XVI.

Abschluß der literarischen Epoche.

[452] Projektierte ›Blätter für Kunst und Leben‹. – ›Das Judentum in der Musik.‹ – ›Oper und Drama.‹ – Kolatschek, Solger, Georg Herwegh. – ›Ein Theater in Zürich.‹ – Brief an Liszt über die Goethe-Stiftung. – ›Der junge Siegfried.‹ – Uhligs Besuch. – ›Eine Mitteilung an meine Freunde.‹


Das unerträglich klare Bewußtsein davon, die Musik meines ›Siegfried‹ jetzt nur für das Papier zu schreiben, verleidete mir von neuem mein Vorhaben; ich griff wieder zur Schriftstellerei und schrieb mein Buch über ›Oper und Drama‹.

Richard Wagner.


›Dies wird meine letzte schriftstellerische Arbeit gewesen sein‹, schreibt Wagner gleich nach Vollendung des ›Kunstwerkes der Zukunft‹ im November 1849 an Uhlig. Aber schon einen Monat später heißt es in einem Briefe an denselben Getreuen. ›Ich war nach der Abfassung der Arbeit so bestimmt, nicht mehr in der Weise zu Schriftstellern, daß ich jetzt darüber lachen muß: nach allen Seiten hin quillt in mir die Notwendigkeit hervor, wieder zu schreiben. Denjenigen, denen ich mein »Kunstwerk der Zukunft« vorlege, habe ich noch ganz ungeheuer viel zu sagen.‹ Diesem Mitteilungsdrange zu genügen, schien ihm zunächst eine Zeitschrift das geeignete Organ. ›Wäre es möglich, eine Zeitschrift vielleicht unter dem Titel »Für Kunst und Leben« zu gründen, so würde ich gern viele Beiträge liefern, um das neue Prinzip nach allen Seiten hin propagieren zu helfen!‹ ›Mein Wunsch wäre, es erschiene wöchentlich ein Bogen, oder alle zwei Wochen zwei bis drei. Jedes solche Heft müßte allemal eine volle Kanonenladung enthalten, die auf irgendeinen morschen Turm gerichtet ist; ist der umgestürzt, so geht es das nächste Mal auf einen anderen los, und so fort. Die Kanonade dauert so lange, als Munition da ist. Das wäre nobel und dienlich, und wäre ich in Deutschland, so könnte ich solche fliegende Hefte ganz all ein besorgen. Vielleicht wäre dies auch vom Auslande aus möglich.‹1

[453] Es soll demnach ein ›neues Prinzip‹ propagiert werden, als dessen leitende Begriffe uns Kunst und Leben entgegentreten. Der Erneuerung der Kunst soll eine Erneuerung des Lebens vorausgehen; wie die Kunst in der Kunstkritik, so ist das Leben in der Politik erstarrt und untergegangen. Die äußere Schale ist an die Stelle des Kernes und Wesens der Sache getreten; das Bewußtsein vom wahren Wert und Inhalt des Lebens, wie der Kunst, der heutigen Welt abhanden gekommen; gewisse geschichtliche Annahmen, Voraussetzungen und Gewohnheiten haben den Blick dafür getrübt. Das stets werdende, neu schaffende Leben kann nicht, wie im politischen Staate, der Gegenstand bindender, auf die Dauer berechneter Formung sein; nicht minder gerät die ästhetische Wissenschaft in eine wahrhaft kunstmörderische Tätigkeit, indem sie dem Wahngebilde eines monumentalen absoluten Kunstwerkes die natürlichen Anlagen zu neuem lebensvollem Kunstschaffen mit reaktionärem Eifer aufgeopfert wissen will. Die von Kolatschek herausgegebene ›Deutsche Monatsschrift‹, für welche er den Artikel ›Kunst und Klima‹ verfaßte (S. 422), entspricht seinem Gedanken nicht: ›bei Lichte besehen ist mir schon zuviel »Politik« und anderes Formenzeug dabei, deutscher »Patriotismus« und ähnliche Albernheiten, deren Gehalt wir doch nun kennen.‹ ›Ich bin jedenfalls entschlossen, »Blätter für Kunst und Leben« für mich ganz allein herauszugeben – vielleicht halbmonatlich‹, schreibt er von Paris aus am 8. Februar 1850.2 ›Macht nur das Kunstwerk der Zukunft etwas Aufsehen, so hoffe ich, Wigand doch wohl für mein Unternehmen zu gewinnen ‹ Den Gedanken an die Herausgabe einer Zeitschrift können wir in seiner ferneren Entwickelung aus Mangel an weiteren Angaben nicht verfolgen; was wir im Laufe der nächsten Zeit an Andeutungen über schriftstellerische Pläne treffen, weist für die literarische Propagierung des ›neuen Prinzips‹ nicht so sehr auf ein periodisches Schrifttum, vielmehr immer auf die breitere Anlage eines selbständigen Gedankenzusammenhanges. Dahin gehört die auf jenem ›Titelblatte‹3 verzeichnete, beabsichtigte Schriften-Trilogie: ›Die Kunst und die Revolution‹ ›Das Künstlertum der Zukunft‹, ›Das Kunstwerk der Zukunft‹, aus welcher das mittlere Glied nicht zu der ihm zugedacht gewesenen selbständigen Behandlung gelangt ist.4 Auch die ›Erlösung des Genies‹ ist keineswegs als bloßer Artikel für eine Zeitschrift gedacht, vielmehr als ›ein Buch, das alles umfassen sollte‹.5 Demnächst werden als geplante ›kleinere Schriften‹ genannt: – ›Das Monumentale‹, dann: ›Das Unschöne der Zivilisation, mit den Bedingungen des Schönen [454] aus dem Leben der Zukunft‹.6 Hierher gehört endlich noch ein Plan, der seinen Geist lange beschäftigte und endlich nur zugunsten weiteren künstlerischen Schaffens zurückgedrängt wurde. Von ihm berichtet Karl Ritter in seinem Brief an Franziska Wagner vom 24. November 1850: ›Ihr Onkel schreibt jetzt an einem Buch »das Wesen der Oper«, welches praktisch vielleicht handgreiflich-verständlicher sein wird als das »Kunstwerk der Zukunft.« Den Siegfried wird er wohl nächsten Sommer komponieren; dann kommen noch zwei komische Opern – nach Volksmärchen – und wenn er keine Opern mehr schreibt, dann will er sein


»Leben der Zukunft«


verfassen, woraus er mir auf manchen Irrfahrten manches mitgeteilt hat, und welches über alles geht.‹

Als einzigen Ersatz für die unausgeführt gebliebene Gedankenfülle dieser uns verlorenen sibyllinischen Bücher haben wir die wenigen aufbewahrt gebliebenen Skizzenblätter des Nachlaßbandes zu betrachten. Der darin enthaltene kurze Passus mit der Aufschrift ›das Genie‹ berührt sich mit zweien der projektierten Schriften: ›die Erlösung des Genies‹ und ›das Leben der Zukunft‹. Er ist zugleich in so hervorragendem Maße der persönlichste Ausdruck eines menschlichen Bedürfnisses, das ihn durch sein ganzes späteres Leben begleitete. ›Der ganze Lohn des Genies, des vorauseilenden, konnte, im günstigsten Falle, nur in der – Vergötterung bestehen. Wir vergöttern und beten an nur das, was uns unverständlich ist; was wir vollkommen verstehen, lieben wir, erklären wir als Teil von uns, als unseresgleichen. Dies wird der Lohn des individuellen Genies der Zukunft sein‹7 Ist hiermit das Verhältnis des schaffenden Genius zu seiner Umgebung mehr nach seiner menschlich ethischen Seite hin bezeichnet, so tritt uns hingegen die soziale Beziehung des gleichen Verhältnisses in der Symbolik der ersten Szene des ›Wieland‹-Entwurfes mit schöner Anschaulichkeit entgegen. Der Künstler und seine Brüder, der Schütze und der Arzt; der schöpferische Genius und die praktisch-realen Berufsarten! Beredter als durch irgendwelche literarische Darlegung und Ausführung wird uns hier ein sprechendes Bild jenes ›Lebens der Zukunft‹ geboten, in welchem der Künstler aus Liebe zu seinen Brüdern schafft und erfindet, wogegen diese aus dankbarer Gegenliebe in brüderlicher Gemeinsamkeit für sein Wohl bedacht sind, der Schütze ihn mit Wild versorgend, der Arzt ihm vorsorglich den Heiltrank bereitend. Der Zustand eines idealen Kommunismus erscheint hier bezeichnenderweise als der anfängliche, ursprüngliche, in der Natur der Sache selbst begründete; er ist bereits vorhanden und gegeben und wird erst durch den [455] gewalttätigen Eingriff König Neidings in diese friedliche Welt der brüderlichen Eintracht gestört.

Wir fahren fort, im Anschluß an die bereits erzählten Ereignisse seines äußeren Lebens, die daneben hergehende ununterbrochene literarische Betätigung des Künstlers in ergänzendem Überblick von Schritt zu Schritt zu verfolgen. Seine abermalige und nun endgültige Niederlassung in Zürich, seine erste Einrichtung in der neuen häuslichen Umgebung der ›Villa Rienzi‹ war in der ersten Woche des Juli 1850 erfolgt. Bereits im August, mitten in der Korrespondenz über den ›Lohengrin‹ in Weimar, entsteht ein Aufsatz, zu dem die Erfahrungen und Beobachtungen sich bereits seit Jahren in ihm angesammelt hatten, nun aber mit Notwendigkeit zur offenen Aussprache drängten. Es war dies der Aufsatz über ›das Judentum in der Musik‹. Es war und blieb ihm eine der widrigsten Erfahrungen und konnte ihn zu wahrer Verzweiflung bringen, sich selbst von seiten Wohlgesinnter in seinen reinsten und größten Leistungen mit dem raffinierten Ausbeuter des öffentlichen Kunstverfalles auf eine Stufe gestellt zu finden, als habe er und sein Kunstschaffen mit diesem auch nur das mindeste gemein. ›Ich kann als Künstler vor mir und meinen Freunden nicht existieren, nicht denken und fühlen, ohne meinen vollkommenen Gegensatz in Meyerbeer zu empfinden und laut zu bekennen. Keinem meiner Freunde kann ich mich, mit allem was ich will und fühle, in reiner deutlicher Gestalt hinstellen, als wenn ich mich vollständig von diesen verschwimmenden Umrissen lostrenne, in denen ich so vielen noch erscheine. Es ist dies ein notwendiger Akt der vollen Geburt meines gereisten Wesens, und – so Gott will – gedenke ich manchem damit zu dienen, daß ich diesen Akt mit solchem Eifer voll ziehe.‹ Die offene Ablegung dieses Bekenntnisses in Gestalt einer kunstkritischen Untersuchung über das Wesen der Oper schwebte ihm als eine seiner unerläßlichsten literarischen Pflichten vor; er war fest entschlossen, bei der ausführlichen Darlegung der Unwürdigkeit der modernen Opernzustände die bisher eingehaltene persönliche Rücksicht dem Geiste der Wahrheit zuliebe schonungslos beiseite zu setzen. Aber seinem durchdringenden, durch die Anschauung des Lebens und der Geschichte geschärften Blick war noch eine andere Seite des Gegenstandes aufgegangen, die nicht in den Rahmen der ästhetischen Untersuchung paßte, da sie vielmehr von einem tieferen kultur- und völkergeschichtlichen Zusammenhang nicht zu trennen war. Auch dieser kultur- und völkergeschichtliche Gedanke beruhte auf einer langjährigen Erfahrung und Beobachtung; er war in ihm zur Reise gelangt und mußte heraus. Dies geschah plötzlich und unerwartet, mit explosiver Unmittelbarkeit, mit jener naiven Unbefangenheit des großen Charakters und reformatorischen Geistes, der keine Furcht vor Verfeindung kennt, nur die drängende Notwendigkeit, die erkannte Wahrheit auszusprechen, ärgere sich daran auch die halbe oder die ganze Welt. ›Ich hegte einen lang verhaltenen [456] Groll gegen diese Judenwirtschaft, einen Groll, der meiner Natur so notwendig ist, wie Galle dem Blute. Eine Veranlassung kam, in der mich ihr verfluchtes Geschreibe am meisten ärgerte, und so platzte ich denn endlich einmal los.‹8

Mit einem Briefe vom 24. August 1850 entsandte Wagner das Manuskript des Aufsatzes an Karl Ritter nach Weimar, eben während der letzten Vorbereitungen zum ›Lohengrin‹. Ritter muß ihn gerade am, ›Lohengrin‹-Tage, dem 28., erhalten und Uhlig zur weiteren Übermittelung an Brendel übergeben haben, zugleich mit dem Briefe des Meisters, der die näheren Modalitäten der Veröffentlichung enthielt.9 Der Artikel war mit dem Pseudonym ›K. Freigedank‹ unterzeichnet. ›Daß alle Welt erraten wird, er sei von mir, macht nichts aus: ich vermeide dennoch durch den fingierten Namen einen unnützen Skandal, der absichtlich herbeigeführt sein würde, wenn ich meinen wirklichen Namen unterschriebe. Sollten die Juden auf den unglücklichen Einfall kommen, die Sache gegen mich in das Persönliche herüberzuziehen, so würde es ihnen sehr übel bekommen, da ich mich nicht im mindesten fürchte, selbst wenn mir Meyerbeer frühere Gefälligkeiten gegen mich vorwerfen lassen sollte, die ich bei solcher Gelegenheit auf ihre wahre Bedeutung zurückführen würde.‹ Der Artikel erschien mit größter Promptheit in den zwei aufeinander folgenden Nummern der Leipziger Musikzeitung vom 3. und vom 6. September; der nächste Erfolg war ein förmliches allgemeines Wutgeschrei. Selbst die Zeitschrift, die ihn gebracht hatte, mußte zur Dokumentierung ihrer ›Unparteilichkeit‹ mehrere einlaufende Entgegnungen aufnehmen. Daß es Brendel über sich gewann, den Konsequenzen dieses Schrittes in seinem Blatte die Spitze zu bieten, hat ihm Wagner nie vergessen: steigerte sich doch der dadurch erregte Sturm bis zur Bedrohung seiner bürgerlichen Existenz. Brendel war neben seiner Stellung als Redakteur Professor der Musikgeschichte am Leipziger Konservatorium. Auf das Betreiben seiner eigenen Kollegen Moscheles und David (die soeben noch in Gemeinschaft mit Meyerbeer der Weimarer ›Lohengrin‹-Aufführung beigewohnt hatten und kaum von dort heimgekehrt waren) kam unmittelbar danach jenes berüchtigte Gesuch an das Direktorium zustande, welches infolge der Aufnahme jenes Aufsatzes seine sofortige Entlassung aus dem Lehrerverbande des Konservatoriums forderte!10 Die schimpfende Ereiferung gegen die für ›unsere aufgeklärten Zeiten‹ so schmachvolle ›Judenhaß-Tendenz‹ [457] war in der von jetzt ab eingeleiteten Bekämpfung des Künstlers nur das unvermeidliche gröbere Geschütz; dem ›höheren Judentum‹ mit seinem weit ausgebreiteten internationalen Preßbureau standen ganz andere Waffen zu Gebote. Eine offene Diskussion der angeregten Frage, vollends mit Hereinziehung von Wagners Namen, hätte das einmal erregte ärgerliche Aufsehen nur vermehrt; es schien ratsamer, ihn als Verfasser des Aufsatzes zu ignorieren und alles öffentliche Gerede darüber verstummen zu lassen. Dagegen hatte er seinem verborgenen Antagonisten, durch die bloße Tatsache einer Kriegserklärung gegen dessen allmächtigen Stammeszusammenhang, ein für allemal eine wirksame Waffe in die Hand gegeben: wohin er auch im Laufe der Jahre sich wenden mochte, in Paris wie in London, überall trat ihm in der Zeitungspresse der gleiche erklärte Widerstand unter steter Berufung auf das ›Judentum in der Musik‹ entgegen. Die seltsamsten Erfahrungen machte er an befangenen oder eingeschüchterten deutschen Kunstgenossen, wie J. C. Lobe und Robert Franz. Beide hatten sich unter dem Eindruck des Weimarer ›Lohengrin‹ unbedingt für ihn erklärt; der erstgenannte nüchterne Theoretiker, der anfangs in überschwenglicher Begeisterung die Partitur dieses Werkes einem seiner Schüler mit dem Bemerken nach Amerika geschickt hatte, es ›verdiene und lohne das Studium eines ganzen Lebens‹, stellte sich mit seiner, wenige Monate später in der Leipziger Illustrierten Zeitung anonym veröffentlichten persiflierenden Attacke auf das ›Judentum‹11 unter die entschiedenen Gegner des Künstlers, und entblödete sich nicht, noch drei Jahre später in einem – ebenfalls anonymen – Artikel der ›Gartenlau be‹ (1854) den Schriftsteller Wagner, mit Übergehung sämtlicher anderer Schriften, ausschließlich durch zusammenhanglose, mithin verfälschte, Sätze aus dem ›Judentum‹ zu charakterisieren.

Uhlig meldet dem Meister das Erscheinen jener ersten Entgegnungen; Wagner erwidert darauf, er kenne sie noch nicht. ›Für alle Fälle habe ich nicht Lust, in viel Schreiberei darum einzugehen: ich habe im Gegenteil eine ganz verdammt kurze Antwort in Bereitschaft – und zwar aus dem neuen Testament, das ich ganz vortrefflich im Kopfe habe.‹12 ›Es scheint schrecklich eingeschlagen zu haben, und das ist mir recht, denn solch einen Schreck wollte ich ihnen eigentlich nur machen; daß sie Herr bleiben werden, ist so gewiß, als daß jetzt nicht unsere Fürsten, sondern die Bankiers und die Philister die Herren sind.‹13 Von der ganz episodischen Durchführung eines, bei aller Wichtigkeit, in seiner ferneren Verfolgung weit über das Gebiet seiner Kunst hinausführenden Gedankens, wandte er sich vielmehr in dem tatenreichen Winter von 1850 zu 51 einer umfassenden Arbeit zu, die [458] dem idealen Gesamtbilde seines ›Kunstwerkes der Zukunft‹ eine eingehende Untersuchung des Problems von Oper und Drama folgen lassen sollte. Die Entstehung dieser umfangreichsten unter seinen schriftstellerischen Arbeiten im Laufe weniger Monate läßt sich aus den gleichzeitigen brieflichen Mitteilungen Schritt für Schritt verfolgen. Sie wuchs, wie die schattenreiche Krone eines markigen Baumstammes, mit unbewußter Notwendigkeit aus dem gedrängten Kern und Keim einer anfänglich bloß beabsichtigten Betrachtung über ›das Wesen der Oper‹, also des nachmaligen ersten Teiles, heraus. Den ersten Anstoß dazu gab ihm die zufällige Kenntnis eines längeren Artikels der Brockhausschen ›Gegenwart‹14 über die ›moderne Oper‹, die Wagner selbst als die Arbeit eines ›tüchtigen und erfahrenen Kunstkenners‹ bezeichnet.15 Gerade aus diesem Grunde griff er sie auf, um an ihr den prinzipiellen Irrtum des Verfassers über das ganze Problem der ›Oper‹ nachzuweisen. ›Für alle Fälle schicke ich Dir nächstens einen größeren Artikel über die moderne Oper – mit Rossini und Meyerbeer‹, heißt es gegen Uhlig am 20. September. Hier handelt es sich also nur erst um einen Aufsatz für die ›Neue Zeitschrift für Musik‹, als eine, nunmehr mit vollem Namen unterzeichnete, Fortführung seines im ›Judentum‹ begonnenen Glaubensbekenntnisses nach der rein ästhetischen Seite hin. Kaum drei Wochen später hat sich der vermeintliche Artikel über die ›Oper‹ bereits in eine größere Schrift verwandelt, die ›an Umfang vielleicht dem »Kunstwerk der Zukunft« nicht sehr viel nachgeben wird‹. ›Ich bin entschlossen, diese Schrift mit dem Titel: »Das Wesen der Oper« J. Weber zum Verlag anbieten zu lassen‹;16 er will deshalb diesen Leipziger Verleger nicht durch die zuvor beabsichtigte Herausgabe seines für Dresden entworfenen Reorganisationsplanes (als selbständige Schrift) im voraus in Anspruch nehmen. So meldet er am 9. Oktober, d.h. in den ersten Tagen der zuvor geschilderten Bemühungen um das soeben eröffnete Züricher Theater Damals war die Arbeit zur Hälfte fertig; sie mußte aber liegen bleiben, weil die zugunsten seines jungen Freundes übernommenen Bürgschaftsverpflichtungen seine Vormittagsstunden in Beschlag nahmen und ihn an der Fortsetzung verhinderten. ›Ich muß täglich Proben halten und selbst dirigieren, da es denn doch mit Karl nicht so schnell geht.‹ In einer Nachricht an Liszt vom 25. November steht bereits der Plan zu einem größeren Werke fest: ›meine Arbeit über das Wesen der Oper, die letzte Frucht meines Nachdenkens, dehnt sich zu größerem Umfange aus, als ich anfangs vermutete: die Notwendigkeit der von dem Dichter selbst verlangten Vermählung mit der vollen, ganzen Musik ... mußte ich [459] aus dem Zustande der modernen dramatischen Dichtkunst selbst mit ersichtlichster Deutlichkeit herzuleiten suchen‹.17 Mitte Dezember, nach Beendigung des zweiten Teiles über das Schauspiel und das Wesen der dramatischen Dichtkunst, schreibt er an Uhlig: ›Ich glaube nur dadurch dem Können mich nähern zu dürfen, daß ich mir Genossen mache, um vereint mit ihnen zur wahren Kunst zu gelangen. Du glaubst nicht, welche undenkliche Mühe ich mir jetzt in diesem Sinne gebe, bei allen denen, die nur erst halb verstehen, das ganze Verständnis hervorzurufen. Ja, selbst meine Feinde, die noch gar nicht verstehen, oder verstehen wollen, möchte ich zum Verständnis bringen: – und endlich freue ich mich doch nur darüber, selbst immer mehr zum Verständnis zu kommen.‹ ›Mein Buch, das nun »Oper und Drama« beißen soll, ist noch nicht fertig; es wird mindestens doppelt so stark als das Kunstwerk der Zukunft; noch habe ich wenigstens den vollen Dezember bis zum Schluß zu verwenden, und dann zur Abschrift und Durchsicht gewiß noch den ganzen Januar‹ Daran schließt sich nun schon die Mitteilung des gesamten dreiteiligen Planes und eine graphische Darlegung der Grundidee in Gestalt einer ausdrucksvollen Figur.18 Ein ›sehr bequemer neuer Schlafrock‹ von Minnas geübter Hand (10. Dezember) fördert die Arbeitslust Er arbeitet den ganzen Dezember hindurch ›mit fanatischem Fleiß‹, einsame Spaziergänge nach Tische erhalten ihn in dem gleichen Gedankenkreise, abends werden den Züricher Freunden im häuslichen Kreise wiederholt ganze zusammenhängende Abschnitte frisch aus der ersten Niederschrift mit höchster Lebendigkeit vorgetragen.19 Am 20. Januar geht der erste Teil in der Reinschrift an Uhlig ab, in vierzehntägigen Pausen folgen am 2. und 16. Februar der zweite und dritte Teil. ›Hier hast Du mein Testament – ich kann nun sterben. Was ich nun noch tun könnte, kommt mir wie unnützer Luxus vor!‹

Die ununterbrochene, heftig angestrengte Arbeit während voller vier Monate hinterließ schon an und für sich eine unvermeidliche Abspannung, sie macht sich in dem tief melancholischen Tone aller nächstfolgenden brieflichen Äußerungen geltend. Aber noch ein besonderer Kummer trug dazu bei, ein kleiner unscheinbarer häuslicher Vorfall, dessen stillschweigende Übergehung dem Charakterbilde des Künstlers einen wesentlichen Zug rauben würde. An die Vollendung der letzten Abschrift von ›Oper und Drama‹ knüpft sich der Tod seines Papageis, des ›kleinen redenden, singenden und pfeifenden Hausgeistes‹. Wer seinen Bericht an Uhlig über dieses intime Trauerereignis, nebst den darin enthaltenen zarten Selbstvorwürfen, ohne tiefe Ergriffenheit lesen kann, dem bleibt eine wichtige Seite in Wagners menschlichem Wesen verschlossen. ›Unser Pagagei, das liebenswürdigste und [460] mich zärtlichst liebende Tier, war in der letzten Zeit öfters kränklich; ich sollte einen Tierarzt aufsuchen, da ward's gerade immer wieder besser: meine Arbeit fesselte mich mit einem, Alles unberücksichtigt lassenden Fleiße. Am Tage vor dem Schlusse der Abschrift verlangte das gute Tier immer so sehnsüchtig zu mir heraus, daß meine Frau nicht widerstehen konnte, und ihn auf meinen Schreibtisch zu mir herausbrachte. Er wollte sich an die zum Fenster hereinscheinende Sonne setzen, – ich schloß die Vorhänge, um arbeiten zu können; er wurde mir überhaupt störend, und meine Frau mußte ihn wieder fortnehmen: – da gab er einen, mir bekannten, traurigen Laut von sich. Nachher hieß es: ich sollte doch wohl den Arzt aufsuchen; ich sagte: es wird wohl nichts Besonders sein, und dachte: morgen bist du mit der Arbeit fertig, dann willst du doch gehen – Am anderen Morgen früh war er plötzlich – tot! – Ja, wenn ich euch sagen könnte, was mir mit diesem Tierchen gestorben ist!! –‹ ›Es ist nun drei Tage her, und nichts kann mich noch beruhigen, und so geht's auch meiner Frau: – der Vogel war etwas Unwillkürliches zwischen uns und für uns‹ ...

Die brieflichen Verhandlungen über den Verlag seines großen dreiteiligen literarischen Hauptwerkes ziehen sich durch mehrere Monate. Während der Arbeit daran hatte er den ›kühnen Gedanken gefaßt, es nicht unter 60 Louisdor zu verkaufen‹; schon im Februar wendet er sich deshalb mit einem vorläufigen Briefchen an J. J. Weber in Leipzig, der es auch schließlich, aber erst Anfang Mai und unter starker Reduktion der verhofften Höhe des Honorars20 für seinen Verlag akzeptiert, nachdem die Angelegenheit durch mehrfache anderweitige Interventionen, z.B. des Schwagers Avenarius in Leipzig, verschiedene Phasen durchgemacht hat Kolatschek, der in Zürich lebende Herausgeber der bereits erwähnten ›Deutschen Monatsschrift‹, hatte sich ihm aus freien Stücken erboten, mit dem Verleger seines Journals wegen des Buches zu verkehren; zu solchem Zwecke sollten einige Abschnitte daraus als besondere Artikel zuvor in der Monatsschrift erscheinen.21 Dieser damals feurig junge radikale Politiker, dem näheren Freundeskreise Wagners angehörig und u.a. einer der beeifertsten Zuhörer jener intimen ›Vorlesungen‹ des Meisters aus ›Oper und Drama‹ im häuslichen Kreise, vor einer Anzahl ausgewählter Züricher Freunde und Bekannten, wird überhaupt in seinen damaligen freundschaftlichen Korrespondenzen wiederholt mit Teilnahme erwähnt. [461] Dr. Adolf Kolatschek, 1821 zu Bielitz geboren, als Mitglied der Frankfurter National-Versammlung in regem Verkehr mit den politischen und literarischen Kapazitäten seiner Partei, war mit dem Frankfurter Parlament nach Stuttgart übergesiedelt, wo er die Herausgabe seiner Monatsschrift begann; in Gefahr, von Württemberg nach Österreich ›geschubbt‹ zu werden,22 begab er sich dann nach der Schweiz und stand während seines Züricher Aufenthaltes zu Wagner in den besten Beziehungen. Mit Wärme gedenkt der Meister in seinen Briefen an Liszt auch des, dem gleichen Kolatschekschen Kreise angehörigen, feinsinnigen Reinhold Solger und eines seiner Artikel für die ›Monatsschrift‹: es sei ›so viel Abgeschmacktes in dieser Zeitschrift zutage gekommen, daß man auf das einzelne Gute darin wirklich aufmerksam machen müsse‹. Der Aufsatz, auf welchen er Liszt verweist, beruht sogleich in seiner Aufschrift ›Wir‹ auf einem Wagnerschen, oder, wenn man will, Feuerbach-Wagnerschen Gedanken. ›Es gibt nur ein Höheres als den Menschen die Menschen. Ins Politische übertragen: Ich bin die Freiheit; Wir sind der Freistaat. Wenn Wir es nicht sind, so hilft uns auch die Republik nichts Was hilft sie den Franzosen?‹ In den liberalen Doktrinarismus weht hier ein kraftvoll menschlicher Lufthauch. ›Der Mensch wird alt, wenn über den freien Drang, seine Kraft in jedem Augenblick neu zu entfalten, die Gewohnheit Herr wird; er wird zum Heuchler, wenn die moralische Regel an die Stelle des sittlichen Gefühles tritt.‹ Das Beamtentum sei die Quelle, aus welcher die Entnervung über eine einst kräftige Rasse geströmt sei. ›Es gibt ja in Deutschland gar keine Liebe. Wie können Personen, die keine Initiative des Charakters haben, sich lieben?‹ Die Herstellung der Freiheit in unserem öffentlichen Leben, die dem freien Individuum von demokratischen Pedanten als abstraktes Schema aufgezwungen werden soll, beruht in der Herstellung der ›Einheit zwischen unserer Privat- und öffentlichen Sittlichkeit, die gegenwärtig anerkanntermaßen nicht existiert‹

Es ist hier der Ort, des Beginnes einer Freundschaft zu gedenken, die für den ganzen nächstfolgenden Züricher Aufenthalt Wagners nicht ohne Bedeutung bleibt, wenn sie auch seinem eigentlichen Bedürfnis nie recht hat genügen können Es ist die Bekanntschaft mit dem Dichter Georg Herwegh, der seinerzeit durch die Glut der Freiheitsliebe in seinen ›Gedichten eines Lebendigen‹ (1841–44) in bewegter Periode einen wahren Sturm der Begeisterung hervorgerufen, dann aber durch seine mißlungene, töricht improvisierte Beteiligung an dem badischen Aufstande, einen Schatten auf sein Leben geworfen hatte, fast mehr noch durch gewisse unaufgeklärte, dem Klatsch seiner politischen Gegner preisgegebene private Beziehungen während seines [462] letzten Pariser Aufenthaltes. Seine damaligen Züricher Freunde23 rühmen an ihm die vornehme Feinheit seiner Umgangsformen, seine vielseitige wissenschaftliche Bildung, seine liebenswürdigen Eigenschaften als Gesellschafter, den Glanz seines dunklen Auges, den weichen sanften Klang seiner Stimme, – der es aber an Kraft gebrach, wenn er in Leidenschaft geriet und heftig wurde: ›er hatte nicht die vollen Brusttöne des in Zorn und Liebe mächtig bewegten Gemütes‹. In den Salons vornehmer sozialistisch gesinnter russischer Emigranten in Paris hatte er die verfeinerten Gewohnheiten des Luxus, raffinierte Geistes- und Lebensgenüsse kennen gelernt und eine allzufrüh eingetretene Blasiertheit seine edlere Lebenskraft in eine beklagenswerte schlaffe Lässigkeit umgewandelt. ›Seiner Natur nach hätte er eher dazu gepaßt, ein Marquis aus der Zeit der Regentschaft zu sein, als ein Volkstribun, der die ewig unveränderlichen Rechte der Menschheit wie mit den Donnern des Weltgerichts einer entarteten Epoche zu verkünden sich berufen fühlt.‹24 Er war mit der Tochter eines reichen jüdischen Bankiers in Berlin verheiratet, lebte aber um die Zeit, als Wagner ihn kennen lernte – und die nächstfolgenden Jahre – allein im Hôtel du Lac in Zürich; seine Frau weilte, vorübergehend von ihm getrennt, mit ihren Kindern in Nizza. Er enthielt sich damals jedes öffentlichen literarischen Auftretens; nur ausnahmsweise ließ er sich dazu herbei, etwa als ›Jörg Schwabian‹ in der Kolatschekschen Monatsschrift in einer vernichtenden Kritik seinem Groll gegen den politischen Nachtwächter – und Mantelträger – Dingelstedt Luft zu machen. ›Es hieß, daß eine tragische Leidenschaft ihn beherrsche ‹ In seiner damaligen Stimmung habe er Sonette verfaßt, welche ihn durch Form und Inhalt als Dichter der Liebe unsterblich machen müßten, diese Gedichte aber wolle er niemals drucken lassen, – so berichtet Frau Wille, die sich dafür auf eine Angabe Wagners beruft.25 So verschieden beider Charaktere innerlich und äußerlich waren, bevorzugte dennoch Wagner seinen Umgang und blieb ihm bis in späteste Zeiten treu gesinnt. Auch Liszt ward ihm in der Folge während seiner mehrfachen Züricher Aufenthalte eng befreundet und ›St. Georg‹ wird in dem Briefwechsel häufig erwähnt, meist mit dem Bedauern Wagners, daß es ihm nicht gelänge, den Hochbegabten aus seiner Erschlaffung aufzurütteln, in die er rettungslos versunken schien.26 Freilich, wenn irgend etwas, so hätte ihn wohl der überall wie ein Feuerstrom der Produktivität und [463] Anregung mit sich reißende Verkehr mit dem Genius aus dieser Versunkenheit aufstacheln sollen. ›Du wirst in Wagner‹, schrieb er damals an seine Frau ›nicht nur einen der größten Musiker aller Zeiten, sondern auch einen der freiesten Menschen kennen lernen.‹

Zu den mancherlei kleineren Veröffentlichungen, zum Teil noch während der letzten Arbeit an seinem großen Werke, gehört u.a. sein dem soeben (24. Januar) dahingeschiedenen Spontini gewidmeter warmer und ehrerbietiger Nachruf in der Züricher ›Eidgenössischen Zeitung‹. In demselben schweizerischen Blatte hatte er bald darauf Gelegenheit für ein Projekt seines Freundes Semper einzutreten, der, soeben von Paris nach London übergesiedelt, im Begriffe stand, daselbst ein deutsches Atelier für Architekten und Ingenieure zu begründen.27 Außerdem dauerten im häuslichen Freundeskreise der ›Villa Rienzi‹ seine Vorlesungen über ›Oper und Drama‹ fort. Zu ihren regelmäßigen Zuhörern zählte in erster Reihe Sulzer, wie denn Wagner in späteren Jahren beim Rückblick auf sein großes Werk einmal die Äußerung tat, es sei eigentlich in all seinen drei Teilen, mit all seinen Deduktionen und Ausführungen recht eigentlich immer wie eine persönliche Mitteilung an Sulzer von ihm konzipiert und durchgeführt gewesen. Von sonstigen regelmäßigen Teilnehmern nennen wir hier Hagenbuch, Baumgartner, Bernhard Spyri, Adolf Kolatschek, Wilhelm Schulz.28 Kam er bei solcher Gelegenheit einmal an Wein oder Zigarren zu kurz, so sorgte Sulzer brüderlich für eine ›Ladung echten Winterthurers‹ oder für die Ergänzung seines Zigarrenlagers. Bei dieser Gelegenheit hörte er denn auch durch Baumgartner zum erstenmal den Namen des auf Bildungsreisen abwesenden Gottfried Keller. In Baumgartners Briefen an Keller ist oft von diesen Vorlesungen aus ›Oper und Drama‹ die Rede. ›Richard Wagnern, bei dem ich unlängst eine sehr interessante Vorlesung angehört, habe ich Dich bereits angekündigt.‹ Und wiederum (22. März): ›Von einer neuen Bekanntschaft wüßte ich Dir sehr viel zu schreiben, wenn es für einmal nicht zu weit führte: nämlich von unserem Freunde Richard Wagner, der mit dem ganzen Feuer seines Geistes und seiner Energie zündend auf mich einwirkt. Ich möchte Dich einstweilen auf seine hier geschriebenen Arbeiten aufmerksam machen, nämlich auf seine Kunst-Revolution. (sie), besonders auf sein »Kunstwerk der Zukunft« (worunter er das Drama in Verbindung und Mitwirkung aller Künste verstanden wissen will).29 In diesen Tagen gibt er uns in [464] einer Reihe von Vorlesungen seine neueste, noch ungedruckte Arbeit »Das Wesen der Oper«, worin er sich auf höchst geistreiche Weise über die Geschichte der Oper, die Entwickelung des Dramas, der Sprache, unsere Lyrik usw. ausspricht und – um es mit einem Worte zu sagen – den Gedanken ausführt, daß unsere moderne Oper eigentlich kein Kunstwerk, kein Drama sei, sondern daß der wahre Dichter ein solches erst noch schaffen müsse. Mehr davon später, da er seine Vorlesung noch nicht geschlossen. Zum Schlusse liest er seinen neuesten, noch nicht komponierten Operntext »Siegfried«, nach dem altnordischen Sagenkreise bearbeitet. Wir kennen es schon; er bringt darin den altdeutschen Stabreim und Sprachakzent zur Geltung gegenüber dem willkürlichen und äußerlichen Reim und Metrum.‹30

Ende März entsteht die merkwürdige kleine Schrift: ›Ein Theater in Zürich.‹ Zu ihrer Abfassung veranlaßte ihn die eigentümliche Erfahrung, die auch in diesem Winter wieder, wie so oft, an der Züricher Theaterunternehmung sich erneuerte. Er war sich bewußt, das Seinige dazu beigetragen zu haben, um diese in die rechte Bahn zu lenken; die Teilnahme des Publikums war infolge seiner anfänglichen Beteiligung an den Aufführungen anhaltend eine erfreuliche gewesen; und dennoch hatte sich der Unternehmer am Schlusse der Saison über den Verlust einer nicht unbeträchtlichen Summe mit der einzigen Genugtuung zu trösten, für sein verlorenes Geld diesem Publikum einen Winter hindurch ein möglichst gutes Theater verschafft zu haben. War der zugrunde liegende Fehler nun in Wahrheit immer wieder nur in der verunglückten finanziellen Spekulation, oder nicht in einer tiefer liegenden Ursache zu suchen? Aus welchem Grunde war und blieb das Schicksal einer Theaterunternehmung an einem Orte wie Zürich unter allen Umständen so sehr dem Zufall und ›guten Glück‹ überlassen? Er wagte es, diese Frage selbst für die gegebenen engen Verhältnisse dahin zu beantworten, daß die dortige Bühne nicht in den örtlichen Verhältnissen begründet, daß sie kein Originaltheater sei. Es dünkte ihn nicht unmöglich, an Ort und Stelle den Grund zu einem ›Züricher Originaltheater‹ zu legen: die Ablösung dieses Institutes von dem materiellen Interesse eines Pächters, seine unabhängige Stellung als künstlerischer Ausdruck des Gemeindelebens sollte in seiner ganzen Organisation von Hause aus begründet sein. Zunächst sollte zu diesem Zweck ein Theater aus gewöhnlichen, aber auserlesenen [465] Kräften hergerichtet werden, dessen Mitglieder sich in der Folge aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft ergänzen sollten. Aus der Gemeinde selbst gedachte er sich die Kräfte für dieses Theater heranzubilden und zu erziehen, schon die öffentlichen Erziehungsanstalten sollten auf eine Ausbildung der Jugend in diesem künstlerischen Sinne hinwirken. ›Es werden sich mit der Zeit immer mehr heimische Talente entwickeln, die eintretende Lücken im Theaterpersonale auszufüllen imstande sind, ohne deshalb ihre bürgerliche Stellung zu verlassen und in einen gesonderten Schauspielerstand einzutreten, bis, bei fortwährendem Gedeihen des Instituts, endlich das ganze aktive Künstlerpersonal nur noch aus der Blüte einer heimisch-bürgerlichen Künstlerschaft bestehen und das Theater somit in eine ganz von selbst sich erhaltende Stellung gelangen muß, in welcher es jede Spur eines Industriezweiges von sich abgestreift haben wird.‹ Die Zustimmungen, die sich zu seinen Vorschlägen meldeten, waren allerdings nicht von ermutigender Art. Sie gingen meist von Leuten aus, die für ihre Neigung zum sogenannten Liebhabertheaterspielen in diesem Plane eine anständige Deckung erkannten Besonnene Freunde zogen daneben auch die nicht zu übersehende Schwierigkeit in Betracht, wie gerade aus den Elementen der Züricher städtischen Bevölkerung, schon der dort herrschenden üblen Mundart wegen, etwas Erträgliches für das Theater gewonnen werden sollte. ›Daß es etwa an Theaterdichtern fehlen würde, befürchtete jedoch niemand, da eigentlich jeder sich für befähigt hielt, ein gutes Stück zu schreiben.‹31

Den gleichen Gedanken der Realisierung eines deutschen Originaltheaters im größten nationalen Sinne, mithin eines Institutes, dem er seine eigenen Werke zur Ausführung hätte übergeben können, mahnend zum Bewußtsein zu bringen, erhielt er bald darauf einen bestimmten Anlaß. In seiner Schrift über eine in Weimar zu begründende ›Goethe-Stiftung‹ hatte soeben Liszt die großartige Idee eines bedeutenden Preisausschreibens für zu krönende Werke der Dichtkunst, der Malerei, der Bildhauerkunst und der Musik in abwechselnder Reihenfolge entwickelt.32 Ein namhafter Preis, durch ein Komitee von Künstlern aller Kunstzweige aus allen deutschen Landen zuerkannt und unter Feierlichkeiten erteilt, die der Wichtigkeit der Sache angemessen wären; die Proklamation der gekrönten Namen in den gelesensten [466] Journalen, die eventuelle Aufführung des gekrönten Werkes durch tüchtige Kräfte vor einem zahlreichen Publikum; der Druck und die Verbreitung desselben durch die Stiftung selbst, – das waren die Vorschläge Liszts, mit deren Darlegung und Entwickelung er, auch bei ausbleibender Verwirklichung seines großen Gedankens, seiner universalen Kunstanschauung ein dauerndes Denkmal gesetzt hat. In seinem Briefe an Liszt über die Goethe-Stiftung vom 8. Mai 1851 macht Wagner geltend, daß die bildenden Künste (für deren vorzügliche, wenn nicht ausschließliche Unterstützung Schöll in einem Aufsatz des ›Deutschen Museums‹ den Fonds der Stiftung beanspruchte) der fördernden Nachhilfe in weit geringerem Maße bedürften, als die dramatische Kunst. Dieser letzteren sei durch die gegenwärtig bestehenden Theater nicht einmal das Organ zur sinnfälligen Verwirklichung ihrer Absicht geboten, und diese, zu deren Erreichung dem Bildhauer in Ton, Stein und Meißel, dem Maler in Leinwand, Farbe und Pinsel die Mittel stets zur Verfügung stünden, sei doch das Nötigste und Dringendste, was dem Künstler geboten werden müsse, solle er nicht den Mut, ja die Fähigkeit zum Schaffen verlieren und das Kunstwerk im Keime erstickt werden. Vor allen Dingen sei also zunächst das Theater zu errichten, welches ›dem eigentümlichsten Gedanken des deutschen Geistes als entsprechendes Organ zu seiner Verwirklichung im dramatischen Kunstwerke diene‹. Erst wenn ein solches Institut vorhanden sei, würde man gerechterweise den Gedanken aufnehmen dürfen, mit der Dichtkunst auch die bildenden Künste zur Konkurrenz aufzurufen. ›Ich für mein Teil bin aber überzeugt‹, sagt Wagner ›daß vor dem lebendig dargestellten Kunstwerke des im Drama mit dem Musiker zur höchsten Fälle seines Kundgebungsvermögens vereinigten Dichters – Maler und Bildhauer jede Konkurrenz ablehnen und in ehrerbietiger Scheu vor einem Kunstwerke sich verneigen würden, gegen das ihnen ihre Werke nur als leblose Bruchstücke der Kunst erscheinen könnten.‹

Die Vorstellung eines solchen, von allem modernen Opernwesen unabhängigen Originaltheaters war denn auch die einzige, die den Künstler für sein Schaffen mit Mut und Hoffnung erfüllen konnte. So oft er noch zur Fortführung der Komposition von ›Siegfrieds Tod‹ zurückgekehrt war, hatte er diese immer wieder als zwecklos und unmöglich erkannt, sobald er dabei die bestimmte Absicht einer sofortigen Darstellung auf der Bühne festhielt Nach langem Schwanken war er im vorigen Herbst, nach den ermutigenden ›Lohengrin‹-Erfahrungen, endlich im Begriffe gewesen, die musikalische Ausführung dieses Dramas zu entwerfen, als ihn zunächst die wiederum erkannte Unmöglichkeit, es irgendwo genügend dargestellt zu wissen, von dem Beginnen abwandte.33 So hoffnungsvoll sich nach der einen Richtung hin [467] die Weimarer Ereignisse gestalteten, so sehr ihm daraus vor allem die Liebe und Begeisterung seines großen künstlerischen Freundes anfeuernd und belebend entgegentrat, so wenig konnte er sich doch im Grunde entschließen, sein neues Werk in Wahrheit für Weimar zu bestimmen. Eher hielt er sich, um mit wirklicher Lust an die Ausführung seines künstlerischen Vorhabens zu denken, an Wünsche und Pläne von ganz abliegender Beschaffenheit. ›Könnte ich je‹, so hatte er schon im September 1850 an Uhlig geschrieben ›könnte ich über eine Summe von – vielleicht 10000 Talern verfügen, so würde ich folgendes veranstalten Hier, wo ich nun gerade bin und wo manches gar nicht so übel ist, würde ich auf einer schönen Wiese bei der Stadt von Brett und Balken ein rohes Theater nach meinem Plane herstellen und lediglich mit der Ausstattung an Dekorationen und Maschinerie versehen lassen, die zu der Aufführung des »Siegfried« nötig sind. Dann würde ich mir die geeignetsten Sänger, die irgend vorhanden wären, auswählen und auf sechs Wochen nach Zürich einladen. Den Chor würde ich mir größtenteils hier aus Freiwilligen zu bilden suchen (hier sind herrliche Stimmen und kräftige gesunde Menschen!); so würde ich mir auch mein Orchester zusammen laden. Von Neujahr gingen die Ausschreibungen und Einladungen an alle Freunde des musikalischen Dramas durch alle Zeitungen Deutschlands, mit der Aufforderung zum Besuch des dramatischen Musikfestes: wer sich anmeldet und zu diesem Zwecke nach Zürich reist, bekommt gesichertes Entree, – natürlich, wie alles Entree. gratis. Des weitern lade ich die hiesige Jugend, Universität, Gesangvereine usw. zur Anhörung ein. Ist alles in gehöriger Ordnung, so lasse ich dann unter diesen Umständen drei Aufführungen des Siegfried in einer Woche stattfinden: nach der dritten wird das Theater eingerissen und meine Partitur verbrannt. Den Leuten, denen die Sache gefallen hat, sage ich dann: »nun macht's auch so!« Wollen sie auch von mir einmal wieder was Neues hören: so sage ich aber: »schießt ihr das Geld zusammen!«‹ – Aber sogleich in demselben Briefe mußte er diesen Plan, der ihn, ›einzig reizen könnte, die musikalische Ausführung seines Werkes in Angriff zu nehmen‹, der traurigen Wirklichkeit gegenüber als Phantasie und Chimäre bezeichnen. Um sich dieser verzweifelten Stimmung zu entledigen, nahm er deshalb sein Buch über ›Oper und Drama‹ in Angriff und gab sich von neuem der schriftstellerischen Tätigkeit hin, um sich durch Erweckung des Verständnisses und Gewinnung von Genossen ›dem Können zu nähern‹.

Auch diese literarische Epoche seines Lebens lag nun hinter ihm, das Frühjahr kam, und mit ihm – auf Liszts Betreiben – erneute Anerbietungen aus Weimar für seinen ›Siegfried‹: er solle ihn bis zum 1. Juli 1852 vollendet abliefern, und bis dahin und zu dieser Zeit im ganzen 500 Taler vorschußweise als Honorar ausgezahlt erhalten. Aus den beschränkten [468] Mitteln des kleinen Weimarischen Theaters gewiß ein großmütiges Anerbieten! Trotzdem erweckte es in dem Künstler die alten, gegen den hochsinnigen Freund am schwierigsten auszusprechenden Bedenken. Er, der Schöpfer des Werkes, war allein befähigt, den Fortschritt seines neuen Werkes im Verhältnis zum ›Lohengrin‹ zu beurteilen. Wenn er sein Drama ›Siegfrieds Tod‹ in den ihm vorschwebenden edel heroischen Umrissen und Verhältnissen, mit der darin beanspruchten Ausdrucksfähigkeit des gesamten szenischen und orchestralen Apparates, für den ernstlich aufgenommenen Zweck einer nächstjährigen Aufführung in Weimar ins Auge faßte, mußte ihm die Sache vollkommen unmöglich erscheinen. Wo die Darsteller, ja wo nur das Publikum dafür hernehmen? Nun hatte ihn aber während des ganzen verflossenen Winters mit seiner kunstphilosophischen Arbeit an ›Oper und Drama‹ eine Idee verfolgt, die ihn endlich als Eingebung seines Genius so völlig für sich einnahm, daß er sich ihr unbedingt unterwerfen mußte. Schon in Dresden war ihm – im Herbst 184834 – ein dem deutschen Märchen entstammender Stoff mit dem lebhaften Anreiz zu nachmaliger Ausführung nahe getreten: es war dies der Bursche, der auszieht, um das Fürchten zu lernen, und so dumm ist, es nie lernen zu wollen. Wie groß war nun seine Überraschung, sein freudiger Schreck, als er plötzlich erkannte, daß dieser Bursche – niemand anders sei als der ›junge Siegfried‹, der den Hort gewinnt und Brünnhilde erweckt! Der Plan seines ›jungen Siegfried‹ stand ihm mit einem Male deutlich vor der Seele. An diesem, bei weitem populäreren, dem Bewußtsein durchaus näherliegenden, minder heroischen, als heiteren, jugendlich menschlichen Helden konnten sich nun die Darsteller praktisch üben und vorbereiten, die gewaltigere Aufgabe von ›Siegfrieds Tod‹ zu lösen. Aber auch ihm selbst bot der Entschluß, sein großes tragisches Drama durch eine lebendige Gestaltung der Jugendgeschichte seines Helden einzuführen, eine wesentliche Erleichterung für die Ausführung seiner dramatischen Absicht. Eine Fülle großer Beziehungen hatte in dem ursprünglichen Drama bloß erzählungsweise angedeutet werden können, und diese epischen Partien waren es, die ihn stets wieder mit Mißtrauen gegen die Wirksamkeit seines Dramas im richtigen Sinne einer szenischen Darstellung erfüllten. Nun war der Ausweg gefunden. ›Der junge Siegfried hat den ungeheueren Vorteil, daß er den wichtigen Mythos dem Publikum im Spiel, wie einem Kinde ein Märchen, beibringt. Alles prägt sich durch scharfe sinnliche Eindrücke plastisch ein, alles wird verstanden, – und kommt dann der ernste »Siegfrieds Tod«, so weiß das Publikum alles, was dort vorausgesetzt oder eben nur angedeutet werden mußte, – und – mein Spiel ist gewonnen. Beides werden aber an sich zwei ganz selbständige Stücke, die nur zum ersten [469] Male dem Publikum in der Reihenfolge vorzuführen sind, dann aber ganz für sich, nach Belieben und Vermögen, gegeben werden können.‹35

Diesen Plan meldete er Liszt als die gefundene Lösung des Dilemmas. Der Brief, in welchem dies geschah, ist im Briefwechsel nicht erhalten; vielleicht war es kein anderer, als der ›Goethe-Stiftungs‹-Brief vom 8. Mai, der ja ursprünglich gar nicht zur Publikation bestimmt war und in welchem deshalb bei seinem späteren, auf Liszts Wunsch veranstalteten Abdruck alle nicht für die Öffentlichkeit berechneten und auf den Hauptgegenstand bezüglichen Stellen, mithin auch die motivierte Ankündigung des ›jungen Siegfried‹ gestrichen wurden. Aber Liszts schöne frische Antwort ist da: ›Also einen jungen Siegfried bekommen wir! Du bist wahrhaft ein ganz unglaublicher Kerl, vor dem man Hut und Mütze dreimal abzuziehen hat! Die ersprießliche Beendigung dieser Sache freut mich herzlich, und an Dein Werk glaube ich fest.‹ Diese freudige Zustimmung Liszts genügte, um den ›jungen Siegfried‹, den Gewinner des Hortes und Erwecker Brünnhildes, nach Wagners eigenen Worten ›mit Blitzesschnelle‹ ins Dasein zu rufen. In dem kurzen Zeitraum von drei Wochen, vom 3. bis zum 24. Juni, entstand in den frühen Morgenstunden in heftiger Arbeit, aber zu seiner eigenen großen Freude, die Dichtung des Werkes; in der Frühe des Johannistages 1851 war sie beendet ›fertig und wohlgereimt zur Welt gekommen‹. Er fühlte, es sei das, was er jetzt machen mußte, und das Beste, was er bis jetzt geschaffen hatte. Im nächstfolgenden Monat gedachte er dann an die Komposition zu gehen, mit solchem Vertrauen zu der Wärme des Stoffes und seiner Ausdauer, daß er über ein Jahr, an dem mit Weimar vereinbarten Termin für die Ausführung des Werkes, ganz ungeschwächt bei der Komposition von ›Siegfrieds Tod‹ anzulangen gedachte. Nur bei dem Gedanken, die vollendete Dichtung dem edlen Freunde so auf bloß schriftlichem Wege in einer schnell zu fertigenden Abschrift zur Kenntnis zu bringen, empfand er eine eigentümliche Beklemmung. Ihm war, als könnte er sie jenem unmöglich so ohne weiteres zusenden, als hätte er ihm viel darüber auseinanderzusetzen, teils über die Art der Ausführung, teils über die nötige Auffassung selbst. Ja, hätte er sie ihm vorlesen können, mit lauter Stimme, in der ihm eigenen Art des Vortrages und der Betonung, mit Andeutung des beabsichtigten musikalischen Ausdruckes! So richtete er denn an Liszt die herzliche Bitte, ihm seine Sehnsucht zu erfüllen und ihn, zu persönlichem Wiedersehen nach zwei langen, ereignisvollen Jahren, entweder in Zürich zu besuchen oder ihm einen anderen, dem Verbannten zugänglichen Ort zu einem Rendezvous zu bestimmen. Leider war dies durch eine anhaltende Krankheit der Fürstin unmöglich gemacht, die Liszt ohnehin seit [470] Monaten dazu genötigt hatte, seinen Aufenthalt zwischen dem ihr verordneten Kurort Eilsen (Bückeburg) und Weimar zu teilen.

Aber eine andere große Freude brachten ihm die Sommermonate des Jahres 1851: einen seit lange verabredeten, brieflich auf Tag und Stunde im voraus bestimmten Besuch des wackeren Uhlig. Der treue, tief und wahrhaft ergebene Freund hatte sich auf das mühsamste und aufopferungsvollste so viel zusammengespart, um den Meister in der Schweiz zu besuchen. Bis Rorschach am Bodensee, wo der werte Gast mit dem Dampfschiff von Lindau aus eintraf, war ihm Wagner entgegengegangen; die Freude des Wiedersehens war groß, nicht minder – für beide Teile – der Genuß des vierwöchigen Zusammenseins und ununterbrochenen regen geistigen Verkehrs und Gedankenaustausches. In seinem ›kühlen, sehr ruhigen und leidenschaftslosen Wesen‹36 bei seiner dennoch so liebevollen Natur sah dieser merkwürdige Mensch die Dinge oft in einem so neuen, seiner Anschauung eigentümlichen Lichte, daß ihm Wagner ausdrücklich einmal versichern konnte ›viel von ihm gelernt zu haben‹,37 und mit nichts konnte der Meister an ihm so unzufrieden sein, als wenn der Redliche, aus reiner, hingebender Liebe zu ihm ›sein eigenes Licht zu wenig leuchten ließ‹, oder wenn er an ihm die Beobachtung machte, daß der zwingende Einfluß seiner Schriften ihn, wenn auch nur im Äußern, seiner eigensten Anschauungsweise entfremdete.38 Uhlig lernte nun die ›Siegfried‹-Dichtung kennen; sein Ausdruck des Staunens und der Verwunderung über das große Neue, von dem er sich gar nicht vorstellen könne, wie es nun musikalisch ausgeführt werden sollte, hatte nichts mit einer zweifelsüchtigen Kritik gemein, weshalb Wagner in der Folge, bei dem ersten Angriff der Komposition, brieflich auf diesen Ausspruch eigens zurückkommt.39 Überhaupt geben Wagners Briefe gleich nach ihrer Trennung uns einen lebendigen Einblick in die Mannigfaltigkeit ihrer Unterredungen, gemeinsamen Ausflüge und Unternehmungen während dieser anregungsreichen Wochen. Im Bewußtsein dessen, daß er, bevor er mit seiner neuen Dichtung vor seine Freunde trete, diesen noch vieles zu sagen und ›mitzuteilen‹ hätte, war damals der Meister mit jenem, längst angekündigten (S. 446) Vorwort zu seinen ›drei Operndichtungen‹, der autobiographischen ›Mitteilung an meine Freunde‹ beschäftigt; auch dieses lernte Uhlig, soweit es niedergeschrieben war, während dieses Besuches kennen.40 Unter dem mancherlei Heiteren und Ernsten, was er aus Dresden zu berichten hatte, standen seine mündlichen Nachrichten über Röckel obenan, nach dessen Schicksalen sich Wagner bereits früher brieflich bei ihm erkundigt.41 Durch einen ergebenen Freund und Gesinnungsgenossen des armen Gefangenen[471]Dr. Florenz Schulze in Dresden, der, obwohl er früher schon hatte leiden müssen, weil er Röckel zu dessen Reise nach Prag seinen Paß geliehen, doch in seiner Opferwilligkeit für ihn nicht ermüdete und eine stetige briefliche Verbindung mit ihm unterhielt, – hatte Uhlig schon früher Nachrichten über ihn erhalten, auch daß ihm Broschüren von Wagner in seine Einsamkeit zugegangen seien. An gemeinsame rüstige Gebirgswanderungen über Täler, Höhen und Gletscher erinnern mehrfache, nur für Uhlig verständliche Anspielungen: auf einen Berliner Maler, dem sie gemeinschaftlich in Brunnen begegnet,42 auf sein ›Urmenschentum am Sturzbache der Surenen‹, auf den ›Uri-Rotstock, der ihn grüßen lasse‹.43 Am 11. Juli, soeben mit Uhlig von den Alpen herabkommend, fand er einen Brief Liszts vor, der ihn zur glücklichen Geburt seines Siegfried beglückwünschte und durch die bestimmte Ankündigung seines Nicht-Kommens (aus den bereits mitgeteilten betrübenden Ursachen) jede bis dahin noch gehegte Hoffnung abschnitt. Wagners Antwort eröffnet ihm die Aussicht darauf, ihm die Dichtung des ›Siegfried‹ spätestens durch Uhlig zu schicken; von dem gleichen Tage ist ein Brief an den alten Fischer datiert, von dem ihm Uhlig zu seiner großen Freude ein briefliches Lebenszeichen mitgebracht. Der endliche Abschied des Getreuen, dem die reine Schweizerluft, die stolzen frischen Alpengegenden ersichtlich wohlgetan, fiel beiden schwer genug. Es ward ein Wiedersehen in einem der nächsten Sommer verabredet – ein unbeugsames Geschick hatte es anders beschlossen.

Alsbald nach Uhligs Abreise gelangte die ›Mitteilung an meine Freunde‹ in mehrwöchiger heftiger Beharrlichkeit als eine ›entscheidende Arbeit‹ zur Vollendung. Die Abschrift allein nahm über eine Woche für sich in Anspruch, am 23. August ging sie zum Druck nach Leipzig ab. Tags darauf entstand ein längerer Brief an Röckel, der erste an den gefangenen Freund, seit er mit Gewißheit erfahren, daß Briefe an diesen gelangen könnten. Eine Abschrift des ›jungen Siegfried‹ für Frau Ritter hatte Uhlig bei seinem Scheiden mit erhalten; eine solche für Liszt entstand gleich nach Absolvierung des autobiographischen Vorwortes. Sonderbarerweise aber hielt ihn, auch nachdem sie fertig war,44 immer etwas davon zurück. Immer mußte er damit zögern; es war ihm, unerklärlicherweise, als müßte das Bekanntwerden mit dieser Dichtung gerade Liszt zunächst in eine gewisse Verlegenheit setzen, als müßte er nicht recht wissen, was daraus zu machen, ob Hoffnung oder Mißtrauen in sie zu setzen sei. So blieb sie für jetzt noch unabgesendet. Nun wollte er an die musikalische Ausführung gehen: zu seiner Freude gewahrte er, daß die Musik zu diesen Versen höchst natürlich und leicht, wie [472] von selbst sich gestaltete. ›Das, was Du Dir gar nicht vorstellen kannst‹, schreibt er an Uhlig, ›macht sich ganz von selbst! Die musikalischen Phrasen machen sich auf diesen Versen und Perioden, ohne daß ich mir nur Mühe darum zu geben habe; es wächst alles wie wild aus dem Boden. Den Anfang hab' ich schon im Kopfe; auch einige plastische Motive, wie den Fafner. Ich freue mich darauf, nun ganz dabei zu bleiben.‹ Trotzdem kam es nicht sogleich dazu. Zunächst stand ein unvermeidlicher Wohnungswechsel in naher Aussicht. Seine schriftstellerische Periode war in der ›Villa Rienzi‹ (Abendstern, Enge) abgeschlossen; die künstlerische sollte in einer neuen Umgebung ihren Beginn nehmen. Und noch etwas anderes trug zu dem Aufschub bei. Seine Unterredungen mit Uhlig hatten ihn mit besonderer Lebhaftigkeit auf die von diesem seit geraumer Zeit bevorzugten Wasserkuren gebracht: der Gedanke, ein lästiges Unterleibsleiden los und noch ganz gesund zu werden, mit vollkommener Gesundheit sich an seinen ›Siegfried‹ zu machen, hatte für ihn etwas ›freudig Feierliches‹. ›Ich bin entschlossen‹, schreibt er in diesem Sinne dem alten Fischer, ›mich ganz gesund zu machen, damit ich auch eine recht gesunde Musik schreibe. Ich gehe zu diesem Zwecke in eine nahegelegene Wasserheilanstalt; dort will ich mir meinen Unterleib reinwaschen, wie ich mir jetzt mit meinen schriftstellerischen Arbeiten den Kopf reingewaschen habe.‹

Am 16. September hielt er zu diesem Zwecke seinen Einzug in der Wasserheilanstalt Albisbrunn bei Haufen, drei Stunden von Zürich.

Fußnoten

1 An Uhlig, S. 18. 21/22.


2 An Uhlig, S. 29.


3 Nachlaßband ›Entwürfe, Gedanken, Fragmente‹, S. 49.


4 Die reichhaltigen Notizen und Entwürfe dazu finden sich in dem eben genannten Nachlaßbande S. 11/45 unter der Aufschrift: ›Flüchtige Aufzeichnungen zu einem größeren Aufsatze: »Das Künstlertum der Zukunft.«‹


5 An Uhlig, S. 47.


6 Ebenda.


7 ›Entwürfe, Gedanken, Fragmente‹, S. 68.


8 An Liszt, S. 124.


9 Auf diese Art ist der an Karl Ritter geschriebene Brief unter die an Uhlig gerichteten geraten; vgl. Briefe an Uhlig, S. 42, Nr. 13.


10 Mit solchem überwältigenden Eifer wurde die Sache betrieben, daß es gelang, die Unterschriften sämtlich er Konservatoriumslehrer (Rietz, Becker, Böhme, David, Hauptmann, Hermann, Joachim, Klengel, Moscheles, Plaidy und Wenzel) für das Schriftstück zu gewinnen; vgl. ›Aus Moscheles' Leben‹ Bd. II, 1873. Doch stieß es trotzdem auf die verdiente Ablehnung.


11 Wieder abgedruckt 1869 in dem Sammelwerk: ›Konsonanzen und Dissonanzen.‹


12 An Uhlig, S. 67.


13 An Liszt, I, S. 124.


14 Eines in Form einer Zeitschrift bei F. A. Brockhaus in Leipzig erscheinenden, periodischen Supplementes des Brockhausschen ›Konversationslexikons‹.


15 Sie war anonym veröffentlicht und hatte, wie es scheint, W. H. Riehl zum Verfasser.


16 An Uhlig, S. 65.


17 An Liszt, S. 106.


18 An Uhlig, S. 74.


19 Ebendaselbst, S. 94.


20 An Uhlig S. 79. 80. 83. 88. 90.


21 Sie erschienen wirklich darin, im März- und Maiheft 1851, Ausschnitte aus dem zweiten Teil, unter dem Titel: ›Über moderne dramatische Dichtkunst, von Richard Wagner. Aus einer größeren demnächst erscheinenden Schrift des Verfassers.‹ Wiederholt hatte die Zeitschrift auch Beiträge Theodor Uhligs gebracht, im November und Dezember 1850 über ›Richard Wagners Opern‹, im Januar und Februar 1851 über ›Die Instrumentalmusik‹. Vgl. über letzteren Artikel Wagners anerkennendes Urteil in seinen Briefen an Uhlig, S. 80.


22 Wagner an Uhlig, S. 49.


23 Vgl. die ›Erinnerungen‹ von Frau Eliza Wille (›Fünfzehn Briefe von Richard Wagner‹) S. 47.


24 Ebendaselbst, S. 48.


25 ›Was Herwegh betrifft‹, so bemerkt indes Gottfried Keller (Juli 1852), ›so dürfte er am wenigsten imstande sein, wahre Leidenschaft zu bezeichnen, da er nie welche gefühlt hat.‹


26 Briefwechsel mit Liszt, I, S. 255: ›Georg trägt mir seine Grüße auf, bald soll er für Dich wieder Dichter werden!‹ S. 262: ›St. Georg ist noch faul, doch soll er arbeiten‹ und wiederum S. 270: ›Er ist faul, das ist wahr; aber von ihm weiß ich ganz sicher, daß er weiß, worauf es ankommt und wem es gilt.‹


27 Das Schriftstück wurde nach der Originalpublikation in der ›Eidgenössischen Zeitung‹ neu zum Abdruck gebracht in der Allg. Musikzeitung 1886, S. 337.


28 Wilhelm Schulz, 1848 Mitglied des Frankfurter Parlamentes, hatte sich damals als vielbeschäftigter Publizist von allen politischen Stürmen seines Lebens nach Zürich zurückgezogen, wo er ein besuchtes Erziehungsinstitut gründete.


29 Keller meldete in seiner Antwort, er habe diese Schriften bereits in Heidelberg (er war später nach Berlin gegangen) kennen gelernt und seitdem alles Wagner Betreffende mit großem Interesse verfolgt, z.B. den Aufsatz von Liszt über ihn (Baechtold, Leben Kellers, II, S. 173).


30 Am 17. März 1851 schreibt Wagner an Sulzer: ›Am Mittwoch um 6 Uhr abends möchte ich meinen Siegfried vorlesen. Bloß in Deiner Eigenschaft als Erziehungsrat wende ich mich an Dich mit der Frage, ob Du es schnell ermöglichen kannst, daß mir der Hörsaal Nr. 1 in der Hochschule zu dieser heidnischen Vorlesung angewiesen werde. Geht dies nicht, so will mir Bohm den kleinen Kasino-Saal besorgen.‹ (A. Steiner, Richard Wagner in Zürich.)


31 Vgl. Ges. Schr. IX, S. 213. Keller schreibt darüber an Baumgartner: ›Wagners Schriftchen über ein »Theater in Zürich« habe ich mir kommen lassen und mit Freuden gelesen; und obgleich es leider zunächst nicht viel Folgen haben wird, so hat es doch meine schon früher gehegte Hoffnung bestärkt, daß ich, nachdem ich mir in Deutschland vielleicht einigen Erfolg und Erfahrungen erworben haben werde, zu Laufe nicht ganz abgeschnitten sein, sondern ein Feld zur Wirksamkeit in vaterländischer Luft finden werde. Ich bin mit dem Schriftchen ganz einverstanden‹ (Baechtold, II, S. 173).


32 De la fondation-Goethe à Weimar, par Fr. Liszt, Brockhaus 1851.


33 An Liszt, I, S. 145.


34 Vgl. S. 305 des vorliegenden Bandes.


35 An Uhlig, S. 91.


36 Briefwechsel mit Liszt, I, S. 139.


37 An Uhlig, S. 75.


38 Ebenda, S. 84.


39 Ebenda, S. 99.


40 Ebenda, S. 99.


41 Ebenda, S. 90, vgl. 96. 102.


42 An Uhlig, S. 181.


43 Ebenda, S. 154.


44 Ebenda, S. 99. Vgl. an Liszt, I, S. 146.

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 452-473.
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