auszeichnung von ihrem Gemahl doch als etwas verspätet und mehr für seine Schüler (wie z.B. Hans Richter) passend erachtet würde.


23 Beide briefliche Dokumente, der Brief von Frau Wagner (17. April) und derjenige Wagners selbst (vom 19. April), sind unverkürzt und wörtlich abgedruckt in Neumanns ›Erinnerungen‹, S. 227/29.


24 Zu dieser Art von gesundheitschädigenden Unannehmlichkeiten gehörte fortdauernd auch sein Verhältnis zu seinem eigenen Vertreter und Bevollmächtigten Herrn Batz, vgl. das von Neumann (›Erinnerungen‹, S. 234/36) mitgeteilte Schreiben an diesen aus Venedig vom 26. April 1882.


25 Vgl. Band III des vorliegenden Werkes, S. 208.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 565-594.
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