III.

Komposition des zweiten Aktes begonnen.

[70] Komposition des zweiten Aktes mit der Klingsorszene begonnen. – Frau von Schleinitz in Wahnfried. – Pusinellis Tod. – Besuche: Liszt, Frau Materna, Seydlitz, Heckel. – Offener Brief von Constantin Frantz. – Leipziger ›Rheingold‹ und ›Walküre‹. – Krankheitsstörungen: Furunkel am Bein. – Tenorist Jäger. – Besuche von den Leipziger Aufführungen her.


Viele mir Gewogene sind der Meinung, es sei providentiell, daß mein Werk jetzt gezwungenermaßen sie über die Welt zerstreue; denn dadurch sei ihm diejenige Popularität gesichert, welche bei seinen vereinsamten Aufführungen in unserem Bayreuther Bühnenfestspielhause notwendig vorenthalten sein würde.

Richard Wagner.


Am 31. Januar war die beendete Kompositionsskizze des ersten Aktes zur Kopie in Seidls Hände übergegangen; schon in den ersten Februartagen tat der Meister die bezeichnende Äußerung: ›wenn er nicht komponiere, fühle er sich nicht wohl; er fände dann, er habe es zu gut‹.1 Somit treffen wir ihn schon am 7. Februar in voller Tätigkeit an dem zweiten Akte, zunächst dem Vorspiel, über welches er bald ›im klaren‹ war. Nicht brütend, sondern wild würde sein Klingsor, auch den Schrei der Kundry habe er schon. Er freute sich der Kunst, mit welcher er der düsteren, unheimlichen Melodie des Klingsor das, in diesem Vorspiel ihr eigene ›Tobende‹ verliehen, die ruhelose Hast der Bewegung, welche dieses dämonische Orchesterstück auszeichnet; auch des F, das er ihm für den ersten Eintritt der Singstimme gegeben. Trotz seines rheumatischen Fußleidens (S. 22) und der dadurch verursachten Schmerzen, trotz schlechter Nächte war er in einigen Tagen bis zur ›Höllenrose‹ gekommen. Aus dieser Zeit stammt sein – nachmals wiederholter – tief [70] sinnvoller Ausspruch über das Verhältnis seines Wotan zu seinem Titurel. ›Wer ist Titurel?‹ fragte er, und fuhr dann fort: ›es ist Wotan, in der Weltentsagung wird ihm die Erlösung zuteil; ihm wird das höchste Gut anvertraut und nun hütet er es kriegerisch göttlich.‹2 Auf die Bemerkung, man müßte dann auch den Namen Wotans im Titurel wiederfinden, ging er ein und erwiderte: der Name Titurel werde als Diminutiv von Titus gedeutet; Titus als Sinnbild für königliches Ansehen und Herrschermacht; Wotan – der Gott-König, das sei der gesuchte Zusammenhang. Auch zog er eine Vergleichung zwischen Alberich und Klingsor; mit ersterem, so erinnere er sich, habe er einst völlige Sympathie empfunden, in der Szene mit den Rheintöchtern repräsentiere er gewissermaßen die Sehnsucht des Häßlichen nach dem Schönen. Bei Klingsor sei eine solche Sympathie unmöglich. In Alberichs dämonischem Charakter, seiner Gier und Wut, bekunde sich die Naivetät einer vorchristlichen Welt; in Klingsor sei das eigentümliche Böse verkörpert, welches erst das Christentum in die Welt gebracht. Er glaube nicht an das Gute; darin gleiche er ganz den Jesuiten; dies sei seine Macht, aber auch sein Untergang: denn Einen gebe es durch die Äonen hindurch doch einmal! –

In diese Zeit fielen mancherlei Korrespondenzen, auch die Bearbeitung von ›Was ist deutsch?‹ für das zweite Stück der ›Bayreuther Blätter‹; außerdem aber widerstrebte ihm das krampfhaft Wilde, die grauenhafte Dämonik des Bösen in dieser furchtbaren Beschwörungsszene. Er sprach sich ärgerlich über das ›Duett‹ aus, welches er nun zu ›komponieren‹ habe und das ihn zwang, mit seinem ganzen Wesen in die düstersten Abgründe des Bösen, Unheimlichen hinabzusteigen; denn nicht von außen her, nur aus dem Innersten heraus ließen sich diese Gestalten erfassen und beseelen. ›Was mich von den jetzigen Komponisten scheidet und sie mir überlegen macht‹, sagte er, ›das ist, daß ich nicht komponieren kann, ohne einen »Einfall« zu haben; sie aber können es.‹ In einem heiteren Brief an Liszt vom 26. Februar aber verglich er sich scherzend mit diesen Musikern: ›er komponiere jetzt den ganzen Tag, wie Raff und Brahms‹. In seinen Erinnerungen an die damalige Zeit gedenkt späterhin Wolzogen jenes wundersamen, unbestimmten, sphärenhaften Summens und Klingens, wie es mitunter aus des Meisters verborgener Arbeitsstätte in die Räume von Wahnfried herab gedrungen sei. ›Niemals [71] habe ich daraus eines der später so vertraut gewordenen Motive des Wertes vernommen: immer waren es nur Harmonien, welche der Schöpfer wie die ersten Nebelkreise, aus denen die Welt sich gestalten sollte, aus dem Klavier hervorzauberte Sie umschwebten gleichsam seine schöpferische Phantasie als stimmunggebendes Element, und der große Zauberer – sonst die Pünktlichkeit selbst (»Unpünktlichkeit«, sagte er, »kommt gleich nach dem Verrat«) – der kam dann wohl selbst einmal etwas verspätet in seinen heiteren Kinderkreis und lächelte vor sich hin: »heut' hab' ich meinem Klingsor ein Mäntelchen umgehängt – ich denke, das wird ihm stehen«.‹ In seinem körperlichen Befinden wechselte Wohlsein und Frische mit Müdigkeit und Ermattung infolge schlafloser Nächte. Er setzte die Arbeit fort, trotzdem er, wie er sagte, gern am Ende des Duettes wäre, und freute sich schon im voraus auf den dritten Akt. Inzwischen war er weder Klingsor noch Kundry in der Energie ihrer leidenschaftlichen Akzente etwas schuldig geblieben und mit dem feurig pulsierenden Orchestersatz bei Parsifals Kampf mit den Rittern bis an den Schluß der Szene vorgedrungen. Am 10. März konnte er befriedigt melden: er habe ›Klingsor heruntergeworfen‹. ›Jetzt bin ich ihn los, den musikalisch-dramatischen Meerrettich!‹ habe er, da er zu Tisch kam, mit tiefem Aufatmen gesagt, ›jetzt schreib' ich nur noch Quartette!‹ Das war, so fährt Wolzogen fort, nach der Vollendung der grausigen Klingsorszene!3 Und bereits tags darauf, nachdem Klingsor das Feld geräumt und mit seinem ganzen Turm in die Tiefe versunken war, kamen seine Mädchen auf die Bühne gestürzt, ›mit einer milden Klage‹, wie er sagte, ›ohne Wut; wie Kinder, denen man ihr Spielzeug genommen‹. Die Federskizze des ersten Aktes war inzwischen nicht in seinen, sondern zur Kopie, beziehungsweise Redaktion in einen vorläufigen spielbaren Klavierauszug in Seidls Händen; darüber befragt, ob er ihrer für die weitere musikalische Ausführung nicht bedürfe, erwiderte er ablehnend: ›ich kann nicht (mechanisch) transponieren; ich gehe immer nach dem Klang, niemals nach einem abstrakten Wissen Vielleicht hat mich das vor manchem bewahrt, wie z.B. etwas Übelklingendes niederzuschreiben, weil es doch ginge, da es in diesem oder jenem harmonischen Verhältnis stünde‹.

›Es wird mir sonderbar sein, nach diesen wütenden Sachen nichts wie Lieblichkeiten komponieren zu müssen‹, sagte er bei diesem Übergang zur folgenden Szene, und im Bewußtsein dessen, wie weit er dabei in seinen Forderungen an sich ginge, fügte er die Worte hinzu: ›am Ende reiche ich nicht aus‹. Wirklich war er während der Ausarbeitung stets zur schärfsten Selbstkritik geneigt; gerade die Leichtigkeit, mit welcher das Holdeste [72] und Anmutigste ganz von selbst mit den zartesten und mildesten Farben, den üppigsten, weichsten Harmonien sich gestaltete, ließ ihn oft im Augenblicke des Schaffens noch zweifeln, und er war um so befriedigter, wenn er sich sagen konnte: er sei ›zufrieden mit dem, was er gemacht, und womit er, als er es machte, nicht zufrieden gewesen‹.4 Parsifals Erscheinen auf der Terrasse, mit der vollen Durchführung seines Motives, veranlaßte ihn zu dem Ausspruch: ›Ja, die Musik! Wer könnte die ersetzen? Wie er da oben erscheint und sein Motiv erklingt! Im gesprochenen Drama wäre diese Pause unmöglich: die redende Pause – das ist das Eigentum der Musik!‹ Das grenzenlose Wohlgefühl, das ihn bei dieser Arbeit im Innersten durchdrang, machte sich ein anderes Mal in dem Ausruf Luft: das Produzieren sei Alles, der Ruhm nur die ›Austernschale‹!5 Der in vier Gruppen geteilte zwölfstimmige Chor seiner Blumenmädchen nötigte ihn zu einer entsprechenden Neubearbeitung des Textes, da es unmöglich war, mit dem vorhandenen Vorrat an Textworten der Dichtung alle zwölf Stimmen zu versorgen, ohne in ein – ihm so fremdes – schematisches Verfahren zu geraten. Das erinnerte ihn an die Zeit, wo er für den Schluß des zweiten ›Meistersinger‹-Aktes ›Text machte‹. Auch im ersten, Finale des ›Lohengrin‹ habe er zuerst die Musik gehabt und dann den Text der Chöre im einzelnen ausgearbeitet Niemand im Publikum wurde diese Feinheiten in den Abweichungen der Textworte beachten; aber die Sängerinnen doch anders singen, sich als Individuen fühlen, wenn sie im Ensemble nicht bloße unsinnige Wiederholungen zu bringen hätten, und das trüge zur Gesamtwirkung bei, wie z.B. auch im Gesang der ›Walküren‹. Bis in die abendliche Lektüre hinein folgten ihm die Gedanken an seine Arbeit. Gerade während aus der Gwinnerschen Schopenhauer-Biographie (S. 62 f.) vorgelesen wurde, rief er mitten drin plötzlich aus: ›ein Trugschluß, es wird As dur!‹ Während einer Pause stand er auf, ging in den Garten, kam wieder zurück und sagte, er habe das Sternbild des Wagens mit der Deichsel ganz nach Osten gewendet erblickt. ›Was will denn der Esel mit dem Hinweis nach Osten? Am Ende, daß ich nach dem Parsifal noch die Sieger komponiere?‹ Es war das zweitemal (vgl. S. 44), daß er während der Komposition seines Weihefestspieles an jenes Werk dachte, welches ihm einst so drängend nahe am Herzen[73] lag, daß er die dazwischenliegende Arbeit am ›Ring‹ und ›Tristan‹ hätte verschlingen mögen, um nur zu seiner, deutlichst ihm vorschwebenden Ausführung in Wort und Ton zu gelangen, und welches dann, durch die Ungunst seiner Lebensverhältnisse, durch die ununterbrochene Folge tragischer Komplikationen völlig ausgelöscht und von der großen Tafel seines Schaffens vertilgt worden war. Wieviel unersetzlich kostbarste Jahre dieses Schaffens waren ihm durch wesenlose Sorgen und Nöte und die mannigfachsten, unerschöpflichsten Kombinationen, ihnen zu entgehen, rein verloren gegangen; wie viele seiner dramatischen Entwürfe, die ihm sofort in ihrer vollen Gestalt von drei Alten entstanden, im Keim erstickt und selbst bis auf die Namen und Gegenstände im Gedächtnis erloschen, so daß, da sie auch in seinen Briefen unerwähnt blieben, keine Öffentlichkeit je etwas davon erfahren hat; wie bitter hatte sich für ihn das Einlaufen in den Hafen verzögert, der sich nun endlich nach allen Stürmen im spät gewonnenen, lange vergeblich ersehnten, Familienkreise ihm aufgetan, der seiner Zeit gegenüber dennoch, nach wie vor, der ›große Einsame‹ blieb, der er früher gewesen!

Wir knüpfen mit dieser Betrachtung, mit dem Hinweis auf das zeitlebens ungestillt gebliebene, durch Entbehrung schmerzlichst gesteigerte, nun endlich befriedigte Verlangen nach einer heimischen Häuslichkeit und trauten Familienumgebung an bereits früher Gesagtes an.6 Wie sehr verstand er es, inmitten alles Schaffens und Arbeitens dieser trauten Umgebung zu genießen, sie durch seine liebevolle Teilnahme anzuregen und zu beglücken! Es kam vor, daß statt der abendlichen Lektüre der Erwachsenen auch einmal den Kindern das Lesen übertragen wurde; die Vorlesende war dann wohl meist die zehnjährige Eva und der Gegenstand der Lektüre ein Grimmsches Märchen ›Freuen wir uns diese Kinderstimmen noch zu hören‹, sagte er und freute sich des lauschenden ›Fidi‹ mit dem blonden Kopf. Ein anderes Mal, bevor an die abendliche Lektüre geschritten wurde, ließ sich vom Flügel in der Halle her der Anfang des Einzuges der Ritter in die Gralshalle vernehmen: es war sein zwölfjähriges Töchterchen Isolde, die ihn spielte und, wo die genaue Erinnerung sie verließ, sogar aus eigenem noch eine Art Oberstimme hinzufügte. Der Meister freute sich dessen und empfand es als ungemein ergreifend. ›das beste Zeugnis‹, sagte er, ›für mein Schaffen‹. Oder er hörte den zukünftigen Schöpfer des ›Bärenhäuter‹ und ›Bruder Lustig‹ im Garten Klingsors Motiv singen. Er sprach von einer Symphonie, die er ihm widmen wollte: ein Thema dazu sei ihm heute wieder eingefallen; sie würde so schön und heiter sein, wie der Junge. In bezug auf dessen damals noch vorherrschende Zartheit meinte er, diese ihm selbst so eigene Art hindere keineswegs die Energie des Charakters: ›muß er denn ein Rüpel sein?‹ Diejenigen, welche – ohne diese [74] Zartheit – nur Energie hätten, wären finstere unfreie Menschen. Sein eigenes Antlitz leuchtete dabei oft von dem zwiefachen Feuer des Genius und der Güte; sein schönes Auge strahlte Freude und Heiterkeit aus. Ihm sei, sagte er von sich selbst, seine Heftigkeit von der Natur mitgegeben, um dadurch seine allzugroße Weichheit zu kompensieren. Bis zur Feigheit scheue er oft davor zurück, jemandem etwas Hartes zu sagen. Für völlig unwahr könnten die Leute ihn halten, denn er vermöge nicht über sich, ihnen das kundzugeben, was er – leider – so oft über sie denken müsse; außer wenn der Faden der Geduld ihm reiße.7 Darum sei auch seine einzige Waffe gegen sie – Zurückgezogenheit. Aber wenn er die Menschen nicht suchte, so hörten diese leider nicht auf, ihn mit ihren Wünschen, ihrem Begehren bis in diese seine Zurückgezogenheit hinein zu verfolgen. Nichts war ihm so unlieb, als diese Zeichen einer gänzlich falschen, auf tausend Mißverständnissen beruhenden Verehrung. So, wenn z.B. noch im Lauf dieses Winters eine Gruppe von Wiener Künstlern beabsichtigte, für ein großes dortiges Künstlerfest einen ›Germanenzug‹ (!!) zu arrangieren und ihn in überschwenglichen Ausdrücken ihrer ›Verehrung‹ darum anging, ihnen – die Musik dazu liefern! Auch das am 29. Januar stattgefundene ›Stiftungsfest‹ des Berliner Wagnervereins mit einem unglaublichen musikgeschichtlichen Programm ohne Sinn und Bedeutung erregte in hohem Grade seinen Abscheu vor all solchen Trivialitäten, die sich unter der Deckung seines Namens vollzogen. Eine ›Deutsche Revue‹ – schon der bloße Titel der Zeitschrift machte ihn lachen – forderte ihn auf, unter ihre ›Mitarbeiter‹ zu treten und seine ›Erinnerungen‹ in ihren Spalten zu veröffentlichen. Er ließ durch Seidl für diese freundliche Aufforderung danken: ›er habe gar keine Erinnerungen, außer an schlechte Zeitungsartikel‹.

Für das ganze Haus Wahnfried war der jedesmalige Besuch seiner liebenswürdigen edlen Gönnerin Gräfin Schleinitz immer ein Fest; so auch in diesem Frühjahr, wo sie mit ihrer freundlichen Anmut den Meister und die Seinen in der ersten Märzwoche durch eine fünftägige Anwesenheit beglückte. In solchen Fällen gehörte ihr der größte Teil des Tages: sie nahm an den Mahlzeiten, selbst auch an den Spaziergängen teil und an zwei aufeinanderfolgenden Abenden ward der erste Akt des ›Parsifal‹ für sie vorgenommen; am ersten Abend bis zur Ankunft des ›reinen Toren‹, am zweiten die Fortsetzung. Von größtem Reichtum waren dabei die Gespräche, die sich durch Wiederaufnahme und Anknüpfung an schon Gesagtes von einem Tage zum andern hinzogen. Er sprach von Raphaels Sixtina als dem vollendetsten [75] Kunstwerk der Malerei, vollendet gerade auch durch die schöne Beschränkung auf wenige Gestalten; er gedachte des tief anregenden erhebenden Eindruckes, den einst in Venedig die Assunta des Tizian auf ihn gemacht,8 welche aber durch das Übermaß ihres Gestaltenreichtums fast schon die Grenzen überschreite. Die Sixtina verhalte sich zur Tizianischen Himmelfahrt wie der erste Satz der C moll-Symphonie zur Eroica. An einem der folgenden Abende las er in seiner unvergleichlichen Weise die ersten Szenen des zweiten Teils von Shakespeares ›König Heinrich IV.‹ und konnte in seinen Ausführungen nicht genug die Größe und das Individuelle, das Gegenwärtige der Geschichte im Sinn des Dichters, in der Beratungsszene beim Erzbischof von York hervorheben. Weniger erfreulich berührten ihn die gelegentlichen Plaudereien über die Reichshauptstadt, aus dieser Welt der ›Roheit und des Servilismus‹, der höfischen Versteifung und der Sozialistenumtriebe, die den Bewohnern von Wahnfried täglich fremdartiger erschien, so daß er sich nur glücklich preisen konnte, nichts mit ihr gemein zu haben, für deren Treiben er das sinnvolle Witzwort des ›Mumienschanzes‹ geprägt hatte – Es wurde das Vorspiel zum dritten Akte der ›Meistersinger‹ gespielt: ›da war ich‹, sagte er ernst, ›der einsame Mann, diesen Trost brauche ich nicht mehr‹.9 Gern erinnerte er sich der Münchener ›Meistersinger‹-Aufführung vor zehn Jahren: ›es war das Schönste, was ich in meinem künstlerischen Leben erfahren; sie war beinahe vollendet‹. Zu unsäglichem Eindruck spielte er darauf selbst aus dem Wohltemperierten Klavier das Cis moll-Präludium. Wie die ruhige Klage einer Sphinx erklinge das in uns, oder einer Natur vor der Menschenerschaffung. Wie groß sei die Verflachung, welche auf diese Form des Präludiums und der Fuge die Sonate hervorbrachte! Das sei Philipp Emanuel Bach gewesen, der diese italienische Form eingeführt, und die ganze darauf aufgebaute Musik nehme sich wie lauter Konzertwesen, Hofkonzertmusik gegen diese Offenbarung aus! ›Und nun seht euch die physiognomische Erscheinung des Mannes an, mit den halbblinden ängstlichen Augen, – wie Beethoven – so sind die Musiker, merkwürdige Wesen!‹ Vorher hatte er einzelne italienische Melodien aus Bellini gespielt, deren eigentümliche ›Passion‹ er rühmend anerkannte (S. 69): ›das ist pour le monde‹, aber dies hier (das Bachsche Präludium) ›das ist die Welt‹. Auf diesen wundervollen Abend folgte noch ein weiterer Tag des Zusammenseins mit dem hochgeschätzten werten Gaste (8. März), dessen Schluß die Krone der empfangenen Eindrücke bildete, in dem der Meister ihr im Anschluß an die vorausgegangenen ›Parsifal‹-Studien die Klage des Amfortas vortrug und dann, da für den folgenden Morgen unwiderruflich ihre Abreise festgesetzt war, einen herzlichen Abschied von ihr nahm.

[76] In der Komposition der Blumenmädchen-Szene war er bis zu dem ›Komm', holder Knabe‹ gekommen. Er freute sich darauf, zu diesen Worten jenes, bereits vor längerer Zeit von ihm niedergeschriebene Thema zu verwenden, von dem wir uns erinnern, daß die erste Eingebung dazu ihm in mitten seiner Skizzenaufzeichnungen für den amerikanischen Marsch gekommen10 und daß er sich sogleich bewußt war, wohin diese Melodie mit ihrem holdseligen, duftig schmeichelnden, melodischen und harmonischen Reiz gehörte. Es tat ihm wohl, nach dem düster leidenschaftlichen Charakter der Klingsor-Kundry-Szene in diesem Element des süßesten Wohllautes mit seinen zarten weichen Farben und bestrickenden Liebreiz auszuruhen. Im ersten Akt, sagte er selbst, sei er mit sensitiven Intervallen sparsam gewesen: ›jetzt greise ich zu meinem alten Farbentopf‹. Bei alledem ward in der ganzen reichen, bewegungsvoll sich steigernden Szene nicht ein Takt als bloße reine Musik an sich, von noch so zartem Wohllaut, empfunden und komponiert; vielmehr alles und jedes immer nur in unmittelbarster Beziehung zum wechselvoll belebten Bühnenbilde. Bei jedem Ton hatte er den szenischen Vorgang vor Augen und solange dieser, nachmals in so wohlgegliederter anmutiger Einfachheit sich darstellend, als wäre er zugleich mit seinen anmutigen Trägerinnen direkt aus dem Boden des Zaubergartens gewachsen, noch nicht in all seinen Zügen zweifellos bestimmte Gestalt gewonnen hatte, solange noch zu überlegen, zu prüfen und zu wählen, anzuordnen und festzustellen war, klagte er heiter über die Not, welche die ›Choregraphie‹ ihm mache: es würde wie die ›Prügelszene‹ in den ›Meistersingern‹ werden. Die so eindrucksvoll zärtliche Betonung des Namens ›Parsifal‹ bei Kundrys erstem Anruf veranlaßte ihn zu dem Ausspruch: ›Zum ersten Male wird sein Name genannt und so hat seine Mutter ihn gerufen: das kann nur die Musik!‹

Mitten in dieser wohltuenden Entrücktheit traf ihn die ernste Berührung durch einen ihm nahegehenden Trauerfall, den Tod seines alten Dresdener Freundes Pusinelli. Mit Bekümmernis hatte er von dessen zunehmend schwerer Erkrankung an einem Leberleiden vernommen und ihm, dem ältesten, treu bewährtesten Freunde, schon im vorigen Herbst, bevor sie zum Druck an den Verleger abging, die Dichtung seines neuen Werkes aktweise, im Manuskript zur Kenntnisnahme übersandt, so daß es in seiner ganzen Erhabenheit ein entzückend tröstliches Licht in seine traurige Leidenszeit werfen durfte. In schönen, innig empfundenen Worten sprach der also beglückte Empfänger dem großen Freunde damals seinen Dank für diese Liebesbezeigung aus, indem er das herrliche Dichterwerk in tiefer Erfassung seines Wertes als eine ›neue Großtat des deutschen Geistes‹ pries. Trotz seines schweren Leidens hatte er noch zu Ende des Jahres die Vertretung des neuen Patronatvereins für [77] Dresden übernommen; dann aber trat die entscheidende Verschlimmerung seines Zustandes ein: am 1. April 1878 wurde er aus dem Leben abberufen. Das Telegramm mit der traurigen Kunde wurde tags darauf um die Mittagszeit in Wahnfried abgegeben; um ihn zu schonen, behielt Frau Wagner es sich vor, ihm dessen Inhalt zu rechter Zeit mit entsprechender Vorbereitung mit zuteilen; einstweilen bestellte sie in seinem und ihrem Namen durch den befreundeten Professor Adolf Stern in Dresden, auf dem gleichen Wege, die Zusendung schöner Kränze in das Trauerhaus. Sie hatte aber nicht damit gerechnet, daß der Empfänger der Depesche ebenfalls telegraphisch, und noch dazu unter der direkten Adresse des Meisters selbst, erwidern würde. Dieser eröffnete das Couvert und verstummte; dann entfernte er sich schweigend aus dem Zimmer und kam erst nach einer Weile zurück, um die Unterhaltung mit Wolzogen wieder aufzunehmen. Aber er beendete sie diesmal früher als sonst. In den nächsten Tagen kam er wiederholt auf den traurigen Verlust zu sprechen. ›Er hatte ein großes Herz, ein unerschütterlich großes Herz, von welchem aus er alles verstand; das hat auch seine glückliche Laufbahn gemacht.‹ Er erzählte, wie das Pusinellische Haus ihm in Dresden angenehm und behaglich sich aufgetan; er sei viel mit Minna dort gewesen. ›So innig, treu und fest, wie er, hat vielleicht keiner an mir gehangen; er hatte nur Liebe zu mir, Freude daran mir behilflich sein zu können, Schmerz über mein trauriges Leben.‹ Gegen Seidl erging er sich im Lobe des Freundes und erzählte von seiner ersten schüchternen Annäherung und seiner gleichmäßig andauernden immer tätigen und opferwilligen Liebe zu ihm. ›Ein freundliches Geschick fügte es, daß wir nicht zu viel zusammenkamen; der Unterschied der Naturen hätte vielleicht Reibungen hervorgebracht. So waltete frei nur das Eigentliche, worauf alles ankommt – es ist freundlich und traurig zugleich. Was ist aber nicht traurig?‹ Wie merkwürdig solch ein Schlag auf einen wirke! fuhr er dann fort Selbst wenn man es versuche, sich der Gedanken daran zu entschlagen, so dauere die physische Wirkung fort und eine furchtbare Schwere lagere auf einem. Das hier mündlich Ausgesprochene gelangt in der vom 3. April datierten schriftlichen Beileidsbezeigung an die Witwe zu gleich ergreifendem Ausdruck,11 und die bedrückende Nachwirkung erinnert lebhaft an die Empfindungen, die in früheren Zeiten zuerst bei dem Heimgang seines Pariser Freundes Lehrs12 und späterhin bei Uhligs Tode13 auf ihm lasteten und nur allmählich überwunden wurden.

Am 6. April trat in einem Bayreuther Konzert eine junge, aber schon gefeierte Sängerin auf, deren Name nicht notwendig zur Sache gehört; auf die besondere Empfehlung ihrer Dresdener Gesanglehrerin hin war sie zu [78] Mittag Gast in Wahnfried, – für den einsam schaffenden, von aller Welt, und besonders der Theater- und Sängerwelt, abgeschiedenen Meister doch bereits ein recht fremder, längst vergessener Verkehr. Der Besuch ihres Konzertes war demnach von seiner Seite mehr ein Akt der Nachgiebigkeit gegen die an ihn gerichtete Zumutung einer Teilnahmsbezeigung für ein junges, vielleicht von ihm zu berücksichtigendes Talent. Er brachte ihm nichts als eine große Enttäuschung, ja das Gefühl eines völligen Schreckens über den herrschenden Zustand der theatralischen und musikalischen Kunst. Sie sang die zwei Pariser Lieder seiner ersten Periode: ›Attente‹ und ›Mignonne‹, beide in den wahrhaft abscheulichen Übersetzungen, in denen sie durch die Gedankenlosigkeit ihrer Herausgeber bis zum heutigen Tage immer wieder neu aufgelegt werden (›Storch, lass' im Teiche dein Gewürme!‹) und in unrichtigen Tempi; die ›Erwartung‹ überhaspelt, das herrliche, ›Mignonne‹ auseinandergesperrt, die Arie der Agathe ohne Seele. Nichtsdestoweniger war sie, frisch von ihrem Gesanglehrer weg, an die Frankfurter Oper mit einem Jahrgehalt von 24000 Mark engagiert. ›Für solche‹, sagte er, ›war meine Schule bestimmt; doch ist es sehr die Frage, ob ich sie nur angenommen haben würde‹. Aber nun hatte sie einmal sein Haus betreten und die Gastlichkeit von Wahnfried war ihr nicht versagt worden; das genügte, um – mit oder ohne ihre Schuld – durch alle Zeitungen der Welt die Notiz kursieren zu lassen: der Meister habe sich über ihre Leistungsfähigkeit ganz entzückt ausgesprochen und ihr die Rolle der ›Kundry‹ angetragen.14 Was half ihm solchen Ansprüchen und weiteren Konsequenzen dieser Ansprüche gegenüber alle grundsätzliche Zurückgezogenheit? Noch dazu hatte er in ebendemselben Konzert die damalige sensationelle Modekomposition des ganzen ›zivilisierten‹ Deutschland, seines ehemaligen Pariser Verehrers Saint-Saëns, ›Danse macabre‹, über sein Haupt ergehen lassen müssen, und legte das heilige Gelöbnis ab, nicht so leicht wieder einer ähnlichen verderblichen Nachgiebigkeit sich schuldig zu machen. ›Si jamais on m'y reprend!‹ rief er unwillig aus. ›Wer es sich verbergen will, daß wir in einer unglaublichen Decadence leben! Mit der [79] Welt mag ich nichts zu tun haben; höchstens schleudern wir unsere Bullen hinein, durch die »Bayreuther Blätter«!‹15

Bis gegen Ende Februar plagte ihn immer wieder der rheumatische Schmerz in seinem Fuße, und in Bayreuth war leider keine Möglichkeit einen Stiefel zu bekommen, der das Leiden gelindert hätte. Als dann die Schmerzen allmählich aufhörten, empfand er um so mehr die Rüstigkeit seines sonstigen Körperzustandes und erfreute sich ihrer als einer urkräftigen Anlage seiner Natur. ›Es wundert sich ein jeder, daß ich so gut aussehe, daß ich nach Erfahrungen, die jeden totgemacht haben würden, nun ein neues Werk schaffe; woher nehme ich denn die Kraft, ich, von dem man damals nach Tristan glaubte, ich würde nie mehr eine Note schreiben?‹ Ein anderesmal, als von der, dem Literarhistoriker Julian Schmidt anläßlich seines 60. Geburtstages vom Kaiser gestifteten Pension gesprochen wurde,16 rief er im gleichen Sinne aus: ›Ja, wenn ich so von dem »Jubiläum« eines Sechzigjährigen sprechen höre, da muß ich lachen, wie ich mich fühle.‹ Jede dieser Äußerungen eines freudigen Bewußtseins seines Wohlbefindens war aber stets von einer liebe voll dankbaren Wendung begleitet, die es zweifellos kundgab, welcher täglich über sein Wohlergehen wachenden Sorge er dieses einzig zu danken habe! ›Wenn mich die Melancholie befällt‹, sagte er in den Tagen nach Empfang der Pusinellischen Trauernachricht, ›wenn mich die Melancholie befällt und ich mich frage: wie lang wird denn der Trödel noch dauern? – da tröste ich mich mit dem Ge danken, daß ich eine Bestimmung habe und noch endlos leben muß. Vielen könnte ich noch helfen, wenn ich befragt würde!‹ Gern deutete er in bezug auf sein voraussichtliches Alter irgendwelche seinem Auge sich besonders aufdrängende Ziffern, halb im Scherz, halb in einem gewissen, dem Genie so eigenen Aberglauben, als symbolische Verheißungen, wie z.B. die Jahreszahl 1878, deren zwei doppelstellige Bestandteile er addierte, wodurch er das Lebensalter von 96 Jahren erhielt. Wir werden hiervon in der Folge noch mehreren Beispielen begegnen, wie sie im Gedächtnis der Seinigen fortlebten. Die Beweglichkeit seiner Glieder, die Elastizität seines [80] Auftretens stand in voller Harmonie mit diesem Wohlgefühl eines schwererkämpften, und nun endlich gesicherten ruhigen Daseins, das ihm nach außen hin keinen Zwang auferlegte und ihn im Innern einzig sich selbst und seiner ›Bestimmung‹ bewahrte. Ließ ihn die Abspannung einer üblen Nacht oder eine augenblickliche Ermüdung einmal irgendwie gebeugt erscheinen, wie es bei anderen in seinem Alter das Gewöhnliche ist, so richtete er sich, sobald er es bemerkte, mit Bewußtsein auf, und fügte wohl ein Wort hinzu wie das folgende: ›man hält es nicht für der Mühe wert in dieser Welt aufrecht zu gehen‹, oder: ›man habe so die Neigung sich zu bücken, besonders wenn man über etwas nachsänne‹. Viel aber lag noch vor ihm: die Blumenmädchen waren einstweilen nur in der ersten Skizze vollendet; die ganze zweite Hälfte des Aktes, die durch die gewaltigsten inneren Vorgänge tief erregende große Szene zwischen Parsifal und Kundry war noch Zug für Zug aus eigenstem innerem Erleben erst zu produzieren. Da konnte es denn andererseits wohl geschehen, daß der fünfundsechzigjährige Meister einmal, von einem Spaziergang heimkehrend, halb bedrückt, halb übermütig die ganze weitere Ausführung seines großen Werkes verschwor, mit dem Ausruf: ›Ich weiß nun ganz genau, daß ich den Parsifal nicht komponiere – davor bewahre mich Gott! Nein, diese Szene zwischen Kundry und Parsifal! Ich sah mir seinen Schrei an; dagegen ist ja Tristans Fluch reinster Spaß!‹17

Am Montag den 8. April kündigte Liszt telegraphisch seinen Besuch an, um acht Tage daselbst zu verbringen. Am 17. berichtet er darüber in einem Brief an die Fürstin: ›Meine Absicht war, Bayreuth am folgenden Sonnabend oder Montag zu verlassen – man hat mich zurückgehalten. Wagner beklagt sich über die Kürze meiner Besuche bei ihm; er hält an seinem alten Wunsche fest, daß wir in einer und derselben Stadt wohnen möchten, – das Schicksal hat anders darüber entschieden.‹ ›Du und ich‹, sagte ihm der Meister, ›wir kommen mir vor, wie Überbleibsel einer untergegangenen Art, wie das Mammut. Sonst gibt es in meinem Leben auch nicht eine Annäherung, die nicht mit einer schrecklichen Enttäuschung endete.‹ Abends spielte Liszt wiederholt aus seinen neueren Kompositionen: die ›Wasserspiele‹18 den ›Gesang der Schutzengel‹19 und andere auserlesene Tonschöpfungen, die der Abgeschiedenheit der von ihm bewohnten Villa d'Este in Tivoli bei Rom ihren Ursprung verdankten und den beglückenden Hauch reinsten Friedens atmen. Seine träumerisch melancholische Existenz im weltentlegenen Park jener herrlichen alten Villa trat dem zuhörenden Meister daraus ganz unmittelbar entgegen: ›da besingt er die Zypressen, die Angelus-Glocke, die Wasser – das [81] gefällt mir‹. Als an einem anderen Abend der große Freund einiges zum besten gab, das bei weitem weniger ansprach, entstand in ihm eine peinliche Aufregung; doch wußte er sich mit voller Selbstbeherrschung so zu über winden, daß Liszt nichts davon spürte; so groß war sein Drang, ihm stets nur seine volle Liebe und Bewunderung zu zeigen. Sogar zu einer Whistpartie, deren beruhigender Einwirkung Liszt sich gern hingab, kam es eines Abends. In Wahnfried ein seltsamer Anblick, von dem der Hausherr sagte, er würde wohl nach hundert Jahren in diesen Räumen noch spuken. Und doch blieb diese erste Whistpartie in Wahnfried keineswegs auch die letzte. Nachdem der Meister seit seinen frühen Magdeburger und Rigaer Jahren kaum je wieder eine Karte angerührt, betätigte er sich vielmehr, durch Liszts Beispiel veranlaßt und mit bewußter Indulgenz gegen die Gewohnheit des Freundes, an einem der nächsten Abende bereits selbst als Mitspielender, und es gab einen Doppelwhisttisch: an dem einen saß Liszt mit Dr. Landgraf und zwei anderen Bayreuther Herren, an dem andern der Meister mit seiner Frau, seiner ältesten Tochter Daniela und Seidl, in die fast vergessenen Mysterien dieses Spieles vertieft, dessen tieferen Sinn Goethe in seinen Ausführungen über ›Shakespeare, verglichen mit den Alten und Neueren‹ so geistvoll gedeutet hat Erst am Freitag dieser Woche, dem fünften Abende, den Liszt in Wahnfried verbrachte, kam es denn auch zu einer Vorführung des vollendeten ersten Aktes von ›Parsifal‹ eigens für Liszt, von dem Eintritt Parsifals in die Gralsburg an; und für die wenigen Anwesenden war dieses Nebeneinander beider Meister, des schaffenden und des empfangenden, ein unvergeßlich merkwürdiges Bild: die Größe des Lebens in Wagner, die Größe der Abgeschiedenheit in Liszt und Beide überwältigt von der Macht des erhabensten Kunstwerkes. ›Was könnte ich Ihnen‹, schrieb Liszt zwei Tage später an einen treuen ungarischen Freund,20 ›was könnte ich Ihnen über Wagners Parsifal schreiben? Der erste Akt ist fertig komponiert: darin enthüllen sich die wunderbarsten Tiefen und himmlischesten Höhen der Kunst.‹ ›Die Erhabenheit dieses Werkes grenzt an das Un mögliche‹, heißt es in dem Brief an die Fürstin, ›nicht in bezug auf seine materielle Ausführung, wohl aber in bezug auf sein innerlichstes Verständnis durch unser – nach Champfort – immer nur auf das Niedrige gerichtetes Publikum.‹21

Demselben, an die Fürstin gerichteten Schreiben entnehmen wir noch eine Reihe von Gegenständen gemeinsamer Unterhaltungen, auf die wir zum Teil nicht näher eingehen, da sie dem von uns Erzählten kein neues Moment hinzufügen. [82] ›Kennen Sie die Bayreuther Blätter? Sie erscheinen monatlich, als Organ des Bayreuther Patronatvereins. Wagner hat darin zwei bemerkenswerte Artikel veröffentlicht: »Was ist Deutsch?« und »Modern«. Seine Gegner auf der einen Seite, seine lauen Anhänger und bloßen Schmarotzer auf der andern, begegnen darin manchem Stein des Anstoßes. Der Federkrieg und das Indentaghineinschwatzen gegen eines der erhabensten Genies wird in dieser Welt der Mediokratie immer fortdauern.‹ Mit Recht weist hier Liszt auf die durch die Elendigkeit der herrschenden Kunstzustände bedingte Existenz solcher lauen Anhänger und bloßen ›Schmarotzer‹ an dem Ruhm seines Namens in den Reihen der sog. ›Wagnerianer‹ hin, die mit dem Künstler, nach dem sie sich benannten, so wenig gemein hatten! Lag doch gerade in ihrer Ausscheidung aus dem Bayreuther Kreise, an der Sonderung der Spreu vom Weizen, eine wesentliche Bestimmung der ›Bayreuther Blätter‹, die reichlich ebenso abstoßend als anziehend wirken mußten, um diese ihre Bestimmung als ›Purgatorium‹ zu erfüllen, sollten sie darum auch einstweilen nur wenige Leser finden. Gleich der Aufsatz ›Modern‹ hatte diese Wirkung nach mehreren Seiten hin erfüllt: ein bisheriger Vertreter des Patronatvereins jüdischer Abkunft in Kassel z.B. erklärte alsbald seinen Austritt, da er die darin ausgesprochenen Gedanken ›nicht mit seinen Überzeugungen vereinbaren könne‹. Nichts konnte dem Verfasser des Aufsatzes erwünschter sein, als eine solche reinliche Scheidung; während auf der andern Seite jeder Tag neue Mitglieder brachte, Schullehrer, Offiziere, allerlei kleinste Leute aus den ›Winkeln‹ Deutschlands. So arbeitete er denn auch gerade in diesen Tagen von Liszts Anwesenheit, da er sich zum Komponieren weniger aufgelegt fand, an einem neuen Aufsatz für das Aprilheft der ›Bayreuther Blätter‹, unter dem Titel ›Publikum und Popularität‹, und so reich strömten ihm die dafür angesammelten Gedanken zu, daß er sofort erkannte, das Thema nicht auf einmal erschöpfen zu können, sondern einer Fortsetzung dafür zu bedürfen. Bekanntlich gliederte sich diese Abhandlung im Verfolg der Sommermonate in drei Abschnitte, mit dem Epilog: ›Das Publikum in Zeit und Raum.‹ Mit Befriedigung überließ er sich dieser Arbeit, deren erster Teil ihn in seiner Ausführung drei Tage hindurch beschäftigte, bis er ihn am Sonnabend Abend zum Vortrag brachte. Allerdings fügte er hinzu: wirklich heilig schiene ihm nur die Zeit, in welcher er seiner wahren Tätigkeit walte, und wäre es auch nur eine Modulation, eine bestimmte Wendung, die er im Lauf eines Tages fände. Und doch gab es auch auf diesem Boden einer bloß literarischen Auseinandersetzung eine Pflicht zu erfüllen, deren Ausführung er selbst dem begabtesten unter seinen Jüngern nicht überlassen konnte, da nur er allein unter allen Lebenden die Erfahrungen seines künstlerischen Daseins von der entsprechenden Geisteshöhe aus überblicken konnte, um von ihr aus auch andere über den Quell seiner Kunst und seines Wesens zu belehren.

[83] Liszts diesmaliger Besuch fiel in die Woche vor dem Palmsonntag und erstreckte sich leider nur drei Tage über denselben hinaus. Von außen her erreichte ihn in dieser Zeit u.a. ein rührender Brief der Witwe Pusinellis, der ihn durch seinen ganzen Inhalt tief erschütterte. Auch traf Liszt wiederholt mit dem trefflichen Bürgermeister Muncker zusammen, ferner mit dem jungen Freiherrn von Seydlitz, der später ausführlich über diesen Besuch berichtet hat.22 Wir können es uns nicht versagen, einige anziehende Schilderungen daraus in diesen Zusammenhang aufzunehmen. ›Es war später Abend, nur ganz wenige Gäste waren anwesend; Liszt saß am Flügel, den damals ein ungeheurer Philodendron überwölbte und spielte von geschriebenen Noten einige alte Kirchenmelodien. Wagner, der, um lesen zu können, die Brille aufhatte, saß dicht neben ihm, in stummem Ernst lauschend. Als Liszt dann die Blätter zusammenfaltete und aufstand, murmelte Wagner etwas wie: »Ja, das ist's, aber wer fühlt denn heute noch derlei?« Ein anderes Mal stand er, unter lebhaftem Gespräch der Anwesenden, plötzlich auf und bewegte sich langsam auf den Flügel zu, die Augen traumhaft in die Ferne gerichtet. Er griff leise fremdartig tönende Akkorde: sogleich schwieg alles Reden um ihn her; – hierdurch wie aufgeweckt, schlug er plötzlich ein paar Takte einer ganz banalen Gassenhauermelodie an; alles lachte, er aber klappte den Flügel zu und rief, zurückkehrend zu seinem Sitz: »Ja, ja, Kinder, ihr denkt wohl, so was kann ich nicht auch?!«‹ Sehr treffend bezeichnet der Erzähler die große Bibliothek von Wahnfried als ein ›Instrument‹, das er mit Meisterschaft handhabte, so daß es jedem seiner Winke gehorchte. ›Die Wände des großen Saales in Wahnfried waren voll davon; aber ich bin überzeugt, daß er unter den Tausenden von Bänden nie nach einem Buche zu suchen brauchte. Der Platz jedes einzelnen war ihm bekannt, und er hatte das gewollte sofort mit sicherem Griff bei der Hand. Oft, in einem Gespräch, holte er so, rasch aufspringend, sich einen gedruckten Zeugen seiner Behauptung herbei.‹ Und noch einen Zug entnehmen wir diesem Zusammenhang. Der Meister sei den Tag offenbar erschöpft oder unwohl gewesen: ›ein gleichgültiges Gespräch unterbrach er da auf einmal durch tiefes, seufzendes Atmen und sagte: »Kinder, ich bin kränker als ihr glaubt.« Ich mußte wohl eine besorgte Miene zeigen, denn als er mich ansah, versuchte er sogleich mich zu beruhigen: »Nein, nein, keine Angst, ich werde uralt; achtzig Jahre sicher: das haben meine Kinder einmal auf der Bahn ausgerechnet aus den Nummern der Waggons; sie rechneten die Quernummern aus, und das gab immer achtzig.«‹23

[84] In der Tat war er gerade in den Tagen dieses Lisztschen und auch des Seydlitzschen Besuches wieder einmal von seinem belästigenden und schmerzhaften Unterleibsrheumatismus geplagt, was ihn dann bei all seiner stets geübten Fähigkeit zur Selbstüberwindung leicht reizbar machte, wozu es oft genug Veranlassung gab. Sogleich bei seiner ersten diesmaligen Begegnung mit Seydlitz, von dem er zu seinem wahren Entsetzen vernahm, daß dieser, den er als gebildeten jungen Kunstfreund schätzte, die Absicht hatte, selbst ›zum Theater zu gehen‹, und nur noch nicht wußte, in welcher Eigenschaft. Als ›Intendantenlehrling‹, schlug er ihm schließlich, nach lebhaft abmahnender Ereiferung dagegen, scherzend vor, und der ›Intendan tenlehrling‹ wurde für die Zeit des Seydlitzschen Besuches zum geflügelten Wort. Ein anderer Fall dieser Art trat ein, als bei Tisch, in Gegenwart Liszts, ein Obrist S., in gedankenlosem Nachsprechen fremder Urteile, Balzac als leichtsinnig, Gutzkow (!) hingegen als tief und gründlich bezeichnete. Er sprach herrlich für Balzac, ärgerte sich aber doch hinterher, wie so oft, über seine Ereiferung: ›ich sehe mir die Menschen nicht an, mit denen ich spreche, ich sehe alles sub specie aeterni‹. Trotzdem Seydlitz ihm gleich bei der ersten Begrüßung sagte, daß er ›immer jünger werde‹, durfte man wohl gerade damals für sein Befinden besorgt sein; denn die Schmerzen dauerten mit Unterbrechungen immer weiter fort. Der Palmsonntag war ein schöner Frühlingstag, Liszt wanderte langsam mit seiner Tochter den Hofgarten entlang, plötzlich erblickte er den Meister in rüstigem Schritt und heiteren Antlitzes mit seinen zwei Hunden, Marke und Brange, von einem Spaziergang ins ›Studentenwäldchen‹ heimkehrend: da hatte denn wieder die urkräftig elastische Natur in ihm gesiegt. Aber das Leiden war dadurch nicht aufgehoben, und tags darauf ließ er wieder Dr. Landgraf kommen. So nahte der letzte Abend von Liszts Bayreuther Aufenthalt heran, der sich diesmal wegen bereits getroffener anderweitiger Dispositionen nicht weiter verlängern ließ. Liszt setzte diesem Abschiedsabende ein Denkmal in der Erinnerung aller Zurückbleibenden, indem er dem Meister zuliebe einiges aus dem Wohltemperierten Klavier zum Vortrag brachte, zum Staunen und Entzücken seiner Zuhörer, so daß sich wiederum das Wort des Meisters an ihm bewährte: ›wohl hatte ich gewußt, was mir von Liszt am Klavier zu erwarten stand; was ich jetzt kennen lernte, hatte ich aber von Bach selbst nicht erwartet, so gut ich ihn auch studiert hatte‹.24

Tags darauf erfolgte Liszts Abreise nach Weimar, bei welcher er nach altem Gebrauch von seiner Tochter bis zur ersten Station, Neuenmarkt, begleitet wurde Unmittelbar darauf erschien ein neuer Besuch in Person des trefflichen Heckel, mit dem es in der letzten Zeit allerlei kleine Mißverständnisse [85] und Differenzen in betreff seines Wunsches gegeben hatte, nach dem Schweriner (!) Vorbilde seine für Mannheim projektierte Aufführung des ›Ringes‹ mit der – ›Walküre‹ zu beginnen. Die durch besondere Umstände, die wir ausführlicher kennen lernten, bewirkte vereinzelte Nachgiebigkeit gegen Schwerin (S. 48 f.) hatte dem Meister, wie sie ihm von Hause aus äußerst schwer gefallen war, eine Unannehmlichkeit nach der andern zugezogen und durch ihre üblen Konsequenzen schon den größten Ärger bereitet, indem sich nun jeder andere, wie z.B. Herr von Hülsen25 auf diese ihm abgezwungene Gefälligkeit berufen zu können vermeinte! Es fehlte gerade nur noch, daß einer der Wohlmeinendsten und Bestgesinnten in dasselbe üble Mißverständnis hineingeriet und durch Statuierung eines zweiten Beispiels derselben Art dem Künstler die Schwierigkeit seines Verhaltens gegen die Zumutungen der verschiedenen Direktionen der größten deutschen Theater noch verschärfte. Denn ihm, Heckel ganz persönlich, und nur ihm, solange er an der Leitung des Mannheimer Hoftheaters beteiligt war, nicht etwa diesem Theater selbst oder dem seine Angelegenheiten leitenden Komitee, hatte der Meister in großmütigster Weise und unbegrenztem Vertrauen ›jeden Teil seines »Ring des Nibelungen« zu beliebigen Aufführungen ganz umsonst überlassen‹;26 er war aber nicht darauf gefaßt gewesen, daß dieses sein großmütiges Zugeständnis wirklich in einer ihm so widerwärtigen Weise ausgenutzt werden sollte. ›Ich reiste nunmehr‹, so erzählt Heckel, ›persönlich nach Bayreuth und erzielte sehr bald eine Verständigung, da ich mich von der Unzulässigkeit meiner ursprünglichen Absicht überzeugt hatte, und andererseits Wagner mir in allen Punkten, welche keine Preisgebung künstlerischer Prinzipien forderten, entgegenkam.‹

Um den Ostersonntag herum drängten sich von überallher die Besuche. Bereits am Karfreitag Abend erschien aus Wien Frau Materna mit ihrem Gemahl und war auch tags darauf zu Mittag und Abend der freundlich bewillkommnete Gast des – bereits stark ermüdeten – Meisters. So warm er sich des echt süddeutschen Naturells seiner ihm herzlich nahestehenden, enthusiastisch ergebenen Sängerin freute27 und so viele heitere und ernste Erinnerungen [86] an die Festspielzeit dabei ausgetauscht wurden: so waren doch die gewohnten traulichen Gespräche dadurch unterbrochen und die Unterhaltung nahm eine andere Wendung. Am Sonnabend gesellte sich, durch Wolzogen eingeführt, der junge begeisterte Göttinger Verehrer Ludwig Schemann hinzu, am Ostersonntag zu Mittag Hans Richter, der im Begriff stand, mit Seidl im Auftrag des Meisters nach Leipzig zu gehen, um dort den letzten Proben von ›Rheingold‹ und ›Walküre‹ beizuwohnen, die laut Übereinkunft mit Angelo Neumann am 28. und 29. April daselbst in Szene zu gehen bestimmt waren Sie sollten wenigstens noch den Generalproben assistieren und darüber Bericht erstatten, allenfalls nötige Änderungen veranlassen oder, im schlimmsten Falle, in seinem Namen und mit seiner Autorisation Einspruch gegen die Aufführungen überhaupt erheben. Nachdem hierüber auch mündlich noch eingehend verhandelt worden war, ließ sich ein entschiedenes Unwohlsein, das sich schon während der ganzen letzten Woche angekündigt und vorbereitet, nicht länger zurückdämmen, und er zog sich nachmittags in das obere Stockwerk zurück, sich mit Lektüre beschäftigend, während unten am Flügel Richter und Seidl ›Parsifal‹ spielten, dessen Töne nicht bis in seine Einsamkeit drangen. Auch den ganzen nächsten Tag hielt er sich so zurückgezogen und kam erst abends hinunter, um von Frau Materna Abschied zu nehmen. Er fühlte sich angegriffen und aufgeregt: alles, was seine gewohnte Lebensweise störend unterbrach, bekam ihm schlecht.

Ruhige Lektüre war in solchen Fällen für ihn das erprobte beste Aushilfs- und Ablenkungsmittel, sie konnte ihn sogar wieder in eine völlig beschwichtigte Stimmung zurückführen. Er beendete Victor Hugos ›Histoire d'un crime‹ und ging zu Renans ›Évangiles‹ über, die ihn noch während der nächstfolgenden Tage beschäftigten. Mit Heiterkeit sprach er sich über die Art seiner Schilderung der Person Jesu und die Auffassung des Matthäusevangeliums durch den berühmten Pariser Gelehrten aus – so modern und ganz von dem Gesichtspunkt der Pariser Kultur. ›Au plaisir de vous revoir!‹ würde er zu Christus sagen, wenn dieser bei ihm einträte. Die Apokalypse des Esdra, die Briefe des Clemens Romanus brachten ihn wieder auf die Schrecklichkeit der Kirche: ›Ich wiederhole es, der Sultan in Konstantinopel, der Papst zu Rom und Herr von Hülsen in Berlin sind die drei Skandale‹, sagte er lachend. Auch traf in diesen Tagen der für die ›Bayreuther Blätter‹ bestimmte an ihn gerichtete ›Offene Brief‹ von Konstantin Frantz ein, mit welchem dieser die am Schlusse von ›Was ist deutsch?‹ an [87] ihn ergangene Aufforderung des Meisters beantwortete. Er erklärte sich in den Einleitungsworten bereit, jener Aufforderung nachzukommen; nur müsse es ihm gestattet sein, die Frage ›was ist deutsch?‹ von der Seite aufzufassen, nach welcher allein dieselbe zu behandeln er sich befähigt erachten dürfe: von der politischen Seite. Um wirklich ›deutsch‹ zu sein, müsse die Politik jedoch über sich selbst hinausgehen; sie müsse sich zur Metapolitik erheben, als welche sie sich zur gemeinen Schulpolitik ähnlich verhalte, wie zur Physik die Metaphysik. In diesem Sinne empfahl er an Stelle des eng in sich abgeschlossenen gegenwärtigen deutschen Nationalstaates, mit Ausschluß Österreichs, die Idee eines wirklichen deutschen ›Reiches‹ als Kern- und Mittelpunkt eines europäischen Föderativsystems nach Art der nordamerikanischen Freistaaten, unter Bewahrung seines Fürstentumes, worauf in Deutschland die Erhaltung der geschichtlichen Kontinuität beruhe. Die erste Weltaufgabe wäre demnach: die internationale Organisation; die andere – die soziale Organisation. Beide hingen auf das engste miteinander zusammen: jede tief greifende soziale Reform müsse unmöglich bleiben, solange der aus dem Mangel einer internationalen Ordnung entspringende Militarismus den Völkern immer größere Lasten auferlege, und den öffentlichen Gewalten die Militärorganisation für viel wichtiger gelte als die Organisation der Arbeit. Das neue deutsche Reich abstrahiere ferner vom Christentum, als einer für seine Zwecke ganz gleichgültigen Sache; aus dem Inhalt der Reichsverfassung sei in keiner Weise zu ersehen, ob sie für eine christliche, oder etwa für eine mohamedanische oder heidnische Bevölkerung bestimmt sein möchte; sie scheine vielmehr für eine religionslose Bevölkerung erdacht zu sein. An Stelle des ehemaligen heiligen römischen Reiches deutscher Nation wäre der gegenwärtige angebliche ›Nationalstaat‹ Deutschland in vollem Zuge, sich als ein deutsches Reich jüdischer Nation zu entpuppen, welches allerdings in Berlin die geeignetste Hauptstadt finden dürfte, da es tatsächlich Juden seien, die sich als die berufensten Stimmführer des jetzt präparierten und so anspruchsvoll auftretenden neuen deutschen Nationalgeistes gebärden. Die Größe des ehemaligen heiligen römischen Reiches deutscher Nation habe darin bestanden, daß es kein bloßes deutsches Nationalinstitut sein wollte, sondern auf universale Zwecke gerichtet, auf die Vereinigung der gesamten abendländischen Christenheit. Was jetzt an seine Stelle zu treten hätte, wäre ein mitteleuropäischer Bund, der sich allmählich von der Mündung der Schelde bis an die Mündung der Donau, vom Genfer See bis an den Peipussee zu erstrecken habe, und erst die Idee eines solchen, über Staat und Nationalität hinausgehenden Gemeinwesens wäre im spezifischen Sinne des Wortes wieder ein ›Reich‹ zu nennen. Auf den Beifall oder die Unterstützung der heute tonangebenden Kreise freilich sei für diese Idee von vornherein zu verzichten; aber die politische Gestaltung und Betätigung Deutschlands habe noch vieles [88] zu verwirklichen, was den Kluggeistern von heute nur wie ein Fiebertraum erscheinen möge. Bald vielleicht werde die Zukunft lehren, wer der Wache und wer der Träumer gewesen.

Wohl wußte der weitblickende Künstlerseher, was er tat, als er diesem, von allen herrschenden Doktrinen so völlig abweichenden politischen Bekenntnis seine neubegründeten ›Bayreuther Blätter‹ öffnete, als einen Stütz- und Sammelpunkt für alle – nicht bloß künstlerischen – idealen Regungen auf dem Boden des nationalen Lebens. Jener Beifall der ›heute tonangebenden Kreise‹ durfte ihm dabei das allergleichgültigste sein. Auf der Durchreise durch Berlin erinnern wir uns damals – einige Monate später, denn der Konstantin Frantzsche Artikel erschien erst im Juniheft 1878 – bei einem Vorstandsmitgliede des Berliner Wagnervereins mit Verwunderung einen ganzen aufgehäuften Stoß der ›Bayreuther Blätter‹ in einer Ecke erblickt zu haben: es waren die für die Berliner Mitglieder des Patronatvereines bestimmten Exemplare, die wegen der aufregenden Wirkung jenes Artikels in den Wagnervereinskreisen der Reichshauptstadt einfach unterdrückt und nicht zur Versendung gelangt waren!! Eine Vogel-Strauß-Politik, durch welche hier ein bestimmter, nach dem Meister selbst sich benennender Kreis freiwillig von der Kenntnisnahme der unter seiner Ägide ans Licht tretenden Gedanken sich ausschloß, – als wenn eine geistige Wirkung durch solche Mittel je auf die Dauer in ihrer Ausbreitung gehemmt werden könnte! Zu tief begründet und andauernd, um durch derartige Ignorierungsmaßnahmen überhaupt nur berührt zu werden, waren die – uns schon von früher her in ihren Anfängen bekannten,28 durch einen vielunterbrochenen, dennoch aber stets wieder aufgenommenen Briefwechsel29 befestigten geistigen Beziehungen zwischen dem Politiker und dem Künstler: und gerade die ›Bayreuther Blätter‹ haben, dem Willen des Meisters gemäß, mit treuem Festhalten dreißig Jahre hindurch dem großen konstruktiven Föderativ-Gedanken des von seinen Zeitgenossen verkannten und totgeschwiegenen politischen Denkers immer wieder eine gastliche Stätte geboten. Bis auch für ihn der Augenblick gekommen sein wird, durch eine Gesamtausgabe seiner Werke und von Richard Wagner stets beachteten einzelnen kleineren Aufsätze zunächst unter den Politikern von Fach, wie auch in weiteren Kreisen, wenigstens zu dem ihnen gebührenden allgemeineren Bekanntwerden zu gelangen. Trotz jener ›Vogel-Strauß-Politik‹ erfolgten dennoch scharenweise die Austritte aus dem Berliner Verein, das ›Purgatorium‹ hatte abermals seine Schuldigkeit getan!

[89] Einen betrübenden Eindruck machte bei seinem – kurz darauf erfolgenden – Eintreffen in Wahnfried das neueste Elaborat des einst so vielversprechenden Triebschener Freundes und Zöglings unter dem resignierten, einer von niemand verlangten Entschuldigung gleichenden Titel ›Menschliches, Allzumenschliches‹. Einer Entschuldigung glichen auch die darin gegebenen Erklärungen, weshalb jemand zwar Handlungen, nicht aber ›Empfindungen‹ versprechen könne: wer einem anderen verspreche, ihn immer zu lieben oder ihm immer treu zu sein, der verspreche damit etwas, das nicht in seiner Macht stehe. Weil man Treue geschworen, einem Gotte, einem Fürsten, einem Weibe, einem Künstler, einem Denker – wäre man nun unentrinnbar fest gebunden? Da nun aber sogleich beim ersten Einblick eine eigentümlich krankhaft perverse Verbissenheit auffallen mußte und eine Neigung des noch so jungen und unerfahrenen, durch schmeichelnde Freunde übel beratenen Autors, alles bisher von ihm Hochgehaltene herabzuziehen und es mit dem ätzenden Scheidewasser seiner Skepsis absichtlich zu zerstören30: so sprach er bald seine Absicht dahin aus, das unerfreuliche Buch ungelesen zu lassen. Er hoffe damit dem Autor nur etwas Gutes zu erweisen, wofür dieser ihm später danken würde. Immerhin waren gleich von diesem ersten Einblick genug peinliche Eindrücke in ihm verblieben, um ein allzu deutliches Bild des Ganzen mit vielen kläglichen Einzelheiten in seinem klaren Gedächtnis zurückzulassen.

Trotz vorübergehender Erkältungszustände war er wieder in heiterer Arbeitsstimmung; am Sonntag nach Ostern, den 28. April, gerade während in Leipzig alles erwartungsvoll dem ›Rheingold‹ entgegensah, gelangte die Szene der Blumenmädchen auch in der zweiten Durcharbeitung aus den bisherigen bloßen Bleistiftskizzen zum Abschluß. Der Bayreuther Frühling entfaltete seine sonnigsten Reize, die gefiederten Sänger des Gartens schmetterten ihre frohen Jubellieder und die Vollendung der Blumenmädchen wurde bei herrlichster Luft durch einen Nachmittagsspaziergang der Familie in das ›Studentenwäldchen‹ (S. 22, 85) gefeiert. Der Pfad führte am Waldessaum längs den prangenden Wiesen, vom dunkeln Grün der Tannen hob sich zart das erste helle Laub der jungen Birken ab, die Vögel sangen, die Kinder jauchzten, die Hunde rasten über die weiten Flächen. ›Wir werden noch viele solche Tage erleben‹, sagte der Meister, ›mit einem guten Werke hinter uns, einem schönen Werke vor uns!‹ Er bemerkte, daß es die Abwesenheit eines großen Flusses sei, was ihre Gegend so abgeschlossen paradiesisch mache: wo [90] ein großer Fluß, da sei auch ein lebhafter Verkehr, hier aber alles idyllisch. Tags darauf gab es eine schöne Ausfahrt nach der Waldhütte, abends wurde mit Wolzogens die gemeinsame Lektüre (›Ivanhoe‹) wieder vorgenommen Nachdem die Einzelausführungen der ›Walküre‹ in Schwerin und Hamburg, denen sich noch eine unberechtigte in Rotterdam am 17. April angeschlossen hatte,31 ihm nur Verdruß und Ärger bereitet, waren nun in Leipzig an den dafür verabredeten Terminen (des 28 und 29. April) die ersten Aufführungen des ›Rheingold‹ und der ›Walküre‹ ordnungsmäßig vor sich gegangen, um am 1. und 2. Mai, und dann wiederum am 4. und 5. Mai, immer an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, wiederholt zu werden. Die guten Nachrichten darüber von seiten der Leipziger Direktoren, Neumann und Forster, ferner von Seidl und seinem Verleger Fritzsch machten ihm Vergnügen; seine Abgesandten Richter und Seidl (S. 87) hatten sich durch Wahrhaftigkeit und Takt bei Ausführung ihres schwierigen Auftrages bewährt. Die außerordentliche Spannung und Erwartung hatte nicht nur in Leipzig, sondern auch außerhalb breite Schichten des Publikums ergriffen: zahllos waren die Bestellungen aus allen Teilen Deutschlands, zumal aus Berlin, Breslau, Frankfurt, Weimar, Halle, Schwerin usw. Zur zweiten Aufführung hatte sich auch Liszt von Weimar her angemeldet und in günstigster Weise darüber an seinen großen Freund berichtet. Schon vorher war Seidl von seinem Ausflug wieder heimgekehrt und hatte viel Gutes, namentlich von Schelper, dem Darsteller des Alberich im ›Rheingold‹, des Wotan in der ›Walküre‹, berichtet, Schlimmes leider von der Regie: niemals seien Musik und Handlung zusammengegangen. ›Davon, was bei mir die Hauptsache ist, wissen sie überall nichts!‹ rief er klagend aus. Trotzdem unterließ er es nicht, die Energie und den guten Willen des Unternehmers durch aufmunternde Anerkennung zu belohnen. ›Heil Leipzig, meiner Vaterstadt, die eine so kühne Theaterdirektion hat!‹ depeschierte er ihm gleich nach der ersten Aufführung. Daß sich nun auch kleinere Bühnen, wie Königsberg, um den ganzen ›Ring‹ zu bewerben begannen, erfreute ihn hauptsächlich im Gegensatz zu Berlin und in bezug auf die Stellung Herrn von Hülsens, der nun bald ganz um›ring‹t sich sehen würde. Denn gleichzeitig wurde in Weimar das ›Rheingold‹ einstudiert, Schwerin und Hamburg (Erstaufführung: 30. März) gaben die ›Walküre‹, in[91] München und Wien wurde ›Siegfried‹ vorbereitet; überall sollte das ganze Werk folgen. Einer Nachricht Neumanns zufolge war dieser von Paris aus zu einem Gesamtgastspiel mit seiner Leipziger Truppe aufgefordert worden und hatte diese Einladung, in Übereinstimmung mit des Meisters eigenem Sinne, ›rundweg‹ abschläglich beschieden. Aber auch von Berlin aus war die gleiche Aufforderung an ihn gelangt, wo zwar die Hofbühne sich hartnäckig verschloß, dafür aber das Viktoriatheater für einen derartigen provisorischen Einzug des Werkes in die Reichshauptstadt als eine den Umständen angemessene – u.a. durch seine räumlichen Verhältnisse die begünstigtere Bühne beschämende – Lokalität sich darbot. Gegen dieses Projekt hatte der Meister nichts einzuwenden und ließ Neumann die Mitteilung zukommen, daß er es ›mit Vergnügen annehme‹. Alsbald erfolgten in den Berliner Blättern jene längst bekannten, aus der Kanzlei des Herrn von Hülsen diktierten, in Zwischenräumen immer wieder neu auftauchenden Notizen von den in der Reichshauptstadt erlebten Mißerfolgen des ›Tristan‹ und der ›Meistersinger‹, der mangelnden Zugkraft des ›Ringes des Nibelungen‹, mit Ausnahme der Oper ›Walküre‹ usw. Kaum vierzehn Tage später vernahm man die Kunde, der Leipziger Stadtmagistrat habe zu dem für das Leipziger Theater so auserlesen ehrenvollen Gesamtgastspiel im Berliner Viktoria-Theater seine – Erlaubnis verweigert! Über den Ursprung der hierbei auf die Leipziger Behörde ausgeübten Pression war dem Meister aus guter Quelle berichtet worden, daß er auf Berlin zurück gehe. Der Kaiser habe Herrn von Hülsen zu sich kommen lassen und sich darüber beschwert, daß ein Werk wie der ›Ring‹ nun an einem so kleinen Berliner Theater gegeben werden sollte, Herr von Hülsen sich aber u.a. darauf berufen, daß auch die Räumlichkeiten der Hofoper den besonderen szenischen Ansprüchen dieses Werkes nicht genügten. Zu gleicher Zeit erfuhr man von einem beabsichtigten Umbau der Berliner Oper: Maschinenmeister Brandt habe der Generalintendanz einen detaillierten Plan zu einer entsprechenden Erweiterung des Opernhauses eingereicht. Von der Einreichung dieses Planes bis zu seiner Annahme, von dieser letzteren wiederum bis zu seiner Ausführung gab es genügend zeitraubende Etappen, um das bedrohte Institut vor dem übermächtigen Eindringling zu bewahren. Unter allen Umständen mußte dann aber eine so flagrante Beschämung, wie die Aufführung des Werkes an einem bloßen Vorstadttheater einstweilen abgewandt werden! Mit geringen Modifikationen wiederholte sich dabei dasselbe Spiel, wie es ein Vierteljahrhundert früher mit dem ›Tannhäuser‹ sich vollzogen hatte, als dieser, anstatt in der Hofoper, im Krollschen Theater seinen Einzug in Berlin halten sollte!32 Das ganze Verhältnis des Berliner Autokraten Herrn von Hülsen zu ihm vergegenwärtigte [92] sich dem Meister in dieser Erfahrung: in Berlin habe stets nur der äußerste Zwang der Umstände etwas herbeizuführen vermocht.

Einer der von Neumann mitgeteilten Briefe des Meisters an ihn, eine bloße geschäftliche Notiz enthaltend, trägt die Überschrift: ›in Eile – mit einem Karbunkel am Beine‹.33 Leider deutet diese Aufschrift auf einen mehr als vierzehntägigen Krankheitszustand, ähnlich quälend, wie seinerzeit in Venedig, wo er das gleiche Leiden schon einmal durchgemacht hatte.34 Der Verlauf war in mancher Beziehung, auch in bezug auf die Zeitdauer, ein ähnlicher: anfangs suchte er es trotzdem durchzuführen, daß er seine regelmäßige Bewegung fortsetzte: dann wurden die Schmerzen stärker, Dr. Landgraf untersuchte das Bein, fand einen Blutfurunkel und ordnete absolute Ruhe an. Der Zwang des Liegenmüssens war lästig genug, doch konnte er seinem Tätigkeitstrieb nichts anhaben: er beendete zunächst seinen zweiten Aufsatz über ›Publikum und Popularität‹, fand aber bald, daß auch dieser noch eine weitere Fortsetzung verlange.35 Zur Abwechselung durfte er es sich gestatten, in der milden Abendlust auf den Stufen vor dem Saale von Wahnfried nach der Gartenseite hin – mit den Seinigen zu sitzen, einer Amsel zuzusehen und zu lauschen und sich des üppigen Grüns der Anpflanzungen zu erfreuen, während in der Richtung nach der Stadt in einem sanften Nebel die Kirchtürme sich zeigten. Der Furunkel nahm zu und damit auch die Schmerzen; aber seine gute Laune blieb sich gleich und, anstatt zu klagen, war er unerschöpflich in Scherzen über sein Übel. Als er um die Mittagszeit etwas aufstehen durfte, spielte er seiner Frau die zuletzt komponierten Worte der Kundry vor: ›Dich nannt' ich, thör'ger Reiner‹. Nichtsdestoweniger wurde die ganze Frühlingspracht da draußen von ihm schließlich fast wie eine Last empfunden, da er sie jetzt nicht genießen konnte. Er las in Renans ›Aposteln‹ weiter und freute sich an den, mit seiner eigenen Überzeugung sich deckenden Schlußbetrachtungen, welche die Religionen (ganz im Sinne seiner eigenen Darlegungen im ›Kunstwerk der Zukunft‹) als Schöpfungen des Volksgeistes bezeichneten, deren Erfolg nicht von den, mehr oder minder stichhaltigen, Beweisen ihrer Göttlichkeit abhinge, sondern im Verhältnis stehe mit dem, was sie dem Herzen des Volkes mitzuteilen haben. ›Die Religion ist kein bloßer populärer Irrtum, sie ist eine große instinktive Wahrheit, vom Volke erkannt und vom Volke zum Ausdruck gebracht.‹ Alle Symbole, die dazu dienen, dem religiösen Gefühl einen Ausdruck zu geben, seien unvollkommen und ihr Geschick [93] sei es, eines nach dem andern verworfen zu werden. Ob aber daraus folge, daß es die Bestimmung der Religion sei, allmählich ganz zu verschwinden, wie die populären Irrtümer der Magie oder Geisterbeschwörung, und man sich demgemäß eine intellektuell und moralisch vervollkommnete Menschheit als eine religionslose, von aller Religion befreite denken könnte? Nichts sei unbegründeter als diese Vorstellung: eine Menschheit von doppelt so großer intellektueller, moralischer und physischer Kraft müßte vielmehr, diesem Grade von Verfeinerung entsprechend, unendlich mehr religiös, in eine beständige Anbetung versunken und, von Ekstase zu Ekstase schwebend, freier von materieller Sorge und jedem Egoismus sein. Ein vollkommenes Wesen würde überhaupt nicht mehr Egoist, es würde ganz religiös sein; jeder Fortschritt der Menschheit könne demnach nur die Erkräftigung des religiösen Gefühles, nicht aber eine Wertverminderung oder gar Beseitigung der Religion zur Folge haben. In diesen Erkenntnissen empfand er den, durch eine ganze Welt von ihm getrennten, dennoch aber geistvollen französischen Autor, der seine Bücher ›so gut zuzubereiten verstehe‹, – seinen eigenen Gedanken verwandt und nahestehend; unendlich näher als z.B. den bedauernswerten Triebschener Freund in seinem neuesten Erzeugnis, als dessen wesentliche Eigenschaft ihm nur dessen Unbedeutendheit und prätentiöse Gewöhnlichkeit entgegengetreten war, – so wenig entsprechend dem unerfreulichen Triebe, dem es seine Entstehung verdankte.

Bei zunehmender Belästigung durch sein schmerzhaftes Leiden sah er schließlich recht angegriffen aus; doch blieb seine Stimmung gut und schön. Die Kinder zogen ihn auf dem Rollstuhl in das Gartenhäuschen und er verweilte ganze Stunden darin; auch nahm er die Arbeit wieder auf. Der Doktor meinte denn auch tröstend, es sei durchaus kein Grund zur Klage vorhanden; man könne froh sein, daß der Karbunkel so oberflächlich und unbedeutend sei. In der Komposition war er bis zu Herzeleidens Muttersorgen vorgerückt und spielte am 10. Mai seiner Frau das ›gebettet sanft auf weichen Moosen‹ vor, dem dann in den nächstfolgenden Tagen Herzeleidens Not, ihr Bangen und ihr Tod folgte. Der ergreifende Gesang Kundrys, in welchem sie das ganz in Wundern befangene Jünglingsgemüt mit den süßen und schmerzlichen Erinnerungen an die vergessene Liebe der Mutter umspinnt, gehört diesen so vielfach durch körperliche Leiden unterbrochenen, schönen, sonnigen Tagen der ersten Maihälfte an Stand es ihm noch bevor, ihn bei der späteren Partitur-Ausführung mit vollendetem Feingefühl in jenen zart gedämpften, gebrochenen Farben von subtilster Mischung instrumental zum Ausdruck zu bringen, so war doch der vollständige Aufbau der Erzählung schon in das Element der Musik getaucht und hatte seine Verklärung durch den Ton erhalten: von jener hold wiegenden Melodie bei ›ich sah das Kind an seiner Mutter Brust‹ an, in immer heftigerer Steigerung bis zu dem ungestüm[94] aufjauchzenden ›wenn dann ihr Arm dich wütend umschlang‹, und weiter bis zu dem traurig stockenden, schlichten, stillen Ende des weitausgesponnenen Gesanges mit dem verklingenden Motiv ihrer Mutterliebe: ›und – Herzeleide – starb!‹ Bei gewissen Stellen, meinte er, möchte er freilich gleich das Orchester hören; er müsse es sich ordentlich versagen, einzelnes gleich für die entsprechenden Instrumente zu setzen. Das würde ihm in ähnlicher Weise förderlich sein, wie er seinerzeit das ›Rheingold‹-Vorspiel gleich für Orchester niedergeschrieben habe; des Klanges der Hörner z.B. bedürfe er förmlich bei gewissen Stellen Einstweilen mußte er es sich daran genügen lassen, die einzelnen Instrumente mit möglichster Ausführlichkeit in seine mehrzeilige Kompositionsskizze einzutragen.

Die gemeinschaftliche Abendlektüre mit Wolzogens war durch die Krankheit nur acht Tage unterbrochen, auf Scotts Ivanhoe war nach dieser Pause Kenilworth gefolgt. Für sich allein war er noch mit Renans ›Paulus‹ beschäftigt, wobei er vergleichend die Paulinischen Briefe des Neuen Testamentes heranzog und einmal mit seinen herrlichen Akzenten die erste Epistel an die Korinther vorlas. Er habe immer das Bedürfnis sich an die Luthersche Übersetzung zu halten: wer noch ein Deutscher sei, dem sei die Sprache darin so traut; lieber als das griechische Original ziehe er den Lutherschen Text zu Rate. Noch im Beginn der Krankheit hatte er durch Wolzogen die Bekanntschaft des Tenoristen Ferdinand Jäger gemacht, den er kurz darauf (in einem Briefe an Neumann) als einen ›zwar bisher sehr ununterrichteten Sänger, aber von fehlerloser Stimme‹ bezeichnet, im Gegensatz zu Unger, der mit seiner, von Anfang an fehlerhaften Stimmbildung in gänzlichen Zerfall geraten war. Jäger trug ihm zunächst, um sich bekannt zu machen, die Erzählung Lohengrins vor, mit guter Stimme, aber allen den, auf den deutschen Bühnen gebrächlichen Inkorrektheiten, wie sie Wolzogen, als Zuhörer, bald darauf in seinem Artikel ›Was ist Stil?‹ so eingehend und treffend analysierte;36 dann sang sie ihm der Meister vor, wie er sie wirklich geschrieben, mit jener erhabenen Einfalt, welche die Seele unmittelbar zu uns sprechen läßt. Da Seidl bald darauf meldete, wie gut sich der Sänger bei ihren gemeinsamen Studien anließe, und in Wien soeben die erste Aufführung des ›Siegfried‹ sich in Vorbereitung befand, setzte er gleich folgenden Tages, um keine Zeit zu verlieren, Direktor Jauner und Richter von seiner neuen Akquisition in Kenntnis, mit der Meldung, daß er Jäger hier am Orte für Wien [95] den ›Siegfried‹ einstudieren wolle. Um so ärgerlicher mußte es ihm sein, bald darauf aus Jauners Antwort zu vernehmen, daß für die Rolle des Siegfried – eben jener ungarische Tenorist Franz Glatz ausersehen und dessen Engagement bereits beschlossene Sache sei, der einst auf Richters Empfehlung für Bayreuth selbst in Aussicht genommen war, aber leider seine Unfähigkeit allzu handgreiflich dokumentiert hatte.37 Seitdem hatte sich derselbe durch keine weiteren Fortschritte in seiner Qualifikation bekannt gemacht, als daß er kürzlich unter dem angenommenen Künstlernamen ›Gassi‹ an der – Pariser italienischen Oper als Manrico im ›Trovatore‹ (!) mit ›brillantem Erfolge‹ gastiert hatte und daselbst durch das Anerbieten einer jener überschwänglichen Tenoristen-Gagen von 40000 Francs ausgezeichnet worden war!38 Mit Bedauern erkannte er in diesem übereilten, gewissermaßen hinter seinem Rücken, jedenfalls ohne seine Befragung, abgeschlossenen Engagement, nur einen neuen Beleg für seine alten Theatererfahrungen: mit Orchestermusikern und Sängern habe er sich immer gut verständigt, nicht aber mit den Direktoren, Intendanten, Regisseuren, die immer etwas Eigenes für sich schon vorgefaßt hätten. Nichtsdestoweniger blieb nun Jäger in Bayreuth, wo sich im Nebenflügel des alten Schlosses für ihn und seine Familie ein geeignetes Domizil fand, und er nun eifrig mit Seidl studierte, dazwischen auch mit dem Meister selbst, der es sich angelegen sein ließ, ihn nicht allein nach Wien, sondern auch nach Leipzig nachdrücklichst zu empfehlen, während in München die Partie für die erste Aufführung fest in den Händen Heinrich Vogls lag.

Die vorstehende Münchener ›Siegfried‹-Aufführung (10. Juni 1878) hatte ihn schon seit ihren ersten Anfängen aus der Ferne teilnehmend beschäftigt, da es ihm gewiß nicht gleichgültig sein konnte, in welcher Weise sein Werk gerade seinem königlichen Freunde und Beschützer vor Augen trat. Gegen Ende März erklärte er, er hätte beinahe Lust, den dortigen Maschinisten behufs einer Beratung zu sich nach Bayreuth zu berufen und u.a. den sog ›Drachenkampf‹ für München ordentlich herstellen zu lassen; dann wünschte er freilich auch einen öffentlichen Hinweis darauf, daß diese Darstellung eine authentische, unter seiner Autorität und nach seiner Anweisung geordnet sei. In diesem Sinne wandte er sich brieflich an den Intendanten Herrn von Perfall. Am 3. April erschienen die Abgeordneten des Münchener Theaters und es stellte sich heraus, daß sie, anstatt eines schwerfällig germanischen Lindwurmes, buchstäblich einen orientalischen geflügelten Drachen, wie er in das chinesische oder japanische Staatswappen gepaßt haben würde, in Vorbereitung [96] hatten. Es war ihnen erst zu erklären, daß ein flatternder, oder gar fliegender Fafner mit seinem hartnäckig am Boden gefesselten Widerstand gegen seinen kühnen Angreifer höchst lächerlich wirken müsse, da man nicht begreifen könnte, weshalb er – zumal im Kampf – sich des Vorteils seiner Flügel nicht bediene. Auch schwebte dem Meister damals, da er an einer wirklich überzeugenden Darstellung seines gewaltigen Untiers auf den deutschen Bühnen verzweifelte, eine mehr andeutende Vergegenwärtigung desselben, wie auch des Kampfes in seinen einzelnen Phasen vor, die mehr auf die Phantasie des Zuschauers, als auf die unmittelbare Anschauung wirken sollte Statt der ganzen Masse seines wuchtigen Leibes sollte bloß sein ungeheurer Kopf und weiterhin der sich aufrollende Schweif sichtbar werden; nicht weiter sollte er aus der Höhle auf die Anhöhe sich vorwälzen, als daß man beim Aufbäumen unter dem mächtigen Halse noch die Brust sehen könnte. Zug gleich erteilte er Wolzogen den Auftrag, sich darüber ausführlich belehrend in den ›Bayreuther Blättern‹ vernehmen zu lassen.39

Ein Besuch des damaligen Verlegers der ›Bayreuther Blätter‹, Ernst Schmeitzner in Schloß-Chemmitz, gab zu mancherlei Erwägungen Veranlassung. Bereits vor längerer Zeit hatte sich dieser mit der brieflichen Aufforderung an den Meister gewandt, ihm Schriften aus seiner eigenen Feder oder derjenigen seiner Anhänger für seinen Verlag anzuvertrauen; daraufhin waren ihm die ›Bayreuther Blätter‹ seit länger durch Wolzogen in Aussicht gestellt und endlich wirklich übergeben worden.40 Seine lebhaften Auseinander setzungen über alle erdenklichen buchhändlerischen Manipulationen jedoch, mit denen er, als er abends in Wahnfried Zulaß fand, sich vermutlich recht in Respekt zu setzen gedachte, riefen bei seinen Zuhörern wenig Beifall hervor, vielmehr nur den innerlichen Notschrei: ›hilf Gott! will ich denn Schuster sein?‹ wozu dann noch die weitere Überlegung kam, daß dieser sonderbar gutwillige, eifrige Mann es in seinem Verlegerfach selbst nicht ›zu 'nem Paar recht guter Schuh'‹ gebracht zu haben schien; denn nach seiner eigenen Aussage wäre ihm bis jetzt alles mißglückt Unter diesem Eindruck wurde schon damals der Gedanke in Erwägung gezogen, ob nicht die ›Bayreuther Blätter‹ am besten ohne alle Verleger-Umständlichkeiten ganz einfach an Ort und Stelle, in Bayreuth, gedruckt [97] werden sollten, wie es vom neuen Jahr (1879) ab denn auch wirklich geschah. Eine noch viel sonderbarere Erscheinung setzte durch ihr plötzliches Auftauchen und Verschwinden die ganze Bayreuther Kolonie in Verwunderung, in Person eines jungen Russen aus Moskau, des Sohnes steinreicher Eltern, der zuerst von Paris aus sich brieflich an Feustel gewandt hatte: er habe eine Reise um die Welt vor und wisse nicht, ob er von dieser Reise zurückkehren werde, deshalb wünsche er vorher eine Stiftung für den Bayreuther Fonds zu machen; ob er dabei wohl Herrn Richard Wagner sehen und sprechen könne? Ihm wurde geantwortet, dies werde zurzeit wegen Unwohlseins des Meisters wohl nicht möglich sein. Auf einen zweiten, bereits von Leipzig aus datierten Brief mit der wiederholten gleichen Bitte erhielt er die Meldung, er würde Frau Wagner, nicht aber den Meister sprechen können. Dann erschien er (17. Mai) in Person und begab sich zunächst in das Feustelsche Kontor, wo er sich die Einzeichnungsliste für den Bayreuther Fonds vorlegen ließ. Er warf einen Blick hinein, und es kam zu etwa folgendem Dialog: ›Das ist alles nichts, ich will 10000 Rubel zeichnen.‹ ›Zu zeichnen brauchen Sie nichts, zahlen Sie nur aus.‹ ›Das kann ich nicht, aber ich will Ihnen ein handschriftliches Zahlungsversprechen geben, und in der nächsten Nummer der »Bayreuther Blätter« soll darüber quittiert sein.‹ ›Es kann nur über Beträge quittiert werden, die wirklich eingezahlt sind.‹ Der unbekannte Enthusiast zog dann ein, mit vielen Hundertpfundnoten gefülltes Portefeuille aus der Tasche, entnahm demselben aber nach einigem Besinnen schließlich zweihundert Mark und überreichte sie Herrn v. Groß.41 Dann fuhr er unmittelbar nach Wahnfried, wo er sich bei Frau Wagner melden ließ und mit der unwahren Behauptung einführte, er habe soeben 10000 Rubel für den Patronatfonds bei Feustel deponiert. Es sei ihm darum zu tun, vor seiner Reise um die Welt der Bayreuther Sache ein ›kleines Vermächtnis‹ zu hinterlassen. Eine telephonische Verbindung gab es damals noch nicht, sonst hätte seine Behauptung leicht kontrolliert werden können; doch wäre es auch im Falle des Vorhandenseins einer solchen gewiß beim guten Glauben an die Wahrheit einer solchen Behauptung geblieben. Durch kindliches Wesen und die spontanen Äußerungen seines, an den Leipziger Aufführungen entzündeten Enthusiasmus42 nahm der junge Mann vielmehr selbst den Meister, als dieser ihm zufällig begegnete, für sich ein und erhielt für den Abend eine[98] Einladung nach Wahnfried. Einstweilen wußte er es so einzurichten, daß er mit den Klavierauszügen der Werke, den ›Gesammelten Schriften‹ usw. reich beschenkt wurde. Von hier aus begab er sich in die Kottenbacher Straße zu Baron Wolzogen, den er nicht zu Hause traf, dessen Arbeitszimmer er sich aber zeigen ließ und aus dessen Bibliothek er in Abwesenheit ihres Besitzers verschiedene Bücher und Schriften, die er ›noch nicht kannte‹, zum Andenken mitnahm. Es war, wie uns Wolzogen hinterher berichtete, der reine bloße glückliche Zufall und nicht etwa die Folge besonderer Bescheidenheit seitens des Fremden, daß bei dieser Gelegenheit nicht auch das Wolzogen gehörige und in seiner Bücherei offen dastehende Exemplar der ›Autobiographie‹ den gleichen Weg ging. Es hätte immerhin einige Schwierigkeit gekostet, es von ihm wieder zurückzuerlangen. Abends in Wahnfried küßte er dem Meister die Hände, stellte ihn über alle Monarchen der Welt, erzählte unaufhörlich von den Leipziger Aufführungen und wie man ihn zu denselben allseitig erwarte, so daß ihm Wagner endlich erwidern mußte: ›Nein, mein Freund, wenn ich mein Unternehmen hier habe aufgeben müssen, so ist es nicht geschehen, um auswärtigen Aufführungen beizuwohnen und mir dort von der Stadt-Blechmusik ein Ständchen bringen zu lassen.‹ Seiner Vorliebe für ›Andenken‹ setzte dieser seltsame ›Fondsspender‹ dadurch die Krone auf, daß er die Gutmütigkeit des Meisters und dessen jovialen Humor durch seine Bitte dazu herausforderte, seinen schwarzseidenen gesteppten Hausrock direkt auszuziehen, um ihm auf seinen Wunsch auch diesen nebst seiner Kappe zu schenken. Dann verschwand er aus Bayreuth, um seine ›Weltreise‹ anzutreten, reich beladen mit erbeuteten Schätzen aller Art, während in Wahnfried nichts weiter von ihm zurückblieb als ein photographisches Portrait mit der rückseitigen überschwänglichen Aufschrift. ›Dem Entdecker einer neuen Kunst usw. usw. in tiefster Verehrung der beglückte P. S.‹ – Zwei Tage später begegnete der Meister Adolf Groß und sagte ihm dabei: ›das war doch ein sehr netter Russe, der Ihnen die 10000 Rubel für den Fonds gegeben hat‹. Nun erst erfuhr er zu seinem großen Ärger den wahren Sachverhalt!43 – –

[99] Gegen so eigenartige Angriffe auf seine Gutherzigkeit und unbefangene Menschenfreundlichkeit konnte ihn auch die größte ›Zurückgezogenheit‹ seiner Lebensführung nicht schützen. Zwischen die beiden zuletzt erwähnten seltsamen Besuche fiel der Zeit nach auch noch ein kurzes Wiedererscheinen des lange entfernt gewesenen Joseph Rubinstein, der vom Mittag an den ganzen Tag in der altgewohnten heimischen Umgebung von Wahnfried verbrachte. Abends spielte er dem Meister und den Seinen mit gewohnter Virtuosität sein eben bei Schott erschienenes Tonbild ›Brünnhildes Erwachen‹;44 es machte dem Schöpfer dieser Klänge Vergnügen, sie wieder zu hören, das ›heidnisch Freudige‹ daran sei so ganz wesensverschieden von seinem jetzigen Werke. Daran schloß sich das Vorspiel zu ›Parsifal‹ und, durch eine eigentümliche Wendung des Augenblicks, das vierhändige Arrangement der schwungvollen Ouvertüre zu den ›Feen‹. Der Meister freute sich seines Jugendwerkes und lobte dessen Instrumentation: darauf habe er sich immer verstanden. Während er vormittags regelmäßig weiter arbeitete, wurde der folgende Abend wiederum gemeinschaftlichem Musizieren gewidmet und die neu entstandenen beiden großen Szenen des zweiten Aktes vorgenommen. Merkwürdig war ihm dabei die unfehlbare Geläufigkeit, mit welcher der begabte junge Musiker das ihm so Neue vom Blatt spielte, ja selbst den Text gleich mitsingen konnte, mit immer nachfragenden Blicken, ob er es so richtig getroffen; aber diese Sicherheit erweckte ihm Unbehagen: welche Kälte, welche Besonnenheit setze das voraus! Einige Abende später nahm er dieselbe Szene der Blumenmädchen mit Seidl durch und hatte eine ganz andere Genugtuung davon. Auf den erwähnten abenteuerlichen Besuch des jungen Russen folgte dann unmittelbar, ebenfalls von Leipzig her kommend, der treffliche Dr. Eifer aus Frankfurt. Da dieser wohl wußte, daß der Meister die großen, kostspieligen Konzerte des Frankfurter Wagnervereins (unter Leitung Knieses) nicht gern hatte, suchte er diese damit zu entschuldigen, daß sie kein anderes Mittel hätten, um die Leute zur Teilnahme zu bewegen. Wagner lachte und erwiderte: ›Ja, ja, ich verstehe, Sie müssen durch die Musik animalische Wärme schaffen‹. Von den Aufführungen in Leipzig sagte Dr. Eifer, er habe sich die Frage vorgelegt, ob der Autor schließlich zufrieden sein dürfe, daß sie stattfänden, und sich diese Frage mit Ja beantwortet; worauf ihm der Meister entgegnete: da er hier so im Stich gelassen worden wäre, müsse es ihm recht sein, wenn der ›Ring‹ möglichst viel gegeben würde; nur – sähe er nicht hin. Es ist dieselbe Stellung und [100] Haltung, die er ein Jahr später (23. März 1879) in einem seiner Briefe an Heckel mit den Worten zum Ausdruck bringt:

›Das Schicksal hat mit meinem Werke seine Wege eingeschlagen: da es nicht die von mir ursprünglich in das Auge gefaßten sind, geziemt es mir ruhig und enthaltsam zuzusehen, was auf diese Weise aus der Sache wird. Das ist denn auch mein Standpunkt: ich sehe aus der Ferne zu, freue mich über gute Erfolge und verwundere mich nicht über schlechte. Aber – dabei sein kann ich nirgends mehr. Wenn Sie je erfahren, daß ich irgendwo einer Aufführung eines Teiles jenes Werkes beigewohnt, so mögen Sie mich des Freundesverrates anklagen: es wird nie dazu kommen!‹ –

Fußnoten

1 Vgl. den gegen Wesendonck getanen Ausspruch: ›wenn ich nicht arbeite, drückt mich Alles, was nach Unnötigkeit aussieht; nur wenn ich die Muse zu mir zaubere und festhalten will, denke ich daran, meinen Hausraum mir mit Ruhe und Traulichkeit auszustatten‹ (Briefe an Wesendonck, S. 84/85).


2 Die innere Verbindung seiner beiden großen, in ihrem ganzen Wesen so verschiedenen Werke, des heidnischen und des christlichen, kehrte vielfach in seinen Gedanken wieder. So sprach er sich ungefähr ein Jahr später, kurz nach Vollendung der Komposition des Parsifal, annähernd, in folgender Weise darüber aus: daß eigentlich bereits Siegfried zum ›Parsifal‹ hätte werden und Wotan erlösen können, indem er auf seinen Streifzügen den leidenden Gott – für Amfortas – getroffen hätte usw. Das wäre nun aber nicht möglich gewesen und – ›so mußte das wohl so bleiben‹.


3 ›Bayreuther Gedanken und Erinnerungen‹, in der Österr. Zeitschrift für Musik und Theater: ›Der Merker‹, Jahrgang I, 12. Heft. S. 493.


4 Vgl. hierzu die charakteristische Äußerung in Band III, S. 52/53, das Walhallmotiv betreffend.


5 ›Nicht im Ruhme‹, sagt Schopenhauer, ›sondern in dem, wodurch man ihn erlangt, liegt der Wert, und in der Zeugung unsterblicher Kinder der Genuß. Daher sind die, welche die Nichtigkeit des Nachruhmes dadurch zu beweisen suchen, daß, wer ihn erlangt, nichts davon erfährt, dem Klügling zu vergleichen, der einem Manne, welcher auf einen Haufen Austernschalen im Hof seines Nachbars neidische Blicke wirst, sehr weise die gänzliche Unbrauchbarkeit derselben demonstrieren wollte‹ (Welt als Wille II, S. 441/42 der Frauenstädtischen Ausgabe).


6 Band IV des vorliegenden Werkes, S. 183 und 257.


7 Vgl. hierzu die Äußerung im Nachlaßbande ›Entwürfe, Gedanken, Fragmente‹, über die ›übermäßige Geduld des Genies, ohne welche es in dieser Welt gar nicht auskommen könnte und die uns derart verwöhnt und übermütig macht, daß wir sie endlich einmal zu überreizen uns veranlaßt fühlen, was uns dann sehr erschreckt‹ (a.a.O., S. 93).


8 Vgl. Band III, S. 350.


9 Vgl. Band IV, 4. Aufl., S. 173/74. 256/57


10 Band V des vorliegenden Werkes, S. 234.


11 ›Bayreuther Blätter‹ 1902, S. 124.


12 Band I des vorl. Werkes, S. 344.


13 Band II des vorliegenden Werkes, S. 519 (5. Auflage).


14 Nur ausnahmweise wurde dieser dreisten und schwindelhaften Notiz von einem besseren Kenner heimgeleuchtet, wie dies in der ›Allg. D. Musikztg.‹ mit den Worten geschah: ›Ob Frl. O. selbst die unverschämte Reklame schreibt oder dazu ihre Leute hat, – gleichviel Ehe sie an »Kundry« auch nur denken kann, soll sie noch wenigstens fünf Jahre lang »Agathe« studieren. Wir haben rein zufällig, aber aus guter QuelleA1 erfahren, daß ihre gegenwärtigen Leistungen als dramatische Sängerin nur mäßig sind‹ (S. 203). In den meisten Fällen blieb die Notiz unwidersprochen und trug das Ihre zum Ruhme der Künstlerin bei.


15 Wie schonend er auch hierbei verfuhr, sobald eine persönliche Rücksicht zu nehmen war, geht aus der uns gut verbürgten Tatsache hervor, daß er ein Jahr später, bei Abfassung seines Aufsatzes ›über die Anwendung der Musik auf das Drama‹ in der Betrachtung der modernen Instrumentalmusik bis dicht an den Punkt gelangt war, die Werke Saint-Saëns als ein typisches Beispiel ihrer weitgehenden Verirrung eigens zu erwähnen, es aber unterließ, weil ihm diese namentliche Anführung als eine Härte gegen einen Freund ausgelegt werden könnte.


16 Vgl. Ges. Schr. X, S. 94, wo von den Verfassern unserer zahlreichen Literaturgeschichtbücher die Rede ist, und deren sonderbaren Einfällen, wie z.B. daß ›Goethe und Schiller uns auf Abwege geführt hätten, von denen uns wieder abzuleiten unsere feuilletonistische Straßenjugend etwa berufen sein müsse. Wer so etwas mit großer Ignoranz, aber gehöriger Schamlosigkeit bis in sein sechzigstes Jahr als biederes Handwerk betreibt, dem besorgt der Kulturminister eine Pension‹.


17 Zu der in diesem Ausspruch festgehaltenen Stimmung vgl. Briefe an Frau Wesendonck, S. 115.


18 Les jeux d'eaux à la Villa d'Este, aus den Threnodien: ›Aux Cyprès à la Villa d'Este‹ (Mainz, Schotts Söhne, 1878).


19Angelus. Prière aux anges gardiens‹, später auch als Quartett für 4 Streichinstrumente bearbeitet.


20 14. April 1878 an Kornel von Abranyi, siehe Liszts Briefe, Band II, S. 167


21 17. April, an die Fürstin: ›La sublimité de cette œuvre touche à l'impossible – non pour son exécution matérielle, mais pour son entendement intérieur de la part du public, lequel ne s'élève d'ordinaire qu'aux idées basses, comme disait Champfort‹ (Liszts Briefe, Band VII, S. 215).


22 In der Zeitschrift ›Die Musik‹, 2. Novemberheft 1901, unter dem Titel ›Erinnerungen an Richard Wagner‹ von R. Freiherrn v. Seydlitz (S. 275/84).


23 Ebendaselbst, S. 279. 278. 283.


24 Gesammelte Schriften VIII, S. 389.


25 Die Art des Verhaltens, welche dieser oberste Leiter des kgl. Hoftheaters der Reichshauptstadt sich gegen den Meister herausnahm, wird wohl am besten durch sich selbst, nämlich durch den Umstand charakterisiert, daß er seine Abneigung gegen das Nibelungenwerk neuerdings auch auf die früheren Werke des Meisters übertrug und – wiewohl im Besitz eines ganz hervorragenden Künstlerpersonales, mit Niemann an der Spitze! – in dem ganzen letzten Quartal nur ein einziges Mal ›Lohengrin‹ und ›Tannhäuser‹, natürlich vor ausverkauftem Hause, an der ihm anvertrauten Bühne gegeben hatte! Ein Verfahren, ganz würdig seines jüngst erlassenen Aufführungsverbotes an die ihm unterstellten auswärtigen Hoftheater (S. 53), wodurch er den Hannoverschen Intendanten, Hans v. Bronsart, dazu zwang, der von ihm geplanten Aufführung des ›Ring des Nibelungen‹ zu entsagen! (Vgl. auch Liszt, Briefe VII, S. 193. 215).


26 Siehe: Briefe Richard Wagners an Emil Heckel (Berlin, S. Fischer, 1899), S. 130/34.


27 Sie hatte soeben erst in Wien die Ehre gewisser sensationeller Martyrien genossen, indem sie seitens der dortigen Kritik (Speidel und Hanslick) – seit ihrer Mitwirkung in Bayreuth – unaufhörlichen planmäßigen Angriffen ausgesetzt war und blieb, bis sie eines Tages die Direktion um ihre Entlassung anging, die ihr dann freilich nicht erteilt wurde (vgl. ›Allg. Deutsche Musikzeitung‹ 1878, S. 76).


28 Vgl. Band IV des vorl. Werkes, S. 192/93. 215. 238 (4. Aufl.).


29 Ungedruckt sind bisher die Briefe des Meisters an Konstantin Frantz, wogegen eine Folge von Briefen des letzteren an ihn selbst im Jahrgang 1906 der ›Bayreuther Blätter‹, S. 114/36 zum Abdruck gelangte.


30 Versuch einer Leugnung des ›Genies‹, Verspottung der Intuition, der Musik, des Christentums, allzu erkennbare, fast portraitgetreu deutliche Verhöhnung seiner bisherigen mütterlichen Freundin Malwida, Beschwerde über das Unangenehme des Umganges mit ›Meistern‹ usw. usw.


31 Am 19. April hatte er brieflich durch den dortigen Kapellmeister die Frage an die Direktion des Theaters ergehen lassen: ›ob sie denn gar keine Scham darüber empfinde, daß sie, aus der Vernachlässigung von Kartell- und Autorenrecht-Vereinigungen zwischen Holland und Deutschland, ungescheut den Vorteil ziehe, Werke eines deutschen Künstlers wie eine auf der Straße gefundene Ware zu betrachten, und – während jedes deutsche Theater von seiner Zustimmung und seinen Bedingungen abhängig sei – sich gar nicht, auch nur mit einem Wort, um den Autor der Werke zu bekümmern, welche sie nach Belieben ausbeute, als ob er sie ihr geschenkt hätte?‹


32 Band III des vorliegenden Werkes, S. 12/13.


33 Angelo Neumann, Erinnerungen an Richard Wagner, S. 75.


34 Band III des vorliegenden Werkes, S. 199; Briefe an Liszt II, S. 223 (Volksausgabe S. 233); an Minna Wagner II, S. 7. (am ausführlichsten); an Frau Wesendonck, S. 79.


35 Vgl. den entsprechenden Bericht aus Venedig: ›In solchen Perioden ist mein Intellekt immer sehr geweckt; Pläne und Entwürfe beschäftigen meine Phantasie lebhaft. Diesmal waren es philosophische Probleme, die mich einnahmen‹ usw. (an Frau Wesendonck, S. 79).


36 ›So hat der »dramatische Sänger« unserer Tage z.B. die Erzählung Lohengrins, eines seiner »Glanzstücke«, worin er berühmt ist, unzählige Male »rezitativisch« gesungen und sich nichts dabei gedacht, wenn er etwa Sechzehntel statt Achtel, punktierte anstatt einfacher Noten, kurz: unruhig plauderndes Tongespringe anstatt kraftvoll bedeutender Gesangsphrasen, hervorbrachte. Der unglückliche Sänger! wo sollte er das Rechte lernen? Er hat es nie anders gehört, und niemand wußte ihm etwas darüber zu sagen‹ (›Bayr. Bl.‹ 1880, S. 26.)


37 Vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 119. 163/64. 167.


38 Vgl. den kleinen Artikel: ›Von Siegfried auf den – Manrico, von Wagner auf – Verdi!‹ in der ›Allg. Deutschen Musikzeitung‹ Nr. 7 vom 15. Februar 1878.


39 Vgl. den Artikel ›Drachenkampf‹ im Juliheft 1878, S. 196/206; wo derselbe den zweiten Abschnitt einer Folge instruktiver Betrachtungen unter dem Gesamttitel ›Beiträge zur Kritik des modernen Kunstgeschmackes‹ bildet.


40 Wie sich die um Nietzsches Person als Mittelpunkt angesammelte Gruppe seiner Verehrer dazu verhalten hatte, nämlich unterminierend und abratend, erfahren wir neuerdings zu unserer Verwunderung: von zwei Seiten her (Widemann und P. Gast) war jener Verleger bestürmt worden, die ›Bayreuther Blätter‹ doch nur ja nicht zu übernehmen: ›da wir (!) es für kein Glück hielten, daß die damaligen Wagner-Apostel bequeme Gelegenheit hätten, noch mehr zu Worte zu kommen(!!)‹. Siehe: Nietzsches Briefe an P. Gast, S. 2.


41 Über diese 200 Mark wurde wirklich am Schluß des Jahres in den ›Bayreuther Blättern‹ (S. 306) quittiert, unter voller Namensnennung des Herrn und mit dem Hinzufügen: ›Gabe des Herrn P. S., welcher sich damit verpflichtet hat, in 3 Jahren eine weitere Spende von 10000 Mark zum Fonds zu geben.‹ Tatsächlich hatte er sowohl bei Herrn von Groß (und gleich darauf in Wahnfried) übrigens immer nur von 10000 Rubeln gesprochen.


42 Daß er schon die Bayreuther Aufführungen des Jahres 1876, und zwar den ersten Zyklus derselben besucht habe, läßt sich aus der Fremdenliste Nr. 1 erkennen.


43 Als der betreffende Herr von seiner großen ›Reise‹ nach Moskau zurückgekehrt war, wurde die versprochene Summe vergeblich von ihm eingefordert. Im Jahre 1882 tauchte er noch einmal in Bayreuth auf und begab sich ganz ungeniert sogar an die Geschäftsstelle des Verwaltungsrates, wo er durch das scharfe Auge des gerade anwesenden, nicht minder empörten Anton Seidl erkannt und – wider Willen – sein säuberlich zur Tür hinausgeleitet wurde. Als er späterhin trotzdem einige Male am Festspielhause sich sehen ließ, wurde ihm, so oft er bemerkt wurde, vor allen Leuten öffentlich seine Schandtat vorgehalten. Nichtsdestoweniger versuchte er es noch in den neunziger Jahren telegraphisch Plätze für Aufführungen zu erhalten. Sie wurden ihm zugesagt, sobald er seine frühere fraudulente Verpflichtung eingelöst haben würde, wozu es aber nie gekommen ist, so daß nur das handschriftliche Dokument derselben noch heute als ›Andenken‹ in dem reichhaltigen Archiv des Herrn v. Groß sich befindet, woraus es denn dermaleinst in eine zukünftige ›illustrierte‹ Wagner-Biographie übergehen könnte.


44 Unter dem Titel ›Musikalische Bilder‹ hatte Rubinstein bei Schott eine Anzahl von Klavierbearbeitungen aus der ›Ring‹-Musik erscheinen lassen: Siegmund und Sieglinde; Wotans Zorn und Abschied von Brünnhilde; Siegfried und der Waldvogel; Brünnhildes Erwachen (Siegfried und Brünnhilde); Siegfried und die Rheintöchter (sämtlich zu 2 und zu 4 Händen eingerichtet).


A1 ›Nein zufällig, aber aus guter Quelle‹. Wer die Stelle in jenem älteren Jahrgang nachschlägt, kann sich über die Herkunft dieser Berichtigung durch eine an A(nton) S(eidl) in B(ayreuth) gerichtete Briefkastennotiz unterrichten, und Seidl wiederum hat gewiß direkt im Auftrag des Meisters gehandelt, als er jener Unverschämtheit entgegnete.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 70-102.
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