I. Abstammung, Geburt, Name, Kindheit und Jugend 1809–29.

Es ist eine auch durch Darwin's Descendenztheorie nicht ausreichend erklärte Thatsache, dass in der Regel die volle geistige Potenz nicht vom Vater auf den Sohn übergeht, vielmehr vom Grossvater auf den Enkel überspringt. Felix Mendelssohn-Bartholdy's Grossvater war Moses Mendelssohn, der vertraute Freund Lessing's (geboren als Sohn eines armen, jüdischen Schulmeisters in Dessau am 6. September 1729, gestorben am 4. Januar 1786 in Berlin), Bahnbrecher einer neuen besseren Zeit, tiefer philosophischer Denker und zugleich mit seinem reinen reichen Gemüth einer der edelsten Vertreter der ächten Humanität, für Lessing das Vorbild zu seinem »Nathan der Weise«. Geboren in den ärmlichsten Verhältnissen, aber kaum fünf Jahre alt dem Unterricht seines Vaters entwachsen, folgte er seinem Lehrer Rabbi Fränkel von Dessau nach Berlin. Mit der bittersten Armuth kämpfend, rang er sich ganz aus eigener Kraft zu der Höhe der Bildung empor, die ihn befähigte, nicht nur sein eigenes damals noch unter dem schmählichsten Drucke schmachtendes Volk zu einer[3] geachteteren Stellung zu erheben, sondern auch als Mitarbeiter an Nicolai's Bibliothek der schönen Wissenschaften, den von Lessing herausgegebenen Literaturbriefen und der deutschen Bibliothek ganz wesentlich die nachfolgende grosse Glanzepoche deutscher Kunst, Literatur und Wissenschaft vorzubereiten. In seinen selbstständigen philosophischen Schriften, in Briefen, Gesprächen und ästhetischen Abhandlungen, besonders in den beiden Hauptwerken Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele und Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, offenbarte er seinen tief religiösen Geist, aber ohne Confessionalismus, als Anhänger des grossen Leibnitz und reiner Deist. Nicht unerwähnt darf auch in einer Biographie Felix Mendelssohn's bleiben, dass schon sein Grossvater einen lebhaften Sinn und ein feines Verständniss für Musik besass, auch in früheren Jahren die Kunst selbst ausübte.1

Aus Moses Mendelssohn's glücklicher Ehe mit Fromet Jugenheim, der Tochter eines Kaufmanns in Hamburg, die er sich trotz seines durch einen Höcker verunstalteten Aeussern, vor dem sie anfangs erschrak, auf die liebenswürdigste Weise gewann, (siehe die Vorrede zur »Familie Mendelssohn«, S. VIII u. IX nach Berthold Auerbach's Bericht in seinem Buche »Zur guten Stunde«) überlebten ihn sechs Kinder, drei Söhne: Joseph, Abraham und Nathan, und drei Töchter: Dorothea (als Gattin Friedrich Schlegel's berühmt geworden), Henriette und Recha. Der zweitgeborne Sohn, Abraham, wurde Felixens Vater.

Abraham Mendelssohn war zwar keineswegs ein unbedeutender Mann. Er besass nächst der grossen Umsicht und Thätigkeit als Kaufmann, die ihm bald zu einem bedeutenden Vermögen verhalf, gar manche hervorragende Eigenschaften des Geistes und Characters, die ihn zum Gegenstand verdienter höchster Verehrung in seiner Familie machten, einen sehr klaren Ueberblick über die Verhältnisse,[4] ein ganz feines Urtheil über die Musik, ohne irgend ein Verständniss des Technischen in derselben, zärtliche sich immer gleichbleibende Liebe für seine Gattin, aufopfernde Hingebung für seine Kinder, deren Erziehung er mit der grössten Sorgfalt leitete, und zu dem allen war er ein guter deutscher Patriot; aber an geistiger Productivität erreichte er weder seinen Vater, noch seinen Sohn, was er selbst mit feiner Ironie bezeugte: »Früher war ich der Sohn meines Vaters, jetzt bin ich der Vater meines Sohnes,« und von London schrieb er im Juni 1833, also zu einer Zeit, wo Felix in England schon sehr berühmt geworden war, unter anderem an seine Gattin: »Doch Du wirst gern noch lesen, wie vielfach geliebt und wahrhaft angesehen hier Felix noch ist. Ich fühle es am deutlichsten par ricochet, und der alte Horsley dachte mir heute ein grosses Kompliment zu machen, als er mir sagte, er schätze mich glücklich, der Sohn und der Vater eines grossen Mannes zu sein. ›Wo bleibt die Katz'?‹ dachte ich und wäre wahrscheinlich sehr böse geworden, wenn ich nicht selbst schon sehr oft darüber und über mich selbst mich moquirt hätte, dass ich zwischen Vater und Sohn gewissermaassen wie ein Gedankenstrich dastehe.«2

Von Abraham Mendelssohn's Jugendverhältnissen ist wenig bekannt. Im Jahre 1803 finden wir ihn als Cassirer in dem bekannten Banquierhause Fould in Paris. Es gefiel ihm dort so gut, dass er glaubte nirgends anders als in Paris leben zu können. »Je préférerais manger du pain sec à Paris,« schrieb er in einem seiner Briefe. Auf einer Reise von Paris nach Berlin lernte er jedoch Lea oder Lilla Salomon kennen, ein ebenso schönes als liebenswürdiges und feingebildetes Mädchen, deren Besitz nach dem Urtheil seiner Schwester Henriette, die als Erzieherin der Tochter des General Graf Sebastiani in Paris lebte, für ihn ein ausgezeichnetes Glück sein würde; eine Frau wie diese, werde er selten, vielleicht nie wieder finden. Abraham Mendelssohn wünschte, dass sie sein Loos in Paris mit ihm theilen möchte; da aber die Mutter des Mädchens erklärte, dass sie ihre Tochter einem »Commis«[5] nicht geben würde, so stand er davon ab, gab seine Stellung in Paris auf, associirte sich mit seinem Bruder Joseph, und liess sich in Hamburg nieder, wo er mit seiner jungen Frau ein kleines hübsches an der Elbe dicht bei Neumühlen gelegenes Landhaus bezog, das den Namen Martens Mühle führte und bald darauf sein Eigenthum wurde. Also Lea geb. Salomon, nicht geb. Bartholdy war Felix Mendelssohn's Mutter. Den Namen Bartholdy hatte vielmehr ein Bruder Leas angenommen, seitdem er zum Christenthum übergetreten war. Es war dies der nachmals mit grossen Ehren genannte Königl. Preussische Generalconsul in Rom, ein feiner kunstsinniger Mann, der sich in Rom das heute noch unter dem Namen casa Bartholdy stehende und bekannte Haus baute, und dasselbe, obwohl er kein bedeutendes Vermögen besass, als guter Deutscher von den deutschen Malern Cornelius, Veit, Schadow, Overbeck und Schnorr mit Fresken schmücken liess. Seine Mutter, eine streng orthodoxe Jüdin, wollte ihrem Sohne diesen Uebertritt nicht verzeihen. Als aber einst Felixens Schwester, die herrliche Fanny, ihrer Grossmutter ganz besonders schön vorgespielt hatte, sagte ihr die alte Frau, sie könne sich zur Belohnung ausbitten, was sie wolle. Da sagte Fanny: »So vergieb dem Onkel Bartholdy,« und die Grossmutter, gerührt über diese unerwartete Bitte, versöhnte sich wirklich mit dem Sohne um Fanny's willen. Daraus entspann sich eine grosse Liebe des Onkels und ein langer Briefwechsel.3

In einem Hause hinter der Michaeliskirche wurden Abraham Mendelssohn seine ersten drei Kinder geboren. Das älteste, die eben erwähnte Fanny, am 15. November 1805, Felix am 3. Februar 1809 und Rebecka am 11. April 1811; Paul, als letztes Kind, erblickte das Licht der Welt erst am 30. October 1813 in Berlin, wohin die Familie Mendelssohn vor der Gewaltherrschaft Davoust's, dem sie wegen ihrer kerndeutschen Gesinnung verdächtig war, von Hamburg flüchtend, übergesiedelt war. Bei der Erhebung von 1813 stand Abraham Mendelssohn mit ganzem Herzen auf Seiten Deutschlands, und rüstete selbst[6] auf eigene Kosten mehrere Freiwillige aus. In Berlin wurde er in Anerkennung seines gemeinnützigen Sinnes zum Stadtrath erwählt.

Dass unserem Felix sein Name als ein ächtes prophetisches Prognostikon bei der Taufe mitgegeben wurde, zeigt sein ganzes Leben. Ja es ward kaum je ein Sterblicher unter einem glücklicheren Sterne geboren, als er. Den Namen Bartholdy nahm der Vater auf den Rath seines Schwagers für sich und seine Kinder an, als er sich entschlossen hatte, seine Kinder protestantisch erziehen zu lassen. Obgleich selbst weder orthodoxer Jude noch gläubiger Christ, liess er sie der reformirten Kirche zuführen. Seinen eigenen religiösen Standpunkt, der nach unseren heutigen Begriffen eigentlich ein religionsloser, nur ein moralischer war, gab er unter anderem in einem merkwürdigen Briefe an seine Tochter Fanny nach ihrer Einsegnung vom Jahre 1820 aus Paris kund, den uns Hensel überliefert hat (die Familie Mendelssohn, Bd. I, Seite 85):


»Du hast, meine liebe Tochter, einen wichtigen Schritt in's Leben gethan, und indem ich Dir dazu und zu Deinem ferneren Lebenslauf mit väterlichem Herzen Glück wünsche, fühle ich mich gedrungen, über Manches, was bis jetzt zwischen uns nicht zur Sprache gekommen, ernsthaft zu reden. Ob Gott ist, was Gott sei? Ob ein Theil unseres Selbst ewig sei, und, nachdem der andere Theil vergangen, fortlebe? und wo? und wie? – Alles das weiss ich nicht und habe Dich deswegen nie etwas darüber gelehrt. Allein ich weiss, dass es in mir und in Dir und in allen Menschen einen ewigen Hang zu allem Guten, Wahren und Rechten und ein Gewissen giebt, welches uns mahnt und leitet, wenn wir uns davon entfernen.« (Ohngefähr etwas, wie Kant's kategorischer Imperativ. Anmerk. des Verf.) »Ich weiss es, glaube daran, lebe in diesem Glauben und er ist meine Religion. Die konnte ich Dich nicht lehren und es kann sie Niemand erlernen, es hat sie ein Jeder, der sie nicht absichtlich und wissentlich verläugnet; und dass Du das nicht würdest, dafür bürgt mir das Beispiel Deiner Mutter, dieser edelsten, würdigsten Mutter, deren ganzes Leben Pflichterfüllung, Liebe, Wohlthun ist, dieser Religion in Menschengestalt ... Wir haben Euch, Dich und Deine Geschwister, im Christenthum erzogen, weil es die Glaubensform der meisten gesitteten[7] Menschen ist und nichts enthält, was Euch vom Guten ab leitet, (?) vielmehr manches (?) was Euch zur Liebe, zum Gehorsam, zur Duldung und zur Resignation hinweist, sei es auch nur das Beispiel des Urhebers, von so Wenigen erkannt, und noch Wenigeren befolgt – –«


Es ist bewundernswerth, wie unter diesen Verhältnissen, unter dem Einflusse solcher Ansichten des Vaters in Felix ein so tiefer, inniger Christenglaube Wurzel schlagen konnte, als er sich in seinen Oratorien, Cantaten, Motetten und geistlichen Liedern kund giebt, und ihn nach Bach und Händel zu einem der grössten geistlichen Tondichter aller Zeiten gemacht hat.

Der Knabe Felix muss wunderschön gewesen sein. Auf einem zwar kleinen aber sehr ebenmässig gebauten Körper ruhte der schöne Kopf mit der hohen Stirn, den grossen schwarzen hell leuchtenden Augen, der fein gebogenen Nase, dem lieblichen Munde, umrahmt von dunkelbraunen lang auf den Rücken herabwallenden Locken; kein Wunder, dass Frauen und Mädchen, wie z.B. in Goethe's Hause, wo er das erstemal als elfjähriger Knabe war, sich in ihn verliebten und ihn nach Kräften hätschelten. Aber nicht minder zeichnete den Knaben geistige Schönheit aus. Er war ein Wunderkind im besten Sinne des Worts. Eifrige Lernbegierde, blitzgeschwinde Auffassung, frühzeitige Productionskraft, bei alledem doch edle Bescheidenheit waren seine Gaben. Sein musikalisches Talent reifte ganz ungewöhnlich früh. Der Vater gab ihm die besten Lehrer, die er finden konnte. Den wissenschaftlichen Unterricht übernahmen zwar anfangs die Eltern selbst, aber auch hierin sollte dem Vater das Beste eben gut genug sein. Er erwählte als Hauslehrer zunächst für die beiden ältesten Kinder, Fanny und Felix, H. Heyse, den späteren berühmten Philologen, Vater des Dichters Paul Heyse. Diesem verdankte Felix seine gründliche klassische Bildung, die ihn z.B. befähigte, im Jahre 1826 Goethe eine von ihm gearbeitete, als Manuscript für Freunde gedruckte Uebersetzung der Andria des Terenz zu übersenden, worüber Goethe unterm 11. October desselben Jahres an Zelter schrieb: »Dem trefflichen thätigen Felix danke schönstens für das herrliche Exemplar[8] ernster ästhetischer Studien; seine Arbeit soll den weimarischen Kunstfreunden in den nächst zu erwartenden langen Winterabenden eine belehrende Unterhaltung sein.« Ebenso bereitete sicher diese classische Bildung den tüchtigen Untergrund zu zwei Meisterwerken Mendelssohn's, der Musik zu Sophocles' Antigone und Oedipus auf Kolonos, wovon später die Rede sein wird. In der Musik wurde Felixens erster Lehrer Ludwig Berger, der schlichte, ächt deutsche Tonkünstler, gleich tüchtig als Clavierspieler wie als Liedercomponist, hervorgegangen aus der Schule Clementi's, und fortgebildet von John Field in Petersburg, seit 1815 in Berlin; in Contrapunct und Compositionslehre der alte tüchtige musikalische Maurermeister Carl Friedrich Zelter (geb. 11. December 1758, gest. am 15. Mai 1832 in Berlin), zu diesen beiden gesellte sich als dritter seit Herbst des Jahres 1824 Ignaz Moscheles, der dem Clavierspiel des jungen Virtuosen die letzte Feile anlegen half, woraus sich später zwischen Lehrer und Schüler der innigste Freundschaftsbund bildete. Das Verhältniss der drei Lehrer zu ihrem Schüler habe ich in meinem früheren Werkchen nicht unzutreffend so dargestellt: »Ludwig Berger hatte den jungen Baum gepflanzt, Zelter den Boden um ihn her umgegraben und nach Befinden den Sturmwind vorgestellt, der ihn tüchtig schüttelte, um ihn desto festere Wurzeln schlagen zu lassen. Aber noch fehlte der Kunst- und Ziergärtner, der des Baumes sorgsam pflegte, die zarten Blüthen vor dem Frost bewahren und seine ersten Früchte der grossen Welt zum Genusse darbieten sollte; dieser wurde Moscheles.« Die Früchte des Unterrichts der drei Lehrer waren in der That staunenswerth. Bereits in seinem 8. Jahre spielte der Knabe das Piano mit bewundernswerther Fertigkeit. In seinem 9. trug er das Concert militaire von Dussek öffentlich vor. Am 28. October 1818 spielte er in einem Concert eines Herrn Gugel ein Trio für Piano und 2 Waldhörner von Wölfl. Im Jahre 1820 legte Felixens Vater in Paris dessen »letzte Fuge« einem Herrn Leo vor, der sie ihm sehr unvollkommen vorspielte und die Fuge sehr gut und in ächtem Styl, aber schwer fand. »Mir,« schreibt der Vater in einem Briefe an Fanny, »hat sie wohl gefallen; es ist viel[9] und ich hätte ihm kaum zugetraut, dass er sich sobald darein finden würde, ernsthaft zu arbeiten, denn zu einer solchen Fuge gehört denn doch gewiss Ueberlegung und Beharrlichkeit ... Die Musik wird vielleicht für ihn Beruf.«4 In diesen Gedanken wollte sich Onkel Bartholdy nicht finden. Er schrieb an seinen Schwager:


»Ich bin nicht ganz einverstanden, dass Du Felix keine positive Bestimmung giebst. Dies würde und könnte seiner Anlage zur Musik, über die nur eine Stimme ist, keinen Eintrag thun. – Ein Musikus von Profession will mir nicht in den Kopf. Das ist keine Carrière, kein Leben, kein Ziel; man ist zum Anfang so weit als am Ende und weiss es; ja in der Regel besser daran. – Lasse den Buben ordentlich studiren, dann auf der Universität die Rechte absolviren und dann in eine Staatscarrière treten. Die Kunst bleibt ihm als Freundin und Gespielin zur Seite. So wie ich den Gang der Dinge erkenne, bedürfen wir der Leute, die ein Studium gemacht haben, bald mehr als je. Soll er aber ein Kaufmann werden, so gieb ihn früh in ein Comptoir.«5


Glücklicherweise befolgte der Vater diesen Rath nicht.

Ebenso früh als sein Pianofortespiel entwickelte sich bei dem Knaben jener feine Sinn musikalischer Kritik, das Luchsauge, wie Zelter es nennt, mit welchem er »in der Partitur eines prachtvollen Concerts von Sebastian Bach sechs reine Quinten nach einander entdeckte, die er (Zelter) vielleicht niemals gefunden hätte«, und jenes wunderbar feine Gehör, das später mitten unter der Entwicklung der gewaltigsten Tonmassen die Dissonanz eines einzelnen Instrumentes oder einer Menschenstimme augenblicklich wahrnahm. Zugleich entfaltete er eine für seine Jahre höchst ungewöhnliche Kraft und Fülle der Productivität. Noch nicht 12 Jahre alt, Sept. 1820, componirte Felix binnen wenigen Wochen seine erste Oper »Die beiden Neffen«, zu welcher ein Doctor Kaspar den Text geliefert hatte. Sie wurde in dem Musiksaale im Hause seines Vaters, Leipziger Strasse Nr. 3, von welchem noch mehrmals die Rede sein wird, vor vielen Zuhörern mit Beifall[10] aufgeführt. Ein Jahr später hatte er zwei Opern geschrieben, eine dritte halb vollendet; ausserdem lagen schon componirt vor: ein 4-und 5stimmiger Psalm mit einer grossen Doppelfuge für die Berliner Singacademie, sechs Symphonieen, ein Quartett für Clavier und Streichinstrumente, eine Cantate, sechs Clavierfugen und zahlreiche Uebungsstücke, Sonaten und Lieder.

An diese allgemeinen Notizen mögen sich hier noch einige Aussprüche aus dem Munde seiner Lehrer Zelter und Moscheles anreihen, da uns von Ludwig Berger leider nichts aufbehalten ist. Zelter schrieb unter anderem an seinen Freund Goethe: »Clavier spielt der Junge wie Teufel und Felix ist noch immer der Obermann.« Im Herbst des Jahres 1821 kündigte er Goethe seinen und seines Schülers Besuch mit den Worten an: »Meiner Doris (einer Tochter Zelter's) und meinem besten Schüler will ich gern Dein Angesicht zeigen, ehe ich von dieser Welt gehe.« Als dieser Besuch, von dem weiter unten eine ausführliche Schilderung gegeben werden soll, stattgefunden hatte, schrieb Zelter an Goethe unterm 8. Februar 1824:


»Gestern Abend ist Felixens vierte Oper6 vollständig nebst Dialog unter uns aufgeführt worden. Es sind drei Acte, die nebst zwei Balletten etwa drittehalb Stunden füllen. Das Werk hat seinen hübschen Beifall gefunden. Von meiner schwachen Seite kann ich meiner Bewunderung kaum Herr werden, wie der Knabe, der soeben funfzehn Jahre geworden ist, mit so grossen Schritten fortgeht.[11] Neues, Schönes, Eignes, Ganzeignes ist überall zu finden. Geist, Fluss, Ruhe, Wohlklang, Ganzheit, Dramatisches. Das Massenhafte, wie von erfahrenen Händen. Orchester interessant; nicht erdrückend, ermüdend, nicht blos begleitend. Die Musici spielen es gern, und ist doch eben nicht leicht. Das Bekannte kommt und geht vorüber, nicht wie genommen, vielmehr an seiner Stelle willkommen und zugehörig. Munterkeit, Jubel ohne Hast, Zärtlichkeit, Liebe, Leidenschaft, Unschuld. – Die Ouvertüre ist ein sonderbares Ding. Du denkst Dir einen Maler, der einen Klacks Farbe auf die Leinwand schmeisst, die Masse mit Finger und Pinsel austreibt, woraus zuletzt eine Gruppe an den Tag kommt, dass man fort und fort überrascht sich nach einer Begebenheit umsieht, weil ja geschehen sein muss, was wahr ist.« (Wie sehr passt dieser treffende Vergleich auf eines der späteren Meisterwerke Mendelssohn's, die Ouvertüre zu den Hebriden, dieses vortreffliche Stimmungsbild schottischer Natur und altschottischer Sage!) »Freilich,« fährt Zelter fort, »spreche ich wie ein Grossvater, der seinen Enkel verzieht. Ich weiss wohl, was ich sage, und will nichts gesagt haben, als was ich zu beweisen wüsste. Zuerst durch Beifall in Menge, den man am aufrichtigsten durch Orchesterleute und Sänger einholt, denen man bald abmerkt, ob Kälte oder Widerwillen, oder Liebe und Gunst Finger und Kehlen bewegt. Du musst ja so was wissen. Wie der Mund gefällt, der dem andern zum Munde redet, so der Componist, welcher dem Ausführenden vorlegt, was ihm gelingen kann und dieser mitgeniessend weiter vertheilt.«


Ignaz Moscheles theilte mir in einem Auszug aus seinen Tagebüchern Folgendes mit:


»Im Herbst des Jahres 1824 gab ich in Berlin meine ersten Concerte. Ich wurde mit der Mendelssohn'schen Familie bekannt und bald befreundet. Bei meinen täglichen Besuchen im Hause der Eltern lernt' ich den Wunderknaben Felix kennen und lieben. Seine Jugendarbeiten waren mir damals schon vollkommene Gewährleistung seiner künftigen glänzenden Laufbahn. Seine Eltern ersuchten mich wiederholt, ihm Clavierunterricht zu geben, und ohngeachtet sein früherer Lehrer L. Berger damit einverstanden war, zögerte ich, diesem sprudelnden Genie eine Leitung zu geben, die ihn vielleicht von dem Wege hätte abbringen können, den die göttliche Eingebung ihm bezeichnet hatte. Ich gab jedoch den wiederholten Bitten nach, und ertheilte ihm Lectionen. Er spielte damals schon Alles, was ich zu spielen im Stande war, und fasste jeden Wink blitzschnell auf. Mein Es dur-Concert spielte er aus[12] dem Probedruck beinahe prima vista, und meine Sonate melancolique spielte er besonders schön und gern.«


Weitere Andeutungen gewähren eine interessante Einsicht in das damals schon in Mendelssohn's väterlichem Hause blühende grossartige Musikleben. Am 14. Nov. des genannten Jahres wohnte Moscheles der Geburtstagsfeier von Felix' Schwester Fanny bei. Es wurde dazu eine Symphonie von Mendelssohn gegeben. Er selbst spielte Mozart's C moll-Concert und ein von ihm componirtes Doppel-Concert in E dur mit seiner Schwester. Zelter und viele Mitglieder der Königl. Kapelle waren gegenwärtig. Am 28. desselben Monats fand wieder eine derartige musikalische Aufführung im Mendelssohn'schen Hause statt. Es wurde eine Symphonie in D dur von Mendelssohn gegeben. Er spielte sein Clavierquartett in C moll (Opus 1) und seine Schwester Fanny ein Concert von Sebastian Bach. Am 5. December wurde ebendaselbst Mozart's Todtenfeier begangen. Mozart's Requiem wurde aufgeführt, und Mendelssohn accompagnirte dazu auf dem Clavier. Am 12. December fand wieder eine Sonntagsmorgenmusik statt, in welcher Felix sein F moll-Quartett, und Moscheles mit ihm zum erstenmale sein später so berühmt gewordenes Musikstück Hommage à Händel spielte. Ein für Mendelssohn von Moscheles componirtes Albumblatt, Allegro di bravura, welches ihm dieser am folgenden Tage darbot, spielte er prima vista. Bald darauf begab sich Moscheles nach England. Am 15. November 1826 feierte er den Geburtstag der Schwester Fanny mit Mendelssohn zusammen wieder in Berlin. Der 19. November d.J. aber muss als ein sehr wichtiger Tag in der Mendelssohn'schen Bildungsgeschichte bezeichnet werden. Er spielte an ihm zum erstenmal seine neueste Composition, »Ouvertüre zum Sommernachtstraum«, jenes Werk, das zuerst den vollen Stempel seines Genies trug und seinen Namen zu einem welthistorischen erheben half, im vierhändigen Arrangement für Clavier mit seiner Schwester. Am 23. November producirte Moscheles das eben fertige erste Heft seiner Etüden. Von Mendelssohn wurde eine Symphonie-Ouvertüre mit dem Hauptgedanken von Trompeten eingeführt gegeben. Er selbst spielte ein gleichfalls von ihm componirtes Capriccio (wahrscheinlich[13] Op. 5), das er in muthwilliger sich selbst ironisirender Laune absurdité nannte.

Kehren wir jetzt nach dieser theilweise vorgreifenden Abschweifung zu der geordneten Darstellung von Mendelssohn's Leben zurück. Ein epochemachendes Ereigniss darin war der schon oben erwähnte von Zelter vorher angekündigte Besuch in Goethe's Hause. Er legte den Grund zu der bis zum Tode Goethe's währenden innigen Verbindung mit dem edlen Dichtergreise, der als Repräsentant des Hellenen- und ächten Germanenthums sicher Mendelssohn's Sinn für alles Tüchtige, Classische, Gediegene und seine Verschmähung alles Kleinlichen, Halben, Krankhaften auf das mächtigste fördern half.

Der Besuch fand in den ersten Tagen des November 1820 statt. Ausser in zwei Briefen des jungen Felix selbst, die ganz das Abbild des lebendigen, geistreichen und doch so naiven Knaben sind, und die uns zuerst Hensel überliefert hat (die Familie Mendelssohn-Bartholdy I, S. 101 u. ff.) hat Ludwig Rellstab, der seiner Zeit mit Recht gefeierte musikalische Kritiker und Verfasser des historischen Romans 1812, als Augen- und Ohrenzeuge die folgende überaus lebendige und anziehende Schilderung dieses Besuches gegeben, die an dieser Stelle nicht fehlen darf, obgleich sie Heinrich Pfeil bereits in seinen »kleinen Musikantengeschichten« wiedergegeben hat.


»Der Flügel war geöffnet worden, die Lichter auf das Pult gestellt. Felix Mendelssohn sollte spielen. Er fragte Zelter, gegen den er durchaus kindliche Hingebung und Vertrauen zeigte: Was soll ich spielen? Nun, was Du kannst, was Dir nicht zu schwer ist, antwortete dieser. Es wurde endlich festgesetzt, dass er frei phantasiren sollte, und er bat Zelter um ein Thema.«

Dieser setzte sich an den Flügel, und trug mit seinen steifen Händen (er hatte mehrere gelähmte Finger) ein sehr einfaches Lied in G dur in Triolenbewegung vor. Es mochte vielleicht 16 Tacte haben, Felix spielte es einmal ganz nach, und brachte dann, indem er die Triolenfigur in beiden Händen einigemal übte, gewissermaassen seine Finger in das Geleise der Hauptfigur, damit sie sich ganz unwillkürlich darin bewegen möchten. Jetzt begann er aber sogleich im wildesten Allegro. Aus der sanften Melodie wurde eine aufbrausende Figur, die er bald im Bass, bald in der Oberstimme[14] nahm, und mit schönen Gegensätzen durchführte, genug, er gab eine im feurigsten Fluss fortströmende Phantasie. Alles gerieth in das höchste Erstaunen; die kleine Knabenhand arbeitete in den Tonmassen, beherrschte die schwierigsten Combinationen, die Passagen rollten, perlten, flogen mit ätherischem Hauch, ein Strom von Harmonieen ergoss sich, überraschende contrapunctische Sätze entwickelten sich dazwischen, nur die Melodie blieb wenig berücksichtigt, und durfte wenig mitsprechen in diesem stürmischen Meere der Töne.

Mit einem ihm schon damals eigenen richtigen Tacte dehnte der junge Künstler sein Spiel nicht zu lange aus. Desto grösser war der Eindruck gewesen; ein überraschtes gefesseltes Schweigen herrschte, als er die Hände nach einem energisch aufschnellenden Schlussaccord von der Claviatur nahm, um sie nunmehr ruhen zu lassen.

Zelter war der Erste, der die Stille unterbrach, indem er laut sagte: »Na, Du hast wohl von Kobolden und Drachen geträumt. Das ging ja über Stock und Block.« Göthe war von der wärmsten Freude erfüllt. Er herzte den kleinen Künstler, indem er ihm den Kopf zwischen die Hände nahm, ihn freundlich streichelte und scherzend sprach: »Aber damit kommst Du nicht durch! Du musst uns noch mehr hören lassen, bevor wir Dich ganz anerkennen.«

»Aber was soll ich noch spielen?« fragte Felix.

Goethe war ein grosser Freund der Bach'schen Fugen; es wurde also an Felix die Aufforderung gestellt, auch eine Fuge des Altmeisters vorzutragen. Der Knabe spielte dieselbe völlig unvorbereitet mit vollendeter Sicherheit. Goethe's Freude wuchs bei dem erstaunenswerthen Vortrag des Knaben. Weiterhin forderte er ihn auf, eine Menuet zu spielen.

»Soll ich die schönste, die es in der ganzen Welt giebt, wählen?« fragte er mit leuchtenden Augen. »Nun, und welche wäre das?«

Felix spielte die Menuet aus Don Juan. Goethe blieb fortdauernd lauschend am Instrument stehen, die Freude glänzte in seinen Zügen. Er wünschte nach der Menuet auch die Ouvertüre der Oper. Doch diese schlug der kleine Spieler rund ab mit der Bemerkung, sie lasse sich nicht so spielen, wie sie geschrieben stehe, und ändern dürfe man nichts daran. Dagegen erbot er sich, die Ouvertüre zu Figaro zuzugeben. Er begann sie mit überraschender Leichtigkeit der Hand, Sicherheit, Rundung und Klarheit in den Passagen. Dabei führte er die Orchestereffecte so vortrefflich aus, machte so viel feine Züge in der Instrumentation bemerkbar durch mitgetheilte oder deutlich hervorgehobene Stimmen, dass die Wirkung eine hinreissende war.

[15] Goethe wurde immer heiterer, immer freundlicher, ja er trieb Scherz und Neckerei mit dem geist- und lebensvollen Knaben.

»Bis jetzt,« sprach er, »hast Du mir nur Stücke gespielt, die Du kanntest; jetzt wollen wir einmal sehen, ob Du auch etwas spielen kannst, was Du noch nicht kennst. Ich werde Dich auf die Probe stellen.« Er ging hinaus und kam nach einigen Minuten zurück, mit mehreren Blättern geschriebener Noten in der Hand. »Da habe ich Einiges aus meiner Manuscriptensammlung geholt. Nun wollen wir Dich prüfen. Wirst Du das hier spielen können?«

Goethe legte ein Blatt mit klar aber klein geschriebenen Noten auf das Pult. Es war Mozart's Handschrift. Felix erglühte freudig bei dem Namen. Er spielte mit voller Sicherheit das nicht leicht zu lesende Manuscript vom Blatt. Der Vortrag war so, als wisse es der Spieler seit Jahren auswendig, so sicher, so klar, so abgewogen.

»Das ist noch nichts,« rief Goethe, »das können auch Andere lesen. Jetzt will ich Dir aber etwas geben, wobei Du stecken bleiben wirst. Nun nimm Dich in Acht!«

Mit diesem scherzenden Tone langte er ein anderes Blatt hervor und legte es auf's Pult. Das sah in der That seltsam aus. Man wusste kaum, ob es Noten waren, oder ein liniirtes, mit Tinte bespritztes, an unzähligen Stellen verwischtes Blatt. Felix lachte verwundert auf.

»Wie ist das geschrieben! Wie soll man das lesen?« rief er aus. Doch plötzlich wurde er ernsthaft, denn indem Goethe die Frage aussprach: »Nun rathe einmal, wer das geschrieben?« rief Zelter schon, der hinzugetreten war und dem am Instrument sitzenden Knaben über die Achsel schaute: »Das hat ja Beethoven geschrieben! Das kann man auf eine Meile sehen! Der schreibt immer, wie mit einem Besenstiel und mit dem Aermel über die frischen Noten gewischt!«

Bei dem Namen »Beethoven« war Felix ernsthaft geworden, ja mehr als ernsthaft. Ein heiliges Staunen verrieth sich in seinen Zügen. Er blickte unverwandt auf das Manuscript, und leuchtende Ueberraschung überflog seine Züge. Dies alles währte aber nur Secunden, denn Goethe wollte die Prüfung scharf stellen und dem Spieler keine Zeit zur Vorbereitung lassen.

»Siehst Du,« rief er, »sagt' ich Dir's nicht, Du würdest stecken bleiben? Jetzt versuche und zeige was Du kannst!«

Felix begann sofort zu spielen. Es war ein einfaches Lied, aber um aus ausgestrichenen halbverwischten Noten die giltigen herauszufinden, bedurfte es einer seltenen Schnelligkeit und Sicherheit des Ueberblicks. Beim ersten Durchspielen hatte denn auch[16] Felix oft lachend mit dem Finger die richtige Note zu zeigen, die an ganz anderer Stelle gesucht werden musste und mancher Fehlgriff ward mit einem raschen »Nein so!« verbessert. Dann rief er: »Jetzt will ich es Ihnen vorspielen,« und das zweite Mal fehlte auch nicht eine Note. »Das ist Beethoven,« rief er einmal, als er auf einen melodischen Zug stiess, der ihm die Eigenart des Künstlers auszuprägen schien, das ist ganz Beethoven, daran hätte ich ihn erkannt! Mit diesem letzten Probestück liess es Goethe genug sein. Es war auch wahrlich mehr als genug, um des Knaben glänzende Begabung in das hellste Licht zu stellen.


Dass dieser Besuch des jungen Mendelssohn in Goethe's Hause auf diesen die freundlichste Wirkung übte, braucht nicht erst gesagt zu werden. Unterm 5. Februar 1822 schrieb Goethe, anfangs noch in seiner kühl gemessenen Weise, an Zelter: »Auch Felix sag ein gutes Wort und seinen Eltern. Seit Eurer Abreise ist mein Flügel verstummt; ein einziger Versuch, ihn wieder zu erwecken, wäre beinahe misslungen.« Aber das einmal geknüpfte Band sollte bald inniger werden. Zelter berichtete fortwährend über des Knaben wunderbares Talent und fruchtbaren Fleiss und Goethe's Theilnahme steigerte sich dadurch immer höher. Wie gross die Freude des Knaben selbst an Goethe's Gegenwart und der Berührung mit ihm war, erhellt aus den beiden oben erwähnten Briefen an die zurückgebliebene Familie in Berlin, zu characteristisch und interessant, als dass ich sie hier nicht wenigstens im Auszug einreihen sollte. Im ersten, Weimar den 6. November 1820, heisst es:


»Jetzt hört Alle, Alle zu. Heut' ist Dienstag. Sonntag kam die Sonne von Weimar, Goethe, an. Am Morgen gingen wir in die Kirche, wo der 100. Psalm von Händel halb gegeben wurde. Nachher schrieb ich Euch den kleinen Brief vom 4., und ging nach dem Elephanten, wo ich Lucas Cranach's Haus zeichnete. Nach 2 Stunden kam Professor Zelter: ›Goethe ist da, der alte Herr ist da!‹ Gleich waren wir die Treppe herunter in Goethe's Haus. Er war im Garten und kam eben um die Ecke herum; ist das nicht sonderbar, lieber Vater? ebenso ging es Dir. Er ist sehr freundlich, doch alle Bildnisse von ihm finde ich nicht ähnlich. Er sah sich dann seine interessante Sammlung von Versteinerungen an, welche der[17] Sohn geordnet hat, und sagte immer: ›Hm, hm, ich bin recht zufrieden;‹ nachher ging ich noch eine halbe Stunde im Garten mit ihm und Professor Zelter. Dann zu Tisch. Man hält ihn nicht für einen Dreiundsiebenziger, sondern für einen Fünfziger. Nach Tische bat sich Fräulein Ulrike, die Schwester der Frau von Goethe, einen Kuss aus und ich machte es ebenso. Jeden Morgen erhalte ich vom Autor des Faust und des Werther einen Kuss, und jeden Nachmittag von Vater und Freund Goethe zwei Küsse. Bedenkt!! Nachmittag spielte ich Goethe über zwei Stunden vor, theils Fugen von Bach, theils phantasirte ich .... Den Abend assen wir alle zusammen, auch sogar Goethe, der sonst niemals zu Abend isst. Nun, meine liebe hustende Fanny: Gestern früh brachte ich Deine Lieder der Frau von Goethe, die eine hübsche Stimme hat. Sie wird sie dem alten Herrn vorsingen. Ich sagte es ihm auch schon, dass Du sie gemacht hättest, und fragte, ob er sie wohl hören wollte. Er sagte: ja, ja, sehr gerne. Der Frau von Goethe gefallen sie besonders. Ein gutes Omen. Heute oder morgen soll er sie hören.«7


In dem zweiten Briefe, Weimar 10. November, schreibt Felix unter anderm:


»Alle Nachmittage macht Goethe das Streicher'sche Instrument mit den Worten auf: ›Ich habe Dich heute noch gar nicht gehört, mache mir ein wenig Lärm vor,‹ und dann pflegt er sich neben mich zu setzen, und wenn ich fertig bin (ich phantasire gewöhnlich), so bitte ich mir einen Kuss aus oder nehme mir einen. Von seiner Güte und Freundlichkeit macht Ihr Euch gar keinen Begriff, ebenso wenig, als von dem Reichthum, den der Polarstern der Poëten an Mineralien, Büsten, Kupferstichen, kleinen Statuen, grossen Handzeichnungen u.s.w. hat. Dass seine Figur imposant ist, kann ich nicht finden, er ist eben nicht viel grösser als Vater. Doch seine Haltung, seine Sprache, sein Name, die sind imposant. Einen ungeheuren Klang der Stimme hat er, und schreien kann er,[18] wie 10,000 Streiter. Sein Haar ist noch nicht weiss, sein Gang ist fest, seine Rede sanft. Dienstag wollte Professor Zelter mit uns nach Jena, und von da gleich nach Leipzig. Sonnabend Abend war Adele Schopenhauer (die Tochter) bei uns, und wider Gewohnheit auch Goethe den ganzen Abend. Die Rede kam auf unsere Abreise und Adele beschloss, dass wir alle hingehen und uns Professor Zelter zu Füssen werfen sollten, und um ein paar Tage Zugabe flehen. Er wurde in die Stube geschleppt, und nun brach Goethe mit seiner Donnerstimme los, schalt Professor Zelter, dass er uns mit nach dem alten Nest nehmen wollte, befahl ihm, stille zu schweigen, ohne Widerrede zu gehorchen, uns hier zu lassen, allein nach Jena zu gehen und wieder zu kommen, und schloss ihn so von allen Seiten ein, dass er alles nach Goethe's Willen thun wird; nun wurde Goethe von allen Seiten bestürmt, man küsste ihm Mund und Hand, und wer da nicht ankommen konnte, der streichelte ihn und küsste ihm die Schultern, und wäre er nicht zu Hause gewesen, ich glaube, wir hätten ihn zu Hause begleitet, wie das römische Volk den Cicero nach der ersten Catilinarischen Rede. Uebrigens war auch Fräulein Ulrike ihm um den Hals gefallen und da er ihr die Cour macht (sie ist sehr hübsch), so that alles dies zusammen die gute Wirkung. Montag um 11 war Concert bei Frau v. Henkel. Nicht wahr, wenn Goethe mir sagt, mein Kleiner, morgen ist Gesellschaft um 11, da musst auch Du uns was spielen, so kann ich nicht sagen ›Nein!‹« –8


Felixen's Mutter schickte diese Briefe ihres Sohnes an ihre geistreiche Schwägerin Henriette in Paris. Diese sprach ihr Entzücken ganz unumwunden aus:


»Wie kann ich Ihnen, liebste Lea, je genug für die Freude danken, die Sie mir durch jene herrlichen Briefe gemacht! Sie sind eine glückliche Mutter! ... Ihnen muss, was ich empfinde, wenn ich[19] an den herrlichen, feurigen, reichbegabten, gefühlvollen, sanften und natürlichen Knaben denke, wie Unsinn vorkommen, wenn ich Worte finden könnte, es auszudrücken. Das ist ein Künstler in der vollsinnigsten Bedeutung, selten hohe Fähigkeiten bei dem edelsten weichsten Gemüth. Wenn Gott diesen Knaben erhält, so werden nach langen, langen Jahren seine Briefe einst Epoche machen; bewahren Sie sie wie ein Heiligthum, sie sind ja schon jetzt durch den Ausdruck des kindlichsten, reinsten Gemüths heilig. – Wie muss es so schön gewesen sein, den Knaben so offen und zuthulich mit dem edlen Greise, dem Altvater Goethe, zu sehen. Was wir in unsrer Jugend so oft träumten, wie erfreulich es sein müsste, in Goethe's Nähe zu leben, das ist nun an Felix in Erfüllung gegangen, sowie auch die jugendlichen und unaufhörlichen Basstriller des Vaters zum ausserordentlichen Talent in dem Sohne gereift sind.« –9


Wie herrlich haben sich doch diese Prophezeiungen Henriettens erfüllt!

Am 6. Juli 1822 trat Abraham Mendelssohn, begleitet von seiner Gattin, seinen vier Kindern, deren Hauslehrer Heyse, einem Dr. Neuburg, einigen Dienstboten, und von Frankfurt aus noch von zwei liebenswürdigen geistvollen Mädchen, Fräulein Marianne und Julie Saaling, eine Vergnügungsreise nach der Schweiz an. Diese Reise, die einen sehr günstigen Schluss auf des Vaters Vermögensverhältnisse zulässt, musste aber auch bedeutend auf Felix' physische, wie geistige Entwicklung wirken. Da sie jedenfalls in mehreren Wagen gemacht wurde, so erklärt sich daraus ein artiges Abenteuer, das sich gleich beim Beginn der Reise zutrug. Die Gesellschaft wollte zuerst einen Abstecher nach dem Harz machen, so fuhr man denn von Berlin über Potsdam und Brandenburg nach Magdeburg. In Potsdam war bei der Abfahrt der Wagen Felix' vergessen worden, und erst in Grosskreuz, der ersten Station hinter Potsdam, bemerkte man seine Abwesenheit. Heyse fuhr sogleich zurück ihn zu holen. Aber der tapfere Felix hatte sich schon aufgemacht, anfangs laufend, um die Wagen noch einzuholen, und, da dies nicht gelang, in Begleitung eines Bauernmädchens wacker fortmarschirend, nachdem sich die Beiden starke Stöcke abgebrochen hatten. Er[20] hatte sich vorgenommen, bis Brandenburg nachzugehn. Aber eine Meile von Grosskreuz fand ihn Heyse.

Vom Harz ging die Reise über Göttingen nach Kassel, wo ein lebhafter Verkehr mit Louis Spohr stattfand, nach Frankfurt, wo Aloys Schmitt für die Gesellschaft eine Musikaufführung veranstaltete, über die sich jedoch Fanny in einem Briefe sehr abfällig aussprach:


»Du glaubst nicht, wie mir die lieben Leute die Ohren vollgerakelt haben ... dann begleiteten sie dem armen Felix sein Quartett. Mein einziges Vergnügen dabei war, Physiognomik zu studiren. Dann musste ich etwas spielen – und nun heiss' mich nicht reden, heiss' mich schweigen ... die Begleitung sehr schlecht, ich, zitternd an jeder Fiber, warf so complett um, dass ich vor Aerger mich und die Andern hätte prügeln mögen. Ich gehe darüber hinweg, sonst erhitze ich mich wieder.«10


Unter den anwesenden Schülern Aloys Schmitt's war auch Ferdinand Hiller, ein schöner Knabe von 10 Jahren, mit freiem und offenem Aeussern, später bekanntlich einer der vertrautesten Freunde Felix Mendelssohn's. Von Frankfurt zog nun die ganze lustige Karavane über Darmstadt und Stuttgart nach Schaffhausen bis zum Gotthard, wo umgekehrt wurde. Den Weg von Altorf bis zum Fusse des Gotthard und zurück heschreibt Fanny in einem ihrer Briefe wunderschön. Von dort ging die Reise über Interlaken, zur Wengernalp in's Haslithal, zuletzt an den Genfer See. Von da noch einen Abstecher in's Chamouny, Rückreise mit längerem Aufenthalte in Frankfurt und Weimar. In Frankfurt lernte man Schelble, den Lenker des Caecilienvereins, kennen, eine Bekanntschaft, die später für Felix so folgenreich wurde, und in Weimar verweilte man, um Goethe für seine freundliche Aufnahme Felixens bei seinem Besuche mit Zelter persönlich zu danken. Ueber diesen Besuch berichtet Hensel (Familie M., Bd. I, S. 129): »Nie ermüdete Goethe, Felix zuzuhören, wenn er am Clavier sass, und mit dem Vater unterhielt er sich fast nur über Felix.« Diesem selbst sagte er eines Tages, als er sich über irgend etwas geärgert hatte: »Ich[21] bin Saul und Du bist mein David. Wenn ich traurig und trübe bin, so komm Du zu mir und erheitere mich durch Dein Saitenspiel!« Eines Abends erbat er sich von Felix eine Fuge von Bach, welche die junge Frau von Goethe ihm bezeichnete. Felix wusste sie nicht auswendig, nur das Thema war ihm bekannt und dies führte er nun in einem langen fugirten Satz durch. Goethe war entzückt, ging zu der Mutter, drückte ihr mit vieler Wärme die Hände und rief aus: »Es ist ein himmlischer, kostbarer Knabe! Schicken Sie mir ihn recht bald wieder, dass ich mich an ihm erquicke.«

Wir mussten dieser Schweizerreise mit ihrem kostbaren Abschluss in Weimar, unserem Führer Hensel folgend, ausführlicher gedenken, weil sie, wie schon oben erwähnt, von bedeutendem Einfluss auf Mendelssohn's geistige, wie physische Entwicklung war. Tief prägten sich die Eindrücke der grossartigen Alpenwelt in des dreizehnjährigen Knaben Seele, so dass die Schweiz sein Lieblingsland wurde, dessen Natur er auch, nachdem er sieben Jahre später Italien gesehen, entschieden den Vorzug gab. Interessant ist, was Fanny über die Wirkungen dieser Reise auf die physische Entwicklung des Bruders schrieb: »Die Wirkungen der Reise äusserten sich bei Felix unverzüglich nach unserer Zurückkunft. Er war bedeutend grösser und stärker geworden, Züge und Ausdruck des Gesichts hatten sich mit unglaublicher Schnelligkeit entwickelt und die veränderte Haartracht (man hatte ihm seine schönen langen Locken abgeschnitten) trug nicht wenig dazu, sein Ansehen zu entfremden. Das schöne Kindergesicht war verschwunden, seine Gestalt hatte etwas Männliches gewonnen, welches ihn auch sehr gut kleidete. Er war anders, aber nicht weniger schön, als früher.«11

Aus dem J. 1822 ist noch zu erwähnen, dass Felix in demselben trotz der grossen Reise laut eines Verzeichnisses in einer kleinen Biographie Felixens von der Hand Fanny's nicht weniger als folgende 12 Compositionen vollendete: 1) der 66. Psalm für 3 Frauenstimmen, 2) Concert für Pianoforte, A moll, 3) 2 Lieder für Männerstimmen,[22] 4) 3 Lieder, 5) 3 Fugen für Clavier, 6) Quartett für Clavier, Geige, Bratsche und Bass, C moll, in Genf componirt, erstes gedrucktes Werk, 7) 2 Symphonien für 2 Geigen, Bratsche und Bass, 8) ein Act der Oper ›die beiden Neffen‹, 9) Jube Domine, (C dur, für den Caecilienverein in Frankfurt a.M.), 10) Violinconcert (für Ed. Rietz), 11) Magnificat mit Instrumenten, 12) Gloria mit Instrumenten. Gewiss eine ganz erstaunliche Fruchtbarkeit für den dreizehnjährigen Knaben. In demselben Jahre trat Felix zum erstenmal öffentlich in Berlin in einem Concert der Pauline Milder (berühmten Sängerin) auf. In eben diese Zeit fällt auch die Stiftung der schon oben erwähnten Sonntagsmusiken, die auch häufig von fremden Musikern besucht wurden. Unter diesen war u.A. im Jahre 1823 auch Friedrich Kalkbrenner (berühmter Clavierspieler und Componist in Paris), von dem Fanny schrieb: »Er hat viel von Felixens Sachen gehört, mit Geschmack gelobt, und mit Freimüthigkeit und Liebenswürdigkeit getadelt. Wir hören ihn oft und suchen von ihm zu lernen. Er vereinigt die verschiedensten Vorzüge in seinem Spiel, Präcision, Klarheit, Ausdruck, die grösste Fertigkeit, die unermüdlichste Kraft und Ausdauer. Er ist ein tüchtiger Musiker und besitzt einen erstaunlichen Ueberblick. Von seinem Talent abgesehen ist er ein feiner, liebenswürdiger und sehr gebildeter Mann, und man kann nicht angenehmer loben und tadeln.«12

Im August desselben Jahres machte Abraham Mendelssohn mit seinen beiden Söhnen Felix und Paul eine Reise nach Schlesien. In Breslau hörten sie den berühmten Organisten Fr. Wilh. Berner, von dessen Spiel Felix in einem Briefe eine sehr lebendige Schilderung giebt. In Reinerz spielte er selbst, in einem Concert für die Armen. Es sollte ein Concert von Mozart gegeben werden, da aber dies wegen mangelhafter Begleitung sich als unausführbar zeigte, phantasirte Felix unter allgemeinem Beifall über einige Themata von Mozart und Weber.

Wir müssen jetzt eines Ereignisses gedenken, welches den nachhaltigsten Einfluss auf die Gestaltung des ganzen[23] musikalischen wie intellectuellen und Gemüthslebens der Familie Mendelssohn, besonders aber der beiden ältesten Geschwister, Fanny und Felix, übte. Es war der im Jahre 1825 erfolgte Ankauf des schönen und grossen Hauses mit daranstossendem Garten, Leipziger Strasse Nr. 3, durch Papa Mendelssohn. Das Haus, bis dahin im Besitz der von der Recke'schen Familie, war zwar etwas verfallen und vernachlässigt, aber es enthielt schöne grosse und hohe Räume, sehr geeignet zu theatralischen und musikalischen Aufführungen. An dasselbe stiess ein sieben Morgen grosser parkartiger Garten mit den herrlichsten alten Bäumen, von denen heute noch einige stehen, nachdem das Haus, von der Regierung angekauft, Sitz des preussischen Herrenhauses geworden ist. Den grossen Hof des Hauses schloss die einstöckige Gartenwohnung mit einem grossen mehrere hundert Menschen fassenden Saal, der nach dem Garten zu verschiebbare Glaswände mit Säulen dazwischen hatte, und so in eine offene Säulenhalle zu verwandeln war (man sehe die sehr ausführliche und anziehende Schilderung des ganzen Grundstücks bei Hensel, die Familie Mendelssohn-Bartholdy I, S. 140–43). In diesen Räumen entfaltete sich nun allmählich das grossartigste musikalische Leben, abgeschieden von dem Lärm der Strasse und in unmittelbarem Contakt mit der Natur. Hier fanden die Sonntagsmusiken statt, bei denen sich einzufinden für die vornehmen und gebildeten Kreise Berlins allmählich zum guten Ton gehörte. Bedeutende Musiker, Maler, Bildhauer, Dichter, Schauspieler, Gelehrte suchten und fanden Eingang in diesem Hause und dessen Kreisen. Von den Musikern werden genannt: C.M. v. Weber, Spohr, Zelter, Paganini, Henselt, Gounod, Hiller, Ernst, Liszt, Clara Schumann; von den Malern: Cornelius, Ingres, Horace Vernet, Magnus (von ihm das beste Portrait Mendelssohn's, jetzt im Besitz der Frau Geheimrath Wach in Leipzig), Aug. Kopisch, Verboeckhoven, Kaulbach und M. v. Schwind; von Sängern und Sängerinnen: die Milder, Novello, Lablache, die Grisi, Pasta, Ungher, Sabatier, Schröder-Devrient; ferner Schauspieler: die Rachel und Seydelmann; Bildhauer: Thorwaldsen, Rauch, Kiss, sowie der Architect Schinkel; Dichter und Schriftsteller: La Motte Fouqué,[24] Cl. Brentano, Bettina von Arnim, Heinrich Heine, Ludwig Robert, H. Steffens, Paul Heyse; Männer der Wissenschaft: A. und W. v. Humboldt (die als Jünglinge die Vorträge Moses Mendelssohn's gehört hatten), Hegel, Gans, Bunsen, Jacob Grimm, Lepsius, Böckh; die Mathematiker: Jacoby, Dirichlet, Ranke und Ehrenberg. Diese und noch manche andere Celebritäten hatte Wilhelm Hensel, der vorzugsweise als Porträtmaler bedeutende Gatte Fanny Mendelssohn's, in ein durch den Inhalt, wie den Geist der Auffassung gleich interessantes Album gezeichnet, zuweilen, ohne dass sie es wussten, während musikalischer Aufführungen oder lebhaftester Unterhaltung.

Ein überaus frisches geistiges und poëtisches Leben entfaltete sich aber auch in dem Familienkreise selbst und den zu ihm gehörigen näheren Freunden. Unter diesen ist vor allen C. Klingemann zu nennen, einer der vertrautesten Freunde Felix Mendelssohn's, der Dichter vieler zartsinniger Lieder, von denen Mendelssohn viele in Musik setzte, so z.B. das herrliche Frühlingslied »Es brechen in schallendem Reigen,« das Sonntagslied »Ringsum erschallt in Wald und Flur,« das Schlummerlied »Schlummre und träume von kommender Zeit« und mehrere andre. Er war auch Verfasser des Liederspiels »die Heimkehr aus der Fremde,« welches Mendelssohn für die silberne Hochzeit seiner Eltern componirte. Später als Secretär bei der Hannöver'schen Gesandtschaft nach London versetzt, empfing er als treuer Pylades Mendelssohn bei seiner Ankunft daselbst im Jahre 1829, leistete ihm die wichtigsten Dienste, und pflegte ihn, als dieser am 17. September mit einem Gig umgeworfen worden war, und sich so bedeutend am Knie verletzt hatte, dass er über zwei Monate länger in England bleiben musste, mit der aufopferndsten Liebe. Seinem Briefwechsel mit Fanny nach zu schliessen, stand er auch mit dieser in einem zarten innigen Verhältniss. Unter den übrigen Freunden sind noch zu nennen: Louis Heidemann, der Jurist, und dessen Bruder, Wilhelm Horn, Sohn des berühmten Arztes und selbst Arzt, der Violinspieler Eduard Rietz, und der geniale Ad. Bernhard Marx, damals Redacteur der musikalischen Zeitung in Berlin, glühender Verehrer und später Biograph Beethoven's. Diesem Kreise schloss[25] sich auch Wilhelm Hensel nach seiner Rückkehr aus Italien an. Er habilitirte sich in ihm durch eine geistreiche Zeichnung des Rades (so nannte sich der Kreis der Eingeweihten). Als die Nabe des Rades stellt sie dar Felix, im schottischem Kostüm, Musik machend, der die Delphinen lauschen. Die Speicher Fanny und Rebecka (die jüngere Schwester), beide umschlungen mit dem Notenblatt in der Hand und unten in Fischottern endigend (so nannte Felix die Schwestern), dann noch eine grosse Anzahl Personen aus dem Freundschaftskreise paarweise mit allen möglichen Coteriebezeichnungen in Tracht und Attributen. Von aussen aber stand ein Fremder gefesselt an einer Kette, deren Ende Fanny hält, im Begriff, sich in das Rad hineinzuschwingen. Diese reizende Symbolik konnte ihren Zweck nicht verfehlen. Das Rad öffnete sich und nahm Hensel auf.13 Zu diesem Kreise gehörten übrigens auch noch einige schöne liebenswürdige Mädchen, mit denen Fanny und Rebecka eng befreundet waren, Nichten und Enkelinnen einer alten Dame, welche das Gartenhaus des Grundstückes mit bewohnten.

Aber die Seele dieses Kreises durfte man wohl Fanny nennen, welcher in der Jugendgeschichte Felixens neben diesem die erste Stelle gebührt, und der ich daher ein besonderes Blatt widmen möchte. Fanny, das erstgeborene Kind Abrahams, erblickte, wie schon oben bemerkt, das Licht der Welt in Hamburg, 15. November 1805. Sie war mithin fast 31/2 Jahr älter als ihr Bruder. Ebenso schön, als talent- und charactervoll, geistreich und liebenswürdig, konnte sie den nachhaltigsten Einfluss auf ihren Bruder üben. »Bis zu dem jetzigen Zeitpunkt,« schrieb sie noch 1822 von Felix, »besitze ich sein uneingeschränktes Vertrauen. Ich habe sein Talent sich Schritt vor Schritt entwickeln sehen, und selbst gewissermaassen zu seiner Ausbildung beigetragen. Er hat keinen musikalischen Rathgeber als mich, auch sendet er nie einen Gedanken auf's Papier, ohne mir ihn vorher zur Prüfung vorgelegt zu haben. So habe ich seine Opern z.B. auswendig gewusst, noch ehe eine Note aufgeschrieben war.« Zu dieser Rolle[26] als Rathgeberin, aus welcher sie freilich bald seine Bewundrerin wurde, befähigte sie ihre ausgezeichnete gründliche musikalische Bildung, ihr treffliches Clavierspiel, in welchem sie dem Bruder fast ebenbürtig war, ihr ausgezeichnetes musikalisches Gedächtniss und selbst einiges Compositionstalent. Ihr Vater, obgleich er den Beruf des Weibes vor allem in der Hausfrau fand, hatte, der Tochter grosse Talente erkennend, sie doch auch im Generalbass und in der Compositionslehre ausbilden lassen. Sie verwerthete diese Talente, indem sie einen Kreis um sich versammelte, dem sie in den Sonntagsmusiken theils selbst gediegene classische Musik vortrug, theils dieselbe unter Hinzuziehung ausgezeichneter musikalischer Kräfte von einem durch sie selbst eingeübten Chor ausführen liess. Sie verstieg sich dabei zu den grössten und bedeutendsten Werken. So schreibt sie selbst: »Ich habe im vorigen Monat (Juni 1834) eine wunderschöne Fête gegeben: Iphigenie in Tauris von der Decker, Bader und Mantius gegeben. Es war wirklich etwas so Vollkommenes, als man nicht leicht wieder hören wird.« Ebenso hatte sie das Jahr vorher Gluck's Orpheus und Euridice aufgeführt. Vor allem pflegte sie Bach, und legte so den Grund zur Möglichkeit jener ewig denkwürdigen ersten Wiederaufführung der grossen Matthäuspassion am 11. März 1829.

Als Fanny 17 Jahre alt war, lernte sie Wilhelm Hensel kennen. Er war ein edler, feinfühlender Mann, damals 28 Jahre alt, eine ächte Künstlernatur. Sohn eines armen Landpredigers in der Nähe Berlins, sollte er das Bergfach ergreifen, aber sein ganzes Naturell trieb ihn zur Kunst, anfänglich auch zur Poesie, später ausschliesslich zur Malerei. Der Vater starb frühzeitig, und so fiel dem Sohne die Erhaltung der Mutter und ihrer Töchter zu. Er erfüllte diese Pflicht mit der grössten Selbstaufopferung, indem er Tag und Nacht, oft nur beim Scheine eines dünnen Talglichtes Zeichnungen und Radirungen arbeitete für Taschenbücher und Kalender. Mit nicht geringerem Eifer aber diente er dem Vaterlande, als ihn der Krieg von 1813 zu den Waffen rief. Er machte beide Feldzüge ehrenvoll mit, wurde mehrere male verwundet, und zog beide male in Paris mit ein. Mit dem Abschluss[27] des Friedens nahm er seinen Abschied und verweilte noch einige Zeit in Paris, um die dortigen Kunstschätze zu studiren.

In Berlin wurde er zuerst als Künstler bekannter, als er lebende Bilder aus Lalla Rookh, die er bei der Anwesenheit des Grossfürst Thronfolger Nicolaus und dessen Gemahlin gestellt hatte, und welche der Grossfürstin, die selbst eine Rolle darin übernahm, ausserordentlich gefielen, auf Wunsch des Königs gemalt hatte. Diese Bilder stellte er einige Tage in seinem Atelier aus, und bei dieser Gelegenheit lernte er Fanny, seine nachherige Frau, kennen, die mit ihren Eltern gekommen war, die schönen Zeichnungen zu bewundern. Er warb um ihre Liebe und erhielt sie, aber es dauerte lange, bis er an's Ziel seiner Wünsche kam. Zunächst empfing er wegen jener Bilder ein Stipendium von der preussischen Regierung, und den Auftrag, die Verklärung Christi von Raphael in der Grösse des Originals zu copiren. (Diese Copie befindet sich jetzt in der Gallerie zu Sanssouci.) Hensel ging jetzt auf fünf lange Jahre nach Italien. Die Mutter Fanny's gestattete nicht einmal einen Briefwechsel, da ihrer Ansicht nach ein Mann nicht daran denken dürfe, sich zu verheirathen, ehe seine Verhältnisse einigermaassen gesichert seien. Sie selbst wolle ihm fleissig schreiben – freilich für ihn nur ein sehr ungenügender Ersatz. Nach Hensel's Rückkehr geschah endlich am 22. Januar 1829 die förmliche Verlobung, der erst am 3. October die Hochzeit folgte. Das junge Paar bezog als ständige Wohnung das Gartenhaus, und verlebte darin die glücklichsten Tage.

Als Frucht dieser Verbindung entspross im Sommer 1830 ein Knabe, ein schwächliches Kind, zwei Monate vor der Zeit geboren, dessen Erhaltung die grösste Mühe kostete. Er erhielt in der Taufe den Namen Sebastian.14 Es ist der jetzt noch in Berlin lebende Herausgeber des bisher oft citirten Buches »Die Familie Mendelssohn«, jenes kostbaren Werkes, für welches alle Freunde Felix[28] Mendelssohn's ihm nicht genug danken können. Er hat dadurch nicht blos zu einer wirklichen Biographie des Meisters das unschätzbarste Material geliefert, sondern gewährt auch durch den tiefen Einblick in das Leben der übrigen Familienglieder, indem er uns fortwährend in die beste Gesellschaft einführt, den reichsten, reinsten Genuss.

Ehe wir jetzt wieder zur Jugendgeschichte Felix Mendelssohn's zurückkehren, müssen wir noch einiger Einzelnheiten gedenken, die mit zu der Geschichte des Lebens in dem Hause Leipziger Strasse Nr. 3 gehören.

»Die Sommermonate des Jahres 1825 wurden zu einem ununterbrochenen Festtag voll Poesie, Musik, sinnreicher Spiele, geistvoller Neckereien, Verkleidungen und Aufführungen. In einem Gartenpavillon lag beständig ein Bogen Papier mit Schreibmaterial, auf den jeder hinwarf, was ihm eben von tollen oder hübschen Einfällen durch den Kopf floss; diese ›Gartenzeitung‹ wurde im Winter unter dem Titel ›Thee- und Schneezeitung‹ fortgesetzt und enthielt viel Reizendes in Scherz und Ernst. Selbst die älteren Personen, der Vater Abraham, Zelter, Humboldt verschmähten nicht Beiträge zu liefern, oder wenigstens mitgeniessend sich dem geschmackvollen, eigentümlichen Leben anzuschliessen.« (Hensel, die Familie Mendelssohn-Bartholdy, Bd. I, S. 153.)

Die Schriftsteller, welche den grössten Einfluss auf Gemüth und Phantasie der Glieder des inneren Kreises ausübten, waren vor andern: Jean Paul und Shakespeare. Man könnte sich darüber wundern, wie zwei in vieler Beziehung so starke Gegensätze harmonisch auf Geist und Gemüth dieser jungen Leute einwirken konnten. Aber an Jean Paul war es wohl der Humor und die Tiefe des Gefühls, welche die noch in der Periode einer gewissen, wenn auch nicht ungesunden Gefühlsschwärmerei Stehenden anzog. Felix behielt diese Vorliebe für Jean Paul sogar noch in seinen Mannesjahren, wie wir in seinen Briefen einen vom 4. Februar 1843 finden, in welchem er einer Leipziger Freundin den »Siebenkäs« schickt und empfiehlt mit den Worten: »Ich glaube, es sind von den frohesten Lebensstunden, wo man ein solches herrliches Werk kennen und lieben lernt.« Dass aber der grösste[29] Dichter aller Zeiten, Shakespeare, den die jungen Leute zuerst aus der noch bis heute unübertroffenen Schlegel-Tieck'schen Uebersetzung kennen lernten, auf ihren für alles Grosse und Schöne empfänglichen Geist, und vor allem auf Felixens leicht erregbare Phantasie den gewaltigsten Eindruck machen musste, braucht kaum gesagt zu werden. Es waren aber nicht allein die Tragödien, sondern vielleicht ebenso die Lustspiele und Zauberpossen des grossen Britten, die ihren Sinn gefangen nahmen, und unter diesen wieder vorzugsweise »der Sommernachtstraum«. Rechnet man hinzu, dass die Mendelssohn'schen Kinder, wenn etwa der Mond durch die alten Bäume des grossen schönen Gartens schien, diesen Traum allnächtlich träumen konnten, so ist die Entstehung der herrlichen Ouvertüre vollständig erklärt.

Im weiteren Verlauf der Jugendgeschichte Felixens ist nun zunächst eine Reise zu nennen, die sein Vater im März 1825 mit ihm nach Paris unternahm, um die Tante Henriette nach Deutschland zurückzubringen. Zugleich benutzte er die Gelegenheit, um seinen Sohn einer der damals grössten musikalischen Autoritäten, Cherubini, dem Director des Pariser Conservatoriums, vorzustellen, und ihn prüfen zu lassen, ob Felix wirklich entschiedenen Beruf zur Musik habe, und ob es der Mühe werth sei, dies Talent noch weiter auszubilden (?!). Felix spielte vor ihm mit Baillot sein H moll-Quartett, und legte ihm ein Kyrie für fünfstimmigen Chor und Orchester vor. Die Antwort Cherubini's konnte nicht anders, als entschieden bejahend ausfallen. Es war damals in Paris ein grosser Zusammenfluss bedeutender Musiker: Hummel, Moscheles, Kalkbrenner, Pixis, Rode, Baillot, Kreuzer, Rossini, Paër, Meyerbeer, Plantade, Lafont u.A., aber das Kleinliche, Hämische und Neidische mancher dieser Männer, ihr Haschen nach Effect, ihre Oberflächlichkeit, ihre Unbekanntschaft mit den grossen deutschen Meistern stiess Felix ab. Er sprach sich in mehreren sehr interessanten Briefen (die man bei Hensel, Bd. I, S. 145 u. ff. nachlesen möge), über diese Pariser Musikzustände mit ziemlicher Heftigkeit und Schärfe aus, nicht ohne dadurch bei Mutter und Schwester lebhaften Widerspruch zu erregen. Sowohl auf der Hin- als[30] auf der Rückreise wurde wieder Goethe besucht. Dieser schrieb darüber unterm 21. Mai 1825 an Zelter:


»Felix producirte sein neuestes Quartett zum Erstaunen von Jedermann. Diese persönliche hör- und vernehmbare Dedication hat mir sehr wohlgethan.«


Im Juni sandte er dem jungen Mendelssohn selbst nach Zelter's Ausdruck »ein schönes Liebesschreiben«. Es lautete:


»Du hast mir, mein theurer Felix, durch die gehaltvolle Sendung« (ein Prachtexemplar des H moll-Quartetts mit einer Widmung an Goethe) »sehr viel Vergnügen gemacht; obschon angekündigt, überraschte sie mich doch. Notenstich, Titelblatt, sodann der allerherrlichste Einband wetteifern mit einander, die Gabe stattlich zu vollenden. Ich habe sie daher für einen wohlgebildeten Körper zu achten, mit dessen schöner, kräftiger, reicher Seele Du mich zu höchster Bewunderung schon bekannt machtest. Nimm daher den allerbesten Dank und lass mich hoffen, Du werdest mir bald wieder Gelegenheit geben, Deine staunenswürdigen Thätigkeiten in Gegenwart zu bewundern. Empfiehl mich den vortrefflichen Eltern, der gleichbegabten Schwester und dem vortrefflichen Meister. Möge mein Andenken in solchem Kreise immerfort lebendig dauern. Weimar, 18. Juni 1825. Treulich

J.W. Goethe.«


In dasselbe Jahr fällt nun auch die Composition eines der reifsten und gediegensten Jugendwerke Mendelssohn's, das noch heute für alle Musikfreunde seinen vollen Werth behauptet, das für Eduard Rietz als Geburtstagsgeschenk bestimmte Octett (Opus 20). Es ist für zwei erste, zwei zweite Violinen, zwei Bratschen und zwei Celli's componirt, ein wunderbares, nicht blos durch contrapunctische Führung der Stimmen, durch Harmonie, sondern auch durch Lieblichkeit und Grazie ausgezeichnetes, vom Geiste der Heiterkeit und dem Zauber jugendlicher Lust durchströmtes Werk. In seinen vier Sätzen, auch im Andante nicht, ist, wie A. Reissmann treffend bemerkt, kein Zug einer wehmüthigen träumerischen Sentimentalität, wie er wohl in anderen Werken Mendelssohn's vorkommt, vielmehr ist namentlich im Scherzo schon etwas von jenem luftigen Element des Geisterreichs zu erkennen, das dieses Octett[31] als Vorläufer der Sommernachtstraums-Ouvertüre kennzeichnet. Mendelssohn versuchte darin die Stelle aus Faust zu componiren:


Wolkenflug und Nebelflor

Erhellen sich von oben,

Luft im Laub und Wind im Rohr

Und Alles ist zerstoben.


»Und es ist wahrlich gelungen,« bemerkt Fanny in ihrer Besprechung des Octetts in Felixens Biographie. »Mir allein sagte er, was ihm vorgeschwebt. Das ganze Stück wird staccato und pianissimo vorgetragen, die einzelnen Tremolandoschauer, die leicht auf blitzenden Pralltriller, alles ist neu, fremd und doch so ansprechend, so befreundet, man fühlt sich so nahe der Geisterwelt, so leicht in die Lüfte gehoben, ja, man möchte selbst einen Besenstiel zur Hand nehmen, der luftigen Schaar besser zu folgen. Am Schlusse flattert die erste Geige federleicht auf – und Alles ist zerstoben.«15

Ehe wir nun zu der Betrachtung der Sommernachtstraums-Ouvertüre übergehen, der Composition, in welcher die Eigenart Mendelssohn's zuerst voll und ganz durchgebrochen ist, müssen wir noch einer Jugendarbeit gedenken, deren Ursprung bereits in's Jahr 1824 fällt, es ist seine vierte Oper, aber die erste und einzige (ausgenommen das Bruchstück aus »Lorelei«), die öffentlich aufgeführt worden ist, die Hochzeit des Camacho. Mendelssohn's Freund, Eduard Devrient, der seit dem Jahre 1822 mit ihm in inniger Verbindung stand, hatte ihm schon länger angelegen, eine Oper zu componiren, und ihm dazu als Text die von ihm behandelte Episode aus Tasso's befreitem Jerusalem, Olind und Sophronia, angeboten. Aber Felix fand diesen Stoff zu ernst und bedeutend, um sich an ihn zu wagen. Er selbst hatte schon früher sich als Stoff für eine komische Oper jene Erzählung aus Cervantes' Don Quixote Band II, Kap. 19–20 erwählt, die ihm denn auch sein Freund Klingemann zu einem Operntext verarbeitete. Liest man die Erzählung[32] im Original, so findet man allerdings, dass sie sehr hübsche Elemente zu gefühlvollen Solis, lebendigen Chören und besonders auch anmuthigen und glänzenden Balletten enthält. Der Inhalt ist kurz folgender:


Die schöne Quiteria, die Tochter eines reichen Bauern Carrasco, wird von Jugend auf von einem jungen, mit allen Gaben des Körpers und Geistes geschmückten Schäfer Basilio geliebt. Da er aber arm ist, verbietet Carrasco ihm das Haus und verspricht seine Tochter dem reichen Camacho. Eben soll die Hochzeit mit aller erdenklichen Ueppigkeit und mit schönen allegorischen Aufzügen gefeiert werden, als der fahrende Ritter Don Quixote mit seinem Knappen sich dem Dorfe nähert, und von zwei Studenten den Verlauf der Dinge erfährt. Er ist sogleich entschlossen, den unglücklichen Liebenden zu ihrem Rechte zu verhelfen. Basilio, gekleidet in einen langen schwarzen Rock mit feuerfarbenen seidenen Streifen, einen Cypressenkranz auf dem Haupte und einen langen Stock in der Hand, in dessen einer Hälfte ein Degen verborgen ist, erscheint, als eben die Hochzeitsfeierlichkeiten in vollem Gange sind und stösst sich nach einer beweglichen Anrede an Quiteria den Degen in die Seite, so dass die Hälfte der Klinge blutig zum Rücken hinausdringt. Don Quixote springt hinzu, nimmt Basilio in seine Arme, und findet noch Leben in ihm. Basilio bittet mit schwacher, halb verlöschender Stimme, Quiteria möge ihm, dem Sterbenden, die Hand als Gattin reichen, eher könne er nicht beichten. Don Quixote findet dieses Verlangen ganz gerecht, Quiteria könne ja auch als Wittwe sich noch mit Camacho vermählen. Quiteria willigt ein, der anwesende Priester spricht über sie und Basilio den Segen, aber kaum ist das geschehen, so springt Basilio munter und gesund auf; er hat den Degen nur in eine unter seinem Rocke verborgene mit Blut gefüllte Röhre gestossen. Der Bund, durch Priesters Hand gesegnet, kann nicht wieder getrennt werden. Anfangs heftiger Widerspruch, bewaffnetes Eindrängen auf Basilio. Aber der edle Ritter von der Mancha schlichtet den Streit mit Wort und That. Auch Camacho giebt sich zufrieden, da er sieht, dass ihn Quiteria nicht liebt, und ist edelmüthig genug, die Hochzeitsfeierlichkeiten ihren Gang weiter gehen lassen zu wollen, was indessen die Liebenden nicht annehmen.


Man sieht, der Stoff ist hinreichend anmuthig und pikant, um ein junges reiches Talent zur Composition einer komischen Oper zu ermuntern. Felix arbeitete daran vom Juli 1824 bis August 1825. Im folgenden Jahre wurde[33] die Oper auf besonderen Wunsch der Mutter M.'s bei der Intendanz des königlichen Theaters eingereicht. Graf Brühl, der Generalintendant, nahm sie wohlwollend auf, aber Spontini, dem als Generalmusikdirector die entscheidende Stimme zustand, behandelte die Arbeit mit geringschätziger Kälte. Er sagte zu Mendelssohn, auf den Kuppel-Thurm der gegenüberliegenden französischen Kirche zeigend: »Mon ami, il vous faut des idées grandes, grandes comme cette coupole.«16) Endlich, Anfang 1827, kamen durch Vermittlung des Grafen Brühl die Vorbereitungen zur Aufführung in Gang. Noch in den letzten Wochen stellten sich mannigfache Schwierigkeiten entgegen. Der Sänger, der den Don Quixote singen sollte, erkrankte an der Gelbsucht, der Chordirector protestirte gegen den anberaumten Tag, da die Chöre noch nicht sicher genug seien. Dennoch ging die Oper am 29. April des genannten Jahres in Scene, aber nicht im Opern-, sondern in dem bescheidenen Raum des Schauspielhauses, den Mendelssohn der Natur des Werkes angemessener hielt. Das Haus war überfüllt, der Beifall zahlreicher Freunde lebhaft. Aber sei es, dass der Dichter des Textes ihm kein eigentliches dramatisches Leben einzuhauchen vermocht hatte, sei es, dass die Musik bei aller gediegenen Arbeit an Melodienreichthum und lebendigem Ausdruck des Komischen den früheren Opern, z.B. »dem Onkel von Boston« nachstand; der Erfolg war kein durchschlagender. Mendelssohn, obgleich gerufen, erschien nicht und musste entschuldigt werden. Er war sehr niedergeschlagen und kam spät und betrübt nach Hause. Einer Wiederholung des Stückes traten wieder mehrfache Krankheits- und andere Hindernisse entgegen, und sie unterblieb zuletzt ganz. Mendelssohn selbst wollte wenig mehr davon wissen und sagte verdrossen, das sei nicht seine, sondern der Intendanz Sache. Hierzu kam noch, dass er durch eine hämische Beurtheilung des Werkes in »Saphir's Schnellpost«, von einem Studenten verfasst, der im Hause Mendelssohn freundlich aufgenommen worden war, verletzt wurde. Er fühlte damals[34] schon, was er später oft zu Devrient sagte: »Nicht das glänzendste Lob in der ersten Zeitung freut Einen so sehr, als Einen der verächtlichste Tadel in einem Schmierblatte verdriesst.«

Aber diese Erfahrung von einem blossen succès d'estime einer Knabenarbeit, der Mendelssohn eigentlich in den zwei Jahren schon entwachsen war, konnte seinen Lebensmuth und seine Schaffensfreudigkeit nur sehr vorübergehend trüben. Hatte er doch schon seine Ouvertüre zum Sommernachtstraum componirt, das Werk, in welchem, nachdem er den Schulstaub abgeschüttelt, zuerst der ganze Mendelssohn mit seiner Originalität, Erfindungskraft, seinem feinen Gefühl, seiner lebendigen Characteristik, seinem anmuthigen Humor so bedeutend hervortrat, dass ihm schon dieses einzige Werk einen Ehrenplatz unter den grössten Musikern aller Zeiten gesichert hätte. Es ist schon erwähnt, dass die erste Conception dazu ihm im Sommer 1826 kam. Mendelssohn erzählte Ferdinand Hiller, als er ihm die Ouvertüre im Sept. 1827 in Frankfurt vorgespielt hatte, mit welchem Glück er sich lange Zeit mit diesem Werke beschäftigt – wie er sich in den freien Stunden zwischen den Vorlesungen, die er auf der Berliner Universität gehört, auf dem Flügel einer schönen Dame, deren Wohnung in der Nähe, daran weiter phantasirte. Ich habe fast ein ganzes Jahr nichts Anderes gemacht, sagte er. »Er hatte wahrlich,« fügt Hiller hinzu, »seine Zeit nicht verloren.«17

Wie gleichfalls schon erwähnt, spielte Mendelssohn mit seiner Schwester Fanny zuerst am 19. November 1826 das Werk im vierhändigen Arrangement für Clavier Moscheles vor. Bald darauf wurde es auch mit vollem Orchester im Gartensaale gegeben. Im Februar 1827 producirte er, einer Einladung nach Stettin folgend, unter mehreren seiner Compositionen auch diese Ouvertüre zum erstenmale ausserhalb Berlin's öffentlich und fand damit natürlich ungetheilten Beifall.

Ein Werk, welches wie dieses, seit seinem Entstehen bis heute fast den ganzen gebildeten Erdkreis durchlaufen, und überall auf die Hörer unmittelbar, als ein ganz Ungewöhnliches[35] zündend und fesselnd gewirkt hat, bedarf weder noch verträgt es eine Zergliederung in seine einzelnen Schönheiten. Es ist die glänzendste Illustration einer Dichtung, die vielleicht ohne dieselbe Vielen, ja den Meisten unverstanden geblieben wäre. Es wird freilich auch heute noch Idioten geben, die wie jener gesternte aber nicht gestirnte Hofmann nach der ersten Aufführung des Sommernachtstraums mit der Musik Mendelssohn's im neuen Palais in Potsdam an der königlichen Tafel zu diesem sagen würde: »Wie schade, dass Sie Ihre wunderschöne Musik an ein so dummes Stück verschwendet haben,«18) aber das sind doch jedenfalls nur seltene Ausnahmen. Den Meisten ist mit der Schönheit der Musik auch die Schönheit der Dichtung erst recht aufgegangen.


»Mondbeglänzte Zaubernacht,

Die den Sinn gefangen hält,

Wundervolle Märchenwelt,

Steig' auf in der alten Pracht!«


diese berühmten Vierzeilen Ludwig Tieck's zu seinem Kaiser Octavianus könnte man füglich auch als Motto über das Stück, wie die Musik zum Sommernachtstraum schreiben. Nur einige Winke zum bessern Verständniss beider für Laien mögen hier noch einen Platz finden. Die Dichtung Shakespeare's, nicht aus seiner Jugendzeit, wie man entschuldigend hat geglaubt annehmen zu sollen, sondern aus seiner reifsten Periode, geschrieben um 1598, war höchst wahrscheinlich eine Huldigung, die er seinem Freunde, Graf Southampton, zu seiner Vermählung mit seiner geliebten Mistress Varnon darbrachte. Der Kern oder die erste Skizze des Dramas war, wie Ludwig Tieck in den Anmerkungen zu diesem Stück sagt, vielleicht ein Glückwunsch für die Neuvermählten in der Form einer sogenannten Maske, in der Oberon, Titania und ihre Feen dem Brautpaar Glück und Heil wünschten und weissagten. Der komische Gegensatz, die Scenen der Handwerker, bildete von selbst, was man die Antimaske nannte. So[36] fügten sich dann später um dieses Gelegenheitsgedicht die übrigen Scenen des Schauspiels. Southampton vermählte sich mit seiner schönen Braut gegen den Willen der Königin Elisabeth. Diese ist die holde Vestalin, die königliche Priesterin, von deren Herzen Cupidos Liebespfeil abprallend, auf das zarte Blümchen, sonst milchweiss, jetzt purpurn von Amors Wunde, von Mädchen »Lieb im Müssiggang« genannt, fiel. Es ist »die Wunderblume, deren Saft, geträufelt auf entschlafene Wimpern macht Mann und Weib in jede Creatur, die sie zunächst erblicken, toll vergafft.« Puck muss sie auf Befehl Oberon's holen, der damit zuerst seine Gattin Titania verzaubert, so dass sie Zettel mit dem Eselskopfe lieben muss. Puck erhält ausserdem noch Auftrag, damit die Augen eines Atheners zu salben, um ihn zu seiner ersten Geliebten zurückzuführen, versieht sich aber, absichtlich oder unabsichtlich, in der Person, und richtet dadurch heillose Verwirrung zwischen zwei Liebespaaren an, die erst durch Entzauberung und neue Verzauberung wieder gut gemacht werden kann. Dieser Gang der Handlung entspricht dem eigentlichen Titel des Stückes, Midsummernightsdream, ein Traum mitten im Sommer, d.i. in der Johannisnacht. »Diese wurde in England, wie fast allenthalben in Europa, zu manchem unschuldigen Aberglauben und Spiel gebraucht, den künftigen Mann oder die Geliebte zu erfahren, zu weissagen u. dgl. Viele Kräuter und Blumen sollten in dieser Nacht ihre vollkommene Kraft, oder irgend etwas Zauberisches erhalten. Die Hitze der Jahreszeit, nahm man an, wirke ausserdem so auf die Phantasie, dass in diesen Wochen die seltsamsten Träume, ungewöhnliche Zustände, Tollheit und Launen der wunderlichsten Art den Menschen heimsuchen. Daher der Titel dieses romantischen Meisterwerks, in welchem die blühendste Einbildungskraft, gutmüthige, liebevolle Schalkheit, seltsamer Humor, Launen der Liebe und alles Thörichte und Erfreuliche in wundersamen Gestalten den verstehenden Leser necken und beglücken.« (Ludwig Tieck am a.O.) Den realen, dabei aber doch hochromantischen, heroischen und vornehmen Vordergrund der Handlung bildet die Feier der Hochzeit des Theseus, fingirten Herzogs von Athen, mit Hippolyta,[37] Königin der Amazonen. Dazu steht im ergötzlichsten Gegensatz der hausbackne Witz rechtschaffner Handwerker von Athen, die zu dieser Feier ein Festspiel »Pyramus und Thisbe« erst vorbereiten und dann auch wirklich aufführen. Daraus ergeben sich wie für die Handlung, so auch für die Musik zum Sommernachtstraum viererlei Motive als Gegensätze, die schon in der Ouvertüre auf das graziöseste und glücklichste verschmolzen sind: das Feenreich in dem lieblichen Leben und Weben, Wirken und Schaffen der Elfen, das vornehme Heroisch-Romantische in dem ganzen Auftreten des Theseus und seiner zukünftigen Gemahlin, der Schmerz verlorener und das Glück wiedergewonnener Liebe, und die derbe drastische Komik von biederen Handwerkern, die Künstler sein wollen, die ergötzlichste Travestie der wirklichen scenischen Kunst. Gleich der Eingang, die ersten fünf Tacte, ist die schönste, originellste Ouvertüre der Ouvertüre, die sich denken lässt. Erste und zweite Flöte beginnen im ersten Tact mit getragenem Ton in E dur, daraus wird mit dem Hinzutreten der beiden Clarinetten im zweiten Tacte H dur, im dritten der beiden Fagotte A moll, im vierten, der bis in den fünften gehalten wird, durch das Hinzutreten des ersten und zweiten Hornes in E der volle starke E dur-Accord. Das erklingt von dem ersten leisen Flüstern bis zum starken Windeshauch gleich wie ein geheimnissvoller Ruf aus einem unbekannten Feenreich, einer Werkstätte überirdischer Kräfte. Hierauf treten sogleich im 6. Tacte ganz leise in E moll die beiden Violinen ein, die dann 16 Tacte lang immer pianissimo in lauter auf- und abschwebenden Sechzehntheilen den zartesten Elfenreigen aufführen, dem ein wunderbar schön klingender Septimenaccord mit liegender Stimme in H in der ersten Clarinette und dem zweiten Waldhorn einen vorübergehenden Halt gebietet, und der sich dann wie stärker und näher klingend in dem kräftigern H dur fortsetzt. Dann nach einem ähnlichen aber kürzeren Halt mit nachfolgendem pianissimo wie oben, tritt das heroisch-romantische Motiv in dem klaren E dur ein, mit welchem dann wieder in längerer Reihe und mannigfachen Modulationen gegen den Schluss hin eine reizende Melodie in Octavengängen, der musikalische[38] Ausdruck für Liebesklage, Sehnsucht und Liebesglück wechselt. Dies wird nach einer Ueberleitung in H dur unterbrochen durch ein plötzliches Fortissimo im drolligsten Gegensatz mit weiten Tonintervallen, die an die Sprünge im Rüpeltanz erinnern, den plumpen Handwerkerscherz darstellend, worauf wieder das heroische Element, kennbar am Rufe der Jagdhörner des Herzogs, welche die im Walde schlummernden Liebespaare wecken sollen, hervortritt; dann wieder ein kurzes pp. Zwischenspiel der tanzenden Elfen, und weiterhin schmerzliche Liebesklage der von ihrem Geliebten in Folge der falschen Anwendung des Zauberkrautes verlassenen Hermia, worauf wieder beschwichtigend die Elfen mit ihrem fünftactigen langgehaltenen Zauberhauch und ihrem anmuthigen Tanzrhythmus eintreten. Es würde zu weit führen, und am Ende doch kein klares Bild von der Musik geben, wenn ich diese Analyse noch weiter verfolgen wollte. So sei nur noch bemerkt, dass zum Schluss ein herrliches durch die verwandten Tonarten pianissimo und diminuendo führendes tranquillo in Octavengängen noch einmal im langsamen Tempo das frühere Liebeslied als Segen über das hochzeitliche Haus mild versöhnend ausklingen lässt. Darauf gehen die Elfen in denselben Accorden, mit denen sie gekommen, aber vom Tutti der Instrumente und leisem Paukenwirbel begleitet.

Möge diese Darstellung einen, wenn auch nur schwachen Begriff geben von der Phantasiefülle und Anmuth, Energie und Zartheit, mit welcher der damals erst 17jährige Componist dem grossen Shakespeare nachgedichtet hat. Wie gerade 17 Jahre später aus dieser Ouvertüre die ganze Musik zum Sommernachtstraum in den reizendsten Zwischenspielen, Melodramen und Gesängen hervorwuchs, wird an der rechten Stelle dieser Biographie gezeigt werden.

Kehren wir jetzt von der Besprechung dieser ersten Grossthat des 17jährigen Jünglings zur Darstellung seines weiteren Lebensganges zurück. Nach der schon oben erwähnten Aufführung der Ouvertüre mit andern seiner Compositionen in Stettin begegnete Felix der Unfall, auf der Rückreise mit dem Postwagen umgeworfen zu werden. Er litt jedoch keinen Schaden davon, sondern ritt[39] auf einem der Postgäule bei strenger Kälte eine Meile zurück, und brachte Hilfe. Es wird hier der Ort sein, einiges von Mendelssohn's Uebung in körperlichen Fertigkeiten und ebenso von seiner Ausbildung auf anderen Gebieten des Geistes zu reden. Schon seit 1825 warf er sich mit Lust und Eifer auf körperliche Uebungen. Sein Vater hatte in dem grossen und schönen Garten des Hauses einen kleinen Turnplatz eingerichtet, auf welchem Felix bald in den bekannten Uebungsstücken Meister wurde. Ebenso lernte er mit grosser Lust reiten, und berichtete seinem Freunde Devrient mit Eifer von den Pferden und Spässen des alten königlichen Stallmeisters. Im nächsten Sommer 1826 wurden Schwimmübungen mit wahrem Jubel betrieben. Für eine kleine Schwimmgesellschaft, zu der auch Klingemann gehörte, dichtete dieser Schwimmlieder. Felix componirte sie, und man versuchte sie schwimmend im Wasser zu singen.19 Ebenso wurde Felix ein ausgezeichnet flotter Tänzer. Nicht minder bildete er seine künstlerischen Anlagen und geistigen Fähigkeiten aus. Mit vielem Eifer übte er sich im Zeichnen, worin später auf einer höheren Stufe der »drollige kleine« Professor Roesel sein Lehrer wurde. Er brachte es darin zu einer bedeutenden Fertigkeit, namentlich in Landschaftsskizzen nach der Natur, wovon sich mehrere hübsche Proben in seinen Reisebriefen und in den Briefen an Ed. Devrient finden. Er besass als Knabe eine hübsche Altstimme, die er zugleich mit Fanny in Zelter's Academie übte, als Jüngling eine angenehme, wenn auch etwas schwache Tenorstimme, die ihm später oft beim Einstudiren und Dirigiren grösserer Musikwerke zu statten kam. Im Violinspiel war sein Lehrer sein Freund, der leider früh verstorbene Eduard Rietz. Mendelssohn spielte mit Vorliebe, gewöhnlich in seinen Quartetten, die Viola. Nach Ostern 1827 wurde Mendelssohn an der Berliner Universität immatriculirt, als sein früherer Lehrer Heyse an ihr Professor geworden war. Als Maturitätszeugniss reichte er seine unter diesem gearbeitete Uebersetzung der Andria des Terenz ein.20[40] Er hörte in den beiden Jahren 1827 und 28 verschiedene Professoren. Für Ritter's geographische Vorträge zeigte er das meiste Interesse. Ausserdem hörte er noch Gans, Lichtenstein und Hegel, von welchem letztern Zelter an Goethe schrieb: »Hegel hält eben mit seinem Collegium bei der Musik, was ihm Felix recht gut nachschreibt, und wie ein loser Vogel höchst naiv mit allen persönlichen Eigenheiten zu reproduciren versteht.« Es lässt sich denken, wie sehr Hegel's abstractes Wesen, sein Hineinzwängen des wirklich Vorhandenen und Gegebenen in sein System, seine trocken absprechende Weise den jungen angehenden Meister in seiner Kunst belustigte. Von nun an kamen einige Universitätsfreunde in's Haus: Droysen, der später durch seine Geschichtswerke so berühmt gewordene, erst vor kurzem verstorbene Professor, jetzt erst Lehramtscandidat und Liederdichter, den Felix und Fanny gern hörten, die beiden Brüder Heydemann, Dorn (später Kapellmeister und Componist), Kugler, halb Student, halb Maler, Schubring, Student, und Bauer, Candidat der Theologie, seit 1823 Vorturner. Beide sangen bei den musikalischen Uebungen im Hause Mendelssohn wacker mit, und blieben Mendelssohn's Freunde bis an's Ende. Er unterhielt mit ihnen einen lebhaften Briefwechsel, und bekannt ist, welchen grossen Antheil diese beiden Theologen, namentlich der erstere an der Zusammenstellung des Textes zu »Paulus und Elias« für Mendelssohn hatten. Ausserdem gehörte zu seinem näheren Umgang namentlich Eduard Rietz, Klingemann, der das Haus nicht lange nachher als Secretär der hannöver'schen Gesandtschaft in London verliess, und Marx, Verfasser der Schrift über Malerei in der Tonkunst, bedeutend auch für die Gestaltung der Ouvertüre zum Sommernachtstraum, deren erster Entwurf von ihm umgestossen wurde. Marx übte einen grossen Einfluss auf Mendelssohn, nicht ganz zur Freude des Vaters, der davon[41] eine schädliche Einwirkung auf Felix fürchtete. Marx begleitete Felix noch auf seinem ersten Ausflug nach München. Später kamen die beiden Freunde auseinander, weil Mendelssohn das Oratorium Moses von Marx auf einem der Rheinischen Musikfeste nicht aufführen wollte.

Zu Pfingsten des Jahres 1827 durfte sich Felix von der gehabten Niederlage bei Aufführung seiner Oper und sonstigen geistigen Anstrengungen durch einige Tage vergnügten Aufenthaltes auf dem Magnus'schen Gut Sakrow bei Potsdam erholen. Er dichtete und componirte daselbst ein Lied, das er später dem A moll-Quartett zu Grunde legte. Im Sommer desselben Jahres unternahm er mit einigen Freunden eine schöne Ferienreise nach dem Harz, Franken, Bayern und dem Rhein. Die höchst ergötzliche Schilderung einer Irrfahrt nach dem Brocken durch die Schuld eines alten betrunkenen Führers und nicht minder eines überaus primitiven Nachtquartiers in dem Dorfe Büdenbach auf dem Wege nach Erbich, einem »Nest« in Franken, mögen geneigte Leser in den Briefen Felix's vom 31. August 1872 (abgedruckt in Hensel, Familie M. Band I, Seite 157–61) selbst nachlesen. In Baden-Baden spielte und phantasirte M. in Privatconcerten in Gesellschaft von Robert's, Haizinger's und der Neumann einige mal. Der Entrepreneur der Spielbank war wüthend auf ihn. »Er habe durch sein Spielen eine Menge Leute von der Roulette weggelockt; das sei gegen sein Contract, und er brachte es dahin, dass das Clavier weggenommen wurde. Sogleich verschworen sich Robert's und Haizinger, und gaben in einem anderen Saal, wo ein anderes Instrument stand, eine sehr hübsche Gesellschaft. Erst las Robert mit der Haizinger ein neues Lustspiel und sie las wirklich vortrefflich und erhielt vielen Beifall; später wurde Musik gemacht; Haizinger jodelte Oesterreichisch, Fräulein von W. piepte Italiênisch, die Neumann sang mit ihrem Manne 50 Verse von Fidelin (Mutter, wie wird Dir?), dazwischen trommelte ich Etudes von Moscheles, die in Baden grosses Glück machen, phantasirte auch, und die Leute waren vergnügt und zufrieden.« In Heidelberg suchte M. den grossen Juristen und Musikkenner Thibaut auf. Er schreibt darüber unterm 20. September 1827 aus dieser Stadt an seine Mutter: »O Heidelberg,[42] du schöne Stadt, all wo's den ganzen Tag geregnet hat, sagen die Knoten. Ich aber, ich bin ein Bursche, ich bin ein Kneipgenie, was kümmert mich der Regen? Es giebt ja noch Weintrauben, Instrumentenmacher, Journale, Kneipen, Thibaut's, – nein, das ist gelogen, es giebt nur einen Thibaut, aber der gilt für sechse. Das ist ein Mann! – Ich habe eine rechte Schadenfreude, dass ich nicht aus blossem Gehorsam für Deinen heutigen Brief, liebste Mutter, diese Bekanntschaft gemacht habe, sondern schon gestern (also 24 Stunden vor Empfang desselben) ein paar Stunden mit ihm plauderte. Es ist sonderbar; der Mann weiss wenig von Musik, selbst seine historischen Kenntnisse darin sind ziemlich beschränkt, er handelt meist aus blossem Instinkt, ich verstehe mehr davon, als er und doch habe ich unendlich von ihm gelernt, bin ihm gar vielen Dank schuldig. Denn er hat mir ein Licht für die altitalienische Musik aufgehen lassen, an seinem Feuerstrom hat er mich dafür erwärmt. Das ist eine Begeisterung und eine Gluth, mit der er redet, das nenn ich eine blumige Sprache! Ich komme eben vom Abschiede her und da ich ihm manches von Seb. Bach erzählte und ihm gesagt hatte, das Haupt und das Wichtigste sei ihm noch unbekannt, denn in Sebastian da sei alles zusammen, so sprach er zum Abschiede: Leben Sie wohl und unsere Freundschaft wollen wir an den Louis de Vittoria und den Sebastian Bach anknüpfen, gleichwie sich zwei Liebende das Wort geben, in den Vollmond zu sehen und sich dann nicht mehr fern von einander glauben.« Der ganze höchst interessante Brief, meines Wissens dort zum ersten mal abgedruckt, steht bei Hensel, die Familie Mendelsohn, Band I, S. 164–66, wo ihn meine geneigten Leser weiter nachlesen mögen. Nachdem M. auf der Rückreise einer Einladung seines Onkels folgend, noch einige Tage auf dessen Weingut zur Lese verweilt, und mit ihm zum Caecilienvereinstag nach Frankfurt gereist war, kehrte er in dessen Begleitung, gestärkt an Leib und Geist und mit neuem Schaffensmuth erfüllt, um Mitte October nach Berlin zurück.

Dieser Schaffensmuth trieb bald neue schöne Blüthen. Nachträglich muss zuerst noch bemerkt werden, dass M. bereits im Winter 1825 eine brillante Ouvertüre in C dur[43] für Orchester componirte, welche wegen der darin vorkommenden Trompetenrufe später den Namen der Trompetenouvertüre erhielt. Sie wurde zuerst in einem Concert des Violinvirtuosen und Componisten Maurer, dann noch einmal im grossen Gartensaale des M.'schen Hauses, 1828 beim Dürerfeste und 1833 beim Musikfeste zu Düsseldorf aufgeführt. M. hielt sie zur Veröffentlichung nicht reif, und durfte daher auch die Trompetenrufe später in der Hebridenouvertüre (1829 begonnen) noch einmal benutzen. Sie muss sehr spät veröffentlicht worden sein, denn in dem Breitkopf-Härtel'schen chronologischen Verzeichniss erscheint sie als Op. 101.

Als weitere Erzeugnisse der M.'schen Musse erwähnt Fanny in einem Briefe an Klingemann vom 25. December 1827 eine Kindersymphonie, als Weihnachtsgeschenk für Schwester Rebecka bestimmt, mit den Instrumenten der Haydn'schen geschrieben, im Familienkreise aufgeführt, die ausserordentlich komisch gewesen sei. Ihr folgte am Weihnachtsabend 1828 noch eine zweite allerliebste, die zum allgemeinen Spass zweimal gespielt wurde. (Fanny an Klingemann am 27. December 1828.) An diese Producte des kindlichen Humors schlössen sich aber auch verschiedene sehr schöne ernste Sachen. In dem oben zuerst genannten Briefe erwähnt Fanny als ein specielles Geschenk für sie ein Stück andrer Natur, einen vierstimmigen Chor mit kleinem Orchester über den Choral »Christe du Lamm Gottes!« Ich habe es, schreibt sie, heut ein paar mal gespielt; es ist wunderschön. Er hat sich überhaupt in der letzten Zeit der Kirchenmusik zugewendet; zu meinem Geburtstag (am 15. November) hat er mir ein Stück gegeben, neunzehnstimmig für Chor und Orchester über die Worte: du bist Petrus und auf diesen Fels will ich meine Kirche gründen (aber lateinisch). »Ich halte es für ein sehr bedeutendes Werk.« Es ist dasselbe, welches Felix schon in dem Briefe aus Heidelberg an seine Mutter vom 20. September 1827 erwähnt, als eine Composition, mit der er gerade beschäftigt sei. Es bildete den Anknüpfungspunkt seiner näheren Bekanntschaft mit Thibaut, der in seiner Geschichte der Musik auch von einem »Tu es Petrus« gesprochen hatte.[44]

Das nächste bedeutende Werk war eine für das Dürerfest in Berlin componirte, am 18. April 1828 in der Singacademie aufgeführte grosse Cantate, Text von Lewezow. Devrient meint zwar, sie sei wirkungslos geblieben, aber Fanny (Brief an Klingemann vom 20. April 1828) ist ganz andrer Meinung.


»Felix,« schreibt sie, »hat in 6 Wochen eine grosse Cantate für Chor und volles Orchester geschrieben mit Arien, Recitativen und allem Plunder. Dass die flüchtige Arbeit keinen Werth für ihn hat, können Sie sich denken; anfangs war er so wüthend darauf, dass er die ganze Geschichte gleich nach dem Gebrauch verbrennen wollte; als aber die Proben vorwärts schritten, die Chöre von der Academie trefflich gesungen wurden, bekam er Lust, und die wundervolle Dekoration des Saales und die Liberalität der Anordnungen vollendete die Freude. Donnerstag Abend war die Hauptprobe, die ziemlich confus und unbefriedigend ging, wobei aber Felix sehr ruhig blieb und versicherte, es werde prächtig gehen; und es ging prächtig. – Felixens C dur-Trompeten-Ouvertüre, vortrefflich ausgeführt, eröffnete das Fest. Dann folgte eine (etwas langweilige) dreiviertelstündige Rede, hierauf die Cantate, die gute 5/4 Stunden dauerte. Die Soli wurden von der Milder, Stürmer, der Türrschmiedt und Devrient gesungen; Alles gelang so vollkommen und die Aufnahme war so erfreulich, dass ich mich keiner angenehmeren Stunden erinnere. Bei dem nachfolgenden Diner von etwa 200 Personen wurde Mendelssohn's Gesundheit ausgebracht und lebhaft aufgenommen. Zelter und Schadow nahmen ihn bei der Hand, von Letzterem wurde er herzlich angeredet und feierlich zum Ehrenmitgliede des Künstlervereins proclamirt, wovon er das Diplom bekam. Gestern verging uns der ganze Tag mit Annahme von Gratulationsbesuchen.« (Hensel, die Familie M., Bd. I, S. 188–90.)


Hieran schliesse ich sogleich die Erwähnung einer zweiten Gelegenheitscomposition dieses Jahres. Mitte September 1828 fand in Berlin die Versammlung der Aerzte und Naturforscher statt, Alexander von Humboldt veranstaltete für sie im Auftrage des Königs im Concertsaale des Schauspielhauses ein Concert. Frauen waren davon ausgeschlossen, der Chor bestand nur aus den besten Männerstimmen der Residenz, und da Humboldt, kein[45] starker Musiker, seinen Componisten auf eine geringe Personenzahl beschränkt hatte, so bekam das Orchester eine curiose Figur, es agirten darin nur Bässe und Celli, Trompeten, Hörner und Clarinetten. Den Text zu der kleinen von Mendelsohn zu diesem Feste componirten Cantate hatte L. Rellstab gedichtet. Ein Tenorsolo mit Chor, schreibt Devrient, fiel darin angenehm auf; wenn er aber weiter sagt: »Gelegenheitsmusiken waren eben nicht fähig, ihn anzuregen, er beseitigte sie nur mit seiner raschen Mache und Formengewandtheit,« so können wir ihm darin nicht beistimmen. Wir erinnern nur beispielsweise an die schwungvolle Ouvertüre zu Ruy Blas und an den so überaus weihevollen »Festgesang an die Künstler«.

Zwischen jenen beiden Gelegenheitsmusiken, die man wohl so nennen darf, weil sie der Componist auf Bestellung schrieb, entstand nun aber ein zweites Charakterstück, unmittelbar aus M.'s Genius geflossen, die Ouvertüre, genannt ›Meeresstille und glückliche Fahrt‹. Der Name Ouvertüre ist eigentlich nicht zutreffend, man sollte es vielmehr ein Tongemälde nennen, das ebensowohl Natur- als Seelenschilderung ist. Ueber irgend eine äussere Veranlassung, die den jungen Tondichter zu dieser neuen Tonschöpfung anregte, ist nichts weiter bekannt. Wunderbar ist, dass er dieses Tonstück dichten konnte, ehe er nur das Meer gesehen. Es ist ein ebenso sprechender Beweis für die Kraft seiner Phantasie, als die Schilderung der Alpennatur in Schiller's Tell. Nicht schöner und lebendiger konnte das bange Gefühl der anfänglichen Windstille, der Jubel über das erste sich erhebende Lüftchen, der immer stärkere Windhauch, der die Segel des Schiffes bläht, die fröhliche rasch fortschreitende Fahrt durch die bewegten Wogen, das Einlaufen des Schiffes in den Hafen geschildert werden. Den Grundton des Tongemäldes bildet das bekannte gleichnamige Gedicht Goethe's,21) dessen Text schon Beethoven so characteristisch in ein Gesangstück für Chor und Orchester übertragen hatte. Es war ein kühnes Wagniss, dass M., der diese Composition des grössten Meisters ohne Zweifel kannte, ihm noch einmal nachzudichten unternahm. Aber es[46] gelang in der glücklichsten Weise. Ueber die Zeit der Entstehung giebt uns ein Brief Fanny's an Klingemann vom 28. Juni 1828 Aufschluss. »Felix,« sagt sie darin, »schreibt ein grosses Instrumentalstück ›Meeresstille und glückliche Fahrt‹ nach Goethe. Es wird sehr seiner würdig. Er hat eine Ouvertüre mit Introduction vermeiden wollen und das Ganze in zwei nebeneinanderstehenden Bildern gehalten.« Eduard Devrient, Erinnerungen u.s.w., Seite 47 schreibt darüber: »In diese Zeit (1828) fällt die Composition seines zweiten Characterstückes, Meeresstille und glückliche Fahrt, das bei seinen Anhängern fast ebenso grosse Sensation hervorbrachte, als der Sommernachtstraum. War in diesem die frappante Auffassung und Darstellung eines vollendeten Gedichts zu bewundern, so war es in jenem die selbstständige Erfindungskraft für den Eindruck, den Naturerscheinungen auf uns machen. Die Orchesteraufführungen des Werkes im Gartensaale waren wirkliche Feste für uns, das Violoncellsolo in der glücklichen Fahrt wurde zum Begrüssungssignal unter den jungen Freunden.« Die Bemerkungen beider lieber Zeugen, der Schwester wie des Freundes enthalten viel Wahres, aber sie treffen nicht ganz die Form, wie das Wesen des Werkes. Wenn Fanny sagt, M. habe eine Ouvertüre mit Introduction vermeiden wollen, und das Ganze in zwei nebeneinanderstehenden Bildern gehalten, so sind wenigstens die beiden Bilder sehr ungleich ausgefallen. Das Adagio, welches in D dur einsetzend die Meeresstille in ruhigem Viervierteltact in langgetragenen Accorden wunderschön schildert (man sieht das weite tiefblaue aber noch regungslose Meer förmlich vor Augen), umfasst nur die ersten 44 Tacte, sowie aber das Flötensignal erklungen ist (Reissmann nennt es das künstlerisch umgestaltete Signal der Schiffspfeife) und ein wunderschöner verminderter Septimenaccord in den Blasinstrumenten das erste Aufstehn eines frischen Windeshauches versinnbildet hat, so beginnt auch in einem Allegro molto vivace die glückliche Fahrt, die bis zum Schluss nicht mehr unterbrochen wird. Die schönsten Bilder dieser Fahrt ziehen in langen Reihen rasch hintereinander an uns vorüber, wir sehen den heiteren Himmel, das schöne stolze Schiff, das mit immer volleren Segeln die schäumenden[47] Wogen kräftig theilt, wir sehen das immer näher kommende Land mit dem schirmenden Hafen, aber wir sehen nicht nur, wir fühlen und hören auch, wir fühlen die erquickende Seeluft, den Jubel der glücklichen Schiffer mit, je näher dem Ziele, desto höher steigt Glück und Freude; mit dem Allegro Maestoso der letzten 36 Tacte sehen wir das mit kräftigen Rucken in den Hafen einlaufende Schiff, das nun die Anker wirft, wir hören die Trompetenfanfaren, mit welchen die am Ufer Stehenden den ersehnten Ankömmling festlich begrüssen, ja, es fehlen selbst die üblichen Salutschüsse, angedeutet durch die kräftig den Tact markirenden Pauken vom Schiff und Ufer nicht, bis in den letzten drei Tacten fortissimo, diminuendo und pianissimo das Gefühl frommen Dankes für die glücklich vollendete Fahrt ausklingt, und so das musikalische Characterstück herrlich befriedigend abschliesst. So erfasst also die Bemerkung Devrient's das Wesen der Sache nicht ganz. Die Musik schildert nicht nur den Eindruck, den Naturerscheinungen auf uns machen, sondern auch Seelenstimmungen der Erwartung, der Freude, des Jubels, des Dankes, sie giebt uns die kräftige Realität eines Stückes warmen, voll pulsirenden Menschenlebens, in welches wir mit innigstem Behagen mit hineingezogen werden, im Gegensatz zu jener Märchen- und Traumwelt, die uns immerhin etwas Fremdes bleibt. – Ich bedaure, nicht genauer sagen zu können, wann dieses Werk vollendet, und wann es zuerst öffentlich aufgeführt wurde; wahrscheinlich im Jahre 1830 in einem der Winterconcerte des Philharmonie in London. M. selbst, der sich so oft bei seinen besten Werken nicht genug thun konnte, schreibt darüber in einem Brief an Schubring aus Düsseldorf, am 6. August 1834: »die Meeresstille habe ich ganz umgearbeitet diesen Winter, und glaube, sie ist etwa 30mal besser nun.« In dieser Vollendung hörten wir das Werk zuerst unter M.'s eigener Direction in Leipzig im ersten Gewandhausconcerte am 4. October 1835. Es gefiel ungemein. Der Referent der allgemeinen Musikzeitung sagt darüber: »Die überall beliebte Ouvertüre M.'s ›Meeresstille und glückliche Fahrt‹ leitete so schön ein, als man es von einer ersten Leistung eines ersten und unter einer neuen Führung stehenden Concertes[48] nur erwarten konnte.« Wie oft haben wir es doch seitdem mit immer neuem Entzücken gehört!

Doch die fruchtbare Muse M.'s begnügte sich mit diesem einen Werke nicht, sondern fuhr immer fort zu produciren. Fanny schreibt darüber an Klingemann aus Berlin vom 8. December 1828 bei Gelegenheit der Erwähnung ihrer Geburtstagsfeier: »Felix hat mir dreierlei gegeben, ein Lied ohne Worte,22) wie er in neuerer Zeit einige sehr schöne gemacht hat, ein anderes Clavierstück, vor kurzem componirt, und mir schon bekannt, und ein grosses Werk, ein vierchöriges Stück Antiphona et Responsorium über die Worte hora est, jam de somno surgere. Die Academie wird es aufführen. Ich gebe gar gern Ihrer Aufforderung nach, mich über Felixens Arbeiten näher zu äussern. – Im Ganzen genommen wird er wohl unläugbar mit jedem Werk klarer und tiefer. Seine Richtung befestigt sich immer mehr, und er geht bestimmt einem selbstgesteckten, ihm klar bewussten Ziel entgegen. Aller seiner Mittel ist er vollkommen mächtig, und so erweitert er von Tage zu Tage sein Gebiet, als Feldherr die ihm zu Gebote stehende Gesammtheit der Kunstmittel beherrschend.«

Nachdem wir so die von Stufe zu Stufe fortschreitende Reife des jungen Componisten bis zu einem gewissen Ziele der Vollendung begleitet haben, müssen wir auch der Grossthat des werdenden Dirigenten gedenken, welche die Jugendjahre M.'s in wunderbar herrlicher Weise abschliesst: die von ihm in's Leben gerufene erste Wiederaufführung der Matthäuspassion von Joh. Sebastian Bach. Die Darstellung dieses in der ganzen musikalischen Welt epochemachenden Ereignisses ist ein Glanzpunkt in dem oft citirten Buche Eduard Devrient's, S. 48–68. Ich bedaure, diese ebenso dramatisch lebendige als ergötzliche Schilderung aus schuldiger Achtung vor literarischem Eigenthum meinem Buche nicht wörtlich einverleiben zu können, werde sie aber soviel als möglich im Auszuge[49] geben. Devrient selbst hatte an dieser Wiederauferstehung einen ganz hervorragenden Antheil. Ohne seine Ermuthigung wäre sein junger Freund schwerlich auf den Gedanken gekommen, das ganze Werk aufzuführen. Die ersten Keime zu dieser Grossthat datiren schon aus Felix' Knabenjahren. Der alte Zelter sammelte um sich gewöhnlich Freitag Abends eine kleine Zahl von Mitgliedern der Singacademie, denen daran lag, schwierige Werke alter Componisten kennen zu lernen. Unter seiner Leitung sangen sie unter anderen auch zuweilen die, wie Zelter sie nannte, »borstigen« Stücke von Sebastian Bach, der damals noch allgemein für einen unverständlichen musikalischen Rechenmeister von erstaunlicher Fähigkeit im Fugenschreiben galt, und von dem die Singacademie nur wenige seiner Motetten und auch diese selten sang. In diesen Freitagsmusiken sangen auch die Geschwister Fanny und Felix im Chore Alt mit, und Zelter liess sie gelegentlich dies und jenes Stück am Flügel begleiten, bis zuletzt Felix diesen Platz allein einnahm. Hier lernte er unter den Musikwerken, die Zelter als einen geheimnissvollen Schatz vor der Welt verborgen hielt, auch einzelne Stücke aus Bach's Passionsmusiken kennen. Sein glühendster Wunsch wurde es, die grosse Matthäuspassion zu besitzen, ein Wunsch, den ihm seine Grossmutter zu Weihnachten 1823 erfüllte. Sie erlangte nicht ohne Mühe von dem alten eifersüchtigen Sammler die Erlaubniss, eine Abschrift nehmen zu dürfen. Eduard Rietz, der Violinspieler, Lehrer und Freund M.'s, besorgte sie musterhaft. Felix zeigte sie Devrient am Weihnachtsfest mit ehrfurchtsvoll verklärtem Gesicht. Das heilige Meisterwerk wurde von nun an sein Lieblingsstudium. –

Seit dem Winter 1827 versammelte M. gewöhnlich Sonnabends einen kleinen zuverlässigen Chor um sich, um seltne Musik zu üben. So auch im Winter 1828–29 seine geliebte Matthäuspassion. Mendelssohn war in das Werk so schnell eingelebt, trug seine Auffassung so geschickt und bescheiden auf die Singenden über, dass ihnen die bisher für räthselhaft gehaltene musikalische Geheimsprache dieser Tonschöpfung bald natürlich und geläufig wurde. Eduard Devrient hatte den lebhaften Wunsch,[50] den Jesus öffentlich zu singen. Man schrak aber zurück vor den Schwierigkeiten einer öffentlichen Aufführung, zu welcher man eines Doppelchores und Orchesters bedurfte, fürchtete die Umständlichkeit der Vorsteherschaft und der Mitglieder der Singacademie, und die abgeschlossene unförderliche Haltung Zelter's. Man fragte sich: Wird auch das Publikum geneigt sein, einen ganzen Abend nur Bach zu hören, den unmelodischen, berechnenden, trockenen und unverständlichen Bach! M.'s Eltern theilten diese Bedenken. Er selbst antwortete dem Andringen der Freunde, die Direction zu übernehmen, nur mit Scherz und Ironie, erbot sich etwas »für Waldteufel und Knarre« (damals beliebte Kinderinstrumente) dazu zu componiren, stellte sich selbst als Dirigenten im lächerlichsten Lichte dar u.s.w.

An einem der Abende des Januar 1829 hatte man nun in dem vorerwähnten kleinen Kreise den ganzen ersten Theil des Werkes durchgesungen, Bauer den Evangelisten, Kugler die vornehmsten Bässe – und Alles war entzückt von der Schönheit des Werks. Da fasste Eduard Devrient in ruheloser Nacht den Entschluss, eine Aufführung des ganzen Werkes durchzusetzen. Seine Frau Therese ermuthigte ihn dazu. Kaum kann er das Ende der langen Winternacht erwarten. Als er Morgens 8 Uhr zu M. kommt, liegt dieser noch in tiefem, todtenähnlichen Schlafe. Sein Bruder Paul rüttelt ihn, umschlingt seinen Oberkörper und ruft: Felix, wach' auf, es ist acht Uhr. Aber es dauert lange, bis Felix traumselig spricht: »Ach, lass doch, ich hab's immer gesagt, es ist lauter Dudelei.« Endlich schlägt er die Augen hell auf, und da er Devrient an seinem Bette erblickt, ruft er mit seinem freundlichen Ton: »I Edeward, wo kommst Du her?« Devrient: »Ich habe etwas recht Notwendiges mit Dir zu reden.« Paul führt ihn in das niedere Arbeitszimmer, wo auf dem grossen weissen Schreibtisch Felix' Morgenbrot und auf dem Ofen sein Kaffee wartet. Devrient heisst M. eifrig zu frühstücken, damit er ihn nicht zu oft unterbreche. Darauf erklärt er ihm rund heraus: »Ich habe in dieser Nacht beschlossen, die Passion muss noch in den nächsten Monaten, noch vor Deiner Reise nach England, in der Singacademie aufgeführt werden.« M. lacht: »Wer dirigirt[51] sie denn?« – »Du.« – »Den Teufel auch, unterstützen will ich die Musik mit« – »Komm mir nicht wieder mit Deinem Waldteufel! Die Sache ist jetzt ausser allem Spass, und gründlich überlegt.« – »Potz Wetter, Du wirst feierlich. Nun lass einmal hören.« Devrient stellt ihm nun vor: »Wir haben die Matthäuspassion als das grösste und wichtigste deutsche Musikwerk erkannt, folglich dürfen wir auch nicht ruhen, bis dasselbe wieder in's Leben getreten ist, und die Gemüther erbaut.« Felix kann gegen diesen Schluss nichts einwenden. »Die Aufführung kann zur Zeit Niemand als Du mit überzeugendem Erfolge unternehmen, folglich musst Du es thun.« »Wenn ich's durchsetzen könnte, ja.«

Devrient eröffnete nun seinen Operationsplan: Sowohl die Singacademie, als Zelter seien ihm für seine beinahe zehnjährige Mitwirkung bei allen Concerten verpflichtet, er würde von Beiden einen Gegendienst verlangen dürfen, und der sollte die Ueberlassung des Saales und die Erlaubniss und Befürwortung einer Einladung der Singacademie zur Mitwirkung bei der Passionsaufführung sein.

Die Eltern M.'s und Fanny stimmten Devrient's Plan bei. Es musste sie freuen, wenn Felix vor seinem Ausfluge in die Welt noch eine grosse und denkwürdige Aufgabe löste. Der Vater hegte zwar noch Besorgniss vor Zelter's Widerstand. Devrient aber war gutes Muthes.

Felix sann sich nun noch ein kluges Verfahren aus, um sich und das Unternehmen nicht zu compromittiren. Die Chorübungen sollten mit der etwas vermehrten Mitgliederzahl des häuslichen Kreises im kleinen Academiesaale ohne angekündigten weiteren Zweck fortgesetzt werden, dieser Chor sollte sich aus Mitgliedern der Academie nach Lust und Neigung, auch nach Neugier allmählich vermehren, dadurch gewönne er einen sicheren Kern, und vermöge, wenn Alles gut gehe, die Masse nach sich zu ziehen. Andernfalls könne die Sache aufgegeben werden, bevor die Absicht einer Aufführung weiter bekannt geworden wäre.

Die Scene der ersten Vorstellung bei Zelter schildert Devrient an a.O., S. 54–59 so ergötzlich und dramatisch lebendig, dass ich mir nicht versagen kann, für diejenigen[52] meiner Leser, die das Buch noch nicht kennen sollten, wenigstens einen grossen Theil der Schilderung hier wörtlich einzuschalten.


»So vorbereitet, rückten wir dem alten Zelter auf's Zimmer, im Erdgeschoss der Singacademie. Vor der Thür sagte Felix mir noch: ›Du, wenn er grob wird, geh' ich fort, ich darf mich nicht mit ihm kappeln.‹ ›Grob wird er ganz gewiss,‹ antwortete ich, ›aber das Kappeln übernehme ich.‹«

Wir klopften an. Die rauhe Stimme des Meisters rief uns laut herein. Wir trafen den alten Riesen im dichten Tabaksqualm, mit der langen Pfeife im Munde an seinem alten mit doppelter Claviatur versehenen Flügel sitzend, die Schwanenfeder, mit der er zu schreiben pflegte, in der Hand, ein Notenblatt vor sich. Er trug seine sandfarbene kurze Pikesche, Unterbeinkleider, die unterm Knie gebunden, noch auf kurze Hosen berechnet waren, derbe wollene Strümpfe und gestickte Schuhe. Den Kopf mit den zurückgestrichenen weissen Haaren gehoben, das Gesicht mit seinen derben bürgerlichen und doch bedeutenden Zügen nach der Thüre uns zugewendet,23) rief er, als er uns durch seine Brille erkannte, in seiner freundlichen Weise: »I, sieh' da! schon so früh zwei so junge schöne Leute! Nun, was verschafft mir denn die Ehre? Hier Platz genommen.«

Nun begann ich meinen wohlüberlegten Vortrag von der Bewunderung des Bach'schen Werkes, das wir in seinen Freitagsmusiken zuerst kennen gelernt, dann im Mendelssohn'schen Hause weiter studirt hätten, und dass wir jetzt der dringenden inneren und äusseren Aufforderung nachgeben möchten, einen Versuch zu machen: das Meisterwerk der Oeffentlichkeit zurückzugeben und – wenn er es erlauben und unterstützen wolle – mit Hülfe der Singacademie eine Aufführung zu veranstalten.

»Ja,« sagte er gedehnt, und reckte dabei das Kinn in die Höhe, wie er zu thun pflegte, wenn er etwas mit grossem Nachdruck besprach, »wenn das so zu machen wäre. Dazu gehört aber mehr, als wir heut zu Tage zu bieten haben.«

Nun verbreitete er sich über die Schwierigkeiten und Erfordernisse des Werkes; für die Chöre eine Thomasschule, wie sie zu Bach's Zeiten war, ein Doppelorchester; die Violinspieler von heute[53] verständen diese Musik gar nicht mehr zu tractiren – das Alles sei schon lange bedacht und erwogen, und liessen sich die Schwierigkeiten so bald aus dem Wege räumen, so wären schon längst alle vier Passionsmusiken von Bach aufgeführt. Er war warm geworden, legte die Pfeife weg und schritt durch's Zimmer. Wir waren auch aufgestanden, Felix zupfte mich am Rock, er gab die Sache schon verloren. Ich erwiderte Zelter, dass wir, namentlich Felix, diese Schwierigkeiten sehr hoch anschlügen, dass wir aber den Muth hätten, sie nicht für unüberwindlich zu halten. Die Singacademie sei durch ihn schon mit Sebastian Bach bekannt; er habe den Chor so vortrefflich geschult, dass derselbe jeder Schwierigkeit gewachsen sei, Felix habe durch ihn das Werk kennen gelernt, verdanke ihm auch die Anweisungen für seine Direction; ich brenne vor Verlangen, die Parthie des Jesus öffentlich vorzutragen, wir dürften hoffen, dass derselbe Enthusiasmus, welcher uns bewege, bald alle Mitwirkenden ergreifen und das Unternehmen gelingen lassen werde.

Zelter war immer ärgerlicher geworden. Er hatte hier und da Aeusserungen des Zweifels und der Geringschätzung eingeworfen, bei denen Felix mich wieder am Rock gezupft, dann sich allmählich der Thür genähert hatte. Jetzt platzte der alte Herr los:

»Das soll man nun geduldig anhören! Haben sich's ganz andere Leute müssen vergehen lassen, diese Arbeit zu unternehmen, und da kommen nun so ein paar junge Rotznasen (der Leser verzeihe das pöbelhafte Wort) daher, denen alles das Kinderspiel ist.«


Es ist bewundernswerth, dass Devrient auch durch diese massive Grobheit sich nicht abschrecken und einschüchtern liess. Er war aber, wie wir oben gesehen haben, auf Alles gefasst. Er erzählt weiter:


»Diesen Berliner Kernschuss (schönes Compliment für Berlin!) hatte er mit äusserster Energie abgefeuert. Ich hatte Mühe, das Lachen zu verbeissen. Hatte Zelter doch einen Freibrief für alle Grobheit, und für Christi Passion von Sebastian Bach und von unserem alten Lehrer konnten wir uns wohl noch mehr gefallen lassen. Ich sah mich nach Felix um, der stand an der Thür, den Griff in der Hand, und winkte mir mit etwas blassem und verletztem Gesicht zu, dass wir gehen sollten; ich bedeutete ihn, dass wir bleiben müssten, und fing getrost wieder an, auseinanderzusetzen, dass, wenn auch jung, wir doch nicht mehr so ganz unreif wären, da unser Meister uns doch schon manche schwierige Aufgabe[54] zugemuthet habe, dass gerade der Jugend der Unternehmungsmuth zustehe, und zuletzt müsse es doch wohlthuend für ihn sein, wenn gerade zwei seiner Schüler sich an dem Höchsten versuchten, das er sie kennen gelehrt.«

Meine Auseinandersetzungen begannen jetzt sichtlich zu wirken. Die Krisis war überstanden.

»Wir wollten nur den Versuch machen,« fuhr ich fort, »ob das Unternehmen sich durchsetzen lasse, dies nur möge er erlauben und es unterstützen; gelänge es nicht, so könnten wir immer noch, und ohne Schande, davon ablassen.«

»Wie wollt Ihr denn das machen?« sagte er stehen bleibend, »Ihr denkt an nichts. Da ist zuerst die Vorsteherschaft, die consentiren muss, da sind gar viele Köpfe und viele Sinne, und Weiberköpfe sind auch dabei, ja, die bringt Ihr nicht so leicht unter einen Hut.«

Ich entgegnete ihm, die Vorsteher seien mir freundlich gesinnt, die tonangebenden Vorsteherinnen, als Mitsingende bei den Uebungen im Mendelssohn'schen Hause, seien schon gewonnen, auch glaubte ich auf die Bewilligung des Saales und auf die Zustimmung zur Mitwirkung der Mitglieder mit ziemlicher Sicherheit rechnen zu dürfen.

»Ja, die Mitglieder, die Mitglieder!« rief Zelter, »da fängt der Jammer erst an. Heute kommen ihrer zehn zur Probe und morgen bleiben zwanzig davon weg, ja!«

Wir konnten von Herzen über diesen Witz lachen, denn er zeigte uns, dass unsere Parthie gewonnen war. Felix setzte dem alten Herrn nun seinen Plan mit den Vorübungen im kleinen Saale auseinander, sprach ihm von der Zusammensetzung des Orchesters, das Eduard Rietz führen sollte, und da Zelter schliesslich keine praktischen Bedenken mehr vorbringen konnte, so gab er klein bei und sagte:

»Na, ich will Euch nicht entgegen sein, auch zum Guten sprechen, wo es noth thut. Geht denn in Gottes Namen dran, wir werden ja sehen, was draus wird.«

So schieden wir dankbar und als gute Freunde von unserem alten wackeren Bären. »Wir sind durch,« sagte ich auf der Hausflur. »Aber höre,« erwiderte Felix, »Du bist doch eigentlich ein verfluchter Kerl, ein Erzjesuit.« »Alles zur höheren Ehre Gottes und Sebastian Bach's,« entgegnete ich, und wir jubelten draussen in die Winterluft hinaus, nachdem uns der wichtigste Schritt gelungen.

Alles Andere machte sich nun leicht, die Vorsteherschaft willigte[55] unbedenklich in alle Wünsche, wenn sie sich auch 50 Thaler für die Ueberlassung des Saales ausbat. Die Proben begannen an einem Freitag, den 22. Januar 1829, gleich nach der Verlobung Fanny's mit W. Hensel. Schon die erste Chorübung im kleinen Saale hatte doppelt so viel Theilnehmer, als im Mendelssohn'schen Hause, und sie wuchsen von einer Uebung zur andern, so dass der Copist nur mit Anstrengung ausreichende Stimmen zu schaffen vermochte, wie auch die Theilnehmer schon nach der fünften Uebung in den grossen Saal der Academie gehen mussten. Wichtig für die Beurtheilung des schon damals so grossen Directionstalentes M.'s ist, was bei dieser Gelegenheit Devrient als Augen- und Ohrenzeuge über die Methode seines Einstudirens und Dirigirens berichtet.

»Um das Interesse der Singenden dauernd zu fesseln, nahm Felix sofort – und wiederholte das in den ersten Vorübungen – nicht vereinzelte Stücke, etwa die leichten zuerst, sondern eine bestimmte Gruppe zum Studienobjecte, übte die Chöre sogleich mit unerbittlicher Genauigkeit bis zu ihrem vollen Ausdruck, und gab dadurch den Singenden einen ganz vollständigen Eindruck von der Besonderheit des Werkes. Seine Erklärungen und Anweisungen waren präcis, kurz und ebenso prägnant als jugendlich bescheiden vorgebracht.«

»Die grossen Proben waren durch Zelter's autoritätverleihende Gegenwart gehoben, aber so lange das Orchester nicht dabei war, hatte Felix mit der ganzen Arbeit der Direction und der Flügelbegleitung fertig zu werden, was bei den so vielfach rasch einschlagenden Chorsätzen von verschiedenen Rhythmen überaus schwierig war. Er musste das Kunststück durchführen, mit der linken Hand die ganze Begleitung zu erzwingen, während die rechte den Tactstock schwang. Er hat in seinem ganzen Leben kein Meisterstück der Direction geliefert, als dieses erste, und vielleicht schwierigste. Als das Orchester hinzutrat, liess Felix den Flügel in die Quere zwischen die beiden Chöre stellen, den ersten im Rücken, den zweiten und das Orchester, das grösstentheils aus Dilettanten bestand, im Auge. Diese schwierige Situation beherrschte der Neuling Felix mit einer Ruhe und Sicherheit, als ob er schon zehn Musikfeste dirigirt hätte. Die feine und anspruchslose Weise, in welcher er durch Miene, Kopf- und Handbewegung an die verabredeten Schattirungen des Vortrags erinnerte, und ihn so mit leiser Gewalt beherrschte, die gelassene Sicherheit, mit welcher er bei Generalproben und der Aufführung, sobald grosse Stücke von gleichmässiger Bewegung ganz im Zuge waren, kaum merklich nickend, als wollte er sagen: Nun geht es gut und ohne mich, den Tactstock[56] sinken liess, und mit der verklärten Miene zuhörte, die ihn beim Musiciren eigenthümlich verschönte, bis er wieder vorausempfand, dass es nöthig sei, den Tactstock zu gebrauchen – alles das war so bewunderungs- als liebenswürdig.«


Wie zutreffend diese Schilderung des Dirigenten Mendelssohn ist, muss ich selbst als Augen- und Ohrenzeuge bestätigen, der ich Mendelssohn bei wenigstens vier grossen Oratorienaufführungen und allen vorhergehenden Proben als Chorsänger im Tenor kaum drei Schritt von ihm, gegenüberstand.

Als es Zeit geworden war, die Solosänger einzuladen, machten beide Freunde, Mendelssohn und Devrient vereint die Runde. Felix, kindlich genug, wünschte für Beide die gleiche Tracht: Blauen Rock, weisse Weste, schwarzes Halstuch, schwarze Pantalons, hellgelbe Handschuh von Wildleder, damals gebräuchlich. Ihre Einladungen hatten den besten Erfolg: die vier ersten Kräfte der Oper sagten bereitwillig ihre Mitwirkung zu. Ihr Hinzutreten zu den Proben gab dem Studium des Werkes einen neuen Reiz. Man erstaunte, abgesehen von der Grossartigkeit des Werkes über die Fülle der Melodieen, den reichen Ausdruck der Empfindung, der Leidenschaft, alles Dinge, die bisher Niemand dem alten Bach zugetraut hatte. Der Zudrang zu der Aufführung übertraf alle Erwartungen. Es gab im ersten Concert nur 6 Freibillets, von denen Spontini zwei inne hatte. Gegen 1000 Personen hatten keine Billets erhalten können, daher stürmisches Andrängen um eine Wiederholung. Spontini, eifersüchtig werdend, suchte die zweite Aufführung zu hintertreiben, aber Felix und Devrient verschafften sich Befehle vom Kronprinzen, der sich lebhaft für die Sache interessirte. Sonnabend, den 22. März, an Bach's Geburtstage, fand diese zweite Aufführung statt vor einer noch grösseren Fülle von Zuhörern; alle Plätze, sowohl im Vorsaal, als in dem kleinen Probesaal hinter dem Orchester waren ausverkauft. Beide Aufführungen, die erste am 11., die zweite, wie eben erwähnt, am 22. März, fanden zum Besten von Nähschulen für arme Mädchen statt. Beide gelangen vollkommen. Der Eindruck eines Chores von 3–400 kunstgeübten Stimmen, des vortrefflich geschulten Orchesters, der Ausführung der[57] Solis von den trefflichsten Kräften war ein überwältigender. Stümer sang den Evangelisten, Devrient den Jesus, Bader den Petrus, Busolt den Hohenpriester und Pilatus, Wappler den Judas, Fräulein v. Schätzel, Frau Milder, Frau Thürschmidt die Sopran- und Altsoli vortrefflich. Die Milder sang die Arie: »Du lieber Heiland Du,« die Schätzel mit ihrer klangreichen, herzgewinnenden Stimme die Bussarie: »Erbarme Dich Gott,« begleitet von Eduard Rietz' seelenvollem Geigenspiel. Bemerkenswerth und ehrenvoll für Devrient ist, was er von seiner Darstellung des Jesus sagt: »Ich war mir bewusst, dass der Eindruck, den der Vortrag des Jesus hervorbringt, über den Eindruck des ganzen Werkes entscheidet. Auch hier sind alle Dinge zu ihm geschaffen. Ich fühlte, dass die andächtigen Schauer, die mich durchrieselten, auch durch die todtenstillen Zuhörer wehten. Nie habe ich eine heiligere Weihe auf einer Versammlung ruhen gefühlt, als an diesem Abend auf Musicirenden und Zuhörern.« Was er so aus frommem Herzen herausgesungen, ist gewiss zu allen Herzen gedrungen. Auch Fanny bestätigt in ihrem Bericht an Klingemann, Berlin, 22. März, den tiefen Eindruck der ganzen Aufführung auf die Zuhörerschaft. »Was wir uns alle so im Hintergrunde der Zeiten als Möglichkeit geträumt haben, ist jetzt wahr und wirklich, die Passion ist in's öffentliche Leben getreten, und Eigenthum der Gemüther geworden. Der überfüllte Saal gab einen Anblick, wie eine Kirche, die tiefste Stille, die feierlichste Andacht herrschte in der Versammlung, man hörte nur einzelne unwillkürliche Aeusserungen des tief erregten Gefühls; was man so oft mit Unrecht von Unternehmungen dieser Art sagt, kann man hier mit wahrem Recht behaupten, dass ein besonderer Geist, ein allgemeines höheres Interesse diese Aufführung geleitet habe, und dass ein Jeder nach Kräften seine Schuldigkeit, manche aber mehr thaten.« Der bahnbrechende Einfluss dieser Aufführung war ein unermesslicher. Es war der erste Anfang zur Hebung des jener Zeit fast noch gänzlich unbekannten Schatzes der tiefsten Meisterwerke Bach's und Beethoven's. »Mendelssohn hat an dieser Aufgabe neben eigenem Schaffen sein ganzes Leben lang ernst und gewissenhaft gearbeitet, und wenn Bach und Beethoven[58] jetzt Gemeingut der deutschen Nation sind, so ist es zu einem guten Theil ihm zuzuschreiben.« (Hensel, die Familie M., I, 205.) M. konnte sich keinen erfreulicheren Erfolg seiner Thätigkeit wünschen. Geschmückt mit diesem neuen Lorbeer eines edlen Verdienstes durfte der treffliche zwanzigjährige Jüngling sich getrost auf die Weltfahrt begeben, welche ihm sein Vater freigestellt hatte, um sich den ferneren Schauplatz seines Wirkens auszusuchen.

1

Mehr über Moses Mendelssohn's Lebensgang und Individualität in Hensel, die Familie Mendelssohn, Band I, Abschnitt I u. ff. oder Einleitung zu Moses Mendelssohn's Schriften von Dr. Moritz Brasch.

2

Hensel, die Familie Mendelssohn, Bd. I, S. 36.

3

Hensel, die Familie Mendelssohn, Bd. I, S. 84.

4

Hensel, die Familie Mendelssohn, Bd. I, S. 89.

5

Die Familie Mendelssohn, Bd. I, S. 93.

6

Diese hier von Zelter als »vierte« Oper angeführte kann kaum eine andere sein, als die von Ed. Devrient als erste genannte: »Die beiden Neffen.« Jedenfalls war diese die erste, die, wenn auch nur im elterlichen Hause, aufgeführt wurde. Die erste Orchesterprobe dazu fand am 3. Februar 1824 statt, als Mendelssohn 15 Jahre alt geworden war. Zelter benutzte diese Gelegenheit zu einer kleinen für ihn characteristischen Feier. Als nach der Probe beim Abendessen einer der mitsingenden Dilettanten Felix' Gesundheit ausbrachte, nahm Zelter diesen bei der Hand und stellte ihn vor die Gesellschaft mit den Worten: »Mein lieber Sohn, von heute ab bist Du kein Junge mehr, von heute ab bist Du Gesell'. Ich mache Dich zum Gesellen im Namen Mozart's, im Namen Haydn's, im Namen des alten Bach.« Dann fasste er den Knaben in seine Arme und drückte und küsste ihn herzlich. Die Gesellensprechung Mendelssohn's wurde dann noch durch Zelter'sche Lieder und Tafellieder froh gefeiert. (Hensel, die Familie Mendelssohn, Bd. I, S. 140.)

7

Goethe dichtete dann für Fanny folgendes überaus zarte Gedicht, das er ihr eigenhändig aufschrieb und Zelter mit den Worten übergab: »Bringen Sie das dem lieben Kinde.«

Wenn ich mir in stiller Seele

Singe leise Lieder vor,

Wie ich fühle, dass sie fehle,

Die ich einzig mir erkor,

Möcht' ich hoffen, dass sie sänge

Was ich ihr so gern vertraut,

Ach, aus dieser Brust und Enge

Drängen frohe Lieder laut.

8

Diesem ersten längeren Zusammensein mit Goethe entstammte ohne Zweifel auch das bekannte kleine Gedicht, welches er für Felix in's Stammbuch niederschrieb, nachdem Adele Schopenhauer dazu in Rosapapier ein geflügeltes Steckenpferd ausgeschnitten hatte, auf dem ein bekränzter, geflügelter kleiner Genius ritt.

»Wenn über die ernste Partitur

Quer Steckenpferdlein reiten –

Nur zu! Auf weiter Töne Flur

Wirst Manchem Lust bereiten,

Wie Du's gethan mit Lieb' und Glück

Wir wünschen Dich allesammt zurück.«

Weimar, 20. Januar 1822.

Goethe.

9

Hensel, die Familie Mendelssohn, Bd. I, S. 104 u. 105.

10

Hensel, die Familie Mendelssohn, Bd. I, S. 123.

11

Hensel, die Familie Mendelssohn, Bd. I, S. 130.

12

Hensel, die Familie Mendelssohn, Bd. I, S. 137.

13

Hensel, die Familie Mendelssohn, Bd. I, S. 204.

14

Jedenfalls im Andenken an den von Fanny so treu gepflegten Bach. Schon als 13jähriges Kind lernte sie 4 Praeludien von Bach auswendig, die sie dem froh erstaunten Vater hinter einander vorspielte.

15

Hensel, a.a.O., Bd. I, S. 154.

16

Eduard Devrient, meine Erinnerungen an Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Briefe an mich, S. 24–34.

17

Ferdinand Hiller, F.M.B. Briefe und Erinnerungen, S. 9.

18

Aus einem Briefe Fanny's an Rebecka; Hensel, die Familie Mendelssohn, Bd. III, S. 43.

19

Eduard Devrient, am a.O., S. 25.

20

Ein Exemplar dieser als Manuscript für Freunde gedruckten Uebersetzung sandte Mendelssohn an Goethe. Dieser schrieb darüber an Zelter unterm 11. October 1826: »Dem trefflichen thätigen Felix danke schönstens für das herrliche Exemplar ernster aesthetischer Studien; seine Arbeit soll den Weimarischen Kunstfreunden in den nächst zu erwartenden langen Winterabenden eine belehrende Unterhaltung sein.«

21

Goethe's Werke, vierzigbändige Ausgabe, Bd. I, S. 54.

22

Diese ganz neue Felix vollkommen eigentümliche Kunstgattung, in welcher die ganze Fülle seiner Phantasie und seiner ebenso tiefen als zarten Empfindung zur Erscheinung kommt, behalte ich einer späteren Besprechung vor.

23

Man sehe das sehr wohl gelungene Bild zu dieser Scene mit Porträtähnlichkeit in »Heinrich Pfeil, kleine Musikantengeschichten«, bei O. Spamer in Leipzig, S. 198.

Quelle:
Lampadius, Wilhelm Adolf: Felix Mendelssohn Bartholdy. Ein Gesammtbild seines Lebens und Wirkens. Leipzig: Leuckart, 1886., S. 1,59.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Felix Mendelssohn-Bartholdy
Life Of Felix Mendelssohn Bartholdy
The Life of Felix Mendelssohn-Bartholdy
Felix Mendelssohn Bartholdy: Ein Gesamtbild seines Lebens und Wirkens
Felix Mendelssohn Bartholdy: Ein Gesammtbild eines Lebens und Wirkens

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Leo Armenius

Leo Armenius

Am Heiligen Abend des Jahres 820 führt eine Verschwörung am Hofe zu Konstantinopel zur Ermordung Kaiser Leos des Armeniers. Gryphius schildert in seinem dramatischen Erstling wie Michael Balbus, einst Vertrauter Leos, sich auf den Kaiserthron erhebt.

98 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon