II.

[54] Um sich von den Strapazen und Aufregungen der Saison zu erholen – er hatte gleich nach Ostern noch in Budapest konzertiert – wollte Brahms im April 1875 nach Italien reisen. Aber die Reise wurde, wahrscheinlich des B-dur-Quartetts wegen, das ihm auf die Nägel brannte, vorläufig bis zum Herbste vertagt, wo sie dann einen abermaligen Aufschub bis auf Weiteres erlitt. Unschlüssig, wohin er sich wenden sollte, schwankte er anfangs abermals zwischen Tutzing-München und dem Rhein. Sein Kommen hatte er seiner jüngsten Kölner Musikfestbekanntschaft, Herrn Rudolf v. Beckerath, schon im März in Aussicht gestellt und geschrieben, zu seinen Erholungen gehöre es, daß er den Bädeker nehme und Sommerpläne mache. Da fahre er denn den Rhein auf und ab und denke manchmal, ob nicht Eltville ein passender Aufenthalt sei. Nur fürchte er, daß, wo der Wein so gut gedeihe, der Mensch des Schattens entbehre. Käme er im Frühling, so würde er aber einen kühlen Ort, Beckeraths Weinkeller, jedenfalls besuchen und dessen Besitzer mündlich ausrichten, wie sehr ihn die Weihnachtsüberraschung – ein Kistchen Rüdesheimer – erfreut habe. Er kam auch wirklich, aber nur für die Pfingsttage zum Düsseldorfer Musikfest, um zu hören, wie Joachim das »Schicksalslied« dirigierte. Vorher hatte er schon in der Nähe von Heidelberg einen reizenden Sommersitz gefunden. Die Aussicht, mit Anselm Feuerbach, dem er in Wien nur zufällig hie und da einmal begegnete, und mit dessen Mutter ein paar Wochen in Heidelberg zuzubringen, dazu auch eine Einladung Dessoffs, ihn in seinem neuen Karlsruher Heim zu besuchen, mögen ihn nach Baden gelockt haben. Anselm traf Brahms unterwegs in München. »Brahms gesprochen«, schreibt er der Mutter, »er kommt nach Heidelberg. Er hat seine Stelle niedergelegt, da Herbeck, der von der Oper [54] abgegangen, um seine Stelle intriguierte. So geht es in der Welt«, und am 10. Mai von Wien aus: »Brahms wirst Du gesehen haben; es tut mir leid, daß wieder einer weniger da ist. Wien hat mir gar keinen Eindruck diesmal gemacht, und ich sehe den kommenden Dingen mit kompletter Seelenruhe entgegen.« Auch seine Stunde sollte bald schlagen. Ein Jahr später kehrte er Wien für immer den Rücken; er »flüchtete«, wie Allgeyer sagt, »vor einer Welt, die ihm, ihrem Ruf der Gemütlichkeit zum Trotz, doch recht im Lichte der Hetz- und Verfolgungssucht, und voller Unzuverlässigkeit, wichtigtuerischer Geschäftigkeit und großsprecherischen Halbwesens erscheinen wollte.« Brahms fühlte, urteilte und handelte anders. Seiner Stiefmutter schrieb er: »Wien verlasse ich nicht, ich habe nur meine Stellung aufgegeben. Du kennst die Verhältnisse nicht, und da wäre es weitläufig, daß ich Dir erzählte, warum. Deshalb bleibe ich aber doch da – und eben so gern.«

Brahms' Badener Aufenthalt wurde von Dessoff sofort für ein Karlsruher Symphoniekonzert ausgebeutet, das am 8. Mai im Museumssaale stattfand. Als Novität prangten die »Neuen Liebeslieder« op. 65 auf dem Programm, die noch immer »Manuskript« waren. Brahms, der mit Dessoff vierhändig spielte, freute sich des Erfolges und wiederholte dieselbe Serie von neun Nummern nebst Epilog in Mannheim, wo Ernst Frank, der ehemalige Chormeister des Wiener akademischen Gesangvereins, seit 1872 Dirigent der Hofkapelle war. Den in zierlicher Perlenschrift gedruckten Textzettel benutzte er dann mehrere Male als Schreibebogen, mit der Ausrede, ihm fehle das Briefpapier – wie er meinte, läsen sich die hübschen Verse besser als seine langweilige Prosa.

Der Pianofortefabrikant Trau, Teilhaber der in Süddeutschland renommierten Firma »Gebrüder Trau«, die Brahms schon oft mit Instrumenten versorgt hatte, stellte ihm auch diesmal ein Pianino zur Verfügung, nachdem er ihm beim Wohnungsuchen behilflich gewesen war. In seinem Heidelberger Musiksaal wurden die »Neuen Liebeslieder« ebenfalls gespielt und gesungen. Sein Quartier schlug Brahms nicht in Heidelberg selbst, sondern in dem, eine Wegstunde oberhalb der Stadt am rechten Ufer des roten Neckar reizend gelegenen Ziegelhausen auf. Wo sich das zu zahllosen Ausflügen [55] einladende Gebirge des Odenwaldes sanft zur Straße hinabneigt, die den Fluß entlang läuft, und auf seinen Wiesenhängen Raum für Obst-, Wein- und Blumengärten gibt, liegen die Bauern- und Landhäuser der Ortschaft im Grünen verstreut. Durch den roten Sandstein, der, wie in Heidelberg selbst, zu Tür- und Fenstereinfassungen verwendet wird, haben sie ein stattliches Ansehen erhalten. Ein dem Maler Hanno gehöriges, epheuumsponnenes Gartenhaus, das Atelier und Wohnräume in sich vereinigte, öffnete dem Fremden seine gastliche Tür, und er fühlte sich dort in seinem weiten, hellen fünffenstrigen Zimmer, von dem er über Garten und Fluß zum anderen Ufer hinüberblicken konnte, bald heimisch. Von drüben winkten ihm der dunkle Bergrücken des Schwarzwaldes und die blanken Häuser Schlierbachs zu, einer Station der Würzburg-Heidelberg-Mannheimer Bahn, die ihn nach Heidelberg brachte, wenn er es nicht vorzog, mit den Musensöhnen im Kahn hinunterzugleiten. Eine breite, für Wagen eingerichtete Fähre vermittelte den Verkehr zwischen beiden Ufern des Neckar, der den Oden- vom Schwarzwalde trennt. In einer halben Stunde konnte Brahms vom terrassierten Garten des Gasthofes »Zum Adler«, wo er gewöhnlich zu Mittag speiste, die geliebte Ruine des Heidelberger Schlosses oder die Freunde in der Stadt erreichen und in wenigen Minuten in der Pension Völcker sein. Dort half er der Hausfrau den Morgenkaffee zubereiten, und sie las ihm zum Dank dafür Nadlers Gedichte in Pfälzer Mundart vor1.

Wie gewöhnlich, wenn Brahms sich in seinem Sommeraufenthalt besonders wohl fühlte oder etwas Schönes genoß, wollte er auch diesmal seine Freunde daran teilnehmen lassen. In seinen Ziegelhausener Briefen fordert er alle Korrespondenten auf, ihn nur ja recht bald zu besuchen. (Nur mußten sie sich hüten, mit der Tür in einen Quartettsatz zu fallen, an dem er gerade komponierte!) Hier war es die mehrerwähnte Schloßruine, die es ihm angetan hatte, und der zu Liebe er [56] sich gern in den Fremdenführer verwandelte. Er betrachtete sie als eine Art von Tafelaufsatz oder Nachtisch für sich und seine Gäste. An Dessoff schreibt er, gleich nach seiner Rückkehr von Düsseldorf: »Das Schloß zu sehen, empfehle ich sehr vorher hierher zu kommen, ich führe Sie dann.« An Rieter: »Es ist allda (in Ziegelhausen) sehr hübsch, und Sie dürften schon deshalb auf der Heimreise (von Leipzig nach Winterthur) einen kleinen Umweg machen.« An Frank: »Nun lassen Sie mich aber wissen, wann Sie einmal nach Heidelberg oder Schlierbach fahren.« An Frau Faber: »Ich denke manchmal, ob Sie denn R. den Sommer gar nicht besuchen, dann müßten Sie über Ziegelhausen kommen und ich würde Ihnen ein Zimmer hier im, Adler' bestellen, was ein allerliebstes Wirtshaus ist. Frau und Fräuleins Schumann waren auch kürzlich hier und sehr vergnügt.« An Frau Ebner: »Ihre Karlsruher Bekannten sehe ich öfters, und sie erinnern sich gern der lieben Sängerin. Frank kommt oft herüber, und seine Primadonna würde Ihnen recht gefallen. Mit ihm spreche ich oft von Ihnen und der Oed2, für die er schwärmt. Geht es Ihrem Herrn Vater nun, wie ich hoffe, gut, so sollten Sie sich doch wieder ein Stück Welt ansehen – ich meine natürlich das Stück, auf dem Ziegelhausen steht! Wohnen könnten Sie behaglich, und bei den Menschen hier war es Ihnen ja schon einmal ganz wohl. Heidelberg, Mannheim, Karlsruhe, alles ist ganz nah, und ich meine, so ein wenig heraus und sich umschauen, schadet nicht?«

Frau Dessoff weiß zu erzählen, wie liebenswürdig Brahms bei solchen Besuchen und den sich anschließenden Exkursionen war. Als sie ihn mit ihrem Manne auf seinem Ziegelhausener »Bauernhof« überraschte, trafen sie ihn hemdärmelig »im leichtesten Gewand« auf einer Lattenbank sitzend, lesend und umschwärmt von einem Dutzend schöner Tauben, die er zu füttern pflegte. Erinnert nicht das »Poco Allegretto con variazioni« des B-dur-Quartetts an dieses Bild? Mit dem Klavierquartett op. 60 hatte er schon fertig zu sein geglaubt, als ihm Klara Schumann, der er es bei ihrem Besuche in Ziegelhausen wieder vorspielte, neue Bedenken [57] erregte. Sie schreibt ihm, daß sie über das Quartett noch viel nachgedacht habe. Die drei letzten Sätze seien ihr tief ins Gemüt gedrungen, aber sie finde den ersten nicht auf gleicher Höhe stehend; es fehle ihr darin der frische Zug, obgleich er in der ersten Melodie liege. – Man könnte an ein Mißverständnis glauben, an eine Verwechslung des Klavierquartetts mit dem in Ziegelhausen komponierten Streichquartett, wo allerdings der »frische Zug in der ersten Melodie liegt«. Bei dem trüben Anfange des Werther-Quartetts kann von Frische wohl nicht die Rede sein, da sie der Natur der Sache zuwider wäre. Wahrscheinlich meinte Frau Schumann auch nicht das düstere Hauptthema, sondern die helle Seitenmelodie. Tatsächlich änderte Brahms am ersten Satze noch, als er bereits im Stich war. Einer gründlichen Revision mußte sich übrigens auch das B-dur-Quartett noch unterziehen lassen, als er es im November auf seine Druckreife hin wieder vornahm.

Seinen Verleger Simrock lockt Brahms mit »zwei allerliebsten Sängerinnen«; sie könnten, meint er, ihm ein zu hoch befundenes Sopransolo in den »Neuen Liebesliedern« (Nr. 3) unisono singen. Ohne Zweifel dieselben »allerliebsten Sängerinnen aus Mannheim«, von denen er auch Reinthaler schreibt3. Sie mögen ihn angeregt haben, seine in Rüschlikon aufgenommene Beschäftigung mit Duetten für zwei Frauenstimmen fortzusetzen. Die fünf Duette op. 66, von denen das letzte, den Volkston festhaltende »Hüt' du dich«, schon im Dezember 1873 komponiert worden ist, unterscheiden sich von ihren Vorgängern vom vorigen Jahre, denen sie sich im übrigen würdig anreihen, durch die kunstvollere Arbeit. Die beiden unter dem Titel »Klänge« zusammengefaßten Lieder von Groth könnte man eine kleine Seelenmesse für ein gebrochenes Herz, ein liebliches Miniatur-Requiem der Liebe nennen. Slavische oder zigeunerische Elemente geben den weichen Gesängen ein eigentümliches, fremdartiges Gepräge – die »Klänge« wehen wie aus der Ferne verlorener Zeiten und Völker her und deuten auf unbekannte Erlebnisse zurück. Die in den Melodien versteckte Polyphonie tritt an besonderen Stellen [58] deutlich hervor und bringt in den marschartigen Zweivierteltakt neue Bewegung. In der zweiten Strophe des ersten Duetts ergeht sich die Unterstimme kanonisch in Gegenbewegung gegen die Oberstimme, und es wird eine fast dramatische Spannung dadurch erzielt, daß nicht nur das Ritornell wie in mancher italienischen Opernarie immer auf dem Dominantseptakkord abbricht, sondern daß dieses harmonische Kolon auch am Ende der Gesangsstrophe steht; den Schlußpunkt setzt erst die zweite und letzte Strophe mit der Tonika (g-moll). Im anderen, dessen Melodie mit dem Andante der fis-moll-Sonate op. 2 korrespondiert, fällt die Pianissimo-Variante der zweiten Strophe auf; die Melodie, anstatt nach der Haupttonart h-moll zurückzugehen, biegt plötzlich nach C-dur um und gewinnt durch rhythmische Vergrößerung mehrere Takte (»Wenn die Liebe wird begraben, singen Lieder sie zur Ruh, zur Ruh'«); ein in denG-dur-Dreiklang einschneidendes Eis als Leitton vonFis, führt dann die Harmonie nach h-moll zurück. Passend schließt sich das harmonisch ausgeglichene Lied »Am Strande« an. In ruhiger Betrachtung des sanft bewegten Meeres sucht der Dichter Verlorenes wiederzugewinnen; zu Sopran und Alt kommt eine dritte, ihnen verwandte Stimme, die sich von der wogenden Begleitung über beide erhebt – aus der Flut spricht es und schaut es mit sanfter Stimme und freundlichen Blicken zu dem am Strande weilenden Wanderer empor. Das »Jägerlied« (Nr. 4) bildet den Übergang zu dem schon erwähnten, dem Volk aus dem Herzen gesungenen »Hüt' du dich«. Ein Frage-und Antwortspiel, ein Lied in der Form des Dialogs, das auch von einer Stimme bedient werden könnte, ohne seinen scharf prononcierten Charakter einzubüßen, stellt es Dur und Moll, Zweiviertel- und Sechsachteltakt einander gegenüber, und das schicksalsschwere, unabänderliche »Es muß so sein« des traurigen Jägers behält das letzte Wort.

Ein sechstes, und vielleicht die Krone dieser lyrischen Schöpfungen, ist das ebenfalls im Sommer 1875 komponierte, völlig heterogene Lied »Abendregen«. Symphonischer Gesang, in der Art der Magelonen-Romanzen und der »Vier ernsten Gesänge«, deren Stil es antizipiert, weicht es als Lied in Form und Charakter auffällig ab und ragt unter den Brahmsschen Gesängen wie ein Monument hervor. Und für ein solches möchten wir die Komposition [59] des Gottfried Kellerschen Textes auch angesehen wissen. Sie ist das Zeichen der Verbrüderung mit dem geistesverwandten Genius des Dichters, und sie ist zugleich die stolz-bescheidene Denksäule eines verwundeten Gemütes, das sich selbst die ihm gebührende Ehre gibt, in dem sicheren Gefühl, daß dieses höchste und köstlichste Gut des Mannes von keinem verdächtigt, angetastet und geraubt werden kann. Bei der Besprechung der »Regenlieder«4 wurde bereits erwähnt, daß »Abendregen« dem Tondichter vor den andern ans Herz gewachsen war, und daß er die Zeit seiner Entstehung besonders notiert hat, was er bei einzelnen Liedern höchstens auf deren Manuskript zu tun pflegte. Im Juni 1875 fand der merkwürdige Briefwechsel zwischen Brahms und Wagner satt, der im zweiten Bande unseres biographischen Werkes5 nach dem Wortlaut wiedergegeben worden ist. Brahms mußte den von Wagner erhobenen Zweifel an der Loyalität seiner Eigentumsansprüche, dem Tannhäuser-Manuskript gegenüber, für eine Verdächtigung und Bemakelung seiner persönlichen Ehre halten. In Kellers »Neueren Gedichten« – er hatte sie sich erst nach der persönlichen Bekanntschaft mit dem Dichter angeschafft – fand der Schwergekränkte jene ernsten, inhaltsvollen Strophen, die, wie Goethes »Phänomen« das Bild des Regenbogens auf ein inneres, allerpersönlichstes Erlebnis beziehen, und sie sprachen ihm wunderbaren Trost zu. Der Wanderer, der auf engen Wegen mit düsterer Seele unterm Regen in der Abendsonne hinschreitet, fühlt, wie die großen Tropfen kühl auf sein Haupt sinken. Er ahnt, daß sich ein Regenbogen hoch um seine Stirne zieht, wenn auch weder er noch andere, die ihm nahe stehen, es bemerken können. Aber die heitere Ferne, die ihn auf seinem grauen Pfade erblickt, sieht das bunte Farbenspiel, und es wird zur Gloriole des Verkannten:


»So wird, wenn andre Tage kamen,

Die sonnig auf dies Heute sehn,

Ob meinem fernen, bleichen Namen

Der Ehre Regenbogen stehn.«


Brahms' Musik behandelt die ersten beiden Strophen des Gedichts als Introduktion; sie bilden ein Lied für sich, ein schimmerndes [60] Regenlied, das den schweren Tropfenfall und die engen Wege des Wanderers in einem zwischen A-dur und a-moll schwankenden Satze zart illustriert. Dann vollendet ein kleines Zwischenspiel den schon früher angedeuteten Farbenbogen und schlägt endlich die vom Realen zum Idealen transszendierende Brücke, die Harmonie rückt dabei immer um einen halben Ton, als setze sie Ring an Ring, bis sie auf dem Dominantseptakkord von C-dur anhält. »Leise und feierlich« verkündigt jetzt, von synkopierten Triolen harfenmäßig begleitet, die Stimme des Sängers den Eintritt des Naturschauspiels und dann, nach einem zweiten harmonischen Kolon, dessen symbolische Bedeutung. Mehr als am Schlusse des »Rheingold« ist der Regenbogen hier das Sinnbild der Versöhnung, kein Schwertmotiv zuckt aus dem vollkommenen Frieden seiner beruhigten Harmonie auf. – Auch dadurch gab Brahms dem Lied eine Ausnahmsstellung, daß er es, ehe er es mit drei andern Gesängen zu op. 70 vereinigte, in den von E. W. Fritzsch, dem Verleger des »Musikalischen Wochenblattes«, am 1. Oktober 1875 herausgegebenen »Blättern für Hausmusik« erscheinen ließ. »Abendregen« steht an der Spitze des Unternehmens, das als »Zeitung für praktische Musik« in zwei Abteilungen alle vierzehn Tage neue Gesangs- und Klavierwerke zeitgenössischer Komponisten um billigen Preis ins Publikum warf.

Am 15. August wohnte Brahms einer Aufführung von Hermann Goetz' »Bezähmter Widerspenstiger« in Mannheim bei. Frank hatte die reizende Oper, die ihrem Komponisten mit einem Schlage zur Berühmtheit verhalf, im Oktober 1874 ebendort zuerst herausgebracht, und Herbeck war seinem Beispiel am 2. Februar 1875 mit löblichem Eifer nachgefolgt. Das frische, von dem vorzüglichen Libretto gehobene Werk gefiel in Wien außerordentlich, und der Komponist glaubte, ein zustimmendes Wort von Brahms darüber erwarten zu dürfen. Da nichts dergleichen bei ihm einlangte, war Goetz betrübt und verstimmt, und Frank mußte ihn trösten. »Brahms grüßt Dich,« schreibt er dem Freunde am 14. Juni von Mannheim, »er wohnt seit vier Wochen in der Nähe von Heidelberg und ist viel hier bei mir. Er ist doch ein lieber Mensch, ich gewinne ihn täglich lieber, und meine Achtung vor seiner Denkweise steigert sich immer mehr. Ich will [61] Dir mündlich über sein Verhältnis zu Deiner Oper berichten. Schreiben läßt sich so was nicht, le ton fait la musique; er schätzt Dich und Dein Werk aufrichtig und ehrlich. Ich sage das, weil Du aus dem Umstand, daß er nicht über Deine Oper Dir geschrieben hat, vielleicht andere Gedanken folgertest; ich freue mich, daß ich selbst darin auch irrig war: ich dachte mir ihn zu egoistisch, um tieferen Anteil an fremdem Schaffen zu nehmen. Dies ist aber nicht wahr. Auch mit der ›Nänie‹ hab' ich ihm Unrecht getan. Er hat mir aus freien Stücken erzählt, wie ihn der Text ›gejuckt‹ habe, er habe es aber für Unrecht gehalten6 usw. usw.« Nach jener Augustaufführung, die an einem Sonntage stattfand, zur feierlichen Eröffnung des neuen Rheinhafens bei théâtre paré, in Gegenwart des Großherzogs von Baden und der Vertreter der rheinischen Städte, fügte dann Brahms einem herzlichen Briefe Franks folgende Nachschrift bei: »Auch ich möchte nicht unterlassen, Ihnen herzlichen Dank zu sagen für die Freude des gestrigen Abends. Allerdings hatte ich diesmal einen ganz anderen und schöneren Eindruck von Ihrem so liebenswürdigen Werke als in unserm großen, ungemütlichen Opernhaus in Wien. Alles sang und spielte aber auch – als ob alles so verliebt (in Ihr Werk) sei wie der Kapellmeister7. Mit Freuden höre ich, daß Sie fleißig bei einem neuen Werke sind. Das beste Gelingen wünsche ich und meine, es wird sich jetzt alles leichter und froher arbeiten lassen. Mit bestem Gruß Ihr ergebener I. Brahms.«

Goetz' »neues Werk« war die Oper »Francesca von Rimini«, zu welcher ihm I. V. Widmann, der Textdichter der »Widerspenstigen«, wiederum den Text schrieb. Goetz mußte das Werk unvollendet hinterlassen. Aber er starb ruhig mit dem Gedanken, daß Frank und Brahms es nach seinen Entwürfen und Skizzen fertig machen würden. Die Kunde dieses Vermächtnisses traf Brahms in weicher Stimmung, der frühe Tod des armen Dulders war ihm ungewöhnlich nahe gegangen, und er hatte der trauernden Witwe geschrieben: »Verehrteste Frau, gestatten Sie mir, [62] Ihnen in wenig Worten zu sagen, wie ganz innig und herzlich ich Teil nehme an dem Verlust, den Sie und den wir alle erlitten haben. Uns Fernerstehenden konnte freilich der Tod in diesem Falle nicht rührender sein als das Leben. Mich ergriff es, wenn ich auch nur ein Buch, das Goetz gelesen, in die Hand nahm. Er las, wie er in seiner Kunst schaffte und strebte – alle Sinne und Kräfte nach Einem, dem Besten und Schönsten gewendet. Unsereiner mochte sich beschämt fühlen durch so schönen Ernst, aber er soll uns auch ein Beispiel sein und bleiben. – Es drängt mich, zu erfahren, wie sein Ende war, und ob ihn der Tod in seiner letzten, liebsten Arbeit unterbrochen. Ich werde dies von Frank erfahren, und Ihnen, verehrte Frau, wiederhole ich nur, wie ernstlichen Anteil ich und viele, viele andere an Ihrem Schmerz nehmen. Möge dieses Bewußtsein eine kleine Linderung Ihres Schmerzes sein.« Als ihm Frank von dem künstlerischen letzten Willen des Verstorbenen Mitteilung machte, gewann er es nicht über sich, die ihm angesonnene Mitarbeiterschaft rundweg abzulehnen, was er unter weniger erschwerenden Umständen aus mancherlei Bedenken ganz sicher getan haben würde. Aber er lenkte doch gleich in den Kurs, den er später einhielt, indem er antwortete: »Du magst denken, mit welcher Rührung ich den Tod des armen Goetz erfahren habe. Ich bin natürlich zu allem bereit, das ich irgend für sein Werk oder für seine Frau tun kann. Jetzt wirst Du in diesem Fall der praktischere Freund sein; Du kennst das Theater und kennst seine Musik. Habe ich gleich den Wunsch, seine Skizzen zu sehen – ich glaube, ich schickte sie doch in jenem Sinn und Gedanken Dir zurück und wünschte, Deiner Arbeit zusehen zu dürfen. Nicht daß ich glaubte, viel nützen zu können, aber wäre ich an Deiner Stelle, so hätte ich gern einen teilnehmenden Freund bei der schönen, doch schweren und nicht unbedenklichen Arbeit ...« Selbst Hand ans Werk zu legen, scheute er sich, nicht aus Bequemlichkeit oder übler Meinung, sondern weil er fest davon überzeugt war, daß Frank die Sache besser machen konnte als er, dessen scharf ausgesprochene Individualität viel zu schwer auf dem fremden Werke lasten würde. Er wird nicht müde, den Freund in seiner »schönen und rührenden Arbeit« zu ermuntern. Wenn er dann mit frischen Augen hineinsähe, werde [63] es auch nicht schaden. Darauf blieb denn auch seine Mitarbeiterschaft beschränkt. Die Fama behauptet, acht oder zehn Takte in »Francesca« rührten von Brahms her, und mit Behagen setzten mißgünstige Kolporteure des Gerüchts hinzu, jenes Einschiebsel sei die einzige Oper von Brahms, die er habe komponieren können. Seiner »passiven Tätigkeit« wegen, die über das zuschauende und beistimmende Interesse an Franks fleißiger Arbeit kaum hinausging, meinte er sich bei Frau Goetz rechtfertigen zu müssen. »Wenn ich hätte glauben oder hoffen können, dem Werk Ihres vortrefflichen Mannes zu nützen, dann hätte ich dies jedenfalls auch ernstlich versucht. Ich konnte aber wirklich nicht anders, als mich teils wundern, teils freuen, wie geschickt und dreist und doch auch mit welcher Liebe und Pietät Freund Frank die Arbeit angriff und vollendete. Ich bin in allem, was Theater angeht, nicht bloß unbewandert und ungeübt, ich bin außerdem eigensinnig, schwerfällig und was alles! Ich kann dies nicht kurz aussprechen. Wollen Sie doch bedenken, daß ich längst eigene Werke auf die Bühne gebracht hätte, wenn ich nicht – mindestens sehr schwerfällig in allem wäre, was die Oper angeht. – Unser Fall aber erscheint mir besonders schwierig und kompliziert; so könnte ich auch lange über den mitgeteilten neuen Schluß grübeln. Ich finde ihn ganz schön gedacht und empfunden, aber so subtil, daß es für die Darsteller schwer sein muß, ihn zu einfacher, sicherer Wirkung zu bringen. Es wird gar so viel guter Wille vom Zuschauer verlangt und vorausgesetzt8

Als die unglückliche »Francesca« bei ihrer ersten am 30. September 1877 in Mannheim erfolgten Aufführung den allzu hoch gespannten Erwartungen nicht völlig entsprach, und in den Zeitungen Frank und Brahms hie und da die Spielverderber abgeben mußten, wurde Hanslick von Brahms autorisiert, in der »Neuen Freien Presse« den wahren Sachverhalt aufzudecken. Menschenliebe und freundschaftliche Rücksicht hatten Brahms in eine schiefe Position gebracht, und auch seinem Verleger gegenüber kam er in eine solche, da Frank ihm in den Ohren lag, er möge Simrock das zweite [64] Klavierkonzert seines Freundes empfehlen. Frank merkte in seinem freundschaftlichen Eifer nicht, daß Brahms sich für die Goetz'schen Kompositionen zwar interessieren, aber nicht, wie er, begeistern und für sie eintreten konnte. Brahms gab aber dem Drängen Franks nach und fragte bei Simrock an, ob er nicht mit Goetz in Geschäftsverbindung treten wolle. Ein Klavierkonzert von ihm liege bei Frank in Mannheim. Er, Brahms, sei beim Lesen leider nie weit darin gekommen, könne also eigentlich nichts sagen. Aber sonst kenne er und auch wohl Simrock hübsche Sachen von ihm, und die »Widerspenstige« habe ihm einen Namen gemacht. Auf diese Art suchte sich der ehrliche Brahms um den Kern der Sache herumzudrücken, und sein mitleidiges Zartgefühl, das ihm verbot, frei mit der Sprache herauszurücken, hätte ihm auch diesmal, wie so oft bei ähnlichen Gelegenheiten, in den Verdacht der Hinterhältigkeit bringen können, da Simrock auf eine so laue und zweideutige Empfehlung hin natürlich das Risiko nicht übernahm.

Simrock hatte Brahms in Ziegelhausen kurz vorher aufgesucht, gleich vielen anderen, unter denen auch der damals zwanzigjährige Fritz Steinbach, der spätere Meiningensche Generalmusikdirektor, genannt wird9. In dem erwähnten Empfehlungsschreiben berichtet Brahms am 21. September von Wien aus, er habe auf der Rückreise in Nürnberg und Dessau Station gemacht, Kirchner in Würzburg gesehen und dort Daumer besuchen wollen, aber nur dessen Tochter gesprochen, er selbst liege im Sterben10. In Wien wartete Hellmesberger ungeduldig auf das Erscheinen des c-moll-Quartetts op. 60. Brahms hatte ihm zugesagt, es in seinen Kammermusikabenden mit ihm zu spielen, und er wollte den Zyklus mit dieser Novität eröffnen. Sie studierten das Werk aus den Revisionsabzügen und weihten mit der Generalprobe den neuen Musiksaal ein, den Billroth in seinem Hause, Alserstraße 20, ausgebaut und mit jener kostbaren, aber vornehmen und ruhigen Eleganz geschmückt hatte, die sein ganzes Wesen charakterisierte. An den Wänden hingen wertvolle, von Künstlerhänden eigens für [65] ihn verfertigte Kopien nach guten italienischen Meistern, meist große, gobelinartig wirkende, auf die Tonkunst anspielende Bilder, unter denen Caravaggios »Lautenschlägerin« nicht fehlte; auf Konsolen und geschnitzten venezianischen Möbeln standen Marmorbüsten, Terrakotten und Bronzen, und die hohen, mit Weiß und Gold dekorierten Pfeiler, zwischen denen man in den alten, baumreichen Garten hinaussah, waren mit Spiegeln bedeckt. Im Hinblick auf diese, an den Palazzo eines reichen Venezianers oder Römers erinnernde Herrlichkeit meinte Brahms: »Wenn die Musik aber eine Art Einweihung Deines schönen, freundlichen Saales vorstellen soll – so tut er mir leid.« Bei Billroth wurden in der Folge die meisten Kammermusikwerke von Brahms (Lieder, Sonaten und Quartette) vor einer kleinen Korona kunstverständiger Gäste probiert. Wir verdanken dem Hausherrn die wichtige Notiz: »Brahms will überall sehr gemäßigte Tempi, weil sich diese Musik wegen ihres vielen (durch die ungewöhnlich reiche Thematik bedingten) harmonischen Wechsels sonst nicht entfalten kann11.« Das Quartett Hellmesberger, das damals aus den Herren Josef Hellmesberger, F. Radnitzky, S. Bachrich und F. Hilpert bestand, führte das op. 60 am 18. November zum ersten Male öffentlich auf (mit Brahms), ließ ihm am 16. Dezember das f-moll-Quintett (mit I. Epstein am Klavier) als Novität (!) folgen und brachte am 23. März 1876 noch die erste Wiederholung des G-dur-Sextetts, alles in einer und derselben Saison. In den Beziehungen zu Brahms trat bei Hellmesberger wieder einer wärmere Witterungsperiode ein, seitdem nach den Abdankung von den Gesellschaftskonzerten das Barometer im Publikum auf »beständig« zeigte.

Von seiner Freiheit machte Brahms zu einer Reihe von Konzert- und Dirigentenreisen den ausgiebigsten Gebrauch. Er war nach Holland eingeladen worden, und Professor Engelmann, der im Sommer 1874 am Züricher See gute Nachbarschaft mit ihm gehalten hatte, scheint die Hand dabei im Spiele gehabt zu haben. Als Gatte der gefeierten Pianistin Emma Brandes und in der [66] Eigenschaft eines vorzüglichen Violoncell-Dilettanten stand er nach dem Antritt seiner Utrechter Professur bald im Mittelpunkte des weitverzweigten, einheitlich organisierten holländischen Musikwesens und hatte in der alljährlich zusammentretenden Generalversammlung der holländischen Konzertdirektionen Sitz und Stimme. Aber auch andere Freunde und Verehrer Brahmsscher Musik, die noch von Schumanns Zeiten her dem Liebling des Meisters treu ergeben waren, wie Verhulst, sahen dem persönlichen Erscheinen des Vielgefeierten mit Sehnsucht entgegen. Obgleich Verhulst schon vor zehn Jahren einmal pro forma vom öffentlichen Schauplatz seiner vielseitigen Tätigkeit geschieden war, was ihn nicht hinderte, gelegentlich dort wieder zu erscheinen, so besaß er doch als ehemaliger Dirigent der »Diligentia«-Konzerte im Haag, der Konzerte der Amsterdamer »Maatschappij tot bevordering van toonkunst« und der Gesellschaft »Felix Meritis« die größte Autorität in allen musikalischen Dingen, und übte einen Einfluß aus, der noch weiter reichte, als über die vielen Tochter-»Vereenigingen« der stammmütterlichen »Maatschappij«. Nach der epochemachenden Aufführung des Deutschen Requiems, die am 6. Juni 1872 bei einem Musikfest in Utrecht stattfand, bedurfte es kaum noch der Intervention dieser Männer, um Brahms den großartigsten Empfang zu bereiten.

Mitte Januar 1876 kam Brahms in Holland an und schlug bei Engelmanns in Utrecht sein Quartier auf. Er befand sich schon vorher in der allerbesten Stimmung. Der Gedanke an die Beschwerden der Reise und die vielen Konzerte, die seiner warteten, machte ihn nicht mißmutig. Wußte er doch, daß er in der Fremde die herzlichste Aufnahme finden würde, und freute er sich doch auf das neue Land und die neuen Menschen! »Jetzt aber fahre ich gen Holland und predige das Wort«, rief er kurz vor der Abreise Freund Scholz am 8. Januar noch von Wien aus zu, mit dem Versprechen, demnächst wieder in Breslau zu »gaukeln«, zu »irren« und zu trinken, und an Arthur Faber schreibt er von unterwegs: »Herrliches Reisewetter habe ich fortwährend und genieße, was zu genießen ist.« Achtzehn Tage, vom 15. Januar bis 1. Februar, dauerte sein offizieller Aufenthalt, und nur vier von den achtzehn blieben ihm für sein Privatvergnügen. Die [67] anderen waren mit Proben, Konzerten und Gastereien ausgefüllt, und es gab ein unablässiges Hin und Her zwischen Utrecht, Haag, Rotterdam, Amsterdam und Arnheim. In jeder Stadt konzertierte er zweimal, mit und ohne Orchester, führte seine Chorstücke, die Haydn-Variationen und die Serenaden auf, dirigierte am 18. Januar das »Deutsche Requiem« in Amsterdam, spielte sein Klavierkonzert am 19. in der Haager »Diligentia«, am 21. (»Felix Meritis«) und 25. in Amsterdam und wirkte auch in Kammermusikabenden des Utrechter und des Florentiner Quartetts mit. Verhulst griff bei dieser außerordentlichen Gelegenheit wieder zum Taktstock, ein Fräulein Nanitz aus Dresden sang Arien und Lieder von Brahms – kurz, das Ganze rauschte wie ein großes von einer Stadt zur andern wanderndes Musikfest fast ohne Unterbrechung vorüber.

Mit Lorbeeren und vollwichtigen holländischen Dukaten beladen, trat Brahms am 2. Februar die Rückreise an und kehrte zur unaussprechlichen Freude seines Jugendfreundes Julius Otto Grimm in Münster ein. Außer dem biederen »Isegrimm« und seiner treuen Philippine hatten sich Frau Hedwig Kiesekamp12 und Richard Barth13, der ausgezeichnete »Links-Geiger«, damals Konzertmeister der Münsterer Vereinskonzerte, noch ganz besonders auf sein Kommen gefreut. Voll Enthusiasmus stellte jeder seine Kunst in den Dienst der Brahmsschen Musik, und das am 5. Februar »unter Mitwirkung des Herrn Johannes Brahms aus Wien« in Münster veranstaltete Vereinskonzert wuchs ebenfalls zu einem Fest empor. Frau Kiesekamp – »Sopran durchaus über 90 Grad Réaumur«, sagte Grimm – trug das Sopransolo aus dem Requiem und drei Lieder vor, die Brahms begleitete. Man ließ ihn nicht eher los, als bis er sein Klavierkonzert und noch drei Solostücke gespielt hatte. Zuletzt dirigierte er noch sein »Triumphlied« – und das alles für die üblichen zweihundert [68] Mark, über die der Vorstand nicht hinausgehen konnte! Das Baritonsolo im »Triumphliede« wurde von Georg Henschel gesungen. Brahms hatte nichts dagegen, daß der gerade schlecht disponierte Sänger seine Partie punktierte: »Wenn nur die Deklamation richtig ist; einem vernünftigen Sänger gestatte ich's ohne Bedenken, sich allzu unbequeme Stellen bequemer zu legen.« So sagte Brahms und verabredete mit Henschel gleich ein neues Rendezvous am Rhein, um weiter mit ihm zu konzertieren.

Die reine Freude der Tage in Münster wurde Brahms durch die Trauerbotschaft getrübt, welche ihm unterwegs den Tod seines alten Freundes und Verlegers Rieter gemeldet hatte. Er richtete an die Witwe folgendes Kondolenzschreiben: »Liebe und verehrte Frau Rieter, auf das Innigste teilnehmend erfahre ich den harten Verlust, der Sie betroffen. Man hatte sich so gewöhnt, den teuren Verstorbenen leiden zu wissen, daß die Todesnachricht doch unerwartet und erschreckend kam. Ich beklage den Verlust eines selten guten und treuen Freundes und brauche Ihnen nicht auszusprechen, wie ernstlich wert und teuer mir sein Andenken sein soll. Ebensowenig aber darf ich versuchen, Ihnen Worte des Trostes sagen zu wollen. Was sind in solchem Falle Worte! Aber ein eigenes, schönes Wohlgefühl würden Sie empfinden, wenn Sie, wie ich auf der Reise von Holland bis hier, erführen und hörten, wie allgemein geliebt und verehrt Ihr Mann wurde, und wie herzlich und innig sein Tod beklagt wird. Er war eben einer der seltenen Männer, der nicht bloß durch seine Tätigkeit sich Freunde erwarb, sondern schon einfach durch sein rechtes, gutes, schönes Mensch-Sein nur Freunde haben konnte. Neben der Freude, die Ihnen durch Kinder und Enkel wird, müssen doch auch solche Gedanken Ihre Einsamkeit verschönen und Ihre Trauer mildern und verklären ...«

Von Münster reiste Brahms weiter nach Frankfurt a. M., trat dort in der Museumsgesellschaft am 18. Februar mit dem d-moll-Konzert und den Haydn-Variationen auf, spielte am 21. mit H. Heermann, E. Welcker und V. Müller sein A-dur-Quartett und zwei Klaviersoli und konzertierte dazwischen in Mannheim und Darmstadt in ähnlicher Weise. Vorher war er schon (am 13. Februar) in Baden-Baden gewesen und hatte unentgeltlich [69] in einem Monstre-Wohltätigkeitskonzert mitgewirkt, zu welchem der städtische Kapellmeister M. Koennemann, neben ersten Kunstkräften aus Karlsruhe und Mannheim, verschiedene Kirchenchöre und Gesangvereine nebst vielen Dilettanten aufgeboten hatte.

Mit Henschel vereinigte sich Brahms in den von Rafael Maszkowski geleiteten Orchesterkonzerten zu Koblenz (am 24. Februar), und sie gaben am Abend darauf ein Konzert in Wiesbaden. Ein hübscher Zug von Brahms ist es, daß er Henschel nicht erlaubte, zu seinem Klavierkonzert den Takt zu schlagen, aus Rücksicht auf den ihm gänzlich unbekannten dortigen Kapellmeister. »Wir gäben doch«, schrieb er vom Frankfurter Goetheplatz Nr. 5, wo er bei Heermanns logierte, »dem dortigen Direktor (der sehr tüchtig sein soll) eine gar zu arge Ohrfeige damit. Das haben Sie wohl nicht bedacht, und möchten es wohl so wenig wie ich?« Der Leiter der Wiesbadener Kurkapelle rechtfertigte denn auch seinen guten Leumund durch aus – Henschel erkannte in ihm zu seiner Überraschung einen Breslauer Landsmann: den namhaften Violinvirtuosen und Konzertdirigenten Louis Lüstner.

Wie Henschel in seinem Tagebuche berichtet, hatte Brahms in Koblenz das Schumannsche Konzert und die Klavierpartie in Beethovens Chorphantasie auf dem Programm. Er schlug in der Generalprobe häufig daneben und fing dann am Morgen des Konzerttages im leeren Saale wütend an zu üben. Als Henschel, dem er einige seiner Lieder zu begleiten hatte, zur Probe kam, war er ganz rot vor Eifer und Ärger und sagte: »Es ist doch eigentlich scheußlich. Da glauben nun die Leute, sie kriegten was Besonderes zu hören, und ich haue ihnen da was vor. Aber ich versichere Sie, ich könnte heute die schwierigsten weitgriffigen Sachen, z.B. mein Konzert, spielen, aber nicht diese einfachen, eigentlich immer in der Tonleiter stufenweise sich bewegenden Läuse. Ich sage mir schon immerfort: ›Aber Johannes, nimm dich doch zusammen, spiele doch ordentlich‹, aber, wie gesagt, es geht nicht. Scheußlich.«

Von Kommerzienrat Wegeler, dem Enkel des mit Beethoven befreundet gewesenen Bonner Universitätsprofessors, zu einer Besichtigung seines berühmten Weinkellers mit obligatem Frühstück eingeladen, probierten sie als Hauptstück einen auserlesenen Rauentaler [70] Fünfundsechziger. Wegeler, der mit Vergnügen sah, wie gut es seinen Gästen schmeckte, rief begeistert aus: »Ja, was Brahms unter den Komponisten, das ist dieser Fünfundsechziger unter den Rheinweinen.« Brahms replizierte scherzend: »Ach, dann geben Sie uns doch 'mal 'ne Flasche von dem alten Bach!«

Dem Wiesbadener Konzert schloß sich am 28. Februar eine Matinee bei der Prinzessin von Hessen-Barchfeld an, bei der sie schon den vorvorigen Abend verbracht hatten. Da spielte Brahms mit Heermann und Genossen sein c-moll-Quartett und begleitete Henschel zu dem Magelonenliede »Wie soll ich die Freude, die Wonne denn tragen«. Nach der Matinee gingen sie zur Landgräfin von Hessen, der Brahms sein f-moll-Quintett gewidmet hat14. Brahms liebte und verehrte die hohe Frau, ihres bescheidenen und herzlichen Wesens wegen, vor anderen ihrer Standesgenossen, denen er, wo er konnte, in weitem Bogen auswich. Es amüsierte ihn, als er nach dem Konzert von einer hochgeborenen Dame eine mit Silber beschlagene Zigarrentasche erhielt. Der Deckel zeigte einen Lorbeerkranz, auf dem »Requiem« und »Wiegenlied«, als die Hauptrepräsentanten Brahmsscher Komposition, neben einander eingraviert standen. In einer der rheinischen Städte hätten sie auf die Faschingsredoute kommen sollen. Brahms aber meinte, sie wollten lieber zu einem ihrer vielschreibenden Kollegen gehen, da würden sie sich besser unterhalten. »Sie wissen«, sagte er, »daß ich den Mann wirklich gern habe, aber daß ich mir nicht helfen kann, über seine gutmütige Geschwätzigkeit zu lachen, sie amüsiert mich ebenso wie ein Lustspiel. Bringen Sie ihn auf Wagner, das mag ich besonders gern, und dann bitten Sie ihn, Ihnen von seinen Orchestersachen zu zeigen, sie sind wahre Musterbeispiele einer Reinschrift. Sie werden sehen, was für ein Original Sie vor sich haben. Er ist nicht glücklich, wenn er nicht jeden Tag ein paar Stunden komponiert hat, und dabei schreibt er noch die Stimmen zu seinen Symphonien alle eigenhändig aus!« Sie gingen also hin und trafen den Komponisten und dessen Frau glücklich zu Hause. Beide redeten unaufhörlich, und als der Mann einen Augenblick abgerufen wurde, sagte die Frau zu Brahms: [71] »Sie haben keine Vorstellung davon, was für ein emsiger Arbeiter mein Mann ist. Mit vieler Mühe habe ich ihn dazu gebracht, täglich einmal mit mir spazieren zu gehen, so daß ich ihn wenigstens zwei Stunden des Tages vom Komponieren abhalte.« – »Ach, das ist gut, das ist gut«, pflichtete Brahms eifrig und scheinbar sehr ernsthaft bei. Im Laufe des Gespräches kam die Rede auf die Kompositionen eines hohen Herrn, der die Schwäche hatte, sie mit denen seines Kollegen (eben jenes Vielschreibers) öffentlich aufführen zu lassen. Als Henschel sich abfällig über einige dieser Werke äußerte, warnte Brahms: »Hören Sie, Henschel, man kann in der Beurteilung der Musik eines Fürsten nicht vorsichtig genug sein, denn man kann nie wissen, wer sie eigentlich gemacht hat.« Lessing hätte sich dieses fulminanten Witzes nicht zu schämen gebraucht!

In Frankfurt trennten sie sich mit dem Wunsche: Auf baldiges Wiedersehen! Sie wollten im März in Breslau mit einander konzertieren, aber das Projekt scheiterte daran, daß Scholz Prioritätsrechte geltend machte, – Brahms hatte nicht an die Gefährlichkeit seiner Konkurrenz gedacht. Nun schlug er die Haydn-Variationen für das betreffende Orchestervereinskonzert vor; sie waren aber schon zweimal dort gehört worden, und zwar, weil sie sehr gefallen hatten, fast unmittelbar hinter einander. In Folge dessen wiederholte Brahms »auf vielfachen Wunsch« am 21. März sein Konzert, und da es noch größeren Beifall fand als zuvor, und er besonders gut aufgelegt war, so glänzte er auch zwei Tage später an einen Kammermusikabende als Pianist neben seinem c-moll-Quartett op. 60 mit Beethovens Sonate op. 11115. Das schon oben erwähnte Breslauer Sängerquartett16 trug »An die Heimat« und eine Auswahl aus den »Neuen Liebesliedern« vor. Konzertmüde nach Wien zurückgekehrt, wurde Brahms hier von einer musikphilologischen Arbeit länger als ihm lieb war, festgehalten; er hatte die Revision des Mozartschen Requiems für die kritische Gesamtausgabe der Mozartschen Werke übernommen, [72] und bei seiner Gewissenhaftigkeit machte ihm das Vergleichen und Prüfen der Handschriften die größte Mühe. Ende Mai glaubte er damit fertig zu sein, wie er an Joachim meldet; aber es scheint, daß er noch einige Wochen »abwechselnd in die beiden Handschriften geguckt« hat. Von welchen Gesichtspunkten Brahms bei seiner verantwortungsvollen Arbeit ausging, und in welcher Weise er deren Ergebnisse verwertete, ersehen wir aus seinem Rechenschaftsbericht17; er ist kaum zwei Seiten lang und läßt an Klarheit und Genauigkeit nichts zu wünschen übrig. In die Partitur des von Süßmayr ergänzten Requiems trug der Revisor abwechselnd die Buchstaben M. und S. ein, welche durchweg den Eintritt von Mozarts und Süßmayrs Arbeit bezeichnen, so daß wir ein anschauliches Bild von dem erhalten, was, nach Brahms' Untersuchung, Original von Mozart, und was Ausführung oder Zusatz von Süßmayr ist. Den Streit über den Umfang des Fragments sucht Brahms aus der Welt zu schaffen mit der Bemerkung: »Er (Süßmayr) hat die Anlage Mozarts sorgsam kopiert und sie mit soviel Fleiß wie Pietät ergänzt. Daß ihm zu den letzten Sätzen keine Skizzen von Mozart vorlagen, geht deutlich aus seinem (bei Jahn abgedruckten) Briefe an Härtels hervor.«

Um dieselbe Zeit erhielt Brahms von G. A. Macfarren, Professor der Musik an der Universität Cambridge und Vorstand der »Royal Academy of Music« in London die Anfrage, ob er die ihm vom Senat der Universität Cambridge zugedachte Würde eines Doktors der Musik honoris causa annehmen wolle. Joachim, dem ebenfalls dazu Auserkorenen, glaubte den Freund schonend auf diese Auszeichnung vorbereiten zu müssen, die, wie er genau wußte, mit großen Umständen und mancherlei altertümlichen Sonderbarkeiten verbunden war. Da er die Abneigung Brahms' gegen alles Feierliche und Zeremonielle kannte, so suchte er den Ehrendoktoranden mit der Versicherung zu ködern, es wäre das erste Mal, daß Ausländern aus freien Stücken der Gelehrtentitel angeboten werde. Selbst Haydn habe für Oxford erst etwas komponieren, das [73] vorgeschriebene »Exercise« liefern müssen, bevor ihm der akademische Grad verliehen worden sei. »Eine andere Frage ist nun die, ob Du wirklich nach England kommen willst, daß die Kreierung zum Doktor (ein feierlicher Akt, bei dem die ganze Universität zugegen ist) vor sich gehen kann. Eher ist man nicht Doktor ... Schönes hat doch der Gedanke, in eine Körperschaft aufgenommen zu werden, aus der u.a. Bacon, Milton, Newton, Byron usw. hervorgegangen sind; bedenke das und nimm's nicht zu modern!«18

Brahms konnte sich mit dem Gedanken an das kleine »Dr.« um so leichter vertraut machen, als ihm Macfarren kein Wort von jenen Bedenken sagte, die, wie er wähnte, nur ein Schreckschuß seines »lieben Bruder Doktor« (Joachim) waren. Der Cambridger Professor habe ihn – so schrieb er an Joachim – nur in einem Postskriptum sehr höflich zum Requiem eingeladen, er aber habe nur hierauf erwidert und sein besseres Wissen verheimlicht. Als ihn die Berliner Akademie der Künste zum Ehrenmitglied ernannte, meinte sie auch, ohne Lebensbeschreibung ginge es nicht, und habe sich dann doch eines andern überzeugen müssen, weil er das verlangte Curriculum einfach nicht schickte. – Macfarren war noch höflicher gewesen, als Brahms erkannte und anerkannte; denn jener setzte die heikle conditio sine qua non als bekannt voraus und kleidete sie an die Form der Aufforderung ein, das Requiem in Cambridge zu dirigieren. Als der Erwartete zu dem bestimmten Termin nicht kam, und das »Requiem« ohne ihn aufgeführt werden mußte, zeichnete ihn die Musical Society gleichwohl mit der Ehrenmitgliedschaft aus, und der Senat in Cambridge faßte am 18. Mai offiziell den Beschluß, ihn zum Doktor zu ernennen. Joachim erklärte nun Brahms ausdrücklich, die Resolution gelte nur (»holds good«) für ein Jahr, also müsse der Doktor vor dem 18. Mai nächsten Jahres promoviert sein, d.h. Brahms müsse sich Mantel und Hut eines Doktors innerhalb dieses Zeitraumes an Ort und Stelle umhängen und aufsetzen lassen19. Er dachte mit Mephisto: »die [74] Maske muß mir trefflich stehn«, legte sie aber nicht an, sondern blieb ruhig zu Hause. Ihm war der unsichtbare Doktorhut lieber als der sichtbare, die Sucht nach äußerlichen Ehrenzeichen hat ihm niemals den Schlaf geraubt. Einen Titel seinem guten Namen anzuflicken, brauchte er nicht, sondern überließ dieses Vergnügen denjenigen, die es nötig haben, sich über ihre Bildung oder Würde mit einem Diplom auszuweisen20. Wie bekannt der Name Brahms [75] jenseits des Kanals schon damals war, und welche Wertschätzung und Verbreitung die Werke des Meisters dort fanden, beweisen die Anträge, die ihm fast alljährlich von England aus zugingen. Als Sir Augustus Manns, der berühmte Dirigent der Crystalpalace-Konzerte, 1874 zum ersten Male die Haydn-Variationen aufführte, brach das Publikum in einen solchen Sturm von Beifall aus, daß er das Werk sofort wiederholen und auch auf das Programm des nächsten Konzerts setzen mußte21. Nach dem »Schicksalsliede«, das ebendort vorgeführt wurde, ging ein von George Grove, Augustus Manns, Artur Sullivan, Hubert Parry, Ebenezer Prout u.a. unterzeichnete Adresse an Brahms ab, in welcher er beglückwünscht und gebeten wurde, eine Symphonie für die Konzerte im Crystalpalace zu schreiben. Derselbe Manns offerierte ihm fünfzig Pfund pro Abend, falls er für einen Zyklus von Konzerten nach London kommen wollte, und ein Herr Peyton aus Birmingham, ein vermögender Musikliebhaber, suchte ihn eigens in Rüschlikon auf, um ihn zur Komposition eines Oratoriums für das Festival von 1876 zu bewegen. Brahms entschuldigte sich, vertröstete, schob auf, machte halbe Zusagen, die er dann stillschweigend wieder zurückzog, und war zu nichts zu bewegen. Er ist sowenig nach England gekommen wie nach Frankreich, Rußland und Amerika, woher überall ihm die schmeichelhaftesten und lukrativsten Anträge zuflogen.

»Nach England komme ich nicht leicht«, schreibt er 1878 an Henschel, »weil ich zu große Abneigung gegen Konzerte und andere Unruhen habe. Es hat nichts damit zu tun, ob mir einmal englische Politik nicht gefällt, oder englische Reisende mißfallen. Letzteren wird übrigens mit bestem Erfolg jetzt von den Norddeutschen (Berlinern) der Rang streitig gemacht!«

Von Henschel ließ sich Brahms gern bereden, seinen Sommeraufenthalt 1876 auf der Insel Rügen zu nehmen. Er sehnte sich [76] längst nach dem deutschen Norden, und seine Sehnsucht hatte noch ihren besondern geheimen Grund: die Vollendung seiner c-moll-Symphonie, die ihm in der Heimat am besten zu glücken schien. Darauf kommen wir bald zurück. Am 7. Juni machte er sich reisefertig, überraschte unterwegs Klara Schumann, die mit Joachim und Stockhausen gerade in Brahmsscher Musik schwelgte22, blieb mehrere Tage bei ihr in Berlin und ging am 12. weiter nach Saßnitz. Man fuhr damals bei mangelhafter Verbindung mit Berlin einen ganzen Tag bis Rügen, und Brahms wäre, ungeduldig und unduldsam wie er war, am liebsten gleich wieder umgekehrt, weil er nicht alles seinen Erwartungen entsprechend fand. Saßnitz, der schönste Ort der Insel, war von vornehmen Leuten besetzt, die mit ihren Gewohnheiten unangenehm von dem alten Fischerdorf abstachen. Sich auf dem höher gelegenen Fahrnberg einzulogieren, wo es noch teurer und städtischer war, fiel Brahms nicht ein – trotz der schönen Aussicht über den Hafen und das weite blaue Meerwasser, über die mit Buchenwäldern bewachsenen Felsenufer und die aus dem frischen Grün der Bäume hervorlugenden blanken Häuschen. Er genoß das alles, wenn er bei dem Fahrnberger Wirt Herrn Paulsdorff seine Mahlzeiten einnahm oder auf weiten Morgenspaziergängen über die an lauschigen Heimlichkeiten und entzückenden Fernblicken reiche Insel hinstrich. »Es ist herrlich hier«, schreibt er an Simrock, »und auszusetzen habe ich nur die Abgelegenheit. Selbst nach Putbus oder Bergen kann man nur mit Lasten und Umständen, erst von dort aber weiter. Es geht mit Städten und Menschen in der Nähe wie mit Büchern im Zimmer. Man braucht sie vielleicht nicht, sie sollen aber doch da und zur Hand sein.« Als er Billroth meldete, er wolle auch nach Bergen, das ja wohl seine Vaterstadt wäre, antwortete ihm jener: »Also in Saßnitz sitzest Du; es ist mit Stubbenkammer der schönste Teil der Insel; alles andere lohnt nicht der Mühe des Besuches; bei stürmischem Wetter etwa noch eine Nacht im Leuchtturm von Arcona, bei schönem Wetter eine Aussicht am [77] Nugard bei Bergen, wo meine Wiege stand.« – Brahms sehnte sich nach menschlicher Unterhaltung, als er Henschel, der noch immer nicht kommen wollte, nahelegte, ihn nicht länger allein zu lassen: »Nun fände ich es reizend, wenn Sie sich bald entschließen könnten – was ich dagegen haben sollte, weiß ich gar nicht. Stören werden wir uns nicht, denn für Sie wimmelt's hier von Damen. In freien Stunden machen Sie Ihre Lieder, die ich wieder in freien Stunden – schlecht machen kann.« Henschel kam am 7. Juli und begann drei Tage darauf seine Aufzeichnungen. Wir lassen ihm das Wort.

»Seit Freitag abends bin ich hier in Saßnitz. Um halb elf Uhr kam ich an. Brahms erwartete mich, und wir plauderten noch ein Stündchen. Andern Tags war er schon zum Kaffee wieder oben bei mir – ich wohne auf dem Fahrnberg, er unten im Dorfe. Er sieht prächtig aus und geht hier, wie es ihm gefällt, immer mit sehr sauberer Wäsche, aber ohne Halskragen und Binde, und gewöhnlich mit offener Weste, den Hut in der Hand. Nur während der Table d'hôte trägt er Halskragen und Binde. Sein Appetit ist vortrefflich. Des Abends trinkt er regelmäßig drei Glas Bier und zum Schlusse stets seinen Kaffee. Er gleicht jetzt in Gesichtsfarbe und Haarwuchs, ja sogar im Gesicht selbst außerordentlich dem Bilde Beethovens, das im Besitze und im Hause Joachims ist23. Wenn wir zusammen baden, kann ich seine [78] muskulöse Gestalt nicht genug ansehen. Er hat übrigens ein ganz solennes Schmerbäuchlein. Im Wasser machte er mich darauf aufmerksam, daß es nicht nur möglich, sondern auch angenehm und stärkend für die Augen sei, diese beim Tauchen offen zu halten.

Abends saßen wir im Gasthofe; ich hatte ihm die neue Folge der Hauptmannschen Briefe an Ludwig Spohr gegeben. ›Man soll sich doch in acht nehmen, Briefe zu schreiben‹, meinte er. ›Eines schönen Tages werden sie gedruckt! Wenn man's genau nimmt, kann man das, was hier in diesen Briefen steht, auch umkehren, und es ist noch immer was24. Es ist eine recht schöne Gabe, geistreiche Briefe zu schreiben; aber im Grunde genommen hat es keinen Wert, Briefe rein wissenschaftlichen Inhalts ausgenommen. Hauptmann war ja ein sehr gelehrter und geistvoller Mann, aber allzu tief geht's bei ihm eben nicht.‹ Ich zeigte ihm einen Brief Hauptmanns an N. mit dem Bemerken, daß ich mich wunderte, ihn auch in der Beurteilung N.scher Kompositionen so liebenswürdig zu finden, worauf Brahms sagte: ›Ja, wissen Sie, N. hatte sehr anständige Eltern, und Hauptmann eine sehr zartfühlende Natur.‹ Auf bestimmte Seiten des Buches weisend, fuhr er fort: ›Einige Male, wo Sterne stehen statt des Namens, bin ich gemeint, zum Beispiel hier.‹ Da kam das Wort ›hochmütig‹ vor. Brahms fügte erläuternd hinzu, daß er in den Fünfzigerjahren Hauptmann in Göttingen einmal eine Sonate von sich, er glaube, die in C-dur, vorgespielt habe. Hauptmann habe sich zu ihm darüber ein wenig tadelnd geäußert, ›was ich, der ich ein sehr bescheidener Jüngling war und wenig sprach, hinnahm, ohne etwas zu erwidern. Später hörte ich, Hauptmann hätte das für Hochmut gehalten und sich darüber zu anderen beklagt. – So oft ich in diesen Briefen blättere, sage ich mir immer: Das ist alles ganz nett und geistvoll, aber es ist im Grunde doch nichts anderes als Geschwätz. Ich möchte wissen, ob es etwas in der Welt gibt, worüber sich nicht mit gleichem Rechte dafür und dawider sprechen ließe. Diesen Briefen fühlt man es an, daß sie in der Absicht geschrieben sind, zu gelten. Beethoven hätte [79] gelacht, wenn man sich als Beleg für irgend eine Ansicht auf einen seiner Briefe hätte stützen wollen. Aber es gibt so Leute, wie auch Varnhagen, die selber etwas wirklich Großes eigentlich nie geschaffen haben, sich nur verdrießlich an ihren Schreibtisch setzen und von da aus an allem, sei es lobend oder tadelnd, herumzerren. Über Bach oder Beethoven zu schwatzen, wie es Hauptmann in den Briefen an Hauser getan, ist unnütz; die stehen eben einfach fest.‹

Am Sonntag Nachmittag war ich fast drei Stunden bei Brahms. Er zeigte mir neue Lieder von sich und fragte mich, ob ich nicht eine kurze Bezeichnung, vielleicht lateinisch, für ›nicht von mir‹ oder ›fremdes Eigentum‹ wüßte. Er habe nämlich ein sehr hübsches Thema von Scarlatti als Vorspiel zu einem Liede von Goethe verwendet und möchte das doch gern bemerken25. Ein ebenfalls neues, sehr schönes Lied: ›Alte Liebe‹ von Candidus, schenkte er mir im Manuskript, so daß ich nun schon die Manuskripte von vier Liedern von ihm besitze (aus op. 63 die drei Klaus Groth'schen). Er hatte die beiden ersten Lieferungen der Kantatenausgabe des Bachvereins in Leipzig da26 und zeigte mir, wie unpraktisch gesetzt diese Auszüge seien. ›Es kommt‹, fügte er hinzu, ›bei Klavierauszügen hauptsächlich auf das Klaviermäßige, auf Spielbarkeit an, nicht darauf, ob auch die Stimmen alle ganz streng geführt seien.‹ Dann ging er mit mir die Partitur des Requiems von Mozart durch, die er für die Breitkopf und Härtelsche Mozart-Ausgabe zu besorgen hatte. Die Partitur war außerordentlich sorgfältig revidiert, die Handschriften Süßmayrs und Mozarts genau bezeichnet. Es war herrlich, mit diesem Manne so lange allein zu sein und ihn reden zu hören. Ich behaupte, daß Brahms, außer an der Table d'hôte, wo er grundsätzlich aus Höflichkeit für die am Tische Sitzenden nur von gleichgültigen Dingen, wie Wetter, Essen, Temperatur des Wassers, Spaziergelegenheiten und [80] dergleichen mehr redet, kein unnützes, überflüssiges Wort spricht, und daß er für das, wovon er spricht, auch wirklich Interesse hat ...

Gestern hatte ich eine Hängematte gekauft. Wir gingen in den Wald, befestigten sie an zwei Bäumen und legten uns beide hinein, was ihm sehr behaglich war und ihm die reizendsten, interessantesten Plaudereien entlockte, in denen auch Frauen eine, und zwar nicht kleine Rolle spielten. Dann machten wir uns auf, um ›seinen‹ Unkenteich zu suchen – Brahms hat sehr geringen Ortssinn – und so oft wir auch Unken hörten, rief er aus: ›Nein, das ist nicht mein Teich.‹ Endlich fanden wir ihn. ›Gibt es etwas Traurigeres,‹ sagte er, ›etwas Melancholischeres als diese Musik, deren nicht einmal ganz bestimmbare Töne sich immer und immer nur im Umkreise einer kleinen Terz bewegen, meist so‹ – er sang die ab- und aufsteigende Tonreihe Ces, A, B –, ›wie in meinen letzten Liedern.‹ – ›Hier kann man sich so recht denken, ‹ fuhr er fort, ›wie Märchen entstanden sind von verzauberten Prinzessinnen, und – hören Sie, da ist wieder der Königssohn mit seinem klagenden Ces!‹ Wir legten uns ins Gras, zündeten Zigarretten an und lagen schweigend, vielleicht eine halbe Stunde lang. Dann fingen wir ganz kleine Frösche und ließen sie von einem Stein hinab ins Wasser springen, was ihm riesige Freude machte, namentlich, wenn die munteren Tierchen, froh, wieder in ihrem Element zu sein, eilig davonschwammen und höchst graziös ihre Hinterbeinchen nach allen Regeln der Schwimmkunst bewegten. Wenn dann das Fröschchen entschlüpft zu sein glaubte, fing Brahms es sanft in der Hand wieder ein und lachte aus vollem Herzen dazu.

Als wir uns am Abend trennten – Brahms hatte mir noch kurz vorher gesagt: ›Sie müssen mehr Gymnastik treiben, so vierstimmige Lieder, Variationen usw., was auch für die Oper Ihnen zu statten kommen wird‹ – rief er mir zu: ›Holen Sie mich doch morgen zum Baden ab, bringen Sie Lieder mit, »Gerda«-Partitur27 oder sonst was Schönes!‹ Ich brachte ihm denn auch drei neue Lieder von mir, die ich auf seinem Zimmer ließ, da er schon früh ausgegangen war. Beim Baden benachrichtigte ich ihn davon, und da bedankte er sich lustig: ›Ach, das ist nett, da hat [81] man doch ein Amusement!‹ Nachmittags gingen wir wieder in den Wald, um uns in die Hängematte zu legen. Auf dem Heimwege sprachen wir von Wagners ›Ni belungen‹. Ich hatte die schönen Stellen im ersten Akte der ›Walküre‹ und das frische Lied in ›Siegfried‹: ›Aus dem Wald fort in die Welt ziehn‹ gerühmt. ›Gewiß,‹ sagte er, ›sind das schöne Stellen; aber ich kann mir nicht helfen, mich interessiert das nicht.‹ Die Stelle, die Sie da eben singen: ›Heiligster Minne höchste Not, sehnender Liebe sehrende Not‹ ist ja wunderschön, und wenn Siegmund das Schwert aus dem Stamme zieht, so ist das ja auch sehr schön; aber es wäre ergreifend, wenn das der junge Bonaparte, will ich 'mal sagen, oder sonst ein Held wäre, der uns nahesteht, unserem Empfinden nahesteht. Und die endlosen Duette in der ›Walküre‹! Nehmen Sie doch einmal Goethe's ›Tasso‹. Ich sehe davon ab, daß da jedes Wort eitel Gold ist. Als Drama aber interessiert auch der ›Tasso‹ nicht, er ist wirkungslos. Und was das Lied Siegfrieds betrifft, so bin ich überzeugt, es würde niemand was Besonderes daran finden, wenn einer von uns das als Lied geschrieben hätte. Man würde es eben auch hübsch finden, aber nicht soviel davon hermachen. Und dann diese gespreizte Sprache! (Er nahm mein Exemplar der Nibelungen-Texte.) Da hören Sie:


›An Brünnhildes Felsen

Fahret vorbei:

Der dort noch lodert,

Weiset Loge nach Walhall!

Denn der Götter Ende

Dämmert nun auf:

So – werf' ich den Brand

In Walhalls prangende Burg.‹


(Er deklamierte diese Worte mit übertriebenem Pathos.) ›Ja, wenn ich das einem Kommis vorlese, so macht das auf den riesigen Eindruck. So – werf' ich den Brand – in – Walhalls – prangende – Burg' – ich verstehe das nicht. Was eigentlich mit dem Ringe geschieht, wissen Sie's?‹...

Gestern Abend ging ich zu Brahms. Er hatte gelesen und nahm nun meine Lieder vor ... An das Lied ›Wo Engel hausen‹ anknüpfend, machte er mich auf allerlei Fehler und Mängel aufmerksam, [82] und zwar in der allerliebenswürdigsten Weise, so daß ich ganz glücklich dabei saß und mich zu sprechen hütete, nur, damit er ruhig fortfahre und sich nicht stören lasse. Vorher schon hatte er mich gefragt: ›Haben Sie nun das Lied sehr rasch gemacht?‹ – Ich sagte: ›Ja, ohne Pause, in einem Zuge, wie man zu sagen pflegt.‹ – ›Da müssen Sie sich gewöhnen, langsamer zu schreiben.‹ – ›Und,‹ so warf ich ein, ›wenn ich das Lied nun langsam gemacht hätte?‹ – ›Dann würde es mir leid tun,‹ gab er lachend zur Antwort. ›Denn das Lied ist zwar hübsch und wird gewiß gefallen, aber es ist eben nicht fertig ...‹

Wir saßen unten im Saale, Abendbrot essend und plaudernd. Da spielte jemand im Nebenzimmer – wie sich's später herausstellte, ein Berliner Klaviervirtuose – die As-dur-Etude von Chopin. Ich wollte eben losfahren und fing an: ›Diese Frauenzimmer‹ – ›Nein, das ist kein Frauenzimmer,‹ unterbrach mich Brahms. Ich sah nach, er hatte recht. ›Ja, sehen Sie wohl, darin täusche ich mich nie, und das will was sagen, weibliche Männer von männlichen Weibern zu unterscheiden.‹

Gestern (15. Juli) früh hatte ich ihm die Partitur der ›Götterdämmerung‹ gebracht. Am Nachmittag sagte er mir: ›Warum haben Sie mir das gegeben?‹ – er hatte es aber selbst gewünscht – ›das Ding interessiert und fesselt Einen und ist doch eigentlich nicht immer erquicklich. Mit der Tristan-Partitur ist es anders. Wenn ich die am Morgen angesehen habe, bin ich den ganzen Tag verstimmt‹28. – Nachdem Brahms einen Zeitungsbericht [83] über die furchtbare Niederlage der Amerikaner durch die Sioux-Indianer gelesen hatte – der General Buster war mit [84] dreihundert Soldaten von ihnen niedergemetzelt worden – geriet er in die freudigste Aufregung und sagte: ›Sie glauben gar nicht, was ich daran für Freude habe; es nützt ja den Kerls nichts, aber sie konnten sich doch noch einmal recht im Blute ihrer Verfolger vollsaufen ...‹

Zuvor war der Name Karl Loewes genannt worden. Brahms hält viel von seinen Balladen, von den serbischen Liedern u.a., fügte aber hinzu: ›Bei uns in Wien wird er leider sehr überschätzt. Man stellt ihn in seinen Liedern neben Schubert, in seinen Balladen über Schubert und vergißt, daß, was bei dem einen Genie, bei dem andern oft nur ganz talentvolle Mache, mitunter sogar höchst mittelmäßige, ist.‹ Zu Literaten und Dichtern übergehend, sagte er von Paul Heyse: ›Heyse war früher – jetzt habe ich ihn lange nicht gesehen29 – einer der reizendsten Männer. Ich kann mir wohl denken, daß er von Frauen, die ihn näher kannten, sehr geliebt wurde. Er war schön und dazu dies überaus liebenswürdige Talent! Ich kenne kaum einen Menschen, der eine Gesellschaft, in die er eintrat, so erleuchtete, wie er ...30 Mit Bodenstedt wird viel zu viel hergemacht; er ist mir einer der gräßlichsten Dichter. Gar kein Vergleich mit Geibel, den man wieder viel zu wenig schätzt.‹

›Wenn Sie Lieder schreiben,‹ belehrte er mich heute (17. Juli) ›so sehen Sie ja zu, daß Sie gleichzeitig mit der Melodie einen gesunden, kräftigen Baß erfinden. Sie kleben zu sehr an der Mittelstimme. Da‹ – er zeigte auf das schon früher erwähnte Lied – ›haben Sie eine ganz allerliebste Mittelstimme erfunden, und auch der Anfang der Melodie ist ganz nett; aber Sie machen das zur Hauptsache, und das ist Ihr Fehler. Auch merken Sie sich: keine schweren Dissonanzen auf leichten Taktteilen, das ist schwächlich! Ich liebe Dissonanzen sehr, aber auf schweren Taktteilen, und dann leicht und sanft auflösen!... Schreiben Sie mir doch [85] einmal von Bayreuth! Ich weiß im voraus, daß Sie schwärmen werden, und es ist auch nicht anders möglich. Auch ich werde von »Walküre« und »Götterdämmerung« gepackt – aus »Rheingold« und »Siegfried« mache ich mir nicht viel. Wenn ich nur in aller Welt wüßte, was aus dem Ringe wird, und was Wagner damit meint. Vielleicht das Kreuz? Ich bin durchaus kein Verehrer des Kreuzes, aber da wüßte man doch, wo hinaus. Hebbel in seinen »Nibelungen« hat es gewagt; am Ende meint es Wagner auch. Es wäre ja in der Tat ein Gedanke, daß die Götterwirtschaft damit ein Ende hat.‹

Reizend war es, als er heute von seiner Jugend sprach. ›Ich habe ein einziges Mal die Schule geschwänzt, und das war der »wüschteste« Tag meines Lebens. Als ich nach Hause kam, wußte es mein Vater schon, und es setzte tüchtige Haue.‹ Von seinen Familienverhältnissen sprach er auch. Er ernährt noch jetzt seine alte Stiefmutter. Mit seiner Schwester hat er wenig Gemeinsames; die Interessen der Geschwister sind gar zu verschieden. Mit seinem Bruder, der auch von ihm gelebt, ist er ›ganz auseinander‹... Dann sprachen wir vom Heiraten, und er sagte: ›Es tut mir doch manchmal leid, daß ich nicht geheiratet habe. Jetzt müßte ich einen Jungen von zehn Jahren haben, das wäre was!31 Aber als ich in dem Alter war, war ich nicht in der Lage, und jetzt ist es zu spät.‹ Von Frau X. meinte er wegwerfend: ›Dichtende oder musizierende Frauenzimmer sind mir von je ein Greuel gewesen.‹ Als wir den Tag darauf nach dem Baden zum Mittagessen gingen, riß ihm der Knopf vom Hemd, an dem der Kragen saß. Er war in großer Verlegenheit, aus der ich ihm half. Wir gingen in mein Zimmer, ich nahm mein Nähzeug und nähte ihm den Knopf an, was ihm wieder Erinnerungen an seine Jugend erweckte: ›Ja, als ich auf meine erste Reise ging, steckte mir meine Mutter auch Nähzeug ein und zeigte mir, wie man's anwendet. Aber ich weiß noch ganz gut: als mir meine Hofe riß, habe ich sie mit Siegellack zugeklebt. Es hielt nur nicht lange ...‹

Heute früh reiste ich von Saßnitz ab; es war furchtbares Wetter, kalt und stark regnerisch. Um 5 Uhr war Brahms bei [86] mir und gab mir im Reisewagen das Geleite. Hinter Lancken, drei Viertelstunden von Saßnitz entfernt, stieg er aus – es goß noch immer – und wir trennten uns. Gestern hatten wir noch zwei Flaschen Champagner zum Abschied getrunken und gemütlich geplaudert. Am Nachmittag vorher begleitete er mich im Saale des Wirtshauses zu einigen Liedern. Die Gäste waren teilweise auf den Zimmern, teilweise ausgeflogen. Er hatte seit Wochen zum ersten Male die Hand auf den Tasten, und ich sang zum ersten Male seit meiner Ankunft in Saßnitz. Zuerst sang ich seine ›Mainacht‹, dann ein Schubertsches Lied, dann den Beethovenschen Liederkreis ›An die ferne Geliebte‹. Als wir geendet hatten, sahen wir mit Erstaunen, daß das Nebenzimmer voller Zuhörer war; der Wirt war sehr gerührt und dankte für die Ehre, die Brahms seinem Hause angetan. Wir unterhielten uns dann über Schubert und seine Kompositionen Goethescher Gedichte. Da sagte Brahms: ›Die letzte Strophe des Schubertschen Suleika-Liedes ›Was bedeutet die Bewegung?‹ ist die einzige Stelle, wo ich mir sagen muß, daß Goethesche Worte durch die Musik wirklich noch gehoben worden sind. Sonst kann ich das von keinem andern Goetheschen Gedichte behaupten. Die sind alle so fertig, da kann man mit Musik nicht an.‹

Neulich pfiff ich auf seinem Zimmer, und zwar das Andante aus seinem c-moll-Quartett32. Es schien ihm sehr zu behagen, denn bei einer gewissen Stelle machte er wiegende Handbewegungen, und sein Gesicht glänzte. Schließlich fing er an: ›Ja, ich schäme mich nicht, zu sagen, daß es mir selbst eine große Freude ist, wenn ein Lied, ein Andante oder sonst was mir gut gelungen scheint. Wie muß es erst den Göttern Mozart, Beethoven und denen, deren tägliches Brot das ist, zumute gewesen sein, wenn sie den Schlußstrich unter »Figaros Hochzeit« und »Fidelio« gesetzt haben, um andern Tages »Don Juan« und »Neunte Symphonie« zu beginnen! – Was ich nicht begreife, ist, wie unsereiner eitel sein kann. Wie wir Menschen, die auf der Erde aufrecht gehen, zu den Geschöpfen, die unter der Erde kriechen, so stehen unsere [87] Götter über uns. Wenn es mir nicht so lächerlich wäre, würde es mir ekelhaft sein, mich von Kollegen ins Gesicht hinein so überschwänglich loben zu hören.‹

So sprach er fort. Es war fast Demut, nicht mehr Bescheidenheit, was er empfand, und ich nahm mich in acht, durch ein Wort seine Stimmung zu stören. Bald darauf wurde er sehr lustig und meinte unter anderem, das Agitato in seinem neuen, noch ungedruckten B-dur-Quartett sei wohl das Zärtlichste, was er geschrieben habe33...«

Sein Aufenthalt auf der schönen Insel, die ihm immer besser gefiel, je länger er dort verweilte, dehnte sich weit über das festgesetzte Ziel, bis in den August hinein, aus. Dann ging er für mehrere Wochen nach Hamburg. Er hatte dort noch anderes zu tun, als bei den Seinigen zum Rechten zu sehen, wo keineswegs alles nach Wunsch gegangen war. An Faber schreibt er: »Meine Hamburger Reise ist mir sehr lieb – der Meinigen wegen, ich lasse alles in schönster Ordnung und darf sehr vergnügt sein. Sonst war hier für mich alles leer wie eine taube Nuß.« Es handelte sich um Schwester und Bruder. Auch gegen Simrock spricht er sich befriedigt über seine Hamburger Wochen aus: »Ich darf mich oft Mittler nennen, in meiner Familie und jüngst in M.« An Ottilie Ebner aber schreibt er aus der Vaterstadt: »Ich war lange auf Rügen und habe die herrliche frische Seeluft recht genossen. Jetzt will ich hier spazieren gehen, bis ich genug habe, um nicht so unnütz für die Heimat zu schwärmen34. Sollten Sie übrigens, wie Sie vorhatten, in ein Nord- oder Ostseebad gehen, so dürfen Sie nicht versäumen, sich hier ganz behaglich aufzuhalten. Hamburg ist eine gar schöne Stadt, und wenn Sie hier recht viel spazieren laufen und fahren, so werden Sie begreifen, was ich in Wien vermisse.« Spazierengehen war [88] für Brahms identisch mit Komponieren. Was ihn in die Vaterstadt trieb, war dasselbe Gefühl, das ihn beseelte, als er den Manen der Mutter im Mai 1868 mit dem fünften Satze seines Requiems ein Totenopfer darbrachte. Er bedurfte abermals der Berührung mit dem mütterlichen Boden, um ein Werk zu vollenden, das in seinen ersten Anfängen auf Hamburg zurückdeutete, das ihn noch länger im Geiste beschäftigte und noch viel mehr Schweiß kostete, als sein »Deutsches Requiem«. Und dieses Werk, das als Seitenstück auf rein instrumentalem Gebiet, seinem Umfang und seiner Bedeutung nach, Anspruch erheben darf, neben die erhabene »Totenmesse« gestellt zu werden, ist die c-moll. Symphonie. Der Prozeß ihrer Entstehung hat, auch räumlich, einen ähnlichen, in seinen Stationen sich wiederholenden Weg durchlaufen, wie das um zehn Jahre früher aufgenommene, fragmentarisch seit 1861 vorhandene, aber erst 1866, beziehungsweise 1868 vollendete und druckfertig gemachte Requiem.

Es wird uns nicht entgangen sein, daß die Ausbeute der Jahre 1874 und 1875 für den Komponisten eine verhältnismäßig geringe war. Auch wenn Werke wie das B-dur-Quartett und die »Neuen Liebeslieder« hätten neu geschaffen werden müssen, würden sie die Zeit eines so produktiven, niemals müßigen Künstlers nicht ausgefüllt haben. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß Brahms sich sowohl in Rüschlikon wie in Ziegelhausen mit der Symphonie beschäftigte. Ermutigt und angespornt von dem Erfolge seiner Orchestervariationen, die ihm und der Welt zeigten, daß sein intimer Umgang mit dem Orchester der Wiener Philharmoniker kein nutzloser gewesen war, überdies von allen Seiten gedrängt und bestürmt, ein früh gegebenes Versprechen endlich einzulösen, mag er die Entwürfe zu seiner c-moll-Symphonie hervorgesucht und gehofft haben, sie bald ausführen zu können35. In der Schweiz, gerade gegenüber vom Zürichberge, wo der vierte und sechste Satz des Requiems komponiert worden sind, angesichts der Alpen und des Sees wird das Finale der Symphonie in [89] Angriff genommen und auf Rügen beendet worden sein. Daß es in der Konzeption der Frühzeit des Komponisten angehört, verrät seine Anlage und die Romantik seiner zur Poesie hinneigenden Ausdrucksweise. Das Hornsolo der Introduktion, das wie die tröstende und verheißende Stimme eines aus höheren Regionen zurückrufenden Geistes, dann aber wieder wie ein wehmütiger Nachhall erklingt, ist mit seiner übermäßigen Quart C-Fis wohl dem Alphorn abgelauscht. Im frohen Gefühl des Gelingens muß Brahms zu Simrock, der ihn im Juli 1874 in Rüschlikon besuchte, etwas von der Symphonie haben verlauten lassen; denn als ihn Simrock im November desselben Jahres daran erinnert, antwortet er ihm: »Keine Sorge wegen der Symphonie, die doch einmal unter unserer Firma kommen muß.« Er ist also nicht fertig geworden.

Der kolossale Finalsatz gab bei der Erneuerung des Werkes gewiß am meisten zu schaffen, und es läßt sich denken, daß er zuerst in Angriff genommen wurde. Denn der erste Satz war der einzige, den der Komponist für fertig halten konnte, solange er ihn außer Zusammenhang mit dem letzten ansah, und nur von ihm ist in früheren Stadien der Komposition besonders die Rede. Adagio und Scherzo gehören in ihrem Stil unverkennbar eng zusammen36 und sind wohl 1876 in Hamburg und Lichtenthal [90] entstanden. Brahms arbeitete noch an ihnen, als er von Hamburg nach Baden-Baden gegangen war. Dort traf er am 10. September ein. Am 25. spielte er Frau Schumann, die sich besuchsweise bei ihrer früheren Lichtenthaler Nachbarin aufhielt, die beiden Außensätze, und erst zwei Wochen später die ganze Symphonie vor. Frau Klara schreibt darüber in ihrem Tagebuche: »Ich kann mir nicht verhehlen, daß ich betrübt, niedergeschlagen war, denn sie (die Symphonie) will mir anderen seiner Sachen, als f-moll-Quintett, Sextetten, Klavierquartetten, nicht gleichbedeutend erscheinen. Es fehlt mir der Melodien-Schwung, so geistreich auch sonst die Arbeit ist. Ich kämpfte viel, ob ich ihm das sagen sollte, aber ich muß sie doch erst mal vollständig vom Orchester hören.« Neben ihrer früheren begeisterten Anerkennung des ersten Satzes nimmt sich dieses absprechende Urteil recht sonderbar aus. Hatte sich der Satz oder sie in den vierzehn Jahren so sehr verändert? Als sie die Symphonie im Januar 1877 in Leipzig hörte, machte sie ihr freilich einen »wunderbar großartigen, ganz überwältigenden« Eindruck, aber sie hatte noch immer allerlei daran auszusetzen und äußerte sich sehr befriedigt darüber, daß Brahms mit einer abermaligen Umänderung des Adagios ihren Wünschen unbewußt entgegengekommen war!

Brahms wähnte den ersten Satz schon 1862 abgeschlossen. Sonst würde er ihn nicht Dietrich gezeigt haben. Dieser teilte dem Verfasser im Januar 1901 mit: »Der erste Satz der c-moll-Symphonie war in Münster am Stein schon fertig, doch fehlte ihm die langsame Einleitung.« Am 1. Juli 1862 schreibt Klara Schumann von ebendort an Joachim:

»Johannes schickte mir neulich – denken Sie, welche Überraschung – einen ersten Symphoniesatz mit folgendem kühnen Anfang:


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[91] Das ist nun wohl etwas stark, aber ich habe mich sehr schnell daran gewöhnt. Der Satz ist voll wunderbarer Schönheiten, mit einer Meisterschaft die Motive behandelt, wie sie ihm ja so mehr und mehr eigen wird. Alles ist so interessant in einander verwoben, dabei so schwungvoll wie ein erster Erguß; man genießt so recht in vollen Zügen, ohne an die Arbeit erinnert zu werden. Der Übergang aus dem zweiten Teil wieder in den ersten ist ihm wieder mal herrlich gelungen37

Brahms hatte den Symphoniesatz mit einigen Magelonenliedern von Köln vorausgesandt, wo er mit Dietrich dem Musikfest beiwohnte. In seinen »Erinnerungen« nimmt Dietrich von derselben Tatsache Notiz mit den Worten: »In Münster am Stein zeigte Brahms mir auch den ersten Satz seiner c-moll-Symphonie, welche freilich erst viel später, und zwar sehr umgearbeitet erschien.« Da Dietrich vor der Veröffentlichung der Symphonie nur deren Allegro gesehen hat, und zwar in derselben Fassung wie Klara Schumann, mit dem oben in Noten wiedergegebenen Anfang, so muß Brahms auch dieses umgearbeitet haben, wenn Dietrich nicht bloß vom Hörensagen aus berichtet. Er verlor Lust und Mut, das Werk fortzusetzen, offenbar sehr bald und nahm anderes vor; Joachim, der es im Winter in Hannover aufzuführen hoffte, wartete vergebens auf die Partitur. Brahms schrieb ihm im September 1862, hinter »Sinfonie von J. B.« möge er einstweilen noch ein? setzen, und schickte ihm dafür das Streichquintett in f-moll. Um so eifriger griff er später immer wieder auf die c-moll-Symphonie zurück. »Herrlich wäre es,« schreibt Max Bruch am 15. Juni 1870 an Brahms38, »wenn Sie sich entschließen könnten, bei uns zuerst Ihre Sinfoniesätze zu probieren.« Es existierte also damals schon mehr als ein Satz.

Aus inneren Gründen haben wir die Anfänge, oder sagen wir lieber, den Keim der c-moll-Symphonie, ins Jahr 1855 verlegt, in dasselbe Jahr, auf welches das Klavierquartett op. 60 zurückzuführen ist. 1854 hatte Brahms zum ersten Male die Neunte Symphonie gehört (in Köln), und der Eindruck war ein [92] so mächtiger gewesen, daß er auch eine d-moll-Symphonie komponierte, die sich dann allmählich in das Klavierkonzertop. 15 umwandelte. Jener Eindruck wurde von dem Sturm der Gefühle abgelöst, den eine Aufführung von Byron-Schumanns »Manfred« in dem zweiundzwanzigjährigen Jüngling erregte. Wie wir uns erinnern, hatte Brahms diese Konzert-Première des unheimlichen, rätseltiefen, ein Pandämonium der Leidenschaften in sich begreifenden und entbindenden Nachtstückes bei Otten in Hamburg veranlaßt und war mit seiner angebeteten Domina von Düsseldorf nach Hause gereist39, um die tragischen Erschütterungen jenes beziehungsvollen Monodramas mit ihr zu teilen. Bei dieser merkwürdigen Gelegenheit, mit der es das Schicksal wie auf eine Roman-Katastrophe angelegt hatte, mag sich der Unschuldig-Schuldige über die Natur seiner Zuneigung zu der Gattin seines schwer erkrankten Freundes und Meisters mit Schaudern klar geworden sein. In unbegreiflich geheimnisvoller Weise fand er sein eigenes Wesen mit dem Manfreds und Schumanns verkettet, und die auf faßbare Objektivierung dämmernder Gedanken und schwankender Empfindungen abzielende Energie des Künstlergenies schuf das tönende, in sich vollendete Bild eines chaotischen Zustandes, der ihn zu zermalmen drohte, indem er ihn beseligte.

Akzeptiert man unsere allerdings nur auf Hypothesen beruhenden Voraussetzungen, so wird man auch die Folgerung für psychologisch berechtigt anerkennen, daß der Inhalt der c-moll-Symphonie vorerst kein anderer sein konnte, als die Darstellung des Verhältnisses zwischen Johannes, Robert und Klara, und zwar in dem ganzen Umkreise seiner Ideen und Stimmungen. Ein solcher Inhalt ist bedeutend genug, um den Vorwurf für ein symphonisches Charaktergemälde abzugeben, das sich den Beethovenschen Heldensymphonien, der Eroika, der Fünften und Neunten, würdig anreiht. Denn die verallgemeinernde Macht der Musik, die zusammengeht mit der nur ihr verliehenen Fähigkeit, jede Empfindung bis zum letzten Tropfen auszuschöpfen, erhebt den zwischen feindselige Gewalten des Lebens als Kämpfer gestellten Menschen und Künstler zum Helden und Sieger. Brahms hat [93] später der Allgemeingültigkeit auf Kosten seiner subjektiven Gefühle Vorschub geleistet, indem er dem Allegro des ersten Satzes nach Art der französischen Ouverture, welche für die Form der Symphonie von typischer Bedeutung ist, ein »Poco sostenuto« von siebenunddreißig Takten voranschickte, so daß, da auch die von Frau Schumann notierten Takte für eine kurze Introduktion des Hauptthemas gelten können, dieses eigentlich nun zweimal eingeleitet wird. Bei der großen Wichtigkeit, welche die beiden übereinandergelegten Tonreihen,


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das Bruchstück einer gleichzeitig auf- und absteigenden chromatischen Skala, für das ganze Werk haben, konnten sie dem Zuhörer nicht eindringlich genug vorgetragen werden. Sie greifen in den Mechanismus des Werkes ein wie eine Schraube ohne Ende, die das Treibrad in Bewegung setzt und sich dabei scheinbar immer von neuem erzeugt. Der kunsterfahrene Meister sah, daß er einen breiteren Sockel für sein Schicksalsmotiv brauchte, und darum schickte er dem Satze jenen spannenden Prolog voraus, der die Exposition des folgenden Dramas enthält.

Ein achttaktiger Orgelpunkt der Bässe, des Kontrafagotts und der Pauke dient dem chromatischen Motiv zur Grundlage; die Violinen versuchen unisono mit den Violoncellen einen hochhinanstrebenden, in weiten undulierenden Intervallen wieder herabgleitenden Gesang. Die Melodie möchte sich von dem Drucke, der auf ihr lastet, befreien; aber sie wird wie mit ehernen Klammern festgehalten. Man denkt an den gefesselten Prometheus, auch die Gestalt des zur Hölle verurteilten Don Juan, dem der Geist sein »Ah tempo più non v'è« zuruft, taucht auf, und ein tiefes Sehnen nach Erlösung von all dem unheimlichen phantastischen Spuk, der im Zwielicht umherschleicht, wird wach und rege. An das gespenstische:


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[94] schließt sich unmittelbar ein schmerzlich aufseufzendes


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Wie ein rettender Gedanke zuckt pp in den Geigen das uns wohlbekannte Brahmssche Urmotiv auf, hier abgeleitet aus jener Anfangsmelodie der Violinen und Violoncelle. In


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umgekehrt, führt es zu ihr zurück und wird von neuem in Fesseln geschlagen. Tröstend spricht ihm die Oboe mit einer rührenden Melodie zu:


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die das Violoncell modifiziert wiederholt. So reden wohl Mutter und Vater einem ungeberdigen Kinde zu. Umsonst: der trotzige Wille des jungen Helden läßt sich nicht länger zurückhalten und beschwichtigen; mit einem jähen Ruck:


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reißt er sich los und stürmt davon. Aber das Verhängnis in Gestalt jener atra cura, die sich mit dem Reiter aufs Pferd setzt, [95] mit dem Schiffer den Nachen besteigt, heftet sich an die Sohlen des Flüchtigen und drückt ihm das Kainsmal der Friedlosigkeit auf. Wohin er immer eilen mag, er schleppt den Fluch mit sich. Die grause Notwendigkeit hat das Hauptthema des Allegros (8) mit jenem Schicksalsmotiv (1 a undc) im doppelten Kontrapunkt verknüpft, als begleitender Baß gesellt es sich ihm zu und folgt ihm wie sein Schatten:


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Die rhythmische Wucht des anspringenden Themas wird durch die Zäsur (||), die es in zwei einander entgegengesetzte Hälften teilt, noch verstärkt. Seine Hebungen stoßen, wie im Metrum der alten Nibelungenstrophe, zusammen; Schlag und Gegenschlag treffen sich wie Wogenprall und Sturmesdrang, und die steigende Flutwelle stürzt immer, in sich selbst vernichtet, nieder. Die wilde Jagd kennt keine erquickende Rast, nur eilig vorübergehende Ruhepunkte, begleitet von bald wieder zerflatternden Visionen erträumten Glückes und Ahnungen einstigen Friedens, von Erinnerungen an unwiederbringlich verlorene Freuden. Der zweiten Hälfte des Hauptthemas eignet die Fähig keit, jene gebrochenen Klänge der Sehnsucht vorzubereiten, so daß sie sich zu freundlich täuschenden Tonbildern vereinigen können.


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Dann ist es, als wolle das Schicksalsmotiv von seinem dämonischen Grimm nachlassen; es wechselt den Platz mit dem Thema [96] und zeigt, daß es Herr und Diener in einer Person ist, da es die Oberstimme jederzeit mit der Unterstimme vertauschen kann. Wenn es wieder zum Baß hinabsteigt, wendet es gleichsam um und scheint sich völlig zu verlieren:


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Verwandte Stellen aus dem Klavierkonzert:


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und der f-moll-Sonate (Scherzo):


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bieten sich als Erinnerungsmerkmale und Beweismittel an, um die Zeit festzustellen, in welcher der Satz konzipiert wurde.

Somit ist die Gesangsgruppe eingeleitet, und das zweite Hauptthema tritt auf. Der Oboe, die bei Brahms gern das zärtliche und rührende Wort führt, zugeteilt, gleitet es über der Harmonie der Durparallele von c-moll hin, ohne sich entschieden zu Es-dur zu bekennen:


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[97] Dem innigen Flehen der Melodie, auf deren Verwandtschaft mit dem Gesangsthema der Manfredouvertüre schon hingewiesen wurde40, kann der finstere Geist des Allegros nicht widerstehen, das Schicksalsmotiv verlangsamt und dämpft seinen Schritt und ruht endlich auf dem Es-dur-Dreiklange der Streicher, während Horn und Klarinette den nach Dur gewendeten Schluß des Gesangsthemas (11 b) einander vom Munde abfangen:


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Die sehnsüchtigen Rufe verhallen, die Harmonie sinkt pp nach es-moll – alles Leben scheint zu stocken. Da verkünden drei hart anpochende Achtel


(Vgl. 1 c.)
(Vgl. 1 c.)

das Herannahen des Hauptthemas, sie verdoppeln, verdreifachen sich in den Stimmen des Streichquartetts, pochen immer heftiger und bilden, zu einer wuchtig hämmernden Melodie auswachsend, im Fortissimo einen neuen Kontrapunkt zu dem im Baß wiederkehrenden ersten Thema. Aus 8 b, wird die zornige Figur:


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gewonnen, welche den Teil beschließt; der Satz lenkt mit dem Motiv 1 a zum Anfang zurück, und der Teil wird wiederholt. [98] Die Repetition, von der sich eilfertige Dirigenten gern dispensieren, ist durchaus notwendig, weil sie das richtige Verhältnis zwischen den Teilen des ganzen Satzes herstellt, abgesehen davon, daß sie zum leichteren Verständnis des Werkes dient. Um diesen praktischen Zweck brauchte die Ästhetik des Komponisten sich gewiß nicht zu kümmern. Aber Brahms hat auf diesbezügliche Anfragen mehr als einmal erklärt, daß er seine Repetitionszeichen nicht zum Spaße gemacht habe.

Gegen den mit elektrischem Fluidum überspannten, in heftigen Wetterschlägen sich entladenden Durchführungsteil ist alles Vorherige ein bloßes Kinderspiel gewesen. Hier scheinen sich die Elemente mit den im Innern des Menschen hausenden Dämonen verbunden zu haben, wie in einer der großen Shakespeareschen Tragödien, wo der Schauplatz mitspielt und für oder gegen den Helden Partei nimmt. An interessanten Episoden, versteckten Andeutungen und geheimnisvollen Beziehungen fehlt es nicht. Brahms bekümmerte es nicht, wenn seine thematischen Entwicklungen von ganz anderen Voraussetzungen her zu Resultaten führten, die sich mit den Erfindungen älterer Meister berühren. Der größte Teil der ihm von Unverständigen zur Last gelegten Reminiszenzen ist, sofern es sich dabei nicht um absichtliche Denkzeichen und Zitate handelt, organischen Ursprungs. In der Ges-dur-Episode:


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erkennen wir mit Vergnügen den Schluß des Chorals »Ermuntre dich, mein schwacher Geist« und lassen es dahingestellt, ob der Komponist ihn von der Introduktion hergeleitet oder sich ihn à la Beethoven bei der Arbeit zugerufen hat. Nur mit der Durchführung der Neunten Symphonie kann die gewaltige Steigerung verglichen werden, die wie dort in einem von der Pauke angeschlagenen Orgelpunkt (auf G) gipfelt, hier aber mit einem jähen Ruck nach fis abbricht, um die Harmonie über H und D nach c-moll zurückgehen zu lassen. Von unbeschreiblicher Wirkung sind [99] kurz vorher die schrittweise in Oktaven ansteigenden, synkopierten chromatischen Bässe:


2. Kapitel

Das dynamische Crescendo wird von dem melodischen bei weitem überboten, beide zusammen erzielen einen Effekt, der den ordinären Lärm eines mit Tuben und Ophikleiden loslegenden modernen Orchesters beschämt. Brahms appelliert mehr an das geistige als an das körperliche Ohr; die Posaunen sparte er sich für den letzten Satz auf, wo sie hingehören. Die Coda des Allegros variiert das Un poco sostenuto der Einleitung und weist mit ihrem Durschluß auf eine bessere Zukunft des Helden hin.

Diese wird von den mittleren Sätzen angebahnt, aber nicht vollkommen erreicht. So lange das Schicksalsmotiv noch seinen unheilvollen Einfluß geltend macht, haben die ihm entgegenarbeitenden sittlichen Mächte den als notwendig erkannten Läuterungsprozeß nicht beendet. Schon im dritten Takte seiner liebeverlangenden Melodie wird der Sänger des Andantes von einem Gefühl des Zweifels überschauert:


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Aus den Schritten der alterierten Harmonie hat er das Schicksalsmotiv herausgehört, das sich in sein Liebesleben einschlich, und bald tritt es unzweideutig hervor (15 c), um ihn daran zu mahnen, daß es für ihn kein Liebesglück auf Erden gibt. Der stolze Aufschwung (15 d usw.) hilft ihm so wenig, wie die sich anschließende wiederholte schüchterne Bitte


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[100] welche von einem Tränenausbruch erstickt wird. Das erste Thema (15 a) kommt in der Umkehrung wieder, und die schmerzlich einschneidende Dissonanz (15 b) will dem Liebenden die Entsagung nahelegen, gegen die er sich sträubt. Da ertönt die Engelsstimme der Oboe und bringt dem Verzweifelten süßen Trost. Sie nimmt die Bitte (16) auf und führt den Gesang im Sinne eines höheren Willens weiter:


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Ihr Zuspruch verfehlt seine Wirkung nicht: gehorsam ordnet sich ihr das Hauptthema (15 a) unter, und sie bricht, da sie es bemerkt, [101] plötzlich sanft ab (*), indem sie die Beendigung der Strophe dem Streichorchester überläßt. Jene schmerzliche Dissonanz + (15b) konnte den sicheren Gang der Melodie nicht mehr erschüttern, der Eintritt des Themas, der mit ihrem Höhenpunkte zusammenfällt, leistete Gewähr für die Unverbrüchlichkeit eines schwer erkämpften Entschlusses, und wenn das leiterfremde G zum dritten und letzten Male wiederkehrt, so ertönt es nur noch wie die leise Erinnerung an die entthronte Macht irdischer Schmerzen: die Wunde hat sich geschlossen, um zu vernarben.

Außer dem Variationensatz in Beethovens Es-dur-Quartett op. 127 (sein Einfluß auf die Melodiebildung macht sich deutlich bemerkbar), kennen wir nichts, was diesem mit Blut und Tränen geschriebenen Andante zur Seite gestellt werden könnte, nichts, was den in zahllose zarte Fäden eingesponnenen Gefühlsvorgang so schlicht, einfach, kurz, und verständlich entwickelte, so wohltuend und befriedigend abschlösse. Wer die Menschheit und sich selbst erlösen will, muß sein Fleisch kreuzigen, nur die Resignation führt zur Freiheit. Dies predigen, nicht in kirchlichem, nicht einmal in ethischem, sondern in rein künstlerischem Geiste die c-moll-Symphonie und ihr Adagio.

Von der kaum gewonnenen Erleichterung des Gemütes wird sogleich der rechte Gebrauch gemacht. Der Mittelsatz des Andantes fährt in derselben Tonart fort und zeigt schon dadurch, daß er als eine Veränderung des Hauptsatzes aufzufassen ist – keine Variation nach herkömmlicher Art, sondern freie Variante, in Form einer Phantasie, einer Improvisation über gegebene thematische Bestandteile. Obgleich dem Streich quartett das meiste dabei zu tun überlassen wird – die ersten Violinen bekunden gleich nach dem überleitenden Takte ihre Neigung, eine Sologeige aus ihrer Mitte zu entsenden, wie es später wirklich geschieht – werden doch auch die Bläser nicht vernachlässigt: sie musizieren, als ob sie Orgelstimmen zu imitieren hätten, und ein von der Oboe eingeführter, von Klarinette, Bässen und Flöte nachgeahmter, figurierter Gang könnte vermuten lassen, daß der Komponist die Transfiguration der irdischen in die himmlische Liebe habe all' organo andeuten wollen. Für den weiteren Verlauf des Werkes sind die laufenden Sechzehntel:


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[102] von Wichtigkeit. Denn das Klarinett-Thema, mit dem der dritte Satz der Symphonie beginnt:


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ist, wie man sieht, daraus entstanden. Hinter den Synkopen der Streicher, welche jener Figuration als Stütze dienen, versteckt sich das erste Thema (15), so daß der konzertierende Mittelsatz gleichsam das Choralvorspiel zu der heiligen Feier anstimmt, welche die Wiederholung des Hauptsatzes entrollt. Durch verschiedene, nur durch ihre wählerische Feinheit auffallende, mit meisterhafter Sicherheit angewendete Kunstmittel wird der Satz allmählich ganz ins Überirdische entrückt. Alles ist reicher melodisch und harmonisch ausgestattet und hat das köstlichste instrumentale Ornat angelegt. Schicksalsmotiv und Schmerzensklage werden von den Pizzikati der Violoncelle und Geigen wie mit Harfen begrüßt. Wenn sich mit dem Trostgesange der Oboe (17) noch Horn und Solovioline vermischen, scheint sich der Himmel zu öffnen. Wie von weißen Engelsfittigen emporgetragen, erscheint die Gestalt der Geliebten, leicht in fließende Schleier gehüllt, denen kein Erdenstäubchen anhaftet, und vor dem Glanze dieser erkorenen Herzens- und Himmelskönigin müssen auch die letzten trüben Dünste der Leidenschaft in rosigem Dämmer verwehen.

Von den Freuden des visionären Andantes möchte das Allegretto des dritten Satzes gern zu niedrigeren Regionen herabsteigen, die realere Vergnügungen gewähren. Aber der Humor dieses bald in ängstlichen, kurzen Schritten einhertrippelnden, bald gleichgültig gelassen dahinschlendernden Gesellen ist an eine trauernde Grazie gekettet, die keinen derben Scherz verträgt und zu seinen Neckereien eine weinerliche Miene aufsteckt. Mit so müden, brennenden Augen mag ein Kranker in die Welt schauen, der sich zu genesen fürchtet, unschlüssig, ob er noch einmal zu den Lebenden [103] zurückkehren soll, um sich in ihren Reigen zu mischen, oder ob er sich nicht lieber zu den Toten legen soll, die in seinen Fieberträumen spukhafte Tänze aufführen. Das kurze Stück, das selbst wie ein Traum vorüberhuscht, ist reich an interessanten Einzelheiten, die nicht sowohl auf den Leser der Partitur als auf den Zuhörer im Konzertsaal, schließlich doch aber für beide in einer Person berechnet sind. So ist die zweite Hälfte des Hauptthemas:


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die Umkehrung des ersten (19), und die Fortestelle des zweiten Themas abermals eine Variante derselben Periode; drei Takte sind durch rhythmische Verkleinerung in zwei zusammengedrängt:


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Die Sechzehntelfigur wird dann von den Violinen zur Begleitung des von den Klarinetten zurückgeholten ersten Themas benutzt und diesem angepaßt:


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Womöglich noch unheimlicher als diese scheue, hinterhältige Fröhlichkeit ist der ausgelassene Spuk des Trios in H-dur (6/8 Takt) – ein Gespenstertanz bei helllichtem Tage, ein Contre zwischen Geistern verschiedener Kategorien, den alternierenden Chören der Bläser und Streicher zugeschrieben – dabei aber von bestrickender Anmut. Die beiden Mittelsätze sind kurz, und Frau Schumann blieb mit [104] ihrer Ansicht, sie seien den Außensätzen gegenüber zu unbedeutend, nicht allein. Brahms aber wußte, was er tat. Es war damals noch nicht die Zeit der unendlichen Symphonien, und das Gefühl für das Schickliche drückte Brahms den Rotstift in die Hand. Als er die Partitur der Mittelsätze durch Dessoff zum Notenschreiber schickte, bemerkt er dazu: »Kurz und bequem habe ich's dem Kopisten (und mir?) gemacht. Hoffentlich aber merkt man nicht, daß nur gewaltsam gekürzt ist. Das Finale verlangt die Rücksicht.«

Keiner der beiden Mittelsätze würde den Zuhörer in der Stimmung entlassen, welche zu erregen in den Intentionen des Komponisten lag. Die Klassiker der Symphonie haben uns daran gewöhnt, die Mittelsätze im Zusammenhange des Ganzen zu betrachten. Auch bei Brahms' wirkt das Allegro durch Andante und Allegretto fort, wie die entsprechenden Sätze aller echten Symphoniker, die erst im Finale ihr endgültiges Wort aussprechen, den Ausgleich zwischen den streitenden Elementen bringen und Frieden machen zwischen Himmel und Hölle, Mensch und Schicksal, indem sie das Zeitliche mit dem Ewigen versöhnen, worauf schließlich alle Religion, Philosophie und Kunst ausgeht.

Wie die drei ersten Sätze der c-moll-Symphonie motivisch miteinander verknüpft sind – ein Satz wächst immer aus dem andern heraus – so sehen wir auch das Finale, das in seiner Adagio-Einleitung auf die Introduktion der Symphonie zurückgreift, in seinem Allegro aber in eine neue Welt eintritt, thematisch mit seinem unmittelbaren Vorgänger verbunden. Den Übergang bildet das Stück einer diatonischen Mollskala:


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und ihre vier Noten erinnern an das Schicksalsmotiv (1 b), besonders an seine Umbildung in 10 – mit der Chromatik hat es seinen feindseligen Charakter aufgegeben. Dann folgt eine Ankündigung des Hauptthemas auf der Molldominant:


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[105] In den Mittelstimmen der Holzbläser erklingt:


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eine Vergrößerung von 22. Es ist wie ein erster schwacher Lichtstrahl, den die Sonne in die graue Dämmerung des Morgens emporsendet. Das berühmt gewordene Rubato-Pizzikato des Streichorchesters flattert erregt auf, verscheuchtes Nachtgevögel, das sich vor dem Lichte des Tages fürchtet; wir denken an die verwandte Pizzikatostelle der Introduktion (3) und harren in banger Erwartung der kommenden Dinge. Auch uns hat das Tagesgrauen mächtig ergriffen; in Mitleidenschaft gezogen, starren wir in die schwindelnde, chaotische Nacht hinunter, in einen schwarzen Abgrund des Wahnsinns, wo die Gegenstände ihren Platz, die Gedanken ihre Ordnung vertauschen, wo alles in verworrener Angst umherwirbelt – Fetzen zerrissener geistiger Zusammenhänge, Trümmer eingestürzter Systeme und Splitter geliebter Idole! Haben wir die eilig dahinjagenden Wolkenschatten und quirlenden Nebel, jene Bläsermelodie und diese Streicherfiguren nicht schon gesehen und gehört, soll der furchtbare, im Allegro ausgekämpfte Streit von neuem beginnen? Ein donnernder, ff einsetzender Paukenwirbel antwortet auf die bange Frage, und schon glauben wir uns auf den Untergang alles Bestehenden gefaßt machen zu müssen, da ertönt, wie ein Zuruf von oben, die in Tönen redende Melodie des ersten Hornes:


2. Kapitel

Es ist eine starke Stimme, eine »Stimme des Herrn«, und man wüßte nicht, von wannen sie käme, wenn nicht aus der Tiefe einer [106] heiligen Kraft des Herzens, das sich selbst überwunden und seinen verlorenen Gott in sich wiedergefunden hat. Fromme Gemüter mögen ihr immerhin die Worte unterlegen: »Fürchte dich nicht, spricht der Herr, sei getrost, ich bin bei dir!« Und wenn wir dabei des »Mynheer Dominus« gedenken, wie der einundzwanzigjährige Brahms seinen väterlichen Freund Schumann zu nennen pflegte41, der ihm die »neuen Bahnen« gewiesen und die Aufgabe seiner Zukunft gestellt hat, so hören wir denselben Sinn heraus. Auch an den sterbenden Roland und sein gutes Horn Olifant mögen wir uns erinnern, wie an manchen anderen Helden und Genius der Menschheit, der von Ronceval, dem irdischen Jammertale der Steine, Dornen und Tränen, glorreich zum Paradiese des ewigen Tages eingegangen ist. Die Posaunen:


2. Kapitel

blasen keinem Toten, sondern einem zu neuem Dasein Auferstandenen, dem mit dem Eintritt des prächtigen, in vollen Klängen breithinströmenden C-dur-Themas die Sonne des Sieges scheint, um nimmermehr unterzugehen:


2. Kapitel

2. Kapitel

[107] Die elementare Wirkung dieser Geigenmelodie kann nur mit einem erhabenen Naturereignis, wie dem Sonnenaufgang, verglichen werden. Aber das ästhetische Gefühl ruht hier auf einer sittlichen Basis: der Held hat sich den wonnevollen Augenblick verdient, der ihm noch schönere nachkommende Stunden verspricht, die Schönheit triumphiert mit der Moral. Die sechzehntaktige Melodie trägt den angeborenen Adel ihrer Gesinnung auf der Stirn; sie ist ehrlich, gesund, kräftig, zuverlässig und treu wie der Kern des Volkes, dem sie entstammt, und wäre wert, zu einer allgemeinen patriotischen Angelegenheit gemacht zu werden. Ein Kind kann sie auswendig behalten, so einfach ist sie, und kein Weiser vermag sie zu ergründen, so tief reicht sie ins Reich des Unbewußten hinab. Von wie vielen musikalischen Erfindungen der Neuzeit läßt sich dergleichen sagen? Der Dichter, der einen ihr adäquaten Text erfände, könnte uns eine Nationalhymne schenken; allerdings müßte er den Komponisten bitten, die zweiten acht Takte ein wenig zu ändern. Möglicher-, ja höchst wahrscheinlicherweise liegt dem anapästischen Schwunge des frisch ausgreifenden Gesanges ein ebenso schwungvolles Gedicht zu Grunde. Die Melodie steht jedenfalls in einem ähnlichen Verhältnisse zur Poesie wie das As-dur-Andante der f-moll-Sonate op. 5 zu Sternau's »Junger Liebe« und »Bitte«, denen Brahms das Motto »Der Abend dämmert, das Mondlicht scheint« entlehnte42. Ihre Sangbarkeit hat dazu beigetragen, die Analogie mit dem Freudenhymnus in Beethovens Neunter Symphonie noch sinnfälliger zu machen. Der Takt


2. Kapitel

[108] kommt in beiden Melodien vor. Auch sonst können sie ihre Verwandtschaft nicht verleugnen43. Das wollen sie auch gar nicht – im Gegenteil handelt es sich ohne Zweifel hier um eine demonstrative Betonung dieser Ähnlichkeit, und ist es auf eine Widerlegung der neudeutschen Tendenzmusiker und Beethovenfälscher abgesehen. Brahms hat lieber mit Werken als mit Worten polemisiert. Er knüpfte mit seiner c-moll-Symphonie dort wieder an, wo nach der Meinung Wagners und seiner Anhänger der Faden für immer abgerissen war, und rannte die mit hochmütiger Ignorierung Schuberts, Mendelssohns, Schumanns u.a. aufgestellte dreiste Behauptung, Beethoven habe der absoluten Musik in seiner Neunten den Scheidebrief geschrieben, und es gebe fortan keine Symphonie mehr, über den Haufen. Wie die Überlieferung meldet, meinte Beethoven nach der ersten Aufführung der Neunten Symphonie mit dem Chorfinale einen Mißgriff begangen zu haben, und äußerte zu vertrauten Freunden, er wolle dafür einen Instrumentalsatz ohne Singstimmen schreiben; das Hauptthema, das er später für das Finale des a-moll-Quartetts verwendete, war schon notiert44. Jedenfalls ist ihm nicht im entferntesten eingefallen, den Bankerott der Instrumentalmusik anzusagen, wie schon die noch vorhandenen Skizzen zu einer zehnten Symphonie beweisen.

Nachdem Brahms dem größten Symphoniker seine pflichtschuldige dankbare Verehrung dargebracht und diese äußerlich mit dem oben angeführten Takte markiert hatte, was soviel bedeutet, wie: keiner darf Beethoven umgehen, der es wagt, nach ihm Symphonien zu komponieren – suchte er zu beweisen, daß ein dem Problem der Neunten gleicher oder doch sehr ähnlicher Vorwurf auch ohne Chor, d.h. ohne Zuhilfenahme der Poesie ausgeführt und gelöst werden könne. Diesen Beweis glaubte er seiner Kunst und sich schuldig zu sein, ehe er den Platz erobern [109] und behaupten konnte, auf den er von Schumanns Prophetenwort berufen worden war. Und darum wählte er unter den Symphonien, die er bereits geschrieben hatte45, diese einzige aus, konzentrierte alle seine Fähigkeiten auf sie, wälzte sie jahrzehntelang im Kopfe herum und ruhte nicht eher, als bis er sich gerüstet fühlte, der schwersten Aufgabe seines Lebens und seiner Kunst völlig Genüge zu leisten.

Wie Goethe, der seine Behandlung der Paria-Trilogie mit einer aus Stahldrähten geschmiedeten Damaszenerklinge vergleicht, konnte Brahms von seinem Werke sagen, er habe sich Zeit gelassen, es von allem Ungehörigen zu läutern. Auch in dem weiteren Verlaufe des Finales kommt nichts »Ungehöriges« vor, obwohl der Satz in ein beabsichtigtes antithetisches Verhältnis zum ersten Allegro der Symphonie tritt und, während dort alles nach Innen hineingezogen wird, hier seine Stärke in der Expansion erprobt. Statt einer großen Durchführung gibt es mehrere kleine, welche die Festung des Hauptthemas wie Außenforts flankieren. Ein gesicherter Besitz ist dieses noch nicht, sondern er wird immer wieder heiß umstritten. Neben neuen Seitenthemen, wie das liebenswürdigeanimato:


2. Kapitel

das sich in die Phantasie des Tondichters einnistet, um gelegentlich immer wieder ein junges Vögelchen flügge werden zu lassen, tauchen Gedanken aus früheren Partien des Werkes in veränderter Gestalt auf, wie das wild sich aufschwingende, ins Weite strebende:


2. Kapitel

[110] in welchem man nicht so leicht die synkopierten Sprünge der Holzbläser aus der Adagio-Einleitung wiedererkennt:


2. Kapitel

das wieder eine freie Umbildung von 6 ist. Auch die zornigen Pizzikati greifen wieder ein, der Hornruf läßt sich von neuem vernehmen, und das Posaunenmotiv tritt in der Stretta des Più Allegro noch einmal in Kraft, um den endlichen Sieg zu entscheiden. Gerade das riesig aufgetürmte Finale zeigt, mit welcher Freiheit sich die symphonische Form behandeln läßt, wenn sie organisch aus entwicklungsfähigen Gedanken aufwächst. Von Schablone ist da nichts zu spüren. Nicht immer also braucht die Sonate, wie Brahms zu seinem Schüler Gustav Jenner sagte, das Thema zu machen.

Mit der c-moll-Symphonie legte Brahms den unerschütterlichen Grund zu seiner, an neuen interessanten motivischen Zusammenhängen reichen symphonischen Musik. Und so Herrliches er auch auf diesem Gebiet nach seiner ersten Symphonie noch geschaffen, – die Größe und hinreißende Gewalt ihres leidenschaftlichen Ausdrucks, die strenge Einheitlichkeit und unerbittliche Folgerichtigkeit ihrer von Bach genährten, auch über Beethoven noch hinausgehenden thematischen Erfindung und Entwicklung ist von keinem der späteren Werke übertroffen worden.

Fußnoten

[111] 1 Professor Dr. Adolf Koch in Heidelberg hat Brahms' Heidelberger Aufenthalt ein Erinnerungsblatt gewidmet im Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« vom 15. April 1902, dem wir einige der oben mitgeteilten Daten verdanken.


2 II, 106.


3 Briefwechsel III, 60.


4 II, 376.


5 II, 121 ff.


6 Goetz starb am 3. Dezember 1876. Erst vier Jahre nach seinem Tode griff Brahms zu dem Schillerschen Texte.


7 Frank mußte sich wegen seiner Leidenschaft für die Primadonna des Mannheimer Theaters oft von Brahms aufziehen lassen.


8 A. Steiner im Neujahrsblatt der Allgemeinen Musikgesellschaft in Zürich 1907.


9 Adolf Koch a.a.O.


10 G. F. Daumer, der von Brahms so hochgeschätzte und viel komponierte Dichter starb erst am 14. Dezember im Alter von fünfundsiebzig Jahren.


11 »Briefe«, II. Aufl. 183. Die in Klammern stehende Motivierung ist ein Zusatz des Verfassers.


12 Siehe II, 461.


13 Richard Barth wurde später Universitätsmusikdirektor in Marburg i.H., dann Dirigent der Philharmonischen Konzerte und der Singakademie in Hamburg. Er ist der Verfasser der verständnisvollen Abhandlung »Johannes Brahms und seine Musik« (Hamburg 1904) und der Herausgeber des Briefwechsels mit I. O. Grimm.


14 II, 61 f.


15 Wir haben Beethovens »Abschied vom Klavier« niemals mit einer solchen plastischen Eindringlichkeit und erhabenen Größe der Auffassung reproduzieren gehört wie an diesem unvergeßlichen Abende.


16 Vgl. S. 47.


17 Supplement zur kritisch durchgesehenen Gesamtausgabe von W. A. Mozarts Werken. Revisionsbericht. Serie I, II, III und Serie XXIV Nr. 1, 28 u. 29. S. 55 ff. Breitkopf & Härtel 1886.


18 Brahms, Briefwechsel VI, 109 ff. – Joachims Angaben sind ungenau. Die »Oxford-Symphonie«, auf die er sich bezieht, ist nur zufällig zu diesem Titel gekommen; sie war längst komponiert, als Haydn in Oxford erschien.


19 Haydn erzählt bei Albert Dies von seiner Oxforder Doktorpromotion, ihm sei ein weißseidener Mantel, mit Ärmeln von roter Seide, umgehängt und ein schwarzseidenes Hütchen aufgesetzt worden, und so angezogen habe er auf dem Doktorstuhle bei der Zeremonie im Universitätssaale sitzen müssen. »Ich kam mir in diesem Mantel recht possierlich vor, und was das Schlimmste war, ich mußte mich drei Tage lang auf den Gassen so maskiert sehen lassen.« (»Biographische Nachrichten von Joseph Haydn. Wien 1810.«)


20 Über die vereitelte Promotion berichten The Daily News vom 9. März 1877:

»Am 18. Mai 1876 war auf Betreiben des Mr. G. F. Cobb, eines Seniors des Trinity College, der zugleich den Posten des Präsidenten der Cambridge University Musical Society mehrere Jahre lang bekleidete, vom Rat der Universität zu Cambridge dem Senat vorgeschlagen worden, die Würde eines Doktors der Musik vier der hervorragendsten Musiker der Gegenwart zu verleihen: Brahms, Joachim, Sir John Goß und Artur Sullivan. Der Vorschlag wurde nemine contradicente angenommen. Die beiden Engländer hatten den Doktorhut bald darauf nach Erledigung des üblichen Zeremoniells erhalten. Joachim und Brahms konnten damals nicht erscheinen, um, wie es die Statuten nun einmal verlangen, die verliehene Würde persönlich in Empfang zu nehmen. Am 7. März 1877 kam Joachim nach Cambridge, Brahms war ausgeblieben. – Seit langer Zeit hat es keine so schöne (pleasing) Zeremonie im Senatshause von Cambridge gegeben. Die Elite der musikalischen Welt versammelte sich, auch andere Leuchten der Kunst und Literatur wohnten dem Aktus bei. Viel Londoner Publikum war, ohne die sechzig Meilen bei bitterer Kälte zu scheuen, zu einer Zeremonie herbeigeströmt, die kaum fünf Minuten dauerte, in der Aussicht, neue Werke von Joachim und Brahms im Abendkonzert der Universitäts-Musikgesellschaft zu hören. Anwesend waren: Sir Julius Benedict, die Signori Garcia, Randezza und Piatti, die Herren Henry Lestic, H. und W. H. Holms, Mademoiselle Sophie Löwe und Herr Dannreuther (Begründer des Londoner Wagner-Vereins), der vermutlich als Repräsentant der Wagner-Schule gekommen ist, um Brahms dadurch zu ehren, daß er der ersten Aufführung derc-moll-Symphonie in England aus dem Manuskript beiwohnte. Der neue Doktor wurde feierlich in seinem Talar eingeführt, und der ›public orator‹ verglich Joachim mit Orpheus: Hodie nobis redditus est Orpheus – utinam ipsa etiam adesset Eurydice!«

Ob unter der Eurydice, nach deren Anwesenheit der schwungvolle Lateiner seufzt, Frau Joachim oder – Brahms zu verstehen sei, bleibt ungewiß! Das Programm dieses akademischen Konzertes bestand aus einer Ouvertüre Sterndale Bennetts, Joachims Violinkonzert und Elegischer Ouvertüre (Kleist), einem Andante von Bach, Brahms' »Schicksalslied« und »c-moll-Symphonie«, deren Partitur Joachim von Brahms geliehen hatte.


21 Nach der Mitteilung eines Augenzeugen, Herrn S. Menkes in Odessa.


22 Stockhausen führte seit 1874 die Direktion des Sternschen Gesangvereins. Brahms hatte ihm »zwei wunderbare neue Lieder« geschickt, mit der Bitte, sie »der besten Zuhörerin vorzusingen«. Litzmann a.a.O. 335.


23 Hier ist eine sehr merkwürdige physiognomische Wahrnehmung einzuschalten, welche die Veränderungsfähigkeit des Äußeren bei genialen Menschen angeht. Wer die Phototypien des »Brahmsbilderbuches« vergleichend betrachtet, wird erstaunen, wie unähnlich unter einander alle diese Porträts sind. Nicht allein in verschiedenen Perioden seines Lebens, sondern auch auf derselben Altersstufe schien Brahms immer ein anderer zu sein. Und die mechanische Reproduktion gibt nur einen sehr allgemeinen, ziemlich schwachen Begriff seiner Persönlichkeit wieder. Ein aufmerksamer Beobachter, der ihn näher kannte und durch täglichen Verkehr in seinen Zügen Bescheid wußte, wäre im Stande gewesen, mit ziemlicher Sicherheit zu bestimmen, womit Brahms als produzierender Künstler sich beschäftigte. Es gehört nicht viel Einbildungskraft und Unterscheidungsvermögen dazu, um aus seinen Bildern den Sänger der »Magelonen-Romanzen«, des »Rinaldo«, des »Schicksalsliedes«, des »Requiems«, den Dichter der Streich- und Klavierquartette, den Helden der Symphonien und den Seher der »Ernsten Gesänge« herauszufinden. Bei Goethe ist das Gleiche zu beobachten.


24 So sagte er auch später von Nietzsches verblüffender Paradoxal-Philosophie: »Auch das Gegenteil kann wahr sein«. Vgl. Briefe II, 224.


25 Die beiden Anfangstakte von »Unüberwindlich« (op. 72 Nr. 5); Brahms hat in den Ausgaben eine eckige Klammer daruntergesetzt mit dem Namen D. Scarlatti.


26 Gegründet 1875 von Alfred Volkland, Philipp Spitta, Heinrich v. Herzogenberg und Franz von Holstein. Siehe Briefwechsel I, Einleitung XVI f.


27 »Gerda«, Titel einer unveröffentlichten Oper von Henschel.


28 Nach Brahms' Tode haben konziliante Nekrologisten ihn zu einem glühenden Verehrer Wagners und seiner Musik umstempeln wollen, und noch heute bekommt man öfters zu hören und zu lesen, Brahms habe sich in seinen alten Tagen bei zunehmender Weisheit zu dem alleinseligmachenden Glauben an das auf dem heiligen Berge in Bayreuth etablierte Gesamtkunstwerk bekehrt. Zur Bekräftigung dieser von Grund aus irrigen Ansicht wird dann gewöhnlich die Stelle in dem an Widmann gerichteten politischen Streitbriefe vom 20. August 1888 zitiert, die da lautet: »Wenn das Bayreuther Theater in Frankreich stände, brauchte es nicht so Großes wie die Wagnerschen Werke, damit Sie und Wendt und alle Welt hinpilgerten und sich für so ideal Gedachtes und Geschaffenes begeisterten.« Daß mit diesen im Ärger hingeschriebenen Worten mehr ein Tadel für die Freunde als ein Lob für die Wagnerschen Werke ausgesprochen werden sollte, leuchtet ein. Ähnlich wie dieser Passus ist der noch öfter angeführte Ausspruch zu verstehen und zu bewerten: »Für acht Takte aus den ›Meistersingern‹ gebe ich Ihnen den ganzen M.«, was Massenet, Mascagni oder sonstwie gelesen werden mag. Wir könnten aus eigener Erfahrung noch den hübschen Ausspruch beibringen: »Bei den Nachahmern Wagners lernt man erst den originalen Wagner schätzen« oder die uns persönlich im Disput öfters versetzte grobe Schmeichelei: »Sie sind ja doch nur ein verkappter Wagnerianer!« – An Wagner schätzte und bewunderte Brahms vor allem die Größe seiner Intentionen und die Energie sie auszuführen; das, was er sein ideales Denken und Schaffen nannte. Einzelheiten, Szenen und Fragmente seiner Werke konnten sogar sein großes und aufrichtiges Gefallen erregen, und wenn ihn, wie er oben zu Henschel sagte, die Tristan-Partitur für den ganzen Tag verstimmte, im Gegensatz zu anderen Partituren des Meisters, so ist auch das nicht etwa so zu verstehen, als ob sie ihn besonders ergriffen oder gar mit bewunderndem Neid erfüllt und im eigenen Schaffen entmutigt hätte. Gerade den »Tristan« mochte Brahms, wie wir wissen, ganz besonders nicht leiden. (Vgl. II, 69.) Wie er über die »Meistersinger« dachte und sich überhaupt zu Wagners Kunst verhielt, haben wir bereits aus dem erst in die zweite Auflage unseres Werkes aufgenommenen Briefe an Klara Schumann vom 28. März 1870 erfahren, der beginnt: »Ich schwärme nicht – weder für dies Werk (›Die Meistersinger‹), noch sonst für Wagner.« (Bei Litzmann a.a.O. III, 235 f.) Des Bayreuther Festspielhauses aber freute er sich als einer Sehenswürdigkeit, wie das Ausland keine aufzuweisen hatte; seinem patriotischen Künstlerherzen tat es wohl, daß die Franzosen, Engländer, Russen, Italiener, Amerikaner usw. nach Deutschland pilgerten. Er selbst ist nie in Bayreuth gewesen, ganz gewiß nicht aus feindseliger Voreingenommenheit oder Interesselosigkeit, die er an seinen Freunden tadeln zu müssen glaubte. Als ihn Henschel 1876 dazu animierte, war er sich noch nicht recht schlüssig, ob er zur ersten Aufführung des »Ringes« hingehen sollte. Interessieren würde es ihn freilich sehr, sagte er, nur sei es ihm zu teuer (der zum Eintritt berechtigende Patronatsschein kostete 300 Mark), zumal er »Rheingold« und »Walküre« schon öfter in München gehört habe. Als im Sommer 1882 der Versucher noch einmal in Gestalt Bülows an ihn herantrat, der ihn zum »Parsifal« animierte, schrieb er: »Daß ich aber mit Bayreuth so gar nicht zum Entschluß kommen kann, ist doch wohl ein Zeichen, daß das, Ja' nicht heraus will. Ich brauche kaum zu sagen, daß ich die Wagnerianer fürchte, und daß diese mir die Freude am besten Wagner verderben könnten. Ich weiß noch nicht, was ich tue, und ob ich nicht meinen Bart benutze, mit dem ich noch immer so hübsch anonym herumlaufe.« Ein Hauptgrund, warum er weder früher noch später nach Bayreuth ging, war, daß die Aufführungen in eine Jahreszeit fielen, die er zwischen angestrengtester schöpferischer Arbeit und ungebundenster Muße in der freien Natur zu verbringen pflegte. Wie schon gelegentlich erwähnt, puppten sich seine musikalischen Ideen gewöhnlich im Winter ein, um im Sommer auszufliegen.


29 Die drei seit dem Tutzinger Sommer vergangenen Jahre kamen ihm so lang vor. Wieviel mußte er innerlich erlebt haben!


30 Vgl. Bd. II, 438, Anm.


31 Vgl. Bd. I, 329, Anm.


32 Henschel war schon als Gymnasiast in Breslau ein Virtuose im Pfeifen und pfiff ganze Konzerte und die schwierigsten Variationenwerke mit unfehlbarer Sicherheit herunter.


33 Hier bricht Henschels Tagebuch ab. Wir werden vermutlich nicht die Einzigen sein, die dies bedauern. Enthält es doch auf seinen wenigen Seiten eine solche Fülle charakteristischer Bemerkungen, daß auch Einer, der Brahms nicht kannte, daraus ein porträtähnliches Bild seiner Persönlichkeit zu gewinnen vermag. Ohne schriftstellerischen Ehrgeiz hat Henschel ein kleines biographisches Meisterwerk geschaffen, das man bewundern muß. Wir danken dem Freunde, daß er es uns zur Veröffentlichung übergeben hat.


34 Vom Verfasser hervorgehoben.


35 Am 9. Februar 1874 hatte Spitta, welcher seit dem von ihm begeistert begrüßten Requiem mit Brahms korrespondierte, diesem geschrieben: »Ihre Haydn-Variationen habe ich nunmehr auch als Orchesterstück kennen gelernt und bin ganz hingerissen von dem Zauber, der Tiefe und der Neuheit des Werkes, welches alles im Orchestergewande noch viel mehr hervortritt. Nach dieser im vollen Wortverstande unvergleichlichen Leistung im Gebiete der Orchesterkomposition wird der langgehegte Wunsch aller Ihrer Verehrer nach einer Symphonie nur desto lebendiger sich regen.« (Karl Krebs: »Johannes Brahms und Philipp Spitta«, Deutsche Rundschau 1909, Heft VII, 31.)


36 Das im Besitze Simrocks befindliche Manuskript läßt keine so sicheren Schlußfolgerungen zu wie die Handschrift des »Deutschen Requiems«. Der erste Satz existiert nur in einer alten Kopie von fremder Hand; sie liegt in einem weißleinenen Umschlage, auf dem in verschnörkelter Schrift hingemalt ist: »Sinfonie von Johannes Brahms Mus: Doc: Cantab: etc. etc.« Cantab: ist Cantaburgiensis zu lesen; das Ganze also bedeutet eine Anspielung auf den Doktor der Musik von Cambridge, und die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß Joachim der Schriftmaler des Umschlages war. Er wollte dem Freunde die Annehmlichkeit des Doktordiploms ad oculos demonstrieren und ihm zu verstehen geben, der erste Satz wiege eine Dissertation auf. Die übrigen Sätze sind autograph. Der Schrift nach ist der zweite (Andante sostenuto) der jüngste. Dritter und vierter stehen auf demselben alten dicken Notenpapier, von dem Brahms sich beim Trödler kleinere Vorräte anzukaufen pflegte; die Schrift gleicht der der Haydn-Variationen. Am Schlusse: »J. Brahms Lichtenthal Sept. 76.«


37 Litzmann, a.a.O. III, 123.


38 Brahms, Briefwechsel III, 102.


39 Bd. I, 233.


40 I, 235.


41 Bd. I, 139.


42 Vgl. I, 120 ff.


43 Brahms konnte unglaublich grob werden, wenn ihm jemand zu verstehen gab, er habe Beethoven »kopiert«. Einer Exzellenz, die sich viel auf ihre musikalische Bildung zu gute tat und nach einer Probe derc-moll-Symphonie zu deren Schöpfer sagte: »Es ist merkwürdig, wie das C-Dur-Thema in Ihrem Finale dem Freudenthema der ›Neunten‹ ähnelt«, erwiderte er: »Jawohl, und noch merkwürdiger ist, daß das jeder Esel gleich hört.«


44 Nottebohm, »Zweite Beethoveniana«, 180 ff.


45 Frau Karoline Brahms und Herr Fritz Schnack wußten übereinstimmend anzugeben, daß Johannes schon mehrere Symphonien vor der c-moll-Symphonie komponiert hat.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 3, 2. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1913, S. 54-112.
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