III. Oeffentliche Wirksamkeit in Düsseldorf und Leipzig 1833–41.

Mendelssohn hatte sich ungeachtet aller grossen und schönen Eindrücke, die er unterwegs empfing, ungeachtet der glänzenden Aufnahme, die er bei seinem letzten Aufenthalt in London fand, doch in den Briefen an seinen Vater mehrfach auf das entschiedenste dafür ausgesprochen, das Land für seine künftige Wirksamkeit solle Deutschland sein. In welcher Stadt wisse er noch nicht. In dem Augenblicke, wo er nach Berlin zurückgekehrt war, schien sich in dieser seiner zweiten Vaterstadt ein geeigneter Schauplatz für seine Thätigkeit zu öffnen. M. wäre wohl auch gern bei den Seinen in Berlin geblieben, obgleich der dominirende Einfluss Spontini's auf das Berliner Musikleben und mancherlei leidiges Coteriewesen für ihn nicht sonderlich günstig schienen. Durch Zelter's Tod war die Stelle eines Directors der Singacademie erledigt. Diese Stelle verwaltete interimistisch Rungenhagen, ein ganz wackerer, aber doch nur mittelmässiger Musiker, ohne alle Bedeutung als Componist, unter Beistand eines befähigten[185] Schülers Zelter's: Eduard Grell.1 M. wollte sich nicht direct um die Stelle bewerben, erklärte sich aber bereit, sie anzunehmen, wenn die Wahl auf ihn fallen würde, und erbot sich sogar, die Direction mit Rungenhagen gemeinschaftlich zu übernehmen, womit indessen Letzterer selbst nicht einverstanden war. Die erste Generalversammlung der männlichen Mitglieder der Singacademie in dieser Angelegenheit fand am 19. August 1832 statt. Aber erst nach sechsmonatlichem Hinziehen der Verhandlungen und mancherlei unwürdigem Intriguenspiel erfolgte endlich am 22. Januar 1833 die Wahl, bei der auf Rungenhagen 148, auf Mendelssohn 88 und auf Grell 4 Stimmen fielen. Man sagt, dieses Resultat sei wesentlich dem Einfluss einiger ältlichen Damen zuzuschreiben, die an M.'s jüdischer Abstammung Anstoss nahmen. Welch' erbärmliches Vorurtheil gegen den jungen Mann, von dem man doch wissen musste, dass er christlich-evangelisch getauft und erzogen sei, der vor noch nicht vier Jahren mit derselben Singacademie die Bach'sche Passion aufgeführt und in Rom die schönsten Kernlieder Luther's componirt hatte. Jedenfalls war es ein Werk der »Dii minorum gentium und der kleinen Feldteufel, die ihm Gesichter schnitten«, von denen M. noch im Jahre 1839 an seinen Freund Moscheles schrieb. Die Singacademie zu Berlin stellte sich mit diesem Resultat selbst das kläglichste Armuthszeugniss aus und verurtheilte sich dadurch, wie Devrient richtig bemerkt, auf eine lange Reihe von Jahren zur Mittelmässigkeit.

Abgesehen von der Verstimmung, welche dieser Vorgang bei Mendelssohn selbst und seiner Familie hervorrief (die ganze Familie erklärte ihren Austritt aus der Singacademie), verlebte M. im Kreise der Seinen und seiner nächsten Freunde den Winter 1832–33 in ganz angenehmer Weise. Genussreiche gemeinsame Lectüre von Jean Paul[186] und Hebel, Lesen von Dramen in vertheilten Rollen wechselten ab mit ernsten Bestrebungen für Musik. Als Componist arbeitete er an der theilweisen Umgestaltung der Walpurgisnacht, deren oben schon gedacht wurde, an der A dur-Symphonie, die er in der Frühjahrssaison in London im philharmonischen Concert aufzuführen gedachte, und legte wohl auch die erste Hand an das Oratorium Paulus. Vom November bis Januar gab er im Concertsaale des Schauspielhauses vier Concerte, in welchen er unter andern seiner Compositionen auch die Ouvertüre zu den Hebriden und die Walpurgisnacht zur Aufführung brachte. Sein G moll-Concert scheint er darin nicht vorgetragen zu haben, wenigstens finde ich in den mir zu Gebote stehenden Quellen nichts davon. Sonst aber trat er mehrfach als Clavierspieler auf. Ueber sein damaliges Clavierspiel macht Devrient in seinen Erinnerungen, S. 156 u. 57 folgende sehr zutreffende Bemerkungen:


»Felix' Clavierspiel war wohl zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt seiner Vorzüglichkeit angelangt und sein eigenthümlicher Character scharf ausgeprägt. Es war nicht Virtuosität, denn seine staunenswerthe Fertigkeit und Ausdauer, seine Präcision und Energie waren es nicht, die den Hörer an ihn fesselten. Man vergass das Instrument, man vernahm nur Interpretation der Composition – weshalb er denn freilich auch nur bedeutende Musik spielte – er gab musikalische Offenbarung, es war nur Sprache des Geistes zum Geiste. Bei seiner Gedankentiefe und Formengewandheit hatte das Publicum zu bedauern, dass er nicht mehr öffentlich fantasirte; er sagte, er habe die Thorheit erkannt, sich vorzunehmen oder gar anzukündigen: An diesem Abend und zu dieser Stunde werde ich gute Gedanken haben.« (Wir hörten, wie er schon 1831 bei seinem zweiten Aufenthalt in München sich ähnlich aussprach, als er dort in seinem Concert für die Armen vor König und Königin über ein von ersterem gegebenes Thema phantasieren musste.) »Sein Spiel,« sagt Devrient weiter, »machte (auch in Berlin) einen grossen und beifallerregenden Eindruck, immerhin nicht den, den es in andern Städten hervorbrachte; auch seine Compositionen erregten den froh begeisterten Antheil nicht, den sie sonst überall fanden. Seine musikalische Bedeutung sollte in seiner Vaterstadt nur spät und nicht vollgiltig anerkannt werden. Er war eben ein Prophet im Vaterlande!«[187]


Unter solchen Verhältnissen war ihm doppelt willkommen eine Berufung nach Düsseldorf zur Direction des dortigen Musikfestes, welche er durch den sehr liebenswürdigen, überaus gastfreundlichen Herrn von Woringen, der M. in Berlin kennen gelernt hatte, erhielt. Das Fest sollte in Düsseldorf am Pfingstfest 28.–31. Mai 1833 stattfinden. M. reiste dorthin schon gegen Ende April ab, ging jedoch zunächst nach London, wohin er auch nach dem Musikfeste in Düsseldorf noch einmal zurückkehrte. –

Mit dem Aufenthalt in Düsseldorf beginnt in M.'s Leben eine neue Periode. Nennen wir die erste, die der vorbereitenden Entwicklung oder die Jugendperiode im älterlichen Hause, die zweite, die Reiseperiode oder die der freien Bewegung, so könnten wir diese als die Feuerprobe des ersten öffentlichen Wirkungskreises bezeichnen. Er bestand sie siegreich, soweit er darin seinen eigentlichsten innersten Beruf zu bewähren hatte, aber es zeigte sich auch, dass er über diesen nicht hinausgehen durfte. Ueberdiess hatte er, sonderbarer Weise auch unter den ausübenden Musikern selbst, mit einer mehrfachen Opposition Uebelgesinnter zu kämpfen. Dagegen war es wieder eine sehr freundliche Fügung des Schicksals, dass es ihn dort gleich von Anfang in einen Kreis vertrauter Freunde brachte. Denn hier lebten und schufen ja die Maler, mit denen er Hesperien durchwandert hatte. Der ganze Kreis, in seiner Mitte der Director Wilhelm Schadow, hiess ihn als alten Freund und ebenbürtigen Künstler willkommen, und er selbst blieb zu ihnen bis an sein Lebensende fortwährend in der innigsten Beziehung. Auch vervollkommnete er sich hier, vorzüglich unter der Leitung des Malers Schirmer, Professors der Landschafterclasse, dem er auch den 114. Psalm (Als Israël aus Egypten zog) gewidmet hat, noch wesentlich in der Zeichnen- und Malerkunst, und lieferte namentlich ausgezeichnete Aquarelle in beträchtlicher Anzahl.

Ehe wir aber den Künstler in diesen neuen Wirkungskreis begleiten, müssen wir ihm abermals nach London folgen. M. kam am 25. April daselbst an und componirte mit Moscheles vereint in zwei Tagen die für zwei Claviere (später zu vier Händen auf einem arrangirten) Variationen über den Zigeunermarsch aus Preciosa, welche dann die[188] beiden Künstler in Moscheles' Concert vortrugen. Dieses gemeinsame Schaffen und Wirken ging damals so weit, dass sie in vertrauten Cirkeln sogar öfters vierhändig zusammen an einem Pianoforte improvisirten, wobei natürlich Einer des Andern musikalische Gedanken errathen und ihm die Themata gleichsam aus der Hand spielen musste. Am 13. Mai dirigirte M. selbst im philharmonischen Concert seine dort zum ersten male gegebene A dur-Symphonie, die er, wie schon erwähnt, in seinen Briefen mehrfach als die italienische bezeichnete, und zunächst nur für den philharmonischen Verein componirt hatte. Er begann das geistsprühende und von Jugendlust überströmende Werk bereits unter den Eindrücken italienischer Natur und italienischen Volkslebens, deren Spuren es denn auch an sich trägt, im Lande selbst, vollendete es aber erst in Berlin. Nach der Aufführung im Philharmonic, wo es grossen Beifall fand, scheint es M. zurückgelegt zu haben, denn es erscheint erst nach M.'s Tode als Symphonie Nr. 4, Op. 90 und Nr. 19 der nachgelassenen Werke. In Leipzig führte er sie während der Zeit seiner Direction der Gewandhausconcerte nicht auf. Wir hörten sie zum ersten male noch als Manuscript fast zwei Jahre nach M.'s Tode am 1. November 1849, seitdem öfter, noch zuletzt in einem der letzten Concerte des alten Gewandhauses, im Winter 1884. Steht diese Symphonie auch an grossartiger Anlage, Tiefe und sorgfältiger Ausführung ihrer bei weitem später vollendeten Schwester, der A moll-Symphonie, nach, so trägt sie doch den Stempel der Genialität und urwüchsigen Frische, die in dem Hörer den angenehmsten Eindruck zurücklässt. Sie besteht aus vier aneinander hängenden Sätzen. Der erste ein Allegro vivace in A dur führt sogleich mitten hinein in eine fröhliche Stimmung voll Frühlingslust und Liebe, mit den reizendsten wechselnden Motiven, keineswegs, wie Reissmann meint, eine Paraphrase des sogenannten Jägerlieds im ersten Heft der Lieder ohne Worte, mit welchem er nur die Tonart gemein hat, eher mit Anklängen an die Ouvertüre zur Heimkehr aus der Fremde. Der zweite Satz, Andante con moto in D moll, eine etwas schwermüthige Weise, soll angeblich ein Processionslied sein, vielleicht nur dem Namen »italienische Symphonie«[189] zu Liebe; ich vermag davon nichts zu finden, denn das Stück trägt durchaus keinen religiös-katholischen Charakter; wenn ich mich recht erinnere, so hörte ich Moscheles sagen, es habe M. dabei ein altes böhmisches Volkslied vorgeschwebt, das freilich in den Rahmen einer wirklich italienischen Symphonie nicht eben passen würde. Der dritte Satz ohne eine andere Bezeichnung als con moto moderato, in A dur hat die Form einer reizenden Menuett mit einem schönen kleinen Trio in E dur, wo die gedämpften Hörner in E einen lieblichen Effect machen. Endlich der letzte Satz, Saltarello, also ein neapolitanischer Nationaltanz Presto, in A moll, ist wirklich italienisch, voll geheimer Gluth und südlicher Lebendigkeit. – Nachdem die beiden Künstler M. und Moscheles am 15. Mai noch einmal in Morris' Concert die Variationen über den Zigeunermarsch aus Preciosa gespielt hatten, reiste M. nach Düsseldorf zurück, um dort das Musikfest zu dirigiren.

Hier fand er sowohl bei den Musikfreunden als bei den Musikern selbst die denkbar freundlichste Aufnahme. Sein Vater, der nach Düsseldorf gekommen war, um dieser ersten grossen Probe der öffentlichen Wirksamkeit seines Sohnes beizuwohnen und gleichfalls im Hause des Herrn von Woringen mit einer »wirklich unglaublichen Freundlichkeit und wahrhaft antiken Gastfreundschaft« aufgenommen worden war, schreibt über seinen Sohn an dessen Mutter am 22. Mai:


»Felix war eben in der Probe, als ich ankam. Woringen war gleich hingelaufen, ihm dies anzukündigen, und mit besonderm Triumph, dass ich bei ihm wohne, welches Felix gar nicht glauben wollte. Nach einiger Zeit kam er denn an, und ich kann es Dir allerdings weder verschweigen, noch leugnen, er hat mir vor Freude die Hand geküsst. Er sieht sehr wohl aus, hat sich aber, wenn mein Auge nicht ganz trügt, in der kurzen Zeit wieder sehr verändert; sein Gesicht ist noch marquirter, alle Formen schärfer geschnitten und herausgetreten, dazu die Augen, wie sonst, und das macht Alles zusammen einen ganz eigenen Effect; es ist mir ein solches Gesicht noch nicht vorgekommen. Es ist mir aber auch noch nicht vorgekommen, einen Menschen so auf Händen getragen zu sehn, wie Felix hier; er selbst kann den Eifer aller zum Fest Mitwirkenden, ihr Zutrauen zu ihm nicht genug rühmen und, wie[190] überall, setzte er alles durch sein Spiel und sein Gedächtniss in Erstaunen und Bewegung. So hat er es z.B. nur dadurch bewirkt, dass eine früher angesetzte Beethoven'sche Symphonie, welche schon einigemal hier gespielt wurde, aufgegeben und die Pastoralsymphonie ... an die Stelle gesetzt worden, dass er dieselbe, als die Rede davon war, nicht allein sofort auswendig spielte, sondern den Tag darauf, als eine kleine Probe davon gemacht wurde und keine Partitur da war, sie auswendig dirigirte und die ausbleibenden Instrumente mitsang etc.« (Man lese diesen und die folgenden sehr interessanten und lebendig schildernden Briefe des Vaters bei Hensel, die Fam. M., Thl. I, S. 347–65.)


M. hatte das Glück gehabt, die Originalpartitur zu Händel's »Israël in Egypten« aufzufinden, und so bildete denn die Aufführung dieses grossartigen Werkes den Hauptmittelpunkt des Festes, ausserdem wurden gegeben die Pastoralsymphonie und die grosse Leonorenouvertüre in C von Beethoven, eine Ostercantate von Wolf und die Macht der Töne von Winter. Dazu noch die Trompetenouvertüre in C dur von Mendelssohn und er selbst spielte das Concertstück von Weber. Dieses Musikfest, verherrlicht noch durch die Mitwirkung der ausgezeichneten Sängerin Frau Decker, geb. von Schätzel, fand so grossen Beifall, dass man nach den beiden Hauptfesttagen noch ein drittes Concert ohne Proben gleichsam improvisirte, in welchem ein grosser Theil der gegebenen Stücke unter donnerndem Beifall des Publicums wiederholt wurde. Als M. nach Beendigung des Concerts am ersten Haupttage vom Podium herabsteigen wollte, wurde er mit einem Blumenregen überschüttet, und die eine der beiden Fräulein von Woringen brachte auf einem Sammetkissen einen Lorbeerkranz, mit dem er sich nolens volens krönen lassen musste. Nach dem Concert war bei Schadow glänzende Soirée und Ball, wobei M. Gegenstand neuer Ovationen wurde. Jemand stimmte auf dem Clavier an: »Seht er kommt mit Preis gekrönt,« und M. musste seinen Kranz wieder aufsetzen, und ein paar mal in Procession durch das Zimmer ziehen. Bald hernach begann das tollste Walzen und Galoppiren. M. musste anfangs dazu spielen, wurde aber dann abgelöst und tanzte lustig mit. Madame Decker meinte, Felix könne wohl nicht tanzen und sei zu ernsthaft und mit zu vielen[191] andern Dingen beschäftigt; er überzeugte sie aber bald vom Gegentheil, und sie sagte dem Vater, als sie sich zum ersten male ausruhte: »Felix tanzt ja ganz vortrefflich.« (Brief von M.'s Vater vom 28. Mai a.a.O.)

Das Comité des Musikfestes verehrte M. nach seiner eigenen Wahl ein in Stein geschnittenes Petschaft nach einer Zeichnung von Schadow zu täglichem Gebrauch als Andenken.

Viel wichtiger aber als alle diese Huldigungen war das Anerbieten des Düsseldorfer Magistrats, die eigens für ihn geschaffene Stelle eines städtischen Musikdirectors anzunehmen, mit vorläufig 600 Thaler Gehalt und jährlich dreimonatlichem Urlaub. Als solcher sollte er die Musik in den katholischen Kirchen, die Winterconcerte und den in Düsseldorf bestehenden Gesang- und Instrumentalverein dirigiren. M. nahm diese Stellung für drei Jahre an.

Ehe er nun aber in dieselbe eintrat, ging er, wahrscheinlich früher eingegangenen Verpflichtungen folgend, diesmal in Begleitung seines Vaters am 8. Juni wieder nach London. Am 10. desselben Monats wurde im philharmonischen Concert seine Ouvertüre in C dur, dieselbe, die er in Düsseldorf aufführen liess, gegeben. M.'s Vater hatte sich durch einen Unfall, ganz ähnlich wie früher der Sohn, eine Wunde am Schienbein zugezogen, an der er mehrere Wochen litt. Während ihn sein Sohn, wie der Vater selbst anerkennt, mit rührender Treue und Sorgfalt pflegte, schrieb er für Moscheles das vierhändige Arrangement von dessen Septett. Auch spielte er in dieser Zeit Moscheles seine Ouvertüre zur Melusine aus der Manuscriptpartitur vor. Der gewöhnlichen Tradition nach sollte der Gedanke zu dieser Ouvertüre M. durch das Anschauen eines Bildes in Düsseldorf, welches Melusine als Fischweib um einen Thurm flatternd2 darstellte, gekommen sein. Aber die bündigste Auskunft über die Entstehung dieses überaus reizenden Musikstücks giebt M. selbst in einem Briefe an Fanny aus Düsseldorf, vom 7. April 1834:


[192] »Ich habe diese Ouvertüre zu einer Oper von Conradin Kreutzer geschrieben, welche ich voriges Jahr um diese Zeit im Königstädter Theater hörte. Die Ouvertüre (nämlich die von Kreutzer) wurde da capo verlangt und missfiel mir ganz apart; nachher auch die ganze Oper, aber die Hähnel (die Sängerin, welche die Melusine gab) nicht, sondern die war sehr liebenswürdig, und namentlich in einer Scene, wo sie sich als Hecht präsentirt und sich die Haare macht, da bekam ich Lust, auch eine Ouvertüre zu machen, die die Leute nicht da capo riefen, aber die es mehr inwendig hätte, und was mir am sujet gefiel, nahm ich (und das trifft auch gerade mit dem Mährchen zusammen) und kurz, die Ouvertüre kam auf die Welt und das ist ihre Familiengeschichte.«


Moscheles führte diese Ouvertüre am 7. April 1834 zum ersten male im philharmonischen Concert auf, wo sie jedoch für's erste nur geringe Anerkennung fand. Zum zweiten male am 8. Mai desselben Jahres in Moscheles' eigenem Concerte gegeben, in welchem er zugleich selbst das ihm von M. dedicirte Rondo in Es dur (Op. 29) aus dem Manuscript spielte, gefiel sie schon weit besser. Vielleicht hatte es das erste mal an der Ausführung des Orchesters gelegen, dem wahrscheinlich die zarte aber ungewöhnliche Hauptfigur (wesentlich der Clarinette) nicht vollständig gelang. Sehr interessant ist ein in den Reisebriefen 2. Theil nicht mit abgedruckter Brief Mendelssohn's an Moscheles, welchen er schrieb, als ihm dieser von der ersten Aufführung meldete. Er dankt zuerst M. auf das Herzlichste, und spricht sehr bescheiden seine Freude darüber aus, dass die Ouvertüre ihm gefalle. Er bedürfe dieser Aufmunterung, da er noch immer an sich zweifle. Dann scherzt er: Dieser Beifall sei ihm lieber als drei Orden, und hierauf folgen einige sehr interessante musikalische Winke über die Executirung der Hauptfigur, die er, von den Blasinstrumenten namentlich pp ausgeführt wünscht; daran aber sei es genug, denn die Bezeichnung ppp (seine Abneigung gegen alles Forcirte) könne er nicht leiden. So werde die ganze Ouvertüre »fischiger« klingen. M. selbst liess sie von seinen Musikern in Düsseldorf im Juli 1834 zum ersten mal spielen. Sie ging anfangs schlecht, wesshalb er sie drei mal wiederholen lassen musste, gefiel aber schliesslich den Musikern so, dass sie M. nach dem letzten[193] leisen Accord mit einem Trompetentusch anbliesen, was sich, wie M. meint, sehr lächerlich machte. (S. Briefe, 2. Theil, S. 50 und 51.) An seine Schwester Fanny schrieb er später aus Leipzig, 30. Januar 1836: »Von der Melusine meinen manche Leute hier, sie sei meine beste Ouvertüre; jedenfalls ist sie die innerlichste, was aber die musikalische Zeitung darüber fabelt, von rothen Corallen und grünen Seethieren und Zauberschlössern und tiefen Meeren, das geht in's Aschgraue und setzt mich in besonderes Staunen.«

Am 29. August 1833 reiste M. nach mancherlei anderen tüchtigen Leistungen und Erfolgen von London ab und sah es längere Zeit nicht wieder. Zunächst begleitete er den Vater zurück nach Berlin, wo er einige sehr vergnügte Tage mit der Familie verlebte und trat dann seinen neuen Wirkungskreis in Düsseldorf definitiv an. Sonntag, den 3. October, am Tage Maximilian hielt er seine erste Messe. Er schreibt darüber an seine Schwester Rebecka Dirichlet in Berlin am 26. October in sehr launiger Weise:


»Der Chor war vollgepfropft mit Sängern und Sängerinnen, die ganze Kirche mit grünen Zweigen und Teppichen aufgeputzt; der Organist quintulirte fürchterlich auf und ab; die Messe von Haydn war skandalös lustig, indess das Ganze doch leidlich. – Darauf kam die Procession mit meinem feierlichen Marsch in Es, wo die Musiker im Bass den ersten Theil wiederholten, während die im Discant weiter spielten; das thut aber alles in der freien Luft nichts, und als ich der Procession später begegnete, hatten sie den Marsch schon so oft gespielt, dass er recht gut ging und ich rechne mir's zur Ehre, dass die Kirmesmusikanten für die nächste Kirmes sich einen neuen Marsch ausgebeten haben.«


Dann folgt noch in diesem Briefe eine rührende Erzählung einer tragikomischen Scene, deren Schlussbetrachtung M.'s Herzen alle Ehre macht. Ein Kaplan der Kirche hatte M. seine Noth geklagt, dass die Musik gar zu schlecht wäre. Der katholische Bürgermeister wollte nur in der Procession mitgehen, wenn die Musik besser würde.


»Ein ganz alter, verdriesslicher Musikant mit einem schäbigen Rock, welcher bisher den Tact dazu geschlagen hatte, wurde vorgeladen,[194] und als sie ihm auf den Pelz fuhren, sagte er, er werde und wolle keine bessere Musik machen; wollten wir es besser haben, so möchten wir es einem Andern geben. Er wisse wohl, dass man jetzt viel Ansprüche mache; es solle jetzt Alles schön klingen, das sei zu seiner Zeit nicht gewesen, und er mache es noch ebenso gut, wie damals. Da wurde es mir wahrhaftig schwer, ihm die Sache abzunehmen, wiewohl es die Andern gewiss besser machen werden; aber ich dachte mir so, wenn ich in funfzig Jahren einmal auf ein Rathhaus gerufen würde und möchte so sprechen, und ein Gelbschnabel schnauzte mich an, und mein Rock wäre so schäbig, und ich wüsste eben auch gar nicht, warum Alles besser klingen sollte, – und da wurde mir schlecht zu Muthe.«


Als einen empfindlichen Mangel empfand M., dass er unter allen dortigen Musikalien »keine einzige erträglich ernsthafte Messe fand, nichts von älteren Italienern, lauter modernen Spektakel«. Er unternahm desshalb eine Entdeckungsreise nach Elberfeld, Bonn und Köln und kehrte beutebeladen zurück. Die Improperien von Palestrina, die Misereres von Allegri und Bai, auch die Partitur und Stimmen vom Alexanderfest, sechs Messen von Palestrina, eine von Lotti, eine von Pergolese und Psalmen von Leo, Lotti u.s.w., endlich zwei Motetten von Orlando Lasso und die beiden Crucifixus von Lotti waren die Schätze, die er nach einander in den Bibliotheken der genannten Städte auftrieb.

Mitten in diese vorbereitende Thätigkeit M.'s zu dem übernommenen Berufe fiel ein Besuch des preussischen Kronprinzen, nachmaligen Königs Friedrich Wilhelm des IV., in Düsseldorf, zu dessen Empfang M. auf seiner Rückreise überall schon auf den Landstrassen die Vorbereitungen fand. Am Tage nach seiner Ankunft gab der Kronprinz ein Diner, zu welchem auch M. geladen wurde. Der Kronprinz war sehr gnädig gegen ihn, sprach sein lebhaftes Bedauern gegen ihn aus, dass er Berlin für so lange Zeit verlassen habe, rief ihn aus der Ecke per »lieber Mendelssohn«, »kurz,« fügt M. hinzu, »ich nehme mich in einiger Entfernung noch einmal so lieblich aus.«

Die Künstlerwelt Düsseldorf's vereinigte sich, die Anwesenheit des Kronprinzen durch ganz ausgesuchte Darstellungen zu feiern, bei denen Malerei, dramatische Kunst[195] und Musik zusammenwirkten. Im grossen Saale der Academie wurden zuerst drei Transparente gezeigt, die Melancolie nach Dürer, dann Raphaël, dem Maria im Traume erscheint, dann der heilige Hieronymus in seinem Zelte und zwischen jedem der Transparente eine passende Vocalmusik. Dann kamen als zweiter Theil von Bendemann und Schadow gezeichnet und gestellt lebende Bilder aus Israel in Egypten, mit dazu trefflich ausgewählten musikalischen Intermezzi's aus dem Oratorium selbst. (S. die sehr anschauliche interessante Schilderung in dem vorhin angeführten Briefe M.'s an Rebecka, Reisebriefe, 2. Theil, S. 13–15.) Als zweite Abtheilung folgte erstens ein lebendes Bild von Schadow gezeichnet und gestellt, Lorenzo von Medici, von den Genien der Poesie, Sculptur und Malerei umgeben, die ihm Dante, Raphaël, Michel Angelo und Bramante zuführen, mit einer Nutzanwendung auf den Kronprinzen und einem Schlusschor; zuletzt noch komische Scenen aus dem Sommernachtstraum, von den Malern selbst aufgeführt. Es braucht kaum gesagt zu werden, dass M. die Seele des musikalischen Theiles aller dieser Aufführungen war.

Die Concerte, die M. dirigirte, scheinen wenigstens anfangs nicht den gehofften Beifall gefunden zu haben, indem in der ganzen Zeit vom November 1833 bis Mai 1834 deren nur drei gegeben wurden. Doch ist die Schuld davon wenigstens sicher nicht M. zuzuschreiben, der sie vortrefflich ausstattete und auch selbst darin zwei mal als Clavierspieler auftrat.

Dagegen entfaltete sich durch das Freundschaftsverhältniss zwischen Immermann und Mendelssohn, welches in dieser Zeit in voller Blüthe stand, für letzteren eine wenn auch nicht lange währende Frucht neuer Thätigkeit. Wir haben früher gesehen, wie Immermann für M. auf dessen Wunsch Shakespeare's Sturm zu einem Operntext verarbeitet hatte. Die Verwerfung dieses Textes von Seite M.'s hatte zwar Immermann wahrscheinlich unangenehm berührt, doch auf die Dauer hatte dies auf das Verhältniss der Beiden keinen Einfluss. Im Gegentheil, dieses wurde inniger, sie nannten sich »Du«, und Immermann scheint mit wahrhaft zärtlicher Liebe an Mendelssohn gehangen zu haben.[196]

Die Gegenwart der beiden ausgezeichneten Männer, zu denen sich noch der sehr geachtete Schriftsteller von Uechtritz gesellte, sowie die sehr schlechte Verfassung des Düsseldorfer Theaters machten bei dem zahlreichen gebildeten Publicum, dem ausgebreiteten Beamtenstande und der Malerwelt den Wunsch einer radikalen Verbesserung der Bühne rege. Immermann, Mendelssohn und Uechtritz erklärten sich dazu bereit. Man gab daher von Mitte December 1833 bis Ende März 1834 sogenannte Mustervorstellungen, um zu zeigen, wie es einst werden sollte. Die erste dieser Vorstellungen, welche M. zu dirigiren hatte, war Don Juan. Er musste bei dieser Gelegenheit, wohl zum ersten male in seinem Leben, die Angriffe einer sinnlosen, rohen Opposition aushalten, die allerdings nicht seiner Person galten. Ein Theil des Publicums hatte Anstoss an dem Namen Mustervorstellungen genommen, den er für arrogant hielt, auch wohl über die erhöhten Eintrittspreise sich geärgert. Es liess sich wiederholt ein furchtbares Pfeifen, Trommeln und Brüllen hören, vor welchem man das erste Duett des zweiten Actes nicht vernehmen konnte. Immerman, dem man eine Zeitung auf's Theater geworfen hatte, damit er sie vorlesen solle (vermuthlich mit einem tadelnden Artikel) ging empört weg; M. dagegen hielt an seinem Dirigentenpulte tapfer Stand, obgleich er, als der Vorhang zum vierten male fallen musste, seinen Stock hinlegen oder ihn (was ihm Niemand verdenken kann), »wahrhaftig lieber den Kerls an den Kopf werfen wollte«. Indessen die Schreier wurden heiser – es wurde wieder ruhig und der zweite Act konnte unter vielem Applaus bis zu Ende gespielt werden. Der Hauptanstifter des Scandals, ein Regierungssecretär, der die Kühnheit gehabt hatte, sich zu nennen, bekam von seinem Präsidenten einen strengen Verweis, die Soldaten, die mit geschrieen hatten, gleichfalls, – der ganze Verein zur Beförderung der Tonkunst erliess ein Manifest, in welchem er um Wiederholung der Oper bat, so konnte die Vorstellung einige Tage später wiederholt werden. M. hatte gedroht, beim geringsten Scandal die Vorstellung sofort zu endigen, das Theatercomité wollte sich in diesem Fall auflösen – aber siehe[197] da, als er an's Pult trat, wurde ihm unter vielfachem Applaus ein dreifacher Tusch gebracht, dann wurde es mäuschenstill und die Vorstellung wurde von Anfang bis Ende unter lebhaftem Beifall für jede einzelne Nummer glänzend durchgeführt. (Die ausführlichere sehr pikant geschriebene Darstellung des ganzen Vorfalls findet sich in dem auch wieder bei Hensel abgedruckten Briefe M.'s, 2. Theil, S. 18–20.)

Die nächste Mustervorstellung in der zweiten Hälfte des Januar 1834 war die von Egmont mit der Musik von Beethoven. Ueber die erste Hauptprobe dazu schreibt M. ironisch-lustig an seine Familie unter'm 16. Januar: »Eben komme ich aus der Egmontprobe, wo ich zum ersten male in meinem Leben eine Partitur entzwei geschlagen habe, vor Aerger über die Musici, die ich mit dem 6/8-Tact förmlich füttere, und die doch immer noch mehr Lutschbeutel brauchen.« – – Beim »glücklich allein ist die Seele, die liebt« habe ich also zum ersten male eine Partitur entzwei geschlagen, und darauf spielten sie gleich mit mehr Ausdruck. Die Musik hat mir zwar insofern viel Freude gemacht, als ich einmal wieder etwas von Beethoven zum ersten male hörte; aber eigentlich gefallen hat sie mir nicht, und nur zwei Stellen: »Der C dur-Marsch und der 6/8-Tact, wo Klärchen Egmont sucht, sind mir so recht zu Herzen geschrieben.« (Vielleicht war doch der Aerger an dem Ungeschick der Musici Hauptursache dieses wenig günstigen Eindrucks, sonst müsste man doch sagen, auch ein grosser Musiker kann sich einmal in seinem Urtheil sehr irren. Schwerlich hat M. dasselbe in späteren Jahren aufrecht erhalten, da die Musik mit den verbindenden Worten von Mosengeil unter seiner Direction wiederholt im Leipziger Gewandhaus gegeben wurde.) Die dritte Mustervorstellung war die des standhaften Prinzen, von Calderon, zu welchem M. die zur Handlung gehörige Musik: zwei Chöre, Marsch, Schlachtmusik und Melodramatisches componirt hatte. Diese sehr interessante und characteristische Musik ist nicht weiter benutzt worden. Die vierte und letzte dieser Mustervorstellungen war die von Cherubini's Wasserträger. Aengstliche Gemüther fürchteten, die Scenen von der ersten Aufführung des[198] Don Juan könnten sich wiederholen, man könne es für eine Marotte des Comités halten, solch' ein altes Ding wieder aufwärmen zu wollen. Glücklicherweise aber erwiesen sich diese Befürchtungen als unbegründet. Der Darsteller der Hauptrolle, ein Herr Günther, leistete Vorzügliches und die gesammte Vorstellung ging unter grösstem Beifall des Publicums glänzend von statten. (Man vergl. den sehr interessanten Brief M.'s an seinen Vater vom 28. März 1834, M.'s Briefe, 2. Theil, S. 30–32.)

In Folge dieser Mustervorstellungen wurde durch einen Actienverein ein bedeutendes Capital zusammengebracht, ein neues Theater gebaut und dasselbe unter dem Namen Stadttheater in Düsseldorf errichtet. Ein Verwaltungsrath von 11 Personen leitete das Ganze; Immermann und Mendelssohn waren dessen Mitglieder und zugleich coordinirte Intendanten, jener für das Schauspiel, dieser für die Oper. Zu diesem Unternehmen zog M., der ihm nicht seine ganze Zeit widmen wollte und konnte, seinen Jugendfreund und zugleich einen seiner talentvollsten Schüler (den vor einigen Jahren als Hofcapellmeister und Director des Dresdener Conservatoriums verstorbenen) Julius Rietz nach Düsseldorf. Die Beiden hatten sich in Berlin kennen gelernt, waren ungefähr gleichen Alters (Rietz etwas jünger) und M. hatte Rietz sogar eine Zeit lang Clavierunterricht gegeben. Am 28. October 1834 wurde die neue Bühne mit Heinrich v. Kleist's Prinzen von Homburg und einem festlichen von Immermann gedichteten Vorspiel eröffnet. In diesem Vorspiel erschien zum Schluss der Parnass von Raphaël als lebendes Bild, zu welcher Erscheinung M. ein Musikstück componirt hatte.

Leider aber wurde das Theater eine Quelle des Unfriedens zwischen Immermann und M. Beide hatten gewiss den besten Willen, aber ihre Anschauungen über ihren Beruf waren grundverschieden. Immermann glühte für die Idee, ein wirkliches Nationaltheater zu gründen, der er sogar seine Lebensstellung opfern wollte, dabei galt ihm die Oper nur als Nebensache, M. dagegen hielt nach wie vor für seine eigentliche Lebensaufgabe das Componiren. Zu den eigentlichen Geschäften eines Intendanten, Mitglieder engagiren, Verhandlungen über den Gehalt u.s.w. hatte[199] M. weder Talent noch Neigung, ja alle derartige Geschäfte waren ihm von Haus aus gründlich zuwider. In Briefen an seine Eltern und Schwestern, noch mehr an seinen Freund Devrient, spricht er diesen seinen Abscheu in sehr drastischer Weise aus. Freilich hätte er sich das zuvor überlegen sollen, ehe er die Intendantenstelle übernahm, aber er hatte eben in diesen Dingen noch gar keine Erfahrung. Hierzu kam noch, dass die beiden Intendanten ihre Geschäfte nicht so streng von einander schieden, dass nicht je zuweilen Einer in des Anderen Ressort übergegriffen hätte. Daraus entstanden auf beiden Seiten anfangs Vorwürfe, dann Wortwechsel, scharfe Briefe, in denen Keiner dem Andern etwas schuldig bleiben wollte, zuletzt gänzliche Entzweiung. »Kurz, ich fasste meinen Entschluss, drei Wochen nach Wiedereröffnung des Theaters meinen Intendantenthron zu verlassen, und bin nun wieder ein Mensch.« M. zog sich, nachdem er noch den Oberon einstudirt und zwei mal dirigirt hatte, noch im November von der Bühne zurück, und sein Verhältniss zu Immermann stellte sich nie wieder her. Uebrigens missbilligten sowohl M.'s Vater als Devrient entschieden die gewaltsame Lösung des Verhältnisses. Das Theater erhielt sich mit vieler Mühe bis zum Frühjahr 1837.

Desto treuer aber blieb M. seinem eigentlichen musikalischen Wirkungskreise als Dirigent und Componist. Gesangverein und Concerte blühten im Winter 1834/35 unter seiner Direction auf das Schönste. Concerte fanden sieben statt, darunter Aufführungen des Messias und der Jahreszeiten. Hauptergebniss aber der Düsseldorfer Zeit war die Composition des grössten Theiles des Paulus, über dessen allmähliches Fortschreiten M. sowohl in den Briefen an seine Familie, als an seine Freunde, u.A. auch an Capellmeister Louis Spohr in Cassel, Kunde giebt. An letzteren schreibt er am 8. März 1835: »Ich habe seit ungefähr einem Jahre ein Oratorium angefangen, das ich im nächsten Monat zu beendigen denke und dessen Gegenstand der heilige Paulus ist. Die Worte dazu haben mir einige Freunde aus der Bibel zusammengestellt und ich glaube, dass der Gegenstand, sowie diese Zusammenstellung sehr musikalisch und ernsthaft ist. Wenn nur die Musik[200] auch recht so wird, wie ich's möchte. Wenigstens habe ich während des Schreibens die grösste Freude daran gehabt.« Ausser dem Paulus schrieb M. in dieser Zeit noch die drei Clavier-Capriccio's Op. 23, eine As dur-Fuge, viele Lieder mit und ohne Worte, darunter »Auf Flügeln des Gesanges,« unter letzteren die des 2. Heftes, auch die drei Heine'schen Volkslieder »Entflieh' mit mir und sei mein Weib«3 im ersten Heft seiner Gesänge für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Op. 41, und zu dem allen noch die Ouvertüre zur schönen Melusine, deren schon oben gedacht ist. An vielfacher musikalischer Geselligkeit fehlte es auch nicht, und Mendelssohn war durchaus nicht karg im Mittheilen und Vorspielen. In Elberfeld und Barmen gab er Concerte, im Frühling 1834 besuchte er, wenn auch nur als Zuhörer, das Musikfest in Aachen, wo er mit Ferdinand Hiller und Chopin zusammentraf. Nach alledem muss man sagen, dass M. ungeachtet seines Rücktritts von der Direction der Oper doch in diesen beiden Jahren in Düsseldorf und den Nachbarorten eine bewundernswerthe Thätigkeit entfaltete.

Im Frühjahr 1835 wurde M. aufgefordert, das Cölner Musikfest zu dirigiren, was er auch annahm. Es wurde gegeben: Festouvertüre von Beethoven in C, Salomon von Händel (nach der Originalpartitur mit von Mendelssohn dazu gesetzter Orgel), 8. Symphonie von Beethoven, Milton's Morgengesang von Reichardt, Ouvertüre zur Euryanthe und religiöser Marsch und Hymne von Cherubini. Absichtlich übte M. die Selbstverläugnung, nichts von seinen eigenen Compositionen zu bringen. Die Anerkennung, die er fand, war ausserordentlich. Das Comité des Festes verehrte ihm die grosse Londoner Ausgabe von Händel's Werken, 23 grosse Folianten auf die bekannte englisch elegante Manier in dickes grünes Leder gebunden, auf[201] jedem Rücken mit gewaltigen goldenen Buchstaben der Titel des Ganzen und der Inhalt des Bandes, auf dem ersten Bande ausserdem die Worte: Dem Director F.M.B.; das Musikfestcomité 1835 in Cöln, dabei ein sehr freundlicher Brief des gesammten Comité mit allen ihren Unterschriften, ausserdem noch eine Pergamentrolle mit einem einfachen Dank und der eigenhändigen Unterschrift sämmtlicher (gegen 600) Mitwirkenden. Mendelssohn bezeugt über alle diese Gaben noch in einem Briefe von Leipzig aus, am 6. October 1835, seine herzinnige, wahrhaft kindliche Freude.

Inzwischen war man in Leipzig auf Mendelssohn aufmerksam geworden und wünschte ihn für das Musikleben in dieser Stadt zu gewinnen. Einige der angesehensten Mitglieder der Universität hatten zuerst den Gedanken, eine Professur der Musik zu gründen, und hielten M., dessen hohe, auch wissenschaftliche Bildung ihnen bekannt war, für geeignet, diese Stellung einzunehmen; man fragte desshalb bei ihm an; er schrieb zurück, höflich für die Ehre dankend, lehnte es aber ab, Vorlesungen zu halten, wozu er auch in der That, wie man später wohl erkannte, ganz und gar keinen Beruf hatte. Indessen war doch einmal der Wunsch rege gemacht, ihn zu besitzen, und vielleicht durch dieselbe Hand, welche ihm damals zuerst schrieb, wurde die Direction der Leipziger Gewandhausconcerte veranlasst, M. die Leitung derselben zu übertragen. Das Leipziger Musikleben, welches schon damals auf einer bedeutenden Höhe stand, war M. schon ein Jahr früher bekannt geworden. Im September 1834 hatte er bei seiner Familie einige Wochen in Berlin verweilt und reiste nun über Leipzig und Cassel nach Düsseldorf zurück. Am 1. October traf er in Leipzig ein und nahm bei seinem Freunde Franz Hauser, den wir schon von Wien her kennen, jetzt als vorzüglicher Baritonist am Leipziger Stadttheater, für einige Tage Quartier. Am 4. October betrat er zum ersten male den Gewandhaussaal, wohnte da einer Probe zu seiner »Meeresstille und glückliche Fahrt« bei, und lernte schon da die Leistungsfähigkeit des trefflichen Orchesters unter der Leitung des höchst wackern Concertmeisters Matthäi kennen. Gewiss trug diese erfreuliche[202] Erfahrung nicht wenig dazu bei, M. zur Annahme des ihm später gewordenen Antrags geneigt zu machen. (S. die ausgezeichnete Festschrift zur hundertjährigen Jubelfeier der Einweihung des Concertsaales von Dr. Alfred Dörffel, II. Theil, S. 83.) Die Verhandlungen darüber, bereits im Januar 1835 begonnen, wesentlich geführt durch das Mitglied der Concertdirection, Advocat Conrad Schleinitz,4 kamen im April zu einem günstigen Abschluss. M. stellte nur die beiden Bedingungen, dass nicht etwa durch ihn ein Vorgänger verdrängt würde, und er wenigstens dasselbe Einkommen behielte, was er in Düsseldorf gehabt, worauf man bereitwilligst einging. Er wurde für die ersten beiden Jahre mit 600, für die vier folgenden mit je 1000 Thlr. als Director der Gewandhausconcerte angestellt. Nach seinem Düsseldorfer Contract konnte er das Engagement nach zwei Jahren wieder aufgeben. Er that dies, und, nachdem er noch am 2. Juli 1835 ein grosses herrlich ausgewähltes Concert dirigirt und darin sein H moll-Capriccio gespielt hatte, verliess er in Begleitung seiner Eltern, die zu dem Cölner Musikfest gekommen waren, Ende Juli Düsseldorf, zum grössten Leidwesen aller Wohlgesinnten. Am 30. Aug. kam er in Leipzig an und nahm seine erste Wohnung im ersten Stock des mittleren Vordergebäudes von Reichel's Garten.


Leipzig, die altehrwürdige Musenstadt mit dem immer wieder sich neu verjüngenden Antlitz – gegenwärtig durch mehrere herrliche Prachtgebäude in die Reihe der schönen Städte eingetreten – Leipzig, gleichsam eine vereinigte Handels- und Gelehrtenrepublik unter königl. sächsischer Oberhoheit, deren Bevölkerung durchdrungen von kosmopolitischem Geist und dabei doch echt deutschpatriotischem Sinn, allem Zopf- und Philisterthum abhold, für Kunst und Wissenschaft aller Art lebhaft empfänglich ist, darunter[203] manche reiche Patrizier, grossentheils feingebildete Männer, Gönner und Kenner der Kunst, besonders der edlen Frau Musica, das war allerdings ein Boden, auf dem, wie kaum an einem anderen Orte, der Genius eines Mendelssohn seine Schwingen frei entfalten konnte. Zu dem Allen kam noch die besondere Pflege, deren sich die Musik schon seit fast zwei Jahrhunderten in Leipzig zu erfreuen hatte. Hier war es, wo der grosse Cantor zu St. Thomä, Johann Sebastian Bach, bereits 1729 seine Passionsmusik aufgeführt, seinen vortrefflichen Thomanerchor herausgebildet, seine Kirchenmusiken als integrirenden Theil des Gottesdienstes an Sonn- und Festtagen aufgeführt, und von 1729–1736 auch öffentliche Concerte, in der Messe sogar zweimal wöchentlich dirigirt hatte; hier, wo das von 1743–1778 schon bestehende sogenannte grosse musikalische Concert unter der Pflege eines Doles, Hiller u.A., das bisher in verschiedenen Privathäusern aufgeführt worden war, durch den kunstsinnigen Bürgermeister Dr. Müller, dem Leipzig überhaupt viele Verschönerungen verdankte, seit 1781 in dem eigens dazu erbauten Saale des Gewandhauses (so genannt von der hier stattfindenden Aufbewahrung der Tuche) eine bleibende Stätte fand. Von da an hiessen diese Concerte Gewandhausconcerte. Der eirunde Saal, auf hölzernem Fussboden stehend, von einer hölzernen Decke überwölbt, glich so einem Resonanzboden und hatte eine Akustik, wie sie schöner nicht in der Welt gefunden wird. Ueber dem Orchesterraum am Friese des Hauptgesimses stand schon damals die schöne Devise: »Res severa est verum gaudium,« Eine ernste Sache ist die wahre Freude, ein Wahlspruch, dem das wackere Orchester jederzeit treu geblieben ist. Von 1781–1785 dirigirte die Concerte noch der Cantor der Thomasschule Joh. Adam Hiller, von da bis 1810 Johann Gottfried Schicht; ihnen folgte bis 1827 Johann Philipp Christian Schulz, von 1827–1835 Christian August Pohlenz.5 Als M. die Direction dieser Concerte antrat, fand[204] er nicht nur ein tüchtig geschultes Orchester vor, welches z.B. Beethoven'sche Symphonieen schon in ziemlicher Vollendung spielte, sondern ausser dem Thomanerchor auch eine Singacademie, den ausgezeichneten studentischen Sängerchor der Pauliner, ebenso den Gesangverein Ossian für gemischten Chor und eine Menge kunstgeübter Dilettanten, sowie auch eine recht gut besetzte Oper. Auf einem so wohl vorbereiteten Boden konnte ein so hoch begabter Dirigent allerdings Leipzig zu einer, ja man darf sagen, zu der Musikstadt par excellence in Deutschland, ja in Europa machen. Der immer noch sehr jugendliche Heros, damals erst 26 Jahre alt, wurde mit offnen Armen aufgenommen. Hören wir ihn selbst, wie er sich darüber ausspricht. Er schreibt in dem Briefe an seine Familie vom 6. October 1835:


»Ich kann Euch gar nicht sagen, wie zufrieden ich mit diesem Anfang bin, und mit der ganzen Art, wie sich meine Stellung hier anlässt. Es ist eine ruhig ordentliche Geschäftsstellung; man merkt, dass das Institut seit 56 Jahren besteht (Mendelssohn zählt 3 Jahr des Interregnums mit von 1778–81) und dabei scheinen die Leute mir und meiner Musik recht zugethan und freundlich. Das Orchester ist sehr gut, tüchtig musikalisch, und ich denke, in einem halben Jahre soll es noch besser werden, denn mit welcher Liebe und Aufmerksamkeit diese Leute meine Bemerkungen aufnehmen und augenblicklich befolgen, das war mir in den beiden Proben, die wir bis jetzt hatten, ordentlich rührend; es war immer ein Unterschied, als ob ein anderes Orchester spielte. Einige Mängel sind noch im Personal, aber sie werden wohl nach und nach abgestellt werden, und ich glaube, einer Reihe sehr angenehmer Abende und guter Ausführungen entgegensehen zu können.« (Reisebriefe, Thl. II, S. 101 und 2.)


Mit M.'s Leipziger Aufenthalt, der fast ohne Unterbrechung vom September 1835–1844 und von 1845 wieder bis an sein Ende währte, beginnt die vierte Periode seines Lebens, ein Zeitraum voll der reichsten, allseitigsten, ungehemmtesten Thätigkeit, zugleich eine Glanzepoche für das musikalische Leben Leipzig's, das auf dieser Höhe nur durch die eifrigsten Bestrebungen seiner gewissenhaften Nachfolger erhalten werden konnte. Er dirigirte die Gewandhausconcerte ununterbrochen von[205] 1835–1841, während dieses Zeitraumes unendlich viel Grosses und Schönes wirkend, aber auch nirgends bereitwilliger anerkannt. Er verstand die reichen Mittel, die er hier vorfand, mit der grössten Umsicht, mit beharrlicher Kraft und Geduld zu benutzen und auf diese Weise die grossartigsten Erfolge zu erzielen. Denn er beschränkte seine Thätigkeit keineswegs auf das schon vor ihm fast classische Institut der Gewandhausconcerte, ja man darf sagen, er erweckte durch die Ausübung der einen Kunst einen reineren edleren Geschmack für alle und gab dem Leben der Gebildeten durch den bedeutenden sittlichästhetischen Einfluss, den er gewann, eine höhere Richtung. Er that dies nicht nur durch eine, soweit es von ihm abhing, stets treffliche Wahl der in den Concerten aufzuführenden Musikstücke, nicht nur, indem unter seiner ausgezeichneten Direction dem Orchester wie dem Publicum Sinn und Geist der Werke neuerer grosser Meister, wie z.B. vorzugsweise der neunten Symphonie Beethoven's erst recht aufging; er nährte nicht nur den Sinn für den geschichtlichen Entwicklungsgang der Musik, indem er eine Reihe historischer Concerte veranstaltete, sondern er beschwor auch die edlen Geister der Vorzeit zu nachhaltiger Wirkung herauf und vereinigte oft die grossen musikalischen Kräfte Leipzig's zu höchst würdiger Darstellung ihrer Meisterwerke. Liefern wir jetzt zu dieser allgemeinen Characteristik seines Wirkens die Beweise durch die Details aus seiner Lebensgeschichte.

Der 4. October 1835 war der für Leipzig's Musik- und Kunstleben so bedeutungsvolle Tag, an welchem M. im ersten Abonnementconcerte des Gewandhauses als Director zuerst öffentlich hervortrat. »Gleich bei seinem Auftreten,« heisst es in einem damaligen Berichte der allgemeinen musikalischen Zeitung, »sprach sich im überaus gefüllten Saale die lebhafteste Freude der Versammlung durch laute Beifallsbezeugungen unzweideutig aus. Die überall beliebte Ouvertüre M.'s, ›Meeresstille und glückliche Fahrt‹, leitete so schön ein, als man es von einer ersten Leistung eines ersten und unter einer neuen Führung stehenden Concertes nur erwarten konnte.« (Wir sahen oben, dass M. schon am 4. October 1834 der Probe[206] desselben Orchesters zu dieser Ouvertüre beiwohnte. Sie gefiel damals so, dass sie gleich im nächsten Concert wiederholt wurde.) Die übrigen Musikstücke des Concertes waren: Scene und Arie von C.M. von Weber (in Lodoiska eingelegt), gesungen von Fräulein Henriette Grabau, Spohr's Violinconcert Nr. 11, gespielt von dessen Schüler Musikdirector Gerke aus Berlin und Introduction aus Ali Baba von Cherubini, die Soli von Fräulein Grabau, Herrn Weiske (Bass) und Herrn Gebhardt6 (Tenor) gesungen. Den zweiten Theil des Concerts bildete Beethoven's B dur-Symphonie, welche mit einer damals selbst in Leipzig noch unerhörten Präcision gegeben wurde. Dafür hatte sie M. selbst auf das sorgfältigste einstudirt und dirigirte sie auch selbst, eine damals noch neue aber gewiss höchst natürliche und zweckmässige Einrichtung. Bis dahin waren die Symphonieen immer nur vom Concertmeister und ersten Vorgeiger von seinem Pult aus dirigirt worden, wobei sich allerdings der damals schon sehr leidende Concertmeister Matthäi um die feinere Auffassung namentlich Beethoven'scher Symphonieen, durch welche sich schon vor Mendelssohn das Leipziger Orchester auszeichnete, grosse Verdienste erworben hatte. Aber von dieser feinen Schattirung, dieser sorgfältigen Berücksichtigung jedes einzelnen Instrumentes, diesem exacten Zusammenspiel, wie es aus Mendelssohn's Direction hervorging, hatte man doch noch keinen Begriff. Uebrigens war und blieb gerade die Ausführung der B dur-Symphonie, dieser tiefgefühlten, ätherischen Musik, die Schumann die griechische nannte, stets eine der herrlichsten Schöpfungen M.'s, des Dirigenten. Bei jeder neuen Darstellung wusste er neue Lichtpunkte heraus zu heben, so dass man sich versucht fühlte, zu sagen: So vollendet haben wir sie noch nie gehört.7[207]

Hören wir noch, wie M. sich selbst über dieses erste im Leipziger Gewandhaus von ihm dirigirte Concert ausspricht. In dem vorhin erwähnten Briefe an seine Familie vom 6. October sagte er:


»Ich wollte, Ihr hättet die Einleitung meiner Meeresstille gehört (denn damit fing das Concert an); es war im Saal und auf dem Orchester eine Ruhe, dass man das feinste Tönchen hören konnte und sie spielten das ganze Adagio geradezu meisterhaft; weniger das Allegro, wo sie, an ein langsames Tempo gewöhnt, immer schleppen wollten; das Ende dagegen wieder, wo der langsame 4/4 Tact ff anfängt, war prächtig gelungen, die Geigen fuhren mit einer Wuth zu, dass ich mich ordentlich erschreckte und Publicus freute sich. – Die folgenden Stücke, Arie aus E dur von Weber, Violinconcert von Spohr und Introduction aus Ali Baba gingen weniger gut; die eine Probe war nicht zureichend und es wackelte manchmal; dagegen klappte die B dur-Symphonie von Beethoven, die den zweiten Theil ausmachte, ganz herrlich und die Leipziger jubelten nach jedem Satz. – Es war aber auch eine Aufmerksamkeit und Spannung im ganzen Orchester, wie ich sie nie grösser gesehen, sie passten auf, wie die – Schiessvögel, hätte Zelter gesagt. – Nach dem Concert empfing und machte ich auf dem Orchester eine Masse Gratulationen; – erst das Orchester, dann die Thomaner, (welche Prachtjungen sind und so pünktlich eintreten und loslegen, dass ich ihnen einen Orden versprochen habe); dann kam Moscheles mit einem Hofstaat von Dilettanten, dann die beiden musikalischen Zeitungen und so weiter.« (Man lese auch den interessanten Schluss des Briefes, a.a. O, S. 103.)


Am 9. October gab Moscheles, der wohl auf Einladung M.'s nach Leipzig gekommen war, ein ausserordentlich besuchtes Extraconcert, in welchem er mit M. das Hommage à Händel spielte und die Ouvertüre zu den Hebriden gegeben wurde. Im zweiten Abonementconcert am 11. October wurde unter M.'s Leitung die Es dur-Symphonie Mozart's schöner und vollkommener, als je vorher, zur Darstellung gebracht. Moscheles spielte sein G moll-Concert, das zweite Finale aus Don Juan wurde gegeben und das zuerst genannte Doppelconcert unter M.'s Mitwirkung auf Verlangen wiederholt. Es wurde von den beiden Freunden sehr feurig vorgetragen, so dass der Saal vom Beifall der erfreuten Menge wiederhallte. Das dritte Abonementconcert[208] brachte Beethoven's gewaltige A dur-Symphonie, deren Ausführung dem vorhergenannten in jeder Weise entsprach. Im vierten, am 29. October, spielte M. selbst sein herrliches G moll-Concert, diesen Typus idealer Schwärmerei und dabei doch innerlicher Empfindung. Er wurde gleich beim Hervortreten abermals mit lebhaften Beifallsbezeugungen empfangen, die nach jedem vorgetragenen Satze sich immer mehr verstärkten, dem bewunderungswürdigen Feuer, der vollendeten Grazie und Eleganz des ausdrucksvollen Spiels entsprechend. M.'s Pietät auch gegen ältere Meister trat auf eine für die Zuhörer sehr genussreiche Weise im fünften Abonnement-Concert hervor, in welchem er die Symphonie Nr. 4 von Haydn aufführen liess; auch wurde dieses Concert durch das Auftreten des berühmten Tenoristen Wild verherrlicht, der die Arie aus Belmonte und Constanze »So soll ich Dich denn sehen« und Beethoven's Adelaide mit grossem Beifall sang. Das sechste Concert war wieder ein durch und durch classisches. Gluck's Ouvertüre zu Iphigenie in Aulis, eine Arie von Paër mit obligater Violine, Chor und erstes Finale aus Titus und Beethoven's Eroica wurden gegeben. Versteht sich, dass M. an der Wahl, wie an der Ausführung dieser Musikstücke stets den entschiedensten Antheil hatte. Am 9. November trug Fräulein Clara Wieck in einem Extra-Concert M.'s Capriccio brillant H moll, Op. 22 vor. M. schrieb darüber an seine Schwester Fanny, am 13. November 1835: »Denk' Dir, Fanny, bei Wieck's Concert neulich hörte ich meinem H moll-Capriccio zum ersten male zu (Clara spielte es, wie ein Teufelchen) und es hat mir sehr gut gefallen. Ich war eigentlich ganz verwundert darüber, denn ich hielt es für ein sehr dummes Ding, seit Du und Marx sehr darauf geschimpft,8 aber es klingt wahrhaftig lustig mit dem Orchester, es scheint mir lange frisch für ein Concertding. Ich glaube, es ist hübscher, als das aus Es, Du glaubst aber das Gegentheil, glaube ich!« In[209] demselben Concert spielte übrigens M. mit Clara und Herrn Rakemann Bach's Tripel-Concert in D moll.

Mitten hinein in diese vom schönsten Erfolge gekrönte Thätigkeit fiel ein schwerer Schlag durch den am 19. November Vormittags unerwartet schnell erfolgten Tod von M.'s Vater. Abraham M. war schon längere Zeit an den Augen leidend und zuletzt fast ganz staarblind gewesen, hatte sich aber noch Mitte October sehr an M.'s und Moscheles', die zum Besuch in Berlin anwesend waren, wunderschönem Zusammenspiel erfreut. Der alte M., der sie nicht sehen konnte, verwechselte beide, und wunderte sich über Felixens zierliches Spiel und Moscheles' lebhafte Natürlichkeit; erst als sie aufstanden, bemerkte er seinen Irrthum. Am zweiten Abend, unmittelbar vor Moscheles' Abreise, phantasirten die Beiden vierhändig; als die Zeit der Abfahrt da war, unterbrach Felix Moscheles durch das Schnellpostsignal; darauf nahm Moscheles in einem rührend feierlichen Andante Abschied, wurde abermals durch das Signal unterbrochen und nun schlossen beide zusammen. Der alte M. erzählte noch in den nächsten Wochen hiervon gern und gut. (Hensel, die Familie M., Bd. I, S. 422 und 423.) Nachdem noch am 14. November die Familie den Geburtstag von M.'s Mutter vergnügt zusammen gefeiert hatte und der Vater noch am 18. bis auf einen wenig bedeutenden Husten ganz wohl war, wurde die Mutter am folgenden Morgen mit der Nachricht geweckt, ihr Gatte sei unwohl geworden. Man dachte an einen Schlagfluss, aber der Kranke war bei Besinnung und Bewusstsein. Die herbeigerufenen Aerzte erklärten den Zustand für so wenig bedenklich, dass sie Felix nicht erst durch eine Nachricht erschrecken und nach Berlin sprengen lassen wollten. Dies war um 10 Uhr Morgens. Darauf drehte sich der Kranke um und sagte, er wolle ein wenig schlafen; doch eine halbe Stunde darauf war er todt. So sanft war das Ende, dass keins der um das Lager versammelten Kinder anzugeben wusste, wann der Tod eingetreten sei. Fanny bezeichnet dieses Ende wunderschön mit den Worten: »So schön, so unverändert ruhig war sein Gesicht, dass wir nicht nur ohne Scheu, sondern mit einem wahren Gefühl der Erhebung bei der geliebten Leiche[210] verweilen konnten. Der ganze Ausdruck so ruhig, die Stirn so rein und schön, die Hände so mild; es war das Ende des Gerechten, ein schönes beneidenswerthes Ende, und ich bitte Gott um ein gleiches, und will mich mein ganzes Leben lang bemühen, es zu verdienen, wie er es verdiente. Es war das versöhnendste, schönste Bild des Todes!« Wir haben schon weiter oben gesehen, wie Gott auch Fanny ein wenigstens sehr ähnliches Ende bescheerte, der liebenswürdigsten Künstlerin einen sanften, raschen Künstlertod. Wilhelm Hensel nahm sogleich Extrapost und fuhr an demselben Tage 1/23 Uhr Nachmittags nach Leipzig, um Felix vorzubereiten. Zwei Tage später, am Sonnabend Morgen, kamen Beide in Berlin wieder an. Felix' Zustand war besorgnisserregend, er war an Leib und Seele wie zerbrochen, wenig weinend, in hoffnungslosem Schmerz. Tiefer und inniger als er hat wohl nie ein Sohn seinen Vater betrauert. Verlor er doch in ihm seinen besten Freund, zu dem er stets mit kindlicher Ehrfurcht emporgeblickt, ohne dessen Rath er in keiner wichtigen Angelegenheit handeln wollte, dessen richtiges Urtheil auch in musikalischen Dingen bei allem Mangel an technischer Kenntniss er bewunderte. Wie schwer seine Trauer über diesen Verlust war, bezeugen unter anderm die beiden ebenso zartsinnigen als gefühlvollen Briefe, die er an seine theologischen Freunde, den Prediger Schubring in Dessau am 6. December und den Prediger Bauer in Belzig am 9. December, beide von Leipzig aus schrieb. Der Anfang des Briefes an Schubring lautet:


»Du wirst es schon wissen, welch' schwerer Schlag mein und alle der Meinigen glückliches Leben getroffen hat. Es ist das grösste Unglück, was mir widerfahren konnte und eine Prüfung, die ich nun entweder bestehen oder daran erliegen muss. Ich sage mir dies jetzt nach drei Wochen, ohne jenen scharfen Schmerz der ersten Tage, aber ich fühle es desto sicherer; es muss für mich ein neues Leben anfangen oder alles aufhören, – das alte ist nun abgeschnitten ... ich war auf 10 Tage in Berlin, um durch meine Gegenwart die Mutter wenigstens mit dem Rest der Familie vollzählig zu umgeben – aber welche Tage das waren, das brauche ich Dir nicht zu sagen; Du weisst es wohl und hast gewiss meiner gedacht in dieser dunkeln Zeit.«[211]


Etwas milder, aber doch noch ebenso tief und innig spricht sich die Trauer des Sohnes um den Vater auch in dem zweiten Briefe, den an Bauer aus:


»Deinen guten Brief erhielt ich hier an dem Tage, wo bei Dir die Taufe sein sollte, als ich eben von Berlin zurückgekommen war, wo ich meiner Mutter die ersten Tage nach dem Verlust meines Vaters zu erleichtern gesucht hatte. So bekam ich die Nachricht Deines Glücks, als ich hier wieder in meine leere Stube trat und zum erstenmale recht im innersten fühlte, was es heisst, das bitterste, schmerzlichste Unglück zu erleben. Denn der Wunsch, den ich mir vor allem jeden Abend wieder gewünscht hatte, war der, diesen Verlust nicht zu erleben, weil ich an meinem Vater so ganz und gar gehangen hatte, oder vielmehr hänge, dass ich nicht weiss, wie ich mein Leben nun fortsetzen werde und weil ich nicht blos den Vater entbehren muss (ein Gefühl, das ich mir schon seit meiner Kindheit als das herbste dachte), sondern auch meinen einzigen ganzen Freund während der letzten Jahre und meinen Lehrer in der Kunst und im Leben.«


Zweierlei Vorsätze hatte der beste der Söhne mit dem Verlust des Vaters von Berlin mit hinweggenommen. Zuerst das Oratorium Paulus so bald und so schön als möglich zu vollenden. »Ich mache mich nun«, schreibt er am Schlusse des Briefes an Schubring, »mit doppeltem Eifer an die Vollendung des Paulus, da der letzte Brief des Vaters mich dazu trieb und er sehr ungeduldig die Beendigung dieser Arbeit erwartete; mir ist's, als müsste ich nun alles anwenden, um den Paulus so gut als möglich zu vollenden, und mir dann denken, er nähme Theil daran.« Der zweite Vorsatz war der, sich selbst eine Familie zu gründen. Es war ja, wie wir schon oben sahen, des Vaters Lieblingswunsch, seinen Felix noch verheirathet zu sehen; auch lag darin die natürlichste Heilung für dessen grossen Schmerz. Er that deshalb, wie Devrient berichtet, auch seiner Schwester Fanny beim Abschiede den Entschluss kund, sich eine Frau zu suchen, was auch vollständig dem Wunsche seiner Mutter entsprach. Doch erst das nächste Jahr brachte ihn der Erfüllung dieses Vorsatzes nahe.

Es war eine besonders freundliche Fügung der Vorsehung, dass M. im Trauerhause einen seiner liebsten[212] Jugendfreunde und Kunstgenossen Ferdinand David nach mehrjähriger Trennung wiederfand. Dieser, mit M. in einem Hause kaum ein Jahr nach ihm, am 19. Januar 1810 geboren, hatte die Violine zu seinem Lieblingsinstrument erwählt, genoss von seinem 13. bis 16. Lebensjahre in Cassel Spohr's Unterricht, versuchte dann sein Glück zuerst in seiner Vaterstadt Hamburg, ging dann aber nach Berlin, wo er mit M. als Jüngling viel musicirte. Hier fand er seine erste Anstellung im Königstädtischen Theater, wo er bald den Beifall des Publicums und seiner Directoren in hohem Grade gewann. Später folgte er einem Rufe in die Capelle eines reichen und angesehenen Privatmannes in Dorpat. Jetzt sahen sich die beiden Freunde in einem so ernsten Momente zuerst wieder. M. veranlasste den Freund, der ihm eine so treffliche Stütze bei den meisten seiner Leistungen (in Leipzig bei allen) werden sollte, mit ihm nach Leipzig zu kommen. David trat hier am 10. December zum ersten mal und zwar mit zwei eigenen Compositionen auf und erntete reichen Beifall. Da der verdiente Concertmeister Mathäi bald darauf starb, trat er seit dem 25. Februar 1836 in dessen Stellung ein und behauptete dieselbe bis zu seinem Tode am 18. Juli 1873 in hervorragender Weise. Er wurde seit 1843 der nächst Mendelssohn bedeutendste Lehrer des Leipziger Conservatoriums, namentlich im Geigenspiel, dirigirte auch die Gewandhausconcerte zuerst im Winter 1852–53 abwechselnd mit Gade, 1853–54 ausschliesslich.

Kehren wir jetzt zu M. selbst zurück. Schon am 23. November war er, wenn auch noch nicht wieder in Person, so doch in einem seiner neuesten Instrumentalwerke, der Ouvertüre zur schönen Melusine, gegenwärtig. Sie wurde an diesem Tage, noch immer als Manuscript, in dem Concerte für alte und kranke Musiker gegeben, und gefiel so sehr, dass sie auf allgemeinen Wunsch sogleich in dem am 3. December folgenden 8. Abonnementconcert wiederholt wurde. Im neunten, am 10. December, in welchem, wie oben gesagt, David die Hörer zum erstenmale durch den Vortrag eigener Compositionen erfreute, wurde nun wieder unter M.'s Direction die G moll-Symphonie von Mozart, ebenso im zehnten die B dur-Symphonie von Haydn[213] und M.'s Ouvertüre zu den Hebriden gegeben. Ueber die Ausführung der Symphonieen von Haydn und Mozart ist zu sagen, dass M. bei aller Pietät gegen diese grossen Altmeister der Tonkunst durch seine geistreiche Auffassung, durch ein hin und wieder etwas beschleunigtes Tempo und durch die feinste Nuancirung mittelst Piano, Crescendo und Decrescendo diese Werke mit den Anforderungen und dem Geschmack der Gegenwart auf das sinnigste auszusöhnen verstand.

Da es bei allem Interesse und aller Verehrung für M. dennoch die Leser ermüden würde, alle Leistungen des Meisters in diesen Concerten bis in das Einzelnste zu verfolgen, so wollen wir sie nur noch summarisch durchgehend das Wichtigste und völlig Neue darin hervorheben. Bemerkenswerth scheint, dass im zwölften Abonnementconcert, dem zweiten des Jahres 1836, schon wieder eine Symphonie von Haydn, die reizende in Es dur, zur Aufführung kam. M. hatte es also darauf abgesehen, den vielleicht schon diesem Meisterwerk entwöhnten und verwöhnten Geschmack des Publicums wieder für ihre jugendliche Frische und Naivetät zu gewinnen, was ihm wohl auch bei dem grössten Theile der Musikfreunde vollkommen gelang. Ebenso verfuhr er mit Mozart's Werken und war dabei nicht nur als Dirigent, sondern auch als ausübender Künstler thätig. Im vierzehnten Abonnementconcert am 28. Januar trug er Mozart's Clavierconcert in D moll, wie es der Meister schrieb, also nicht nach der modernen Bearbeitung, mit gewohnter Sicherheit, Umsicht und Kraft vor. »Die von ihm selbst beigegebenen Cadenzen,« schrieb die allgemeine musikalische Zeitung, »vorzüglich die erste, waren wie natürlich, aus Themen des Concerts verbunden und im Flusse neu erhöhter Mechanik kunstreich ausgeführt, so dass man es ein Concert im Concert nennen konnte.« Diese freilich sehr allgemein gehaltene Notiz, welche man über jede gelungene Cadenz setzen könnte, ergänzt M., selbst in dem Briefe an Schwester Fanny, in dem Briefe vom 30. Januar 1836:


»Ich bin sehr ermüdet und abgespannt vom gestrigen Concert, wo ich ausser dreimal dirigiren noch das Mozart'sche D moll-Concert spielen musste. In dem ersten Satz machte ich eine Cadenz, die mir sehr gut gelang und nach der die Leipziger einen Mordlärm[214] machten. Ich muss Dir das Ende herschreiben: Du erinnerst Dich doch des Themas? Gegen das Ende der Cadenz kommen pianissimo Arpeggien in D moll herauf; dann (folgen die Noten), dann wieder G moll-Arpeggien, dann (folgen die Noten), dann Triller u.s.w. bis zum Schluss in D moll. (Musikalisch gebildete Leser mögen die Noten im Briefe selbst nachlesen (M.'s Briefe, II. Thl., S. 115 und 16). Ein alter Musiker von der zweiten Geige sagte mir nachher auf dem Gange, er habe es in demselben Saale von Mozart gehört, aber seit ihm habe kein Mensch so gute Cadenzen hineingemacht, wie ich gestern, worüber ich mich sehr freute.«


Bemerkenswerth ist auch M.'s Zeugniss gegen den Schluss des Briefes:


»So habe ich hier diesen ganzen Winter hindurch noch keinen verdriesslichen Tag, fast kein ärgerliches Wort von meiner Stellung und viele Freuden und Genüsse gehabt. Das ganze Orchester, welches sehr tüchtige Männer enthält, sucht mir jeden Wunsch an den Augen abzusehen, hat die merklichsten Fortschritte in Feinheit und Vortrag gemacht und ist mir so zugethan, dass mich's oft rührt.«


Im nächsten Concerte, am 4. Februar, wurde Beethoven's F dur-Symphonie in noch nicht gehörter Weise gegeben und am 11. Februar seit längerer Zeit wieder zum ersten mal die 9. grosse Symphonie D moll mit Chören über Schiller's Lied an die Freude. Nur selten wagte sich bis dahin ein Dirigent an das Einstudiren dieses Werkes, das so ungeheure Kräfte verlangt und in den Anforderungen an die Menschen, namentlich an die Sopranstimmen fast das Mögliche übersteigt. M.'s umsichtige Leitung wusste theils die vorhandenen Mittel ebenso klug zu schonen, als zu benutzen, theils das Schroffe und Herbe so zu mässigen, dass es nirgends die Grenze des Schönen überschritt. Stellen, welche früher bei ungebildeten Hörern fast Gelächter hervorgerufen hatten, erschienen jetzt wie geheimnissvoller Sphärenklang, so z.B. namentlich die Stelle im letzten Satz, wo als Einleitung zu den »Froh wie seine Sonnen fliegen – freudig wie ein Held zum Siegen«, die gedämpfte Janitscharenmusik erklingt. Auch die Dissonanz vor den Worten »O Freunde, nicht diese Töne« trat bei weitem nicht mehr so schroff hervor; dagegen das Hauptthema zu »Freude schöner Götterfunken«,[215] von den Bässen und Cellis erst leise, dann immer stärker anschwellend angegeben, war von der ergreifendsten Wirkung. Schliessen wir mit dieser grossartigen Leistung den Bericht über M.'s reiche Wirksamkeit unter uns in diesem ersten Winter. Doch verdient noch bemerkt zu werden, dass auch für die Kammermusik durch M.'s und David's Unterstützung viel Grosses und Schönes geleistet wurde. Am 7. Februar hatte die Concertdirection eine musikalische Morgenunterhaltung veranstaltet, in welcher ein Quartett von Mozart in G moll, die grosse Sonate in A dur von Beethoven, vorgetragen von M. und David und das Octett von M., ausser mehreren kleinen Gesangstücken, ausgeführt von den Damen Grabau und Weinhold (letztere für den ganzen Winter als Sängerin engagirt) gegeben wurden. In dem Quartett spielte M. selbst mit, und zwar die Viola, ebenso bescheiden, als sicher. Ausserdem hatte auch F. David die sehr löbliche Sitte seines Vorgängers wieder aufgenommen und drei Quartettabende eingerichtet. Am zweiten derselben wurde neben Quartetten von Haydn und Beethoven auch das Quartett Es dur, Op. 12, von M. aufgeführt, am dritten ausser einem von Mozart aus Es dur und von Louis Spohr aus E moll, Op. 45, zum Schluss auch M.'s Octett noch einmal wiederholt. Diese Quartettabende fanden so viel Beifall, dass vom 27. Februar an noch ein zweiter Cyklus folgte. In einem Benefizconcerte für Fräulein Grabau, welches am 24. März statt fand, trugen M., David und Herr Grabau (Violoncellist, Vater der oftgenannten hochgeschätzten, später an einen Herrn Bünau verheiratheten Sängerin) unter grossem Beifall das in Leipzig noch nicht gehörte grosse Concert für Pianoforte, Violine und Violoncell von Beethoven vor.

Einer so reichen Thätigkeit folgte auf dem Fusse, ja noch vor ihrem völligen Abschluss eine bedeutungsvolle für M. ganz besonders erfreuliche Anerkennung. Die philosophische Facultät zu Leipzig, hierzu angeregt durch den damaligen Rector magnificus und Ordinarius der Juristenfacultät, Domherrn D. Günther, ernannte unter'm 20. März 1836 M. zum Doctor der Philosophie, honoris causa, mit dem ehrenvollen elogium, ob insignia in artem musices merita (wegen seiner ausgezeichneten Verdienste[216] um die Kunst der Musik.9 Der Rector magnificus selbst stellte es ihm mittelst Begleitschreibens zu. Die erst vor kurzem zum ersten male veröffentlichte Antwort M.'s ist zu characteristisch für die edle Bescheidenheit des grossen Künstlers, als dass ich mir versagen dürfte, sie hier einzureihen:


»Ew. Magnificenz haben die ehrenvolle Auszeichnung, deren mich die hiesige Universität für würdig gehalten hat, mit so freundlichen und gütigen Worten begleitet, dass mir dies den Muth giebt, E.M. zu bitten, den Dank für solche Ehre, den ich nicht auszusprechen wüsste, wie ich es möchte, an meiner Stelle den Mitgliedern der Universität und der philosophischen Facultät insbesondere sagen zu wollen. Je mehr ich fühle, wie selten es mir gelungen ist, etwas zu leisten, worauf ich mit Befriedigung zurückblicken könnte, wie viel mir noch dazu fehlt, etwas zu leisten, um mich auf mehr, als auf die gute Absicht berufen können, um so dankbarer bin ich für eine Ehre, die ich eben deshalb nicht als eine Belohnung für ein Erreichtes, sondern nur wie eine Aufmunterung zu fortgesetztem Streben betrachten kann. Als solche ist sie mir doppelt werth, weil sie, mich weiter führend, von Neuem mich ermuthigen wird, den Weg zu verfolgen, auf dem ich meiner Kunst einmal nützlich zu sein hoffe; und da ich ihn schon in manchen Zeiten durch Widersprüche und Hindernisse hindurch habe fortsetzen müssen, so ist es mir wohl die grösste Freude, dann wieder einmal bestätigt zu finden, dass es wenigstens kein Irrweg sei. Und eine solche Bestätigung ist für mich die Theilnahme und die freundliche Gesinnung Derer, denen der Ernst der Kunst, wie mir, am Herzen liegt. Sie ist ein ehrenvoller Beweis des Vertrauens, gleich wichtig und erfreulich für meine Vergangenheit, wie für die Zukunft und ich weiss nicht, wie ich für diesen Beweis des Vertrauens, und diese unverdiente Ehre meinen Dank genug aussprechen könnte.«


Die edle Bescheidenheit, welche dieses Dankesschreiben M.'s athmet, müssen wir um so höher ehren, als in dieser Zeit sein erstes grosses Hauptwerk, das Oratorium Paulus, bereits seit fast einem Jahre fertig vor ihm lag und[217] jetzt binnen zwei Monaten seiner ersten öffentlichen Aufführung auf dem grossen rheinischen Musikfeste in Düsseldorf entgegensah. War irgend einer der neueren Componisten auserwählt, der Nachfolger der beiden grossen Schöpfer des lyrischen geistlichen Dramas, Sebastian Bach's und Georg Friedrich Händel's zu werden, so war es gewiss M. Hatte er doch von früher Jugend auf die Werke dieser beiden grossen Meister gründlich studirt, war er es doch, der schon als 20jähriger Jüngling die Matthäuspassion nach 100 Jahren zuerst wieder in's Leben gerufen hatte, vereinigten sich doch in ihm drei herrliche Eigenschaften, die ihn vorzugsweise zum Componisten des Oratoriums befähigten: tiefes religiöses Gefühl, Ehrfurcht vor und Liebe zur Bibel, als dem geoffenbarten Gotteswort, der eigentlichen Fundgrube zu einem heiligen Text und die reichste Kraft des Schaffens und Gestaltens, durch welche er sich, in Verbindung mit den erstgenannten Eigenschaften vorzugsweise zur geistlichen Musik tief innerlich getrieben fühlte. Wie viel er darum auch Grosses und Herrliches auf den verschiedenen Gebieten der Musik geschaffen, der Gipfelpunkt seines Wirkens, auf welchem er alle Musiker des gegenwärtigen Zeitalters seit Bach und Händel, allenfalls noch Haydn in seiner Schöpfung, weit überragt, ist doch das lyrische religiöse Drama, das Oratorium. Wohl ist er im Paulus noch nicht vollkommen selbstständig; in der Gruppirung des Stoffes, der Vertheilung desselben in erzählende Recitative, Arien, Chöre und Choräle schliesst er sich noch eng an sein grosses Vorbild Johann Sebastian Bach an, während sein zweites und letztes grosses Hauptwerk Elias, durchaus originell erfunden, mir Händel's Geist näher zu stehen scheint; aber es ist doch auch im Paulus ein grosser Fortschritt gegen Bach, schon durch die Wahl des mehr in der Sphäre unserer menschlichen Empfindung sich bewegenden Stoffes, mehr noch durch die glänzende Instrumentirung, durch die bei aller Kenntniss und Anwendung des Contrapunctes nicht mit abstossender Härte durchgeführte Harmonie, durch die stets edle, ernst feierliche, aber am passenden Orte auch anmuthige, reizvolle Melodik, endlich die feinere Characteristik sowohl der einzelnen im Oratorium[218] auftretenden handelnden Personen, als der grossen Parteien der Juden, Heiden und Christen. Der leitende Grundgedanke des ganzen Oratoriums ist: Kampf und Sieg des Christenthums in seinem Fortschreiten zur Weltreligion, dargestellt in der Person des grossen Heidenapostels Paulus! Wir müssen die Wahl gerade dieses Stoffes auch insofern als einen Fortschritt bezeichnen, als von den grossen deutschen Kirchencomponisten, mit Ausnahme von Heinrich Schütz, der die Bekehrung Pauli in seinen Symphoniae sacrae als oratorische Scene behandelte, Keiner je die Geschichte des Paulus zum Gegenstand einer Composition gemacht hat. Als ein Ganzes genommen war dieser Stoff völlig neu. So müssen wir denn von Herzen dem beistimmen, was Bitter in seiner ebenso geistvollen als unparteiischen Beurtheilung M.'s als Oratoriumscomponisten über den Paulus sagt: (Beiträge zur Geschichte des Oratoriums, S. 21).


»Mit dieser Arbeit hat M. das Oratorium in die moderne Zeit zurück und ohne die Strenge der alten Schule zu den Bedingungen des veränderten Geschmacks übergeführt, ihm durch die edle Reinheit seiner Tendenzen und durch die überlegene Handhabung der Kunstformen eine neue Stätte unter uns geschaffen. Wo und wie der Paulus zur Aufführung gebracht worden ist, überall hat er jene ausserordentliche und nachhaltige Wirkung hervorgerufen, die nur Kunstwerke von Rang erreichen können. Er hat die Generation seiner Zeit daran gewöhnt, dass die Weihe ernster Kunstübung nicht blos in das vorige Jahrhundert, nicht blos in die Werke jener grossen Tonsetzer verlegt werden dürfe, denen diese schöne und edle Kunstform ihre Vollendung verdankt.«


Wir haben schon bei der Schilderung des Aufenthalts M.'s in Paris aus einem Briefe an Devrient vom 10. März 1832 gesehen, wie ihn schon damals mitten in dem lustigen Treiben der grossen Weltstadt der Gedanke, ein Oratorium Paulus zu componiren, ernsthaft beschäftigte, ja wie der Plan, zu demselben der Hauptsache nach in ihm feste Gestalt gewonnen hat. Allerdings, die ursprüngliche Idee einer Dreitheilung des Oratoriums in 1) Märtyrertod des Stephanus, 2) Bekehrung Pauli, 3) dessen christliches Leben und Predigen bis zu seinem Märtyrertode, oder dem Abschied von der Gemeinde gab er sicher[219] zum Vortheil des Werkes auf, es wäre dadurch das Ganze vielleicht zu sehr in die Länge gezogen und der Eindruck geschwächt worden. Das Werk besteht bekanntlich jetzt nur aus zwei Theilen, von dem der erste den Tod des Stephanus und die Bekehrung Pauli zusammenfasst, der zweite mit dem Abschiede des Apostels von der Gemeinde zu Ephesus und der damit schon verbundenen Hinweisung auf seinen bevorstehenden Märtyrertod schliesst. Zwar sind nun allerdings die Steinigung des Stephanus und die Bekehrung des Saulus jedes für sich sehr bedeutungsvolle Momente, aber ihre Zusammenfassung ist dadurch gerechtfertigt, dass der Märtyrertod des Stephanus durch die Theilnahme Saul's in Wort und That die Ueberleitung zu dessen Bekehrung bildet, welche sich von dem dunkeln tragischen Hintergrunde um so wirksamer leuchtend abhebt. Die herrliche Bussarie des Paulus Nr. 18 und nicht minder die Dankesarie Nr. 20 wären ohne diesen Hintergrund psychologisch nicht möglich.

Wann M. das Werk wirklich in Angriff genommen, darüber fehlen mir zur Zeit leider noch die Notizen. Sicher ist nur, dass der grösste Theil der Arbeit schon in die Zeit seines Aufenthalts in Düsseldorf fällt. Mit welcher grossen Sorgfalt er bei der Zusammenstellung des Textes verfuhr, und wie er dabei immer wieder auf die Bibelworte selbst, als das Geeignetste, zurückkam, davon geben seine Briefe an Prediger Julius Schubring in Dessau vom 15. Juli 1834 und an J. Fürst in Berlin vom 20. Juli desselben Jahres beredtes Zeugniss. Ueber das allmähliche Fortschreiten der Composition schreibt er unter anderm an Schubring in dem eben citirten Briefe: Ich habe über die Hälfte des ersten Theils fertig, denke ihn bis zum Herbst zu beendigen und etwa im Februar (1835) das Ganze. Ferner an denselben unter'm 6. August 1834: »Nun ist der erste Theil des Paulus beinahe beendigt und ich stehe davor, wie die Kuh und kann nicht in das neue Thor und mache ihn eben doch nicht fertig – nämlich die Ouvertüre fehlt noch und ist ein schweres Stück.« (Später fand er den Schlüssel zu dem neuen Thor doch. Er begann die Ouvertüre mit den ersten vier Strophen des Chorals »Wachet auf, ruft uns die Stimme«, führte sie[220] als Thema in einem mit Bach'scher Kunst fugirten symphonischen Satze weiter, durch dessen contrapunctische Verbindungen das Thema bald wieder mächtig hindurchklingt. So trägt die Ouvertüre die Signatur des Grundgedankens des ganzen ersten Theiles, die Erweckung des Paulus aus seiner Verblendung zum höheren Licht.)

Fanny Hensel schreibt, nachdem sie die Ouvertüre in der ersten Orchesterprobe in Düsseldorf gehört hatte, darüber an die Familie in Berlin: »Die Ouvertüre ist wunderschön, die Idee, den Choral ›Wachet auf, ruft uns die Stimme‹ gerade zur Einleitung des Paulus zu benutzen, fast witzig, herrlich in der Ausführung. Er hat den Orgelklang prächtig in dem Orchester getroffen.« Wenn M. in seinem Brief an Schubring fortfährt, »unmittelbar nach den Worten des Herrn bei der Bekehrung habe ich einen grossen Chor, ›mache Dich auf, werde Licht‹ u.s.w. Jes. 60, 1. 2, eintreten lassen, den ich bis jetzt für den besten Moment im ersten Theil halte«, so werden diesem Selbsturtheil des Componisten alle, die den Paulus je gehört haben, durchaus beistimmen. Dieser Chor, eingeleitet durch einen erst leise anhebenden, zuletzt bis zu lautem Donner anschwellenden Orchestersatz, und gefolgt von dem à capella gesungenen Choral »Wachet auf, ruft uns die Stimme«, den bei jeder Strophe Trompeten, Hörner und Posaunen schmetternd durchbrechen, ist der Mittel- und Hauptglanzpunkt, man könnte wohl sagen des ganzen Werkes, und von unwiderstehlich ergreifender Gewalt.

Von weiteren Aeusserungen M.'s über den Fortgang des Werkes verzeichnen wir etwa noch: In einem Brief vom 4. November aus Düsseldorf an seine Mutter: »Mit dem Paulus bin ich jezt auf dem Punkte, wo ich ihn gar zu gern Jemand vorspielen möchte, aber nun ist Niemand so recht da. Meine hiesigen Freunde sind wohl sehr ausser sich darüber, aber es will nicht viel beweisen. Der Cantor fehlt mit den dicken Augenbraunen und der Kritik.« (M. meint seine Schwester Fanny.) »Den zweiten Theil habe ich nun auch beinahe ganz im Kopfe, bis auf die Stelle, wo sie den Paulus für Jupiter halten und ihm opfern wollen, wohin einige sehr gute Chöre gehören, von denen ich bis jetzt aber keine Ahnung habe, es ist schwer!«[221] (Gerade diese Chöre sind ihm bekanntlich nachher ganz vortrefflich gelungen, angehaucht von lieblichem Duft des classischen Hellenismus.) Ferner an Fanny Hensel vom 14. November: »Dieser Tage habe ich die Ouvertüre zum Paulus entworfen, und dachte, die wenigstens fertig zu machen, aber sie ist noch weit zurück ... Ich denke dann immer, dass man fleissig sein soll und arbeiten, vornehmlich keine Menschen hassen und die Zukunft Gott überlassen, – das Oratorium bis zum März fertig machen, eine neue A moll-Symphonie und ein Clavierconcert componiren« u.s.w. An Rebecka Dirichlet unter'm 23. December 1834: »Heute habe ich einen ganzen Chor aus dem Paulus fertig aufgeschrieben und gemacht.« In einem späteren Briefe an dieselbe aus Frankfurt schreibt er noch, als der Paulus in Düsseldorf schon aufgeführt worden war:


»Die ganze Zeit, dass ich hier bin, habe ich noch am Paulus gearbeitet, weil ich ihn nun einmal so vollkommen, als mir möglich ist, herausgeben will; auch weiss ich bestimmt, dass der Anfang des ersten und das Ende des zweiten Theils ungefähr dreimal so gut geworden sind, – also war's meine Pflicht. Denn es gelingt mir in manchen, namentlich in Nebensachen bei so einer grösseren Arbeit erst nach und nach, meinem eigentlichen Gedanken nahe zu kommen und ihn recht klar hinzustellen; bei den Hauptsachen und -stücken kann ich freilich nachher nichts mehr ändern, weil sie mir gleich so einfallen; aber um das auch von Allem sagen zu können, dazu bin ich noch nicht weit genug. Nun arbeite ich aber schon etwas mehr als zwei Jahre an dem einen Oratorium; – das ist allerdings sehr lange und ich freue mich auf den Moment, wo ich auch mit den Druckcorrecturen fertig sein und was anderes anfangen kann.«


In einem Briefe an Ferdinand Hiller vom 26. Februar 1835 aus Düsseldorf schreibt M.: »Mein Oratorium wird in einigen Wochen ganz fertig, im October soll es im Caecilienverein gegeben werden, wie mir Schelble schreibt;« ebenso an seinen Vater, unter'm 3. April 1835: »Mein Oratorium wird erst im November in Frankfurt aufgeführt werden.« M. wollte dieser Aufführung gleichsam zur Probe beiwohnen, aber es kam nicht dazu. Vielleicht war Schelble schon damals zu leidend. Die allererste öffentliche[222] Aufführung fand erst auf dem Musikfest in Düsseldorf am 22. Mai des nächsten Jahres statt, als M. schon über acht Monate in seiner Stellung in Leipzig gewesen war.

Nach Vollendung des Werkes wurden die Chorstimmen sofort in Bonn bei Simrock gestochen und nach Düsseldorf gesendet. Das Werk erregte bei den vorbereitenden durch Julius Rietz geleiteten Proben sogleich die grösste Bewunderung, und M., der am 8. Mai 1836 in Düsseldorf eintraf, fand es vollständig einstudirt vor. M.'s Schwester Fanny, die von Berlin, ebenso wie sein intimster Freund Klingemann von London, zu der Aufführung gekommen war, schreibt über die erste Orchesterprobe des ersten Theiles ausser der schon oben angeführten Stelle über die Ouvertüre: »Die Chöre gehen schlagend, Solis wurden gestern nicht gesungen. Die Stelle mit der Erscheinung klingt ganz anders, als ich sie mir dachte, aber so wunderschön, so überraschend und ergreifend, wie ich Weniges in der Musik kenne. Es ist der Gott, der im Sturme daher fährt.« (Doch wohl mehr im sanften stillen Sausen, dieser Ausdruck dürfte für einen Chor von 4 Frauenstimmen, begleitet in langgetragenen Accorden von Blasinstrumenten, wohl zutreffender sein.) Als nach dem folgenden Chor »Mache Dich auf, werde Licht«, ein lautes Beifallklatschen, Bravorufen und Tuschblasen erfolgte, dankte ich Gott, dass Du, liebe Mutter, nicht hier bist, denn nach dem Eindruck zu schliessen, den diese erste unvollkommenste Probe auf die Anwesenden machte und auf mich ... hättest Du es nicht aushalten können, es wäre Dir ohne Frage zu viel geworden. M. selbst hatte nur die eine Trauer darüber im Herzen, dass es seinem Vater nicht mehr vergönnt war, dieser Aufführung beizuwohnen, wie dieser selbst so lebhaft gewünscht hatte. Die Aufführung fand am Pfingstsonntage, den 22. Mai 1836 im Becker'schen Saale in Düsseldorf statt. Die Soli sangen Frau Fischer-Achten, Fräulein Henriette Grabau (nachherige Frau Bünau), die Herren Schmetzer und Wersing (Paulus). Als Curiosum darf bemerkt werden, dass die beiden falschen Zeugen in dem kleinen Duett zu Anfang »Wir haben ihn gehört Lästerworte reden« stecken blieben und das Stück nicht aussangen.[223] Der Erfolg des ganzen Werkes war, abgesehen von dieser kleinen Störung, der glänzendste. Am zweiten Festtage wurde Beethoven's neunte Symphonie und die eben erst erschienene Ouvertüre zu Leonore, Mozart's Davide penitente und ein grosser Psalm in Es von Händel gegeben. Am dritten spielte M. mit Ferdinand David die grosse, Kreutzer gewidmete A moll-Sonate von Beethoven, und zwar, da die Noten eben nicht zur Hand und diese Leistung überhaupt mehr eine improvisirte war, aus dem Gedächtniss. Das Comité des Festes bezeugte nachher dem Dirigenten seinen Dank durch Ueberreichung eines Prachtexemplars der Partitur des Paulus, welches mit vorzüglichen Zeichnungen der Hauptmomente des Oratoriums von den ausgezeichneten Düsseldorfer Künstlern, Schrötter, Hübner, Steinbrück, Mücke und auch mit einer von M.'s Schwager, dem Hofmaler Hensel in Berlin, geziert war.

Nach dieser ersten Aufführung des Paulus nahm übrigens M. mit dem Werke so erhebliche Aenderungen vor, dass der grosse Stimmenvorrath ganz unbrauchbar wurde. Zehn Stücke liess er ganz weg und die erste grosse Arie des Paulus in H moll kürzte er bis auf ein Drittel. Dagegen componirte er einige Tage vor dem Feste die kleine Sopranarie in F dur, »Lasst uns singen von der Gnade des Herrn«, Nr. 27 im zweiten Theile dazu, unzähliger kleiner Aenderungen fast in jedem einzelnen Stücke nicht zu gedenken.

Nach diesem Feste begab sich M. am 4. Juni nach Frankfurt, um für seinen erkrankten Freund Schelble, während dieser zur Herstellung seiner Gesundheit ein Seebad in Scheweningen gebrauchte, den Caecilienverein zu leiten. Der Freude, welcher ihm dieser Verein mit seinen schönen Stimmen und seiner musikalischen Tüchtigkeit schon bei einem ersten Besuch auf der Heimkehr von seiner grossen Weltreise machte, ist bereits bei Erwähnung seines Briefes an Zelter aus Paris gedacht. Die Bekanntschaft mit Schelble datirte schon aus den Knabenjahren M.'s, 1822 auf dessen Rückreise aus der Schweiz, wurde 1827 Anfang October erneuert, wobei M. ein Oratorium von Händel aufführen hörte, und im November 1832, wo er wieder in Frankfurt war. Jetzt gefielen ihm auch Stadt und Umgegend,[224] die er früher nur als Kind und flüchtig auf der Durchreise gesehen hatte, ausserordentlich. Er behagte sich da sehr wohl und äusserte sich in einem Briefe scherzend, wenn er länger in Frankfurt bliebe, würde er gewiss noch ein eifriger Gärtner werden. In dieser heiteren Seelenstimmung entdeckte er die schönste Blüthe, die forthin den Garten seines Lebens schmücken sollte. Caecilie Jeanrenaud, die jüngere Tochter des im blühendsten Mannesalter verstorbenen Pastors der reformirten französischen Gemeinde in Frankfurt, wohnte mit ihrer Mutter, einer geborenen Souchay und einer älteren Schwester Julie (nachheriger Gattin des Herrn J. Schunck in Leipzig) im Hause ihres Grossvaters, eines hochangesehenen reichen Patriziers von Frankfurt. M. in diesem Hause schon früher einmal durch einen Freund eingeführt, wiederholte jetzt seine Besuche und fühlte sich bald unwiderstehlich von der wunderbaren Schönheit und Lieblichkeit Caeciliens angezogen. Eduard Devrient entwirft von ihr in seinen Erinnerungen (S. 192 und 93) folgendes zutreffende Bild, das ich, mit Ausnahme des zu scharf gezeichneten Prognostikons von ihrem frühzeitigen Ende, aus eigner Wahrnehmung bestätigen kann:


»Caecilie war eine jener süssen weiblichen Erscheinungen, deren stiller und kindlicher Sinn, deren blosse Nähe auf jeden Mann wohlthuend und beruhigend wirken musste. Eine schlanke Gestalt, die Gesichtszüge von auffallender Schönheit und Feinheit, bei dunkelblondem Haar und grossen blauen Augen von jenem verklärten zauberischen Glanze, der – ebenso wie die Röthe ihrer Wangen – sie als ein frühes Opfer des Todes kennzeichnete.10 Sie sprach wenig und niemals lebhaft, mit einer leisen, sanften Stimme. Shakespeare's Wort: ›mein lieblich Schweigen‹ bezeichnete sie ebenso treffend als Coriolans Weib. Alle Freunde Felix' durften von dieser[225] Wahl Beruhigung seiner Reizbarkeit, behagliche Arbeitsstille seines häuslichen Lebens hoffen.«


Hensel (die Familie M., Bd. II, S. 29) vervollständigt sehr schön dieses Bild nach seiner gemüthlichen und geistigen Seite:


»Es waren keine entschiedenen prägnanten Eigenschaften, die sie so liebenswürdig machten – es war vielleicht umgekehrt gerade deren Abwesenheit, die vollkommene Harmonie, das vollendete Gleichgewicht ihrer Natur. Sie war nicht hervorragend geistreich, nicht blendend witzig, nicht tief gelehrt, nicht sehr talentvoll; aber ihr Umgang war so wohlthuend ruhig, so erquickend wie die reine Himmelsluft oder das frische Quellwasser. – Und gerade für Felix mit seinem nervös reizbarem Temperament war diese Frau wie geschaffen; mit ihrer milden Heiterkeit hatte sie den wohlthätigsten Einfluss auf ihn, wie ihn keine anders geartete Natur hätte üben können und bereitete ihm bis zu seinem Ende Jahre des ungetrübtesten Glücks.«


Ferdinand Hiller, in dieser Herzensangelegenheit M.'s intimer Vertrauter, erzählt davon (F.M.B., Briefe und Erinnerungen, S. 50):


»Sprach Felix in dieser ersten Zeit wenig mit Caecilie, so sprach er um so mehr von ihr, wenn er von ihr entfernt. In meinem Zimmer nach Tische auf dem Sopha ausruhend, auf langen Spaziergängen in den milden Sommernächten schwärmte er von der Lieblichkeit, Anmuth und Schönheit der Auserkorenen. Schwulst lag ihm fern, im Leben wie in der Kunst – mit reizender Offenheit und Natürlichkeit liess er sich über alle die Vorzüge des geliebten Mädchens aus, oft in heiterster, halb lachender, dann wieder in herzlichster, aber nie sentimentaler oder hoch pathetischer oder gar brennend leidenschaftlicher Weise. Wie ernst ihm aber dabei zu Muthe war, liess sich leicht erkennen, auch konnte man ihn kaum in ein Gespräch verwickeln, wenn es nicht mehr oder weniger auf seine Neigung Bezug hatte. Ich kannte die Auserkorene seines Herzens damals noch nicht, durfte mithin nur den theilnehmenden Zuhörer abgeben.«


Stand nun gleich M.'s Neigung zu Caecilie Jeanrenaud nach alledem bereits entschieden fest, so wollte er doch selbst die Beständigkeit dieser Neigung noch einmal prüfen. Er ging deshalb auf den Rath seines Arztes und väterlichen[226] Freundes Hofrath Clarus in Leipzig, vorerst ohne sich erklärt zu haben, in Begleitung von Director Schadow in Düsseldorf, nach dem Seebad Scheveningen, um seine reizbaren Nerven zu stärken. Es ist natürlich, dass seine Briefe an Hiller aus der Zeit seines dortigen Aufenthalts von humoristischem Ingrimm des Trennungsschmerzes und der Sehnsucht nach dem Wiedersehen voll sind. Der erste Brief aus dem Gravenhage am 7. August 1836 und alle folgenden sind köstliche Belege dazu. »Wenn Du mir auf diesen Brief nicht umgehend antwortest und mir wenigstens acht Seiten über Frankfurt schreibst und über's Fahrthor« (in dessen Nähe die Familie Jeanrenaud wohnte) »und Dich und die Deinigen und Musik und die ganze lebendige Welt, so ist es möglich, dass ich hier ein Käsehändler werde und gar nicht wiederkomme.«

Bald nach seiner Rückkehr nach Frankfurt, am 9. September, fand die Verlobung M.'s statt, eine grosse vielbesprochene Begebenheit. Unmittelbar nach derselben, noch an demselben Tage, schrieb der treffliche Sohn an seine Mutter:


»In diesem Augenblick, wo ich wieder in mein Zimmer trete, kann ich nichts andres thun, als an Dich schreiben, dass ich mich jetzt eben mit Cécile Jeanrenaud verlobt habe. Mir schwindelt der Kopf von dem, was ich an diesem Tage erlebt habe; es ist schon tief in der Nacht, ich weiss weiter nichts zu sagen, aber ich musste noch an Dich schreiben. Wie ist mir so reich und glücklich! Morgen, wenn es irgend sein kann, schreibe ich Dir ausführlich und wo möglich auch meine liebe Braut. – Dein Brief liegt eben da, ich hab' ihn geöffnet, um zu sehen, dass Ihr wohl seid, aber noch nicht lesen können. Lebt wohl und mir immer nah.«

Felix.


M. genoss diese ersten Flitterwochen seines glücklichen Bräutigamstandes nicht lange. Bereits Ende September riss er sich los, um zu seinen Leipziger Verpflichtungen zurückzukehren. Am 2. October finden wir ihn wieder an seinem Dirigentenpult im Gewandhaussaale. Er eröffnete das erste Abonnementconcert mit der neuaufgefundenen bei dem Düsseldorfer Musikfest zuerst aufgeführten Ouvertüre zur Leonore, welche in einem bald darauf von Lipinski gegebenen Extraconcert wiederholt wurde, ferner mit dem[227] Finale aus Cherubini's Wasserträger »O Gott, täuscht mein Auge mich nicht«, und mit Beethoven's A dur-Symphonie. Ausserdem sang Fräulein Grabau eine Arie mit Chor von Mercadante und spielte David ein neues Concertino eigener Composition. Sämmtliche Leistungen, besonders aber die A dur-Symphonie, wurden mit dem entschiedensten Beifall aufgenommen. Dasselbe gilt von der im zweiten Abonnementconcert auf Verlangen gegebenen Eroica. »Sie wurde,« heisst es in einem damaligen Berichte, »ganz ausgezeichnet gelungen ausgeführt, vom ersten bis zum letzten Tone in Einem Geiste, so dass das prächtige Meisterwerk den erwünschtesten Genuss bereitete, nach allen Sätzen vom Publicum lebhaft applaudirt wurde und seinen hohen Eindruck lange nachklingen liess.« Das dritte Concert brachte wieder einmal eine Symphonie aus B dur von dem gemüthlichen Haydn und im vierten wurde die prächtige zweite Ouvertüre zur Leonore, (C dur mit dem Trompetenstoss) so gut ausgeführt, dass man sie nach stürmischen Beifallsbezeugungen da capo geben musste, ein Fall, der bei einer Ouvertüre in diesem Saale noch nicht vorgekommen war. In diesem Concerte wurde auch, sehr sorgfältig einstudirt, eine neue Symphonie von einem Componisten der Gegenwart aufgeführt. Es war die in Wien preisgekrönte Sinfonia passionata von Franz Lachner, dem jetzt mit Recht so gerühmten noch immer jugendfrischen Altmeister des Orchestersatzes in der symphonischen Dichtung, namentlich in seinen sogenannten Suiten. Sie wollte aber damals unserem Publicum nicht so recht zusagen, hauptsächlich wegen der Ueberladung mit Blechinstrumenten. Jedenfalls lag es nicht an M.'s Direction oder der Ausführung des Orchesters.

Inzwischen sollte uns Gelegenheit werden, das Directionstalent M.'s auch in anderer höchst würdiger Weise kennen zu lernen und zugleich die Stärke der musikalischen Kräfte Leipzigs in einer lange nicht dagewesenen Leistung zu erproben. Israël in Egypten, jenes grossartige Tonwerk Händel's, dessen Hauptstärke allerdings in seinen Chören besteht, wurde einstudirt. Auf diese Chöre verwandte M. in mehreren rasch auf einander folgenden Proben allen erdenklichen Fleiss und es gelang ihm bald,[228] die so willigen Kräfte, die ihm mit wahrer Begeistrung gehorchten, zu einem völlig gerundeten Ganzen zu vereinigen. Ausserdem machte er sich um die Aufführung des Oratoriums noch besonders verdient, indem er den bezifferten Bass der Orgel in volle Noten aussetzte, so dass das Meisterwerk völlig unverändert zur Darstellung kommen konnte. Er schrieb über diese erste Aufführung eines Oratoriums unter seiner Direction in Leipzig mit heiterem Triumphe unter'm 29. October an Ferdinand Hiller: »Brüste Dich nur nicht zu sehr mit Deinem Caecilienverein; wir Leipziger machen jetzt eine Aufführung von Israël in Egypten, die hat sich gewaschen. Ueber 200 Chorsänger und Orchester mit Orgel in der Kirche, darauf freue ich mich sehr; über acht Tage wollen wir damit herausrücken« ..... Am 7. November 1836 wurde das Oratorium in der erleuchteten, in allen Räumen von einem dankbaren Publicum überfüllten Paulinerkirche meisterhaft ausgeführt. Die Soli sangen Fräulein Henriette Grabau, Frau Auguste Harkort-Aders (Dilettantin, aber ächte Künstlerin), Fräulein Stolpe und die Herren Hering, Pögner und Richter, lauter in Leipzig einheimische Künstler. Der glänzende Erfolg entsprach dem Fleiss und der Begeistrung der Einübenden. Leipzig feierte sein erstes grosses Musikfest und zwar ganz aus eigenen Mitteln.

Von den übrigen Leistungen dieses Winters, welche unter Mendelssohn's Direction und Mitwirkung auf das schönste blühten, sei nur ein bedeutungsvoller Moment nochmals hervorgehoben, den ich schon früher in einer Anmerkung über M.'s freies Phantasiren andeutete. Es war das letzte Concert des Jahres 1836 am 12. December, welches man M. zu Liebe vom Donnerstag auf den Montag verlegt hatte, denn ihn trieb Sehnsucht nach Frankfurt. Nachdem M. im ersten Theile unter rauschendem Beifallssturm Beethoven's Es dur-Concert gespielt, wurde der zweite mit seiner Ouvertüre Meeresstille und glückliche Fahrt eröffnet, worauf dann nach einigen gelungenen Solovorträgen das von der Concertdirection sehr fein gewählte II. Finale aus Fidelio zur Aufführung kam. M., nach Beendigung des Schlusschores »Wer ein holdes Weib errungen, stimm' in unsern Jubel ein«, durch endloses Applaudiren[229] aufgefordert, setzte sich zum Flügel und erging sich über dies Thema in mächtig ergreifender Weise. Die ganze Versammlung nahm an seinem Jubel Antheil. Man wusste, dass er zu seiner Braut nach Frankfurt ging.

Noch darf als bemerkenswerth erwähnt werden, dass in diesem Winter ein unter Mendelssohn's Einfluss gebildeter Musiker das Publicum sowohl durch Leistungen auf dem Flügel als durch eigene Compositionen mehrfach erfreute. Sir William Sterndale Bennet war von England herübergekommen, sein Talent unter M.'s Leitung weiter fortzubilden. Er bewährte dasselbe durch den schöngerundeten Vortrag eines von ihm selbst componirten Pianoforte-Concertes in C moll, sowie durch eine sehr ansprechende, freilich auch an Mendelssohn'sche Compositionsweise lebhaft erinnernde Ouvertüre »zur Najade«, welche im Concert zum Besten der Armen gegeben wurde. Später hörten wir von demselben jungen Componisten eine zweite gleichfalls sehr schön gearbeitete Ouvertüre, die Waldnymphe, welche durch ihre reizende Naturmalerei die Hörer nicht wenig ergötzte. Schliesslich ist zu sagen, dass in dem letzten Abonnementconcerte dieser Saison abermals die gewaltige neunte Symphonie Beethoven's, womöglich noch vollendeter als das erste mal zur Aufführung kam.

Unterdessen aber schien es Zeit, auch Leipzig's nun mehrfach erprobte Kräfte zur Aufführung jenes erhabenen Tonwerks zu vereinigen, welches seines Schöpfers Ruhm schon in mehrere Länder getragen hatte. Das Oratorium Paulus wurde nun einstudirt. Bereits im Februar 1837 begannen die von M. selbst geleiteten Chorproben, und Alles, was sich von des Dirigenten Eifer, Fleiss und Gründlichkeit, sowie von der Bereitwilligkeit der Einübenden beim Einstudiren jenes ersten Händel'schen Oratoriums sagen liess, galt hier in noch weit erhöhterem Maasse. Die herrlichen Chöre und Choräle, obwohl vom Componisten einstweilen nur auf einem schlechten Clavier begleitet, welches einzig zu solchen Zwecken bestimmt war, waren schon jetzt auf die Ausübenden selbst von der ergreifendsten Wirkung und wurden, der vielen nöthigen Wiederholungen ungeachtet, mit stets zunehmender Begeistrung gesungen. Am mächtigsten war dieser Eindruck[230] bei dem Choral »Wachet auf, ruft uns die Stimme«, dessen prachtvolle Posaunenbegleitung zwischen den Strophen man schon aus dem Clavieraccompagnement herausahnen konnte, bei dem vorhergehenden überaus herrlichen Chor: »Mache Dich auf, werde Licht,« so wie bei der wunderbaren, dem Sopran und Alt in den Mund gelegten Stimme vom Himmel: »Saul, Saul, was verfolgst Du mich?« Aber nicht minder ergreifend wirkten auch alle diejenigen Stücke, welche das besondere Gepräge christlicher Freudigkeit, frommer Entsagung und gläubiger Zuversicht tragen, wie vor allem gleich der erste siegesfreudige Chor der Christengemeinde: »Herr, der Du bist der Gott, der Himmel und Erde gemacht hat,« oder jener Choral voll opferfreudiger Demuth und Liebe zu Christo: »Dir Herr, Dir will ich mich ergeben,« und die beiden köstlichen wehmüthig freudigen Chöre: »Siehe wir preisen selig, die erduldet haben,« und »Der Herr wird die Thränen von allen Angesichtern abwischen, denn der Herr hat es gesagt,« von denen namentlich der erstere, den Märtyrertod des Stephanus feiernd, mit der zartverschwebenden gleichsam wellenförmigen Figur der Begleitung und dem siegesfreudigen Schluss »denn ob der Leib gleich stirbt, wird doch die Seele leben,« immer mit wunderbarer Macht die verborgensten Saiten des Herzens rührte. Ueberhaupt war in dem ganzen Oratorium nicht ein einziger Chor, den wir nicht gern gesungen hätten, und M. verstand es, wie kein anderer Dirigent, seine Sänger auch mit dem Herzen singen zu lassen. Aeusserlich trat dies hervor durch die wunderbaren, gleichsam nur hingehauchten Piani's, die Crescendi's und Decrescendi's, deren Möglichkeit, Bedeutung und Wirkung er uns erst kennen lehrte. Am fügsamsten freilich zeigten sich seinen Winken immer die Damen, die auch die bei weitem grössere Zahl des Chores bildeten, doch war dafür auch, sobald nur einmal der gute Wille da war, das musikalische Verständniss und die Sicherheit im Treffen und Einsetzen bei den Männern im Durchschnitt grösser.

Nach solcher gründlichen Vorbereitung des Chores, sowie auch des Sologesangs und des Orchesters durch den Meister selbst konnte die Aufführung des Werkes (überhaupt die zweite), die am 16. März 1837 abermals in der[231] erleuchteten Paulinerkirche stattfand, nur glänzend ausfallen. Schade war es allerdings, dass wegen Krankheit und Abwesenheit unseres hiesigen Basssolosängers für die Partie des Paulus ein Fremder herbeigeholt werden musste, doch führte sie dieser, besonders in den weniger stark instrumentirten Sätzen, gut und rühmlich durch. Im Vortrag der Recitative zeichnete sich besonders Fräulein Grabau aus. Der Chor der Singenden bestand aus über 300 Stimmen mit entsprechender Stärke der Orchesterbegleitung. Ueber den Totaleindruck dieser Aufführung kann der Biograph um so eher einen Dritten reden lassen, als er damals selbst mit unter den Ausübenden war. Der Berichterstatter der allgemeinen musikalischen Zeitung (G.W. Fink) schrieb darüber:


»Unter der vortrefflichen Leitung des Componisten wirkte das starkbesetzte Orchester wahrhaft meisterlich, und die Chöre, vom Director Dr. M.B. selbst fleissigst und umsichtigst eingeübt, traten mit einer Pracht hervor, so frisch, kräftig, voll rund, stattlich in jeder Schattirung, stets sicher, dass ich eine solche Massengewalt nie schöner und gesund eingreifender gehört habe. Wer die Aufführung des glänzenden Werkes hörte, wird zuverlässig mit mir übereinstimmen, zugleich aber überzeugt sein, dass bei weitem der grösste Theil des Ruhmes, den die Chöre sich errangen, der musterhaften Leitung des Musikdirector Herrn Dr. M.B. und der Kraft der Composition zugestanden werden muss. Mit allem Recht hat das Directorium der Abonnementconcerte dem hochgeschätzten Leiter des Ganzen, den Solosängern, dem Orchester und seinem Concertmeister Herrn David und dem ganzen Sängerchore öffentlichen Dank ausgesprochen für unermüdlichen Fleiss in den Proben und für die wahrhaft glänzende Leistung am Abende der Aufführung.«


Ueber ein Werk, welches fast die ganze gebildete Welt durchzogen (es erlebte allein in den ersten 11/2 Jahren nach seinem Erscheinen über 50 Aufführungen), ein Oratorium, welches sich, wie fast kein anderes in's Herz des deutschen Volkes gesungen, jetzt noch eine zergliedernde Kritik oder auch nur eine in's Einzelne gehende Characteristik geben zu wollen, würde nicht mehr am Platze sein. Nur einige apologetische Betrachtungen und Winke mögen hier noch ihre Stelle finden. Vom formell ästhetischen Gesichtspunkte aus mag das Werk allerdings einige[232] Schwächen haben. Unläugbar tritt im ersten Theile die Persönlichkeit und Wirksamkeit des Paulus gegen das Märtyrerthum des Stephanus etwas in den Hintergrund, und der zweite Theil des Werkes steht dem ersten an dramatischem Interesse nach; aber die Idee, die durch das ganze Werk geht, ist eine höhere und allgemeinere, als dass sie streng an eine einzelne Persönlichkeit geknüpft zu sein brauchte: es ist die Verklärung des Christenthums mit seiner Demuth, mit seiner Freudigkeit, dem Herrn zu leben und zu sterben, gegenüber der starren Selbstgerechtigkeit des Judenthums und der sinnlich heiteren Lebensanschauung des Heidenthums; es ist das Widerstreben dieser beiden Richtungen gegen die erste und der Sieg dieser ersten durch die Offenbarung des ewigen Lichts und die unmittelbare Einwirkung der göttlichen Liebe. Diese Idee ist verkörpert dargestellt an den Personen des Stephanus, des Paulus und Barnabas, und sie concentrirt sich in dem Punkte, der in der That der Mittelpunkt des ganzen Oratoriums ist, in der Bekehrung Pauli. Man hat dem Componisten einen Vorwurf daraus machen wollen, dass er die Worte des Herrn einem Chor weiblicher Stimmen, gleichsam Engeln in den Mund gelegt hat; lieber hätte er die Stimme des Herrn blos durch einen mächtigen Posaunenschall andeuten sollen. Aber gerade diese Mitte zwischen dem materiellen Hervortreten der Rede eines Mannes und zwischen der blossen Andeutung durch Töne scheint mir ein höchst glücklicher Griff des Künstlers, denn die Erscheinung wird dadurch überirdisch, ohne das Wesenhafte zu verlieren. Ueberhaupt aber, dünkt mich, müsse jedes Raisonnement vor dem gewaltigen Eindruck weichen, den dieser Engelchor auf jeden nur einigermaassen empfänglichen Hörer macht. Wen hätte es nicht schon dabei wie mit einem Schauer vor der Allgegenwart und Allwissenheit Gottes überwältigt?! Und wie wird dieser Eindruck noch verstärkt durch den gewaltigen Chor »Mache Dich auf, werde Licht«, der selbst wie ein Blitz vom Himmel in die irdische Dunkelheit hereinleuchtet! Welch' kräftige Mahnung, sich zu bekehren, in dem darauf folgenden hochfeierlichen Choral: »Wachet auf! ruft uns die Stimme,« welcher Triumph des zukünftigen Sieges, aber[233] auch des kommenden Gerichts in diesen majestätischen, jeden Satz begleitenden Posaunenklängen, die an die Herrlichkeit des alten Zion, aber verklärt vom Lichte des neuen Bundes erinnern! Wie sprechend sind ferner in den Chören die Gegensätze des christlichen, jüdischen und heidnischen Elementes ausgedrückt! Man vergleiche nur einmal die Chöre: »Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben,« Nr. 11 und »O welch' eine Tiefe des Reichthums, der Weisheit und Erkenntniss Gottes« Nr. 22 mit den beiden Judenchören »Dieser Mensch hört nicht auf zu reden Lästerworte« Nr. 5, und »Hier ist des Herren Tempel! Ihr Männer von Israël helft« und diese wieder mit den Chören Nr. 33 und 35 »Die Götter sind den Menschen gleich geworden« und »Seid uns gnädig, hohe Götter«, und man wird zugeben müssen, wie characteristisch diese drei Richtungen auseinander gehalten sind. Ein höchst eigenthümlicher herrlicher Schmuck des Oratoriums sind nun auch die überall an passendster Stelle angebrachten Choräle. Wenn in diesen schon an und für sich der reinste Ausdruck christlich frommen Gefühls sich concentrirt, so ist ihre Macht noch wesentlich verstärkt durch die künstlerische Beigabe des wohlthuendsten Harmoniesatzes. Gewiss sehr vielen Hörern ist die Herrlichkeit des evangelischen Kirchengesanges dadurch auf's neue aufgegangen. Mag sein, dass dieser Effect nur dem grossen Seb. Bach nachgebildet ist, aber verdient etwa der Componist, der nach hundert Jahren den christlichen Choral mit aller seiner ursprünglichen Innigkeit und Würde, aber verschönert durch die Mittel der neueren Kunst wieder in's Leben ruft, deshalb weniger Dank? Wenn übrigens unserer Meinung nach die Hauptstärke des Oratoriums allerdings in den Chören und Chorälen besteht, so soll damit keineswegs den Soli's die volle Anerkennung geschmälert werden. Die Recitative sind sämmtlich herrlich declamirt, und z.B. die beiden Arien des Paulus, sowohl die Donnerarie: »Vertilge sie, Herr Zebaoth,« als die Bussarie »Gott sei mir gnädig nach Deiner grossen Güte,« können gar nicht dramatisch wirksamer und zugleich dem Kirchenstyle angemessener gedacht werden. Ebenso wird in der Sopranarie »Jerusalem, die du tödtest die Propheten« und in dem Arioso für Alt[234] »Doch der Herr vergisst der Seinen nicht«, in der Arie des Paulus »Ich danke Dir Herr mein Gott«, gewiss Niemand die Tiefe und Lebendigkeit des christlichen Gefühls in der vollendetsten musikalischen Form verkennen. Das ganze Oratorium wirkt mit einem Worte »erbaulich«, und zwar im höchsten Sinne des Wortes; es befestigt, es erhebt, es adelt die Gemüther durch die glücklichste Darstellung des religiösen Gefühls im Gewande des Schönen. Wo sich das Ewig-Schöne und das Ewig-Wahre wie hier die Hände reichen, da ist das Höchste geleistet, was die Kunst vermag und der Erfolg kann ihr nirgends fehlen.


Geschmückt mit dem frischen Lorbeer, den ihm die Aufführung seines Paulus in Leipzig bildlich und wirklich eintrug (auf seinem Dirigentenpulte lag ein Lorbeerkranz), eilte nun M. nach Frankfurt, um den Kranz des Ruhmes der bräutlichen Myrthe zu vermählen. Am 28. März 1837 erhielt in der französischen reformirten Kirche daselbst der Bund seines Herzens mit Caecilie Jeanrenaud die kirchliche Weihe. Ueber den Trauungsact schreibt Ferdinand Hiller, der zugegen war (Briefe und Erinnerungen, S. 77): »Es hatte etwas Eigenthümliches, einen so echt deutschen Künstler in diesem ernsten Momente französisch anreden zu hören, aber die Einfachheit des Gottesdienstes und das in jedem Betracht so anziehende Paar fesselte und rührte alle Herzen.« Hiller hatte für den Empfang des vermählten Paares im grosselterlichen Hause ein Hochzeitslied componirt, welches von den »weiblichen Matadoren« eines auserwählten, von Hiller geleiteten kleinen Chorvereins ausgeführt wurde. M. und seine reizende Gattin waren dankbar gerührt, und die zahlreichen Mitglieder der Familie erwiesen sich überaus liebenswürdig. Seine Hochzeitsreise machte das junge Paar zunächst nach Freiburg im Breisgau, dieser so reizend lieblich gelegenen Stadt, wo es einige Wochen verweilte. M. selbst schreibt über diesen Aufenthalt an Schwester Fanny unter'm 10. April:


»Du erinnerst Dich wohl noch, wie wir damals (auf der Rückkehr von der Schweizerreise) im Regen in den Dom liefen und ihn[235] bewunderten, mit seinen dunkeln bemalten Fenstern; aber die Lage der Stadt konnten wir damals gar nicht sehen und was Schöneres ist mir nie vorgekommen, kann ich mir auch gar nicht erdenken; so friedlich und reich und auf allen Seiten viel schöne Thäler und auf allen Seiten Berge, nahe und weite, und Ortschaften soweit das Auge reicht, und schöne nett gekleidete Menschen, überall rauschende Bergwasser in allen Richtungen, dazu rings umher im Thal das erste Grün und auf den Bergen der letzte Schnee – Du kannst Dir denken, wie wohlthuend das Alles ist; und wenn ich nun mit meiner Cécile den ganzen Nachmittag heut im warmen Sonnenschein langsam spazieren gehe, überall stehen bleibe und mich umschaue und von Zukunft und Vergangenheit spreche, so kann ich's wohl dankbar sagen, welch' ein glücklicher Mensch ich bin.«


Die Reise ging von Freiburg langsam weiter in einige Thäler des Schwarzwaldes und nach dem oberen Rheingau. Von derselben glücklichen Stimmung zeugt auch ein Brief an Devrient aus Lörrach in Baden vom 3. Mai, in dem es heisst: »Du weisst, dass ich jetzt hier mit meiner Frau bin, mit meiner lieben Cécile, dass es unsere Hochzeitsreise ist, auf der wir jetzt durch das Wiesenthal reisen, dass wir ein altes Ehepaar von sechs Wochen schon sind – ich habe Dir eigentlich so viel zu sagen und zu erzählen, dass ich gar nicht anfangen kann. Mal' Dir es selbst aus, und ich kann Dir nur davon sagen, dass ich gar zu glücklich und froh bin, und was ich mir gar nicht gedacht hätte, gar nicht so ausser mir, sondern ebenso ruhig und gewohnt, als müsste das alles nur so sein. Du solltest aber meine Cécile auch kennen.« Diese Worte des jungen Ehemannes geben uns den Schlüssel zu dem psychologischen Räthsel, dass auch die Schäferzeit der ersten glücklichen Liebe den Reichthum seiner künstlerischen Productionen nicht nur nicht hatte schmälern können, sondern dass auch die musikalische Arbeit seiner Hochzeitsreise eines der vollendetsten Werke der Mendelssohn'schen Muse war: die Composition des 42. Psalms, anderer bedeutenden Werke, die damals wenigstens von M. schon concipirt wurden, nicht zu gedenken. Schon in dem vorhin citirten Briefe an Fanny spricht M. seinen Vorsatz aus, sehr fleissig zu sein:


[236] »Ich möchte gern mancherlei Neues zu Tage bringen und ordentliche Fortschritte machen; dazu scheint mir's aber nothwendig, dass ich all das aufgehäufte Alte erst einmal fortarbeite und das will ich denn den Sommer über thun, will viele alte Pläne ausführen, und die, die nicht bis zum Winter ausgeführt sind, über die will ich dann weg und sie sollen liegen bleiben. Drei Orgel-Praeludien habe ich in Speier gemacht, die werden Dir, hoffe ich, gefallen; auch ein Heft Lieder ohne Worte ist zum Druck beinahe fertig (darunter das in A moll, Op. 38), ich denke aber nicht so bald wieder welche herauszugeben und lieber grössere Sachen zu schreiben. Mit einem Violinquartett (E moll, Op. 44, Nr. 2, von den dreien zuerst geschrieben) bin ich fast fertig und will dann ein zweites anfangen; es arbeitet sich jetzt gar zu schön und lustig.«


Zur Erklärung der Thatsache, dass M. auf der Hochzeitsreise den 42. Psalm componiren konnte, bemerkt Hiller nicht unglücklich:


»Ich war verwundert, als er mir die musikalische Arbeit seiner Hochzeitsreise, den 42. Psalm zeigte – freilich nur so lange, als ich nur den Titel gesehn. Denn die zarte, sehnsüchtige Wehmuth, die sich in einigen Theilen desselben aussingt, ruht ganz und gar auf einem Grunde glücklichsten, ja beseligtsten Gottvertrauens und die gedämpfte Empfindung, die in dem grössten Theile des Werkes herrscht, lässt sich wohl vereinigen mit dem wonnigen Gefühle tiefsten Glückes, das ihn damals durchdrang.« –


In Frankfurt mit seiner jungen Frau wieder angekommen, vollendete er mitten unter den zerstreuenden geselligen Verpflichtungen, von welchen das junge Paar jetzt in Anspruch genommen wurde, das oben erwähnte schöne Streichquartett in E moll.

Anfang Juli ging M. von Frankfurt, einem raschen Impuls folgend, auf einige Wochen nach Bingen a. Rh. Sicher war es ihm Bedürfniss, nach den mancherlei Zerstreuungen in Frankfurt noch einige Zeit ungestört seiner Gattin und seiner Muse zu leben. Auch hier beschäftigte ihn sein Beruf lebhaft, obwohl er Mühe hatte, in dem ganz katholischen und unmusikalischen Städtchen zwei Dinge aufzutreiben, die ihm unentbehrlich waren: eine Bibel und ein altes Clavier. Sonst war er mit der schönen Aussicht, die ihm sein Wirthshaus am Rhein gewährte (wahrscheinlich das[237] heutige Victoriahotel), dem Niederwald gegenüber, links der Mäusethurm, rechts der Johannisberg, sehr zufrieden. Er componirte hier den grössten Theil seines D moll-Concertes, Op. 40, welches er nachher in Horchheim (wohl auf dem Weingut seines Onkels) vollendete. Ausserdem beschäftigte ihn, wie aus einem Briefe vom 13. Juli an den Prediger Schubring hervorgeht, lebhaft der Gedanke, für das nächste Düsseldorfer Musikfest als Seitenstück zu dem Oratorium Paulus, mit Bezugnahme auf das Pfingstfest, ein symbolisches Oratorium Petrus zu componiren. Der Stoff sollte in zwei Theile zerfallen: Der erste vom Verlassen der Fischernetze an bis zu dem Tu es Petrus (den Worten des Herrn: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen u.s.w.), der zweite sollte wesentlich nur das Pfingstfest enthalten, von der Einöde nach Christi Tode und der Rede des Petrus an bis zur Ausgiessung des heiligen Geistes. Diesen Gedanken gab er, vielleicht besonders auf Schubring's Rath, glücklicherweise wieder auf. Es wäre dies kein dramatischer Stoff gewesen, ja ein Stoff, der sich kaum zur lyrischen Behandlung eignete. M. selbst fühlte das, indem er dieses Oratorium als ein symbolisches bezeichnete. An die Stelle des Petrus trat nach einem sehr glücklichen Griffe bereits im November des folgenden Jahres Elias, ein bei weitem dramatischerer Stoff, als selbst Paulus. M. trug sich aber sehr lange mit ihm, denn erst 1846 wurde dieses Oratorium, entschieden das gewaltigste und beste seiner Werke, vollendet.

Von Bingen aus begab sich M. Anfang August in Begleitung seiner jungen Frau, deren Mutter und Schwester rheinabwärts über Coblenz, wo er noch acht Tage verweilte, nach Düsseldorf zu seinen alten Freunden, mit denen er, Immermann ausgenommen, stets im ungetrübtesten, besten Einvernehmen geblieben war und bei denen allen die Schönheit und Liebenswürdigkeit seiner jungen Gattin den wohlthuendsten Eindruck machte. Ueberhaupt war M. in Düsseldorf sehr gern. Nach seinen eignen Aeusserungen gehörten die Düsseldorfer Besuche zu den heitersten Augenblicken seines Lebens. Er liess sich dort immer ganz gehen, war unverwüstlich heiter, ja ausgelassen und genügte allen Ansprüchen auf künstlerische Leistungen unermüdlichst.[238] Jetzt wurde ihm zu Ehren unter Leitung seines Schülers und Freundes Julius Rietz der Paulus nochmals aufgeführt. Er selbst konnte den Freunden als neue Früchte seiner Thätigkeit die schon oben erwähnten drei Compositionen, den 42. Psalm, das Clavierconcert in D moll mit Orchester und das Violinquartett in E moll im Manuscripte zeigen, auch theilweise vorspielen. Auch sandte er von Düsseldorf die drei theilweise in Rom componirten Motetten für die Nonnen in S. Trinità zum Druck fertig an Simrock in Bonn. Schon wartete aber seiner neue schwere Arbeit, wenn auch neue grosse Ehre. Er hatte sich verbindlich machen müssen, das grosse Musikfest in Birmingham vom 19.–22. September zu leiten. Es war ein unermesslich reiches Programm für dieses Fest angesetzt. Am ersten Tag sollte M. Orgel spielen, am zweiten den Paulus dirigiren, am dritten Clavier spielen, am vierten zum Schluss wieder Orgel spielen. Ausserdem war die Rede davon, seinen neuen Psalm, eben den 42., und seinen Sommernachtstraum zu geben. Dazu noch eine grosse neue Cantate, The ascension, von Neukomm, unter des Componisten eigener Direction, mehrere Sachen aus der Passion, verschiedene Soli italienischer Sänger, ausserdem noch den ganzen Messias und in jedem Concerte eine Symphonie und eine Ouvertüre. Man kann denken, wie sehr der junge Ehemann, der sich mit schwerem Herzen von seiner jungen Gemahlin getrennt hatte, durch dieses Monstreprogramm, sei es zu activer oder auch nur zu passiver Assistenz, in Anspruch genommen wurde. Er erntete aber auch dafür Ehren, wie er sie noch nie zuvor genossen. Er selbst schreibt darüber aus Leipzig an seine Mutter unter dem 4. October:


»Ich darf mich jetzt nicht auf die Beschreibung des Birminghamer Musikfestes legen – das muss ich Dir aber sagen, weil ich weiss, dass es Dich freut, dass ich einen so glänzenden Erfolg noch niemals gehabt habe und ihn wohl nie entschiedener haben kann, als bei dem Musikfest. Der Applaus und das Zurufen, wenn ich mich nur sehen liess, wollte gar nicht aufhören, und machte mich zuweilen wirklich lachen, weil ich z.B. bei einem Clavierconcert gar nicht dazu kommen konnte, mich vor's Instrument zu setzen und was besser ist, als der Beifall und was mir meinen Erfolg verbürgte,[239] sind die Anerbietungen, die mir von allen Seiten gemacht werden und die diesmal noch ganz anders lauten, als jemals sonst. – Ich kann wohl sagen, dass ich gerade jetzt gesehen habe, wie mir das alles eben nur zu Theil wird, weil ich mich bei meiner Arbeit nicht darum kümmere, was die Leute wollen und loben und bezahlen, sondern um das, was ich für gut halte, und ich will mich nun um so weniger von dem Wege abbringen lassen. Darum ist allerdings auch mir dieser Erfolg lieb und ich weiss um so sicherer, dass ich niemals das Geringste dafür thun will, sowie ich es bis jetzt niemals gethan habe.«


Nachdem M. den letzten Accord auf der herrlichen Orgel in Birmingham gespielt hatte, fuhr er sofort mit der Liverpool-mail nach London, wo er gegen Mitternacht ankam. Hier empfing ihn sein Freund Klingemann und führte ihn in's Comité der Sacred Harmonic Society, das ihm feierlich eine grosse dicke silberne Dose mit einer Inschrift überreichte. Um 1/21 Uhr sass er wieder in der mail und war des Morgens um 9 Uhr in Dover, wo er, weil Ebbe eingetreten war, sofort wieder in's Dampfboot musste. Nach einer schlechten Ueberfahrt, auf der er statt nach Calais zu kommen nach Boulogne verschlagen wurde, fuhr er wieder die Nacht durch auf der Diligence nach Lille und dann weiter nach Cöln, wo er 10 Uhr Morgens ankam und sich um 11 Uhr auf ein Dampfboot begab, das wieder die Nacht durch fuhr, aber um 2 Uhr Morgens stille stand, weil es sich im Nebel fest gefahren hatte. So ging er denn auf wohlbekanntem Fusswege nach Horchheim und von da nach Coblenz, wo er Post nahm und endlich nach sechs Tagen und fünf Nächten in Frankfurt bei den Seinigen ankam. Nun hatte er aber mit seiner Gattin noch die Reise von Frankfurt nach Leipzig zurückzulegen, wo er nach abermals dreitägiger Fahrt Sonntag den 2. October 2 Uhr, 4 Stunden vor dem ersten Abonnementconcert, das er dirigiren sollte, anlangte. Man muss sich wundern, wie sein im Ganzen doch zarter Körper nach den grossen Anstrengungen in Birmingham diese furchtbaren Reisestrapazen, von denen man sich in unserem Eisenbahnzeitalter keinen Begriff mehr machen kann, zu ertragen vermochte. Dafür wurde er nun auch in Leipzig mit seiner jungen Frau auf das freundlichste empfangen und durch die schönste Häuslichkeit[240] für alle ausgestandene Mühsal reichlich entschädigt. Er selbst schreibt darüber am Schlusse jenes ersten Briefes aus Leipzig an seine Mutter: »Hier ist es nun gar zu schön; der ganze Tag und jede Stunde ist mir in meiner neuen Häuslichkeit wie ein Fest, und während ich in England trotz aller Ehren und Freuden keinen recht vergnügten Augenblick gehabt habe, ist mir jetzt jeder Tag eine Reihe von Freude und Glück, und ich habe mein Leben eigentlich nun erst wieder lieb.«

Bei seinem ersten Wiederauftreten am Dirigentenpulte in Leipzig von der Versammlung, wie sich von selbst versteht, mit freudigem Applaus empfangen, nahm nun M. an der von ihm selbst so geliebten Heimathsstätte seiner Kunst seine Thätigkeit mit der ganzen Frische seines Geistes wieder auf. Die Jubelouvertüre von Weber, Chor von J. Haydn »Des Staubes eitle Sorgen«, Beethoven's C moll-Symphonie, Arie aus Freischütz »Wie nahte mir der Schlummer«, gesungen von Fräulein Louise Schlegel, einer sehr begabten Schülerin des Musikdirectors Pohlenz, und ein neues, von F. David componirtes und gespieltes Concert, eröffnete die Reihe der musikalischen Leistungen dieses Winters in höchst würdiger und ansprechender Weise. Da ich meine Leser damit ermüden würde, alle Genüsse dieses Winters einzeln aufzuzählen, so soll nur das hervorgehoben werden, was Mendelssohn selbst besonders angeht. Als eine sehr angenehme Frucht seiner Reisen nach England, die auch uns zu Gute kam, durften wir die Anstellung einer äusserst talentvollen, auch durch ihre äussere Erscheinung sehr lieblich wirkenden Sängerin, Miss Clara Novello, betrachten, die aber leider nur im fünften bis zehnten Abonnementconcerte und ausserdem im Concerte für alte und kranke Musiker, sowie in einem Abschiedsconcerte auftrat. Sie war die Tochter eines Musikalienhändlers in London, für welchen M. schon im Jahre 1832 ein Morning Service (Kirchenstück) componirt hatte. Ihre glockenreine Silberstimme, ihre vollendete Schule und ihr reizendes Aeussere gewannen ihr alle Herzen. Die Concerte waren besuchter als je. M. selbst, offenbar sehr erfreut über die freundliche Aufnahme, die sein Schützling in Leipzig fand, schreibt darüber in einem Briefe an F. Hiller unter'm 10. Dec. 1837:


[241] »Unser Glanzpunkt diesen Winter ist Clara Novello, die auf sechs Concerte hergekommen ist und das ganze Publicum wirklich beglückt hat. Wenn ich das kleine gesunde Persönchen mit ihrer reinen hellen Stimme und ihrem lebendigen Gesang höre, so denke ich sehr oft daran, dass ich sie Dir eigentlich aus Italien weggestohlen habe, denn dahin wollte sie schon und geht sie nun erst im Frühjahr; aber unserer Sache habe ich einen gar zu grossen Gefallen erzeigt, indem ich sie her persuadirt habe, denn sie allein bringt diesmal Leben und Feuer hinein und Publicus schwärmt, wie gesagt. Die Arie mit Bassethorn aus Titus, die Polacca aus den Puritanern von Bellini und eine englische Arie von Händel haben's Publicum toll gemacht und es schwört, ausser Clara Novello gäb's kein Heil.«


Ausser den hier von M. erwähnten Stücken trat sie noch mit »Casta Diva« aus Norma auf, und in ihrem Abschiedsconcert am 8. Januar 1838 trug sie unter anderm auch die grosse Beethoven'sche Arie aus Fidelio »Abscheuliche, wo eilst Du hin« höchst vollendet vor. – M. selbst spielte im dritten Abonnementconcert sein neues Clavierconcert aus D moll (Op. 40, in Bingen und Horchheim 1837 componirt), Allegro appasionato, Adagio und Scherzo giojoso, wie er es damals nannte, ein überaus schwungvolles, graziöses Musikstück, und erwarb selbstverständlich damit den ungetheiltesten Beifall. In der zweiten Quartettunterhaltung am 19. November wurde für Leipzig als musikalische Novität das Quartett in E moll Op. 44, Nr. 2 gegeben und am lebhaftesten der zweite, der sogar da capo gespielt werden musste, und der Schlusssatz aufgenommen. In dem Concert für arme und kranke Musiker wurde die Sommernachtstraumsouvertüre aufgeführt, und Mendelssohn selbst spielte mit gewohntem Erfolg sein Capriccio brillant in H moll. Mitten unter diesen Leistungen aber vereinigte er auch wieder die sämmtlichen musikalischen Kräfte Leipzig's zur Darstellung eines der grössten Meisterwerke der Vorzeit. Nach vielen vorausgegangenen höchst sorgfältigen Proben wurde am 16. November 1837, abermals in der erleuchteten Pauliner-Kirche, der Messias von Händel gegeben. Die Zahl der Sänger und Musiker glich der bei den vorigen Oratorien-Aufführungen; die Solis wurden von den Damen Novello, Grabau-Bünau, Möllinger[242] und von den Herren Gebhardt und Pögner gesungen. Das Meisterwerk wurde nach Mozart's Bearbeitung gegeben und an mehreren, meist an den choralmässig gehaltenen Stellen und am Schluss auserlesener Chöre durch Orgelbegleitung effectvoll geschmückt. Die Leistungen des Chores, Orchesters und der Solostimmen gehörten zu den vorzüglichsten; der Eindruck des ganzen grossartigen Tonwerks war durchaus befriedigend und erhebend.

Das neue Jahr 1838 brachte uns auch wieder ein neues Product der Mendelssohn'schen Muse. Der 42. Psalm, wie wir oben gesehen haben, die edelste Frucht der Musse seiner Hochzeitsreise, wurde am 1. Januar im zehnten Abonnementconcert zum ersten male vorgeführt, ein in seiner Art einziges und höchst vollkommenes Werk. Tiefer und inniger ist wohl nie vorher die fromme Sehnsucht, Gott zu schauen, in Tönen ausgesprochen worden. Nachdem der Chor sein Verlangen nach Gott in den herrlich declamirten Worten »Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu Dir« gemeinsam kund gegeben, ist in einem Sopransolo die Klage der Sehnsucht nach dem lebendigen Gott noch nachdrücklicher und lebendiger betont. Ein Chor von Frauen tritt gleichsam erklärend und rechtfertigend in den Worten hinzu: »Denn ich möchte gern hingehen mit den Haufen und mit ihnen wallen zum Hause Gottes,« eine Musik, die durch ihren schrittmässigen Tact zugleich eine Reminiscenz an die frohe Wallfahrt nach dem Tempel Gottes enthält. Dagegen erhebt sich nun der Chor der Männer, ermahnend und sich selbst Trost zusprechend: »Was betrübst Du Dich, meine Seele – harre auf Gott u.s.w.« Aber jene erste klagende Frauenstimme tritt, da durch jene Erinnerung an die schönen Gottesdienste des Herrn die Klage gerechtfertigt und die Sehnsucht noch verschärft ist, mit ihrer betenden Trauer jetzt noch entschiedener hervor: »Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir – alle Deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich.« Da ertönt, in beruhigendem Dur von Cellis begleitet, ein herrliches Männerquartett, voll Trostes und gläubiger Zuversicht: »Der Herr hat verheissen des Tages seine Güte und des Nachts singe ich zu ihm und bete zu dem Gotte meines Lebens.« Aber noch immer[243] mischt sich in ihren Gesang jene zweifelnde und klagende Seele mit dem Tone tiefer Wehmuth, bis zuletzt der ganze Chor der Männer und Frauen die Worte des ersten Männerchores mit der vollen Kraft des Glaubens wieder aufnimmt und mit dem Zusatz des allerdings nicht mehr im Psalm stehenden Textes »Preis sei dem Herrn, dem Gott Israëls, von nun an bis in Ewigkeit« in einem kräftigen fugenartigen Satze schliesst. Man sieht, hier ist ein kleines vollständiges psychologisch-religiöses Drama in Tönen ausgedruckt. Wer freilich diesen Psalm nicht selbst gehört oder mitgesungen hat, wird sich wohl nach dieser Skizze noch kaum ein Bild von dessen musikalischer Behandlung machen können. Sie ist indessen auch nur für Diejenigen bestimmt, welche sich in der Erinnerung den Genuss reproduciren wollen, den ihnen diese herrliche Schöpfung M.'s verschaffte. Sie alle werden zugeben, dass nicht leicht ein den Worten angemessenerer musikalischer Ausdruck, eine edlere Melodie und wohlgefälligere Harmonie gedacht werden können, als in dieser Composition durchgängig gefunden werden. – Die Ausführung, besonders der Chöre und der Sopranpartie, welche Miss Novello übernommen hatte, war vortrefflich.

Nachdem im Laufe dieser Concerte einige interessante neue Symphonien (darunter eine von Norbert Burgmüller) und ein anderer schon wegen des Textes weniger allgemein ansprechender Psalm von M., der schon früher in Rom zuerst nach dem Texte der Vulgata »Non nobis Domine« componirte, jetzt in deutscher Uebersetzung gegebene 115., aufgeführt worden,11 wusste M. die Freude an diesen musikalischen Genüssen auf eine neue Weise zu steigern, indem er dem Directorium vorschlug, den Stufengang in der Entwicklung der Musik dem Publicum durch historische Concerte vorzuführen. Am 15. Februar wurde die Reihe dieser Concerte mit Werken von Sebastian Bach, Händel, Gluck und Viotti eröffnet. Auf eine Suite von Bach folgte[244] die Hymne von Händel »Gross ist der Herr«, dann eine Sonate desselben Meisters in E dur, Nr. 3 für Clavier und Violine, vorgetragen von M. und David. Den zweiten Theil bildete Ouvertüre, Introduction und erste Scene aus Iphigenie in Tauris von Gluck, worauf ein Concert für Violine von Viotti, von David ausgezeichnet schön vorgetragen, schloss. Das zweite dieser Concerte, im Abonnement das sechzehnte, brachte Werke von Jos. Haydn, Cimarosa, Naumann, Righini. Das Repertoir desselben ist zu interessant, als dass ich mich nicht entschliessen sollte, es ganz herzusetzen: Ouvertüre zu Tigranes und Arie aus Armida von Righini, Ouvertüre zu Il matrimonio segreto von Cimarosa; Trio für Pianoforte, Violine und Violoncello (C dur) von Jos. Haydn, vorgetragen von M., David und Graeser; Introduction, Recitativ und Schlussscene des ersten Theiles der Schöpfung von Haydn. Den zweiten Theil bildeten: Quintett und Chor aus I Pellegrini von Naumann, und die sogenannte Abschieds-Symphonie von Haydn, bekanntlich geschrieben, als Fürst Esterhazy seine Capelle entlassen wollte; der Fürst wurde durch diese Symphonie so gerührt, dass die Capelle bleiben durfte. M. schreibt über diese Aufführung (Februar 1838) an seine Schwester Rebecka: »Zum Schluss die Haydn'sche Abschieds-Symphonie, in welcher zum grossen Jubel des Publicums die Musiker wirklich ihre Lichter ausbliesen und abgingen, bis die Violinisten am ersten Pulte allein übrig blieben und in Fis dur abschlossen. Es ist ein curios melancholisches Stückchen.« Das dritte dieser Concerte brachte Werke von Mozart, Salieri, Méhul und Andreas Romberg, unter anderen ein bisher noch ganz unbekanntes Quartett aus Zaïde von Mozart und ein Ensemble aus »Uthal« von Méhul, einer Oper, welche der Meister auf Napoleon's Befehl über ein Sujet aus Ossian und ganz ohne Violinen componirt hatte. Den Glanzpunkt dieses Concertes bildete das von M. unübertrefflich schön gespielte Pianoforte-Concert C moll von Mozart, kaum minder die Ouvertüre zur Zauberflöte, welche das Concert eröffnete. Das Programm des vierten und letzten dieser Concerte bildeten Abt Vogler mit seiner Ouvertüre zu Samori, Karl Maria von Weber, Ouvertüre zum Freischütz und Jägerchor aus Euryanthe,[245] Beethoven, das grosse Violin-Concert, meisterhaft von Herrn Ulrich, Mitglied des Orchesters, vorgetragen, und die Pastoral-Symphonie. Dass durch diese Concerte nicht blos das bessere Verständniss des Publicums geweckt, sondern dass auch durch eine so gediegene Auswahl der trefflichsten Stücke der musikalische Geschmack der Hörer veredelt werden musste, braucht kaum gesagt zu werden. Noch fällt in den Schluss dieser Saison die durch ihre schnelle Entstehung und Vollendung besonders interessante Composition von Serenade et Allegro giojoso, Op. 43, über welche M. unter'm 2. April 1838 an seine Familie in Berlin schreibt:


»Heute Abend ist das Concert der Botgorscheck, einer vortrefflichen Contre-Altistin, die mich so zum Spielen quälte, dass ich's zusagte und mich erst nachher besann, dass ich durchaus nichts Kurzes, Passendes hätte. So entschloss ich mich denn, ein Rondo zu componiren, von dem vorgestern früh noch keine Note geschrieben war, und das ich heute Abend mit ganzem Orchester spiele und heute früh probirt habe. Es klingt lustig genug; wie ichs aber spielen werde, wissen die Götter und auch die kaum, denn an einer Stelle habe ich 15 Tacte Pausen in die Begleitung geschrieben und habe noch keine Ahnung, was ich da hineinspielen soll. Aber Einem, der en gros spielt, wie ich, dem geht Vieles durch!«12


So war denn abermals hauptsächlich durch M.'s vielseitige Thätigkeit der Winter unter den reichsten musikalischen Genüssen vergangen. Er selbst aber gönnte sich auch während des Sommers keine Ruhe. Er ging wieder an den Rhein, und zwar zur Direction des Cölner Musikfestes. Als Hauptwerk wurde hier der Josua von Händel gegeben, zu dem er wie früher bei Salomon die Orgel gesetzt hatte. Uebrigens war dieses Fest eines der weniger glänzenden. Die Trennung von seiner Gemahlin und dem ersten Kinde, einem Sohne, geboren im Frühling desselben Jahres, schien M. sehr nahe zu gehen. Er war etwas trüb[246] gestimmt, spielte aber trotzdem am dritten Festtage das oben erwähnte Stück Serenade et Allegro giojoso. Sein treuer Freund und Kunstgefährte David hatte ihn auch diesmal nach dem Rhein begleitet.

Kaum war er wieder nach Leipzig zurückgekehrt, so sprach man auch gegen ihn das lebhafte schon bei der ersten Aufführung geäusserte Verlangen aus, den Paulus wiederholen zu hören. M. zeigte sich willig und leitete die Proben mit gewohnter Umsicht. Als aber der zur Aufführung angesetzte Tag, der 15. September 1838, kam, erschien er selbst nicht, da er plötzlich von den Masern befallen worden war. An seiner Statt übernahm rasch David die Direction und führte dies schwierige Geschäft im Geiste seines Vorbildes überaus glücklich durch, so dass der Eindruck des Werkes bei vielen Hörern noch tiefer zu sein schien, als das erste mal. Zu bemerken ist, dass nach dem Choral Nr. 9 »Dir, Herr, Dir will ich mich ergeben« eine neue Arie für Alt eingeschaltet war: »Der Du die Menschen lässest sterben und sprichst: kommt wieder, Menschenkinder.« Die Sopransolis hatte diesmal die liebenswürdige Künstlerin Frau Dr. Livia Frege geb. Gerhard übernommen, welche, von einer glänzenden öffentlichen Laufbahn in's Privatleben zurückgekehrt, ihre herrlichen Gaben fast nur noch der religiösen Kunst und vorzugsweise der Muse M.'s zuwandte und bis heute diejenige geblieben ist, welche den Geist seiner Schöpfungen am tiefsten erfasste und am glücklichsten wiedergab. Nach dieser Aufführung des Paulus fand zu M.'s Lebzeit nur noch eine einzige in Leipzig statt, zugleich die letzte, die der Meister dirigirte. Uebrigens hat kein Kunstwerk in so kurzer Zeit wie der Paulus allerwärts Eingang gefunden. Man könnte die beiden Jahre 1837 und 1838 in der Geschichte der Musik geradezu die Paulusjahre nennen. In Deutschland, in Tirol und der Schweiz, in Dänemark, in Holland, in Polen und Russland, in Amerika, überall wurde Paulus gegeben und in vielen Städten zwei bis drei mal.

Die Zeit, wo der Schöpfer eines so allgemein beliebten Werkes abgerufen werden sollte, war noch nicht gekommen, er genas von jener Krankheit bald wieder. Zwar die Direction des ersten Abonnement-Concerts der neuen Saison[247] musste er noch seinem Freunde David überlassen, aber schon im zweiten sehen wir ihn wieder an der Spitze. Das Publicum hiess seinen wiedergenesenen Liebling natürlich mit doppelter Freude willkommen. Er eröffnete dieses Concert mit seiner Ouvertüre zur Fingalshöhle (Hebriden). Im dritten trat nach der mit enthusiastischem Beifall aufgenommenen und auf Verlangen wiederholten Ouvertüre zum Freischütz abermals eine englische Sängerin auf, deren Erscheinen auf dem Gewandhauspodium wir gleichfalls M.'s Bekanntschaften in England verdankten. Es war Mrs. Alfred Shaw, eine edle und würdevolle Gestalt, begabt mit einer vortrefflichen rein und volltönenden Altstimme. Die edle Einfachheit ihres Vortrags, ihre tiefe Auffassung besonders geistlicher Gesänge machte sie allen Freunden wahrer Musik zu einer hochwillkommenen Erscheinung. Sie sang bei ihrem ersten Auftreten Recitativ und Arie von Rossini: »Amici, in ogni evento m' affido a voi!« und das Addio von Mozart. Ihr Aufenthalt bis zum 28. Jan. 1839 bereitete uns eine Reihe der edelsten Genüsse. Ganz vorzüglich schön sang sie die Arie aus Händel's Messias »Er war verachtet und verschmähet von allen«, wie denn überhaupt die Wahl ihrer Stücke stets die vortrefflichste war. Aber eben dasselbe gilt auch von den hauptsächlich durch M.'s Wahl auf das herrlichste ausgestatteten Concerten. Geht man die Programme dieser Concerte durch, so erstaunt man über den Reichthum classischer Stücke und über die geschmackvolle Zusammenstellung. Händel, Gluck, Haydn, Beethoven, Mozart, Cherubini, Weber, Spohr, Rossini finden sich abwechselnd im Repertoir, wobei jedoch die Leistungen neuerer und neuester Meister keineswegs ausgeschlossen sind. So wurden z.B. neue Symphonieen von Kalliwoda, Lachner, Möhring und Dobryciński, auch die neu aufgefundene Symphonie von Franz Schubert (C dur) gegeben, welche letztere freilich allen übrigen den Rang ablief. Lag auch eine derartige Wahl eigentlich in der Hand des Directoriums, so war es doch jedenfalls M., der zuerst vorschlug oder nachträglich guthiess. Als ein besonderer Vorzug dieser Concerte verdient noch hervorgehoben zu werden, dass auch häufig schöne Ensemblestücke aus leider jetzt meist von der Bühne verschwundenen, erst ganz in neuester Zeit[248] hie und da wieder hervorgesuchten Opern zur Aufführung kamen. So z.B. das herrliche Septett aus Cosi fan Tutte, Terzett mit Chor aus Medea von Cherubini, Polonaise, Terzett und Chor aus Lodoiska von demselben Meister. Zuweilen auch aus bekannten werthvollen Opern, wie das erste Finale aus Euryanthe, Terzett und Quartett aus Oberon, Arie und erstes Finale ebendaher, und das zweite Finale aus Leonore von Beethoven. Von M.'s Werken wurden gegeben: Die Ouvertüren zur Fingalshöhle, zu Meeresstille und glückliche Fahrt und zum Paulus, nebst Recitativ und Arie aus demselben Oratorium, »Und zog mit einer Schaar gen Damaskus«, gesungen von Mrs. Shaw (im Neujahrs-Concert, zugleich mit Beethoven's C moll-Symphonie), ferner die Ouvertüre zu Ruy Blas und der 42. Psalm, die letzten beiden im 20. Abonnement-Concert, wo auch zum ersten mal die Schubert'sche Symphonie in C dur und der Frühling aus den Jahreszeiten zur Aufführung kam. Er selbst spielte im 18. Abonnement-Concert sein D moll-Concert. Ueber die Entstehung der Ouvertüre zu Ruy Blas schreibt M. am 18. März 1839 folgenden ergötzlichen Brief an seine Mutter:


»Du willst wissen, wie es mit der Ouvertüre zum Ruy Blas zugegangen ist? Lustig genug. Vor 6–8 Wochen kam die Bitte an mich, für die Vorstellung des Theaterpensionsfonds (einer sehr guten und wohlthätigen Anstalt hier, die zu ihrem Benefiz den Ruy Blas geben wollte) eine Ouvertüre und die in dem Stück vorkommende Romanze zu componiren, weil man sich eine bessere Einnahme versprach, wenn mein Name auf dem Titel stände.« (Das Stück, das heutzutage schon Niemand mehr kennt, ist von Victor Hugo.) »Ich las das Stück, das so ganz abscheulich und unter jeder Würde ist, wie man's gar nicht glauben kann, und sagte, zu einer Ouvertüre hätte ich keine Zeit und componirte ihnen die Romanze. – Montag (heute vor acht Tagen) sollte die Vorstellung sein; an dem vorhergehenden Dienstag kamen die Leute nun, bedanken sich höchlich für die Romanze und sagen, es wäre so schlimm, dass ich keine Ouvertüre geschrieben hätte; aber sie sähen sehr wohl ein, dass man zu solch' einem Werke Zeit brauche, und im nächsten Jahre, wenn sie dürften, wollten sie mir's länger vorher sagen. Das wurmte mich; – ich überlegte mir Abends die Sache, fing meine Partitur an – Mittwoch war den ganzen Morgen Concertprobe, –[249] Donnerstag Concert, aber dennoch war Freitag früh die Ouvertüre beim Abschreiber, wurde Montag erst im Concertsaal dreimal, – dann einmal im Theater probirt, Abends zu dem infamen Stück gespielt und hat mir einen so grossen Spass gemacht, wie nicht bald eine von meinen Sachen. Im nächsten Concert wiederholen wir sie auf Begehren; da nenne ich sie aber nicht Ouvertüre zu Ruy Blas, sondern zum Theater-Pensionsfonds.« (Briefe aus den Jahren 1833–1847, S. 189–190.)


Niemand, der den Hergang nicht kennt, wird diesem kraft- und schwungvollen Tonstück seinen ephemeren Ursprung anmerken. Es ist ein genialer Wurf, wunderschön instrumentirt, in lebhaftem Rhythmus und ausgestattet mit reizenden originellen Motiven namentlich in dem Mittelsatz, noch heute in Concerten sehr gern gehört.

Im Frühjahr 1839 dirigirte M. gemeinschaftlich mit Julius Rietz das Düsseldorfer Fest. Ein Zusammenwirken ausgezeichneter Gesangstalente, wie Fräulein von Fassmann, Miss Clara Novello u.a. machte dies Fest zu einem der glänzendsten. Der Messias von Händel und Beethoven's Missa in C wurden als Hauptwerke gegeben. Hier lernte M. auch Fräulein Sophie Schloss kennen, die im Messias sowie auch in der am zweiten Tage gegebenen Beethoven'schen Messe die Altsoli bewundernswürdig sang und die er desshalb sogleich für den Winter in Leipzig engagirte. Von Mendelssohn's Compositionen wurde der 42. Psalm gegeben. Am dritten Festtage spielte er sein D moll-Concert und accompagnirte viele Gesangsstücke am Flügel.

Von den Anstrengungen dieses Musikfestes ging M. für einige Wochen nach Frankfurt. Man veranstaltete dort zu Ehren seiner Anwesenheit einige Feste, eines ein musikalisches Pickenick im Walde und ein zweites in einem Privatcirkel. Beide beschreibt er in dem Briefe an seine Mutter, Frankfurt den 3. Juli, auf das anmuthigste:


»Das Schönste, was ich in meinem Leben bis jetzt von Gesellschaften gesehen habe, war ein Fest im Walde hier, das ich Dir genau beschreiben muss, weil es einzig in seiner Art war. Eine Viertelstunde vom Wege ab, tief im Walde, wo hohe dicke Buchen einzeln stehen und oben ein grosses Dach bilden, und man rings umher nur grünen Wald durch die vielen Stämme durchschimmern sah, da war das Local; man musste auf einem kleinen Fussweg sich[250] dahin arbeiten, und sobald man auf dem Platze ankam, sah man in der Entfernung die vielen weissen Gestalten unter einem Rand von Bäumen, die mit dicken Blumenkränzen verbunden waren und der den Concertsaal vorstellte. Wie lieblich da der Gesang klang, wie die Sopranstimmen so hell in die Luft trillerten, und welcher Schmelz und Reiz über den ganzen Tönen war, alles so still und heimlich und doch so hell – das hatte ich mir nicht vorgestellt ... Wie sie sich nun den Abend unter die Bäume stellten und mein erstes Lied ›ihr Vöglein in den Zweigen schwank‹ anhoben, da war es in der Waldstille bezaubernd, dass mir beinah' die Thränen in die Augen kamen. Wie lauter Poesie klang es ... So sangen sie das ganze Heft durch und dann drei neue Lieder, die ich dazu componirt hatte und das dritte (es heisst Lerchengesang) wurde kaum gesungen, nur gejubelt und dreimal nach einander wiederholt.« ...


Das zweite Fest bei einem Herrn E. brachte 9 allerliebste Tableaus, lebende Bilder, jedes angepasst einer Mendelssohn'schen Musik, anhebend mit der Sommernachtstraums-Ouvertüre und der in einer Blume schlafenden von ihren Leibelfen umgebenen Titania, schliessend, ehe der Vorhang aufging, mit dem Anfang des 42. Psalms und dann – mit einer M. selbst möglichst getreu darstellenden lebenden Figur – »sie hatten S**, der mir ähnlich sehen soll, als mich costümirt, und er sass in begeisterter Attitüde da und schrieb Noten und kaute zugleich an seinem Schnupftuch (eine Angewohnheit M'.s) und neben ihm eine schöne heilige Caecilie mit einem Kranz.« – Es ist so Schade um jedes Wort, das man aus diesen reizenden Schilderungen weglässt, dass ich die freundlichen Leser dringend bitten muss, das Ganze in den Briefen M.'s aus den Jahren 1830–47, Bd. II, S. 194–98 selbst nachzulesen.

Im Winter 1839–40 leitete M. wieder die Gewandhausconcerte in Leipzig mit derselben Umsicht und vielfacher Mitwirkung, sie auf dem Höhepunkt erhaltend, wohin er sie schon im letzten Winter gebracht hatte. Neben Fräulein Schloss, welche zuerst im 2. Abonnementconcert auftrat, war Fräulein Meerti, eine Belgierin, engagirt, welche mit einer soliden Schule und angenehmen Stimme französische Leichtigkeit und Eleganz verband. Mehrere sehr werthvolle neue Gaben von M. erfreuten uns in diesem[251] Winter neben den immer freudig aufgenommenen Schätzen aus früherer Zeit. Das Concert zur Vorfeier des Reformationsfestes, das vierte des Abonnements, Mittwoch am 30. October 1839, wurde mit einer noch nicht gehörten Composition Mendelssohn's »Verleih uns Frieden gnädiglich« von Luther eröffnet. Der reinste und innigste Ton des Gebetes, welches sanft und feierlich zugleich zu Gottes Throne emporschwebt, ist wesentlicher Charakter dieses schönen, durchaus ernst und würdig gehaltenen Musikstücks. Wir haben schon erwähnt, dass M. dasselbe nebst mehreren anderen Liedern Luther's in Rom componirte, und so am besten sich jeder Umneblung durch den Sinnenreiz des katholischen Cultus, dem schon so manche deutsche Künstler in Rom erlegen sind, zu erwehren wusste. Uebrigens, war es Absicht oder Zufall, trug in dem Programm des erwähnten Concerts die Composition den Namen M.'s nicht. Sollte dadurch der Geschmack des Concertpublicums auf die Probe gestellt werden, so möchte man beinahe sagen, es hat damals die Probe nicht bestanden, vielmehr den Beweis geliefert, dass für seine Bildung immer noch einiges zu thun sei. Denn dieses Musikstück wurde still, um nicht zu sagen, kühl aufgenommen. Vielleicht war daran auch nur der ernstreligiöse Charakter des Stückes Ursache, da mit sehr löblichem Tact unser Publicum zu derartigen Werken in unsern Concerten niemals laut zu applaudiren pflegt. Nur so viel ist gewiss, dass ausser wenigen Eingeweihten damals Niemand die Autorschaft M.'s heraushörte. – Als eine nicht unwichtige Notiz mag hier noch eingeschaltet werden, dass am 25. December d.J. der Paulus zuerst in München aufgeführt wurde. Auch hier derselbe grossartige Eindruck, wie überall.


Das Jahr 1840, eines der bedeutungsvollsten für M.'s wohlverdienten immer steigenden Ruhm, erfreute uns gleich beim Beginn mit einer neuen grossartigen Schöpfung des Meisters. Es war der 114. Psalm, »da Israël aus Egypten zog«, componirt für Chor und Orchester, welcher im Neujahrsconcerte bei uns zum erstenmal gegeben wurde, im[252] Charakter und in der Behandlungsweise ganz verschieden von dem 42. Psalm, aber in seiner Art fast ebenso gross. Schon die Wahl dieses Psalmes, eines der schönsten Denkmäler der alttestamentlichen Lyrik, war ein höchst glücklicher Griff des Componisten; und wie hat er den Ton und Charakter dieses gewaltigen Lobgesanges auf die Macht Gottes zu treffen gewusst! In einem grossartigen Flusse der Begeisterung, ruhig und majestätisch rauscht dieser Doppelchor einher und steigert sich bis zu dramatischer Lebendigkeit in den Worten: »Was war Dir Du Meer, dass Du flohest? und Du Jordan, dass Du Dich zurückwandtest?« Mit dem Nachdruck des Gewaltigen und Erhabenen betont er die Antwort: »Vor dem Herrn bebte die Erde,« und ergiesst sich zuletzt in dem breiten Strome der Fuge »Hallelujah, singet dem Herrn« gleichsam selbst in das Meer der Ewigkeit. Denkt man sich einen jener Tempelpsalmen, in welchen der Chor, begleitet von den Posaunen der Leviten, von den Stufen des Heiligthums herab den umwohnenden Völkern die Herrlichkeit Jehovah's verkündete, in der idealsten Form und ausgestattet mit allen Mitteln der gegenwärtigen Kunst, so hat man ein Bild von der Wirkung dieses herrlichen Tonstücks, an dem aber ganz besonders die so völlig entsprechende musikalische Betonung der einzelnen Worte und wie gesagt, dieses Hervorströmen wie aus einem Gusse zu rühmen ist. Es ist eines jener classischen Werke, bei denen die Form dem Inhalte völlig entspricht.

Auf einem ganz andern Gebiete der Tonkunst bewegte sich das dritte neue Werk, welches uns des Meisters unerschöpflicher Genius in diesem Winter darbot. Es war das reizende Trio in D moll für Pianoforte, Violine und Violoncello (Op. 49) von ihm selbst neben den Herren David und Wittmann in der zweiten musikalischen Abendunterhaltung am 1. Februar dieses Jahres vorgetragen. Gleich im ersten Satze wogt diese Composition einher mit jenem edlen unter den neueren Tondichtern (bis auf Schumann) nur M. eigenthümlichen Feuer der Leidenschaft. Das darauf folgende Andante con moto tranquillo ergeht sich mit jener gleichfalls unnachahmlichen sentimentalen Färbung im Reiche der Sehnsucht und wehmüthigen Freude, während[253] uns das Scherzo mit dem Zauber neckender Grazie umspielt, und das Finale in seinem Allegro appasionato mit kräftigem Schwunge uns fortreisst und befriedigt. Das ganze Werk ist ein wahrer Spiegel des Mendelssohn'schen in seiner ganzen Tiefe und Eigenthümlichkeit sich hingebenden Gemüths, Erzeugniss einer der glücklichsten Stunden seines Genius, und bei aller Rückhaltslosigkeit sich in der vollendetsten Form darstellend. Natürlich wurde es uns von den genannten Meistern auch in höchster Vollendung vorgetragen und erntete lebhaftesten Beifall.

Gar Manches wäre aus den Leistungen und Genüssen dieses Winters noch dankbar rühmend hervorzuheben. Doch will ich meinen freundlichen Lesern zu Liebe nur das Eine erwähnen, dass am 9. Januar im zwölften Abonnementconcert unter M.'s Direction sämmtliche vier Ouvertüren zu Beethoven's Fidelio gegeben wurden. War es für jeden Kunstfreund höchst interessant, dem grössten aller Meister bis in die geheime Werkstätte seines Geistes zu folgen und zu sehen, wie er sich nimmer genug gethan, bis er das Gewaltige alle Gemüther Ergreifende schuf, und konnten diese Arbeiten eines Riesengeistes nie so vollendet zur Darstellung kommen, als unter der Leitung eines wenigstens in seinem Streben ihm ebenbürtigen Künstlers, so war es auch gewiss ein sehr gutes Zeugniss für die Höhe der musikalischen Bildung unseres Publicums, dass es diese vier Ouvertüren nacheinander sich nicht bloss gefallen liess, sondern sie auch mit freudigem Danke hinnahm. – Von dem ersten Auftreten Liszt's in Leipzig, welches gleichfalls in den Januar d.J. fällt, und wobei M. in so edler Weise die Rolle eines Vermittlers übernahm, werde ich später an geeigneter Stelle reden. Jetzt sei nur noch bemerkt, dass am 21. desselben Monats Herr Fėtis im ersten Concert des Conservatoires in Brüssel neben Beethoven's Eroica und Cherubini's Ouvertüre zu Anacreon zum erstenmal die Ouvertüre zum Sommernachtstraum aufführen liess, welche auf die dortige Versammlung wie ein grosses frohes Ereigniss wirkte.

Eilen wir aber jetzt dem Zeitpunkt zu, welcher durch eine der glücklichsten Leistungen in einem der genialsten Werke M.'s als eine wichtige Epoche in seinem Künstlerleben bezeichnet werden darf. Das vierhundertjährige[254] Jubelfest der Erfindung der Buchdruckerkunst, 25. Juni 1840, sollte, wie in den meisten grösseren Städten Deutschlands, so natürlich in Leipzig, der Hauptwerkstätte der Verbreitung des Gedankens, hochfestlich begangen werden. Den musikalischen Theil der Feier freute man sich M. übertragen zu können, der mit sichtbarer Lust und Liebe sich dieser Aufgabe unterzog. Zunächst galt es, aus den zahlreich eingegangenen Texten zu einem Liede bei Enthüllung der Guttenbergsstatue, welche auf dem Marktplatze aufgestellt werden sollte, den volksthümlichsten und componirbarsten zu wählen. Die Wahl fiel auf ein Lied von Adolf Prölss, Religionslehrer am Gymnasium zu Freiberg, welches in der That mit gediegenem volksthümlichen Ton auch musikalischen Wohllaut verband. M. setzte dieses Lied, sowie auch einen Choral »Begeht mit heilgem Lobgesang«, nach der Melodie: »Allein Gott in der Höh' sei Ehr',« für Männerstimmen mit Posaunenbegleitung. Als das »Vaterland, in Deinen Gauen brach der lichte Morgen an« (so lauteten, wenn ich mich recht erinnere, die Anfangsworte des Liedes) zum erstenmal im Gewandhaus probirt wurde, brach ein wahrhaft bacchantischer Jubel unter Mitwirkenden und Zuhörern aus. So etwas Volksthümliches, Kräftiges, Fröhliches und Freies war seit Langem nicht gehört worden. Ich sass damals in der Probe neben dem ehrwürdigen Rochlitz, und sah, wie die allgemeine und die eigene Freude des liebenswürdigen Greises frommes Antlitz verklärte. Er freute sich an der Morgenröthe einer schönen Aera der Kunst. Ein lustiges Fest war es, wie die Proben dann im Garten des Schützenhauses fortgesetzt wurden, um zu erfahren, wie die Musik sich etwa im Freien ausnähme, in welcher Entfernung die Sängerchöre und die Posaunisten von einander zu stellen wären, wobei denn der Meister selbst und sein treuer Kunstgefährte David auf gar mancherlei Tischen und Bänken herumkletterten, bis der rechte Standpunkt gefunden war. Manche werden sich auch noch erinnern, wie am Tage der Aufführung selbst, auf dem Leipziger Marktplatze, M. auf den sogenannten Bühnen des Rathhauses, niedrigen Vorbauten, mit seinem zierlichen Körper sich herumbewegte, um seinen Posaunisten den gehörigen Platz zu sichern,[255] und dabei fast zu Fall gekommen wäre. Während der Feier selbst waren zwei Chöre in einiger Entfernung von einander postirt, deren einen M., den andern David leitete. Sie begannen mit dem oben genannten Choral, dem das Guttenberglied folgte; hieran schloss sich ein von den Tenören intonirtes Allegro molto »Der Herr sprach, es werde Licht,« und zuletzt wieder ein Choral nach der Melodie: »Nun danket alle Gott.« Dieses Werk gehört zu denen, die keine Opuszahl tragen, ist aber wie die meisten der später ungedruckten Werke in der Gesammtausgabe bei Breitkopf und Härtel vollständig erschienen. Ebenda ist auch das Guttenbergslied für einzelne Singstimmen arrangirt, herausgekommen. Es verdient, abgesehen von seinem besonderen Zwecke, in allen Gauen des Vaterlandes als ein ächtdeutsches Volkslied verbreitet zu werden. Uebrigens war der Eindruck dieser Musik bei der Feier selbst kein so mächtiger, als man nach der grossartigen Anlage der Composition erwartet hätte. In dem weiten offenen Raum verlor sich der Schall, namentlich des Gesanges allzusehr. Ihm zu seinen Rechten zu verhelfen, wären wenigstens 1000 Sänger erforderlich gewesen.

Aber dies Alles waren ja gleichsam nur die Praeludien zu dem grossen Werke, welches, des Festes schönster künstlerischer Schmuck, alle Hörer erbauen und höchlichst erfreuen sollte. Der Lobgesang, grosse Symphoniecantate, von Mendelssohn-Bartholdy eigens zu dem Feste componirt, wurde am 25. Juni Nachmittags in der Thomaskirche vor einer überaus zahlreichen Versammlung aufgeführt. Voraus gingen Weber's Jubelouvertüre, das God save the King am Schlusse von der Orgel begleitet (ein wundervoller Effect) und das Dettinger Te Deum von Händel. War aber auch der Eindruck schon dieser beiden Tonwerke ein gewaltiger, der des Mendelssohn'schen Werkes überbot ihn. Wie hatte M. seine Aufgabe gefasst? Ihm galt es, die dankbare Freude über den Sieg des Lichtes der Finsterniss gegenüber darzustellen. Er mit seinem frommen gläubigen Gemüth konnte natürlich nur den Sieg des göttlichen Lichtes über die feindliche Gewalt der irdischen Finsterniss, welche die Welt mehr liebte, als das Licht, verstehen. Hiermit war zugleich die schönste Beziehung[256] auf das Guttenbergsfest, als eine Erinnerung an die Erfindung des Menschengeistes gegeben, welche das reine göttliche Licht am weitesten und schnellsten verbreiten half und darum auch als eine Gabe Gottes betrachtet werden muss. In diesem Sinne löste denn auch der fromme Künstler seine Aufgabe, und wie herrlich! – Ich theile die Meinung derjenigen nicht, welche vermuthen wollen, dass die drei den ersten Theil des Werkes bildenden Sätze schon früher vorhanden gewesen und die Vocalmusik erst bei diesem neuesten Anlass hinzugefügt worden sei. Das trägt ja Alles viel zu sehr das Gepräge der frischesten Ursprünglichkeit und zusammengehörigen Einheit! Ebensowenig kann ich mit den Kritikern übereinstimmen, welche in dem Lobgesang nur eine Nachahmung der D moll-Symphonie Beethoven's finden wollen. Denn was den inneren Character beider Tonstücke betrifft, so sind sie ungefähr so verschieden, wie eine Alpenlandschaft im heiteren Sonnenschein von dem Chaos nach der Weltschöpfung, in welches der erste Strahl des göttlichen Lichtes fällt (mit welchem Vergleiche nur gesagt sein soll, dass das Ringen und Gebähren der Freude in der D moll-Symphonie weit grossartiger, aber auch weit schmerzlicher ist, als im Lobgesang), oder so verschieden wie Michel Angelo's Gott Vater von Raphael's Sixtinischer Madonna oder der Verklärung Christi. Aber selbst in Bezug auf die äussere Form haben beide Tonwerke nur das gemein, dass jedes mit Gesang schliesst, der aber in M.'s Lobgesang die Hälfte des ganzen Werkes und zwar vielleicht die grössere bildet, so dass die drei ersten aneinander hängenden Symphoniesätze eigentlich nur kleine Unterabtheilungen eines einzigen sind und das ganze Werk in zwei Theile, einen grossen Instrumental- und einen Vocalsatz zerfällt, die aber beide ihrem Character nach in der innigsten Verbindung stehen. Während Beethoven zur menschlichen Stimme, als zu dem letzten Hülfsmittel greift, um das schmerzliche Ringen nach Freude in wohlthuende Harmonie aufzulösen, wobei er allerdings mehr an Engels- als an Menschenstimmen gedacht zu haben scheint, war es unserm Componisten Bedürfniss, die Freude über die Errettung von der Macht der Finsterniss gleichmässig durch Instrumental- wie durch Vocalmusik auszudrücken,[257] daher denn auch der Name des Werkes »Symphoniecantate« vollständig gerechtfertigt ist. Gleich im ersten Satz tritt in dem freundlich klaren B dur, vorgetragen von Posaunen und Trompeten, überaus prächtig der Hauptgedanke des Werkes ein, den das Tutti der Instrumente sogleich wiederholt und dann in kunstreichen Verschlingungen, aber immer mit vorherrschendem Gepräge des Jubels weiterführt. Auch wer die Worte »Alles was Odem hat, lobe den Herrn,« welche dieser Instrumentalsatz auch ohne Worte so prächtig declamirt, nicht kennte, müsste die kräftig fromme Ermunterung heraushören können. Dies das Allegro maëstoso é vivace. Hieran schliesst sich als nothwendige Schattirung (denn wer ertrüge ein blosses Lichtgemälde) ein Allegro agitato, welches das Ringen nach Licht mit einem Anfluge mittelalterlicher Romantik schildert, wobei man allenfalls an Ritterthum und Mönchswesen denken könnte. Der hier ausgedrückte Schmerz der nach Licht ringenden Seele wird aber sogleich wieder beschwichtigt durch das Adagio religioso, welches in frommer Weise das Sehnen nach göttlicher Hülfe und den Eintritt des göttlichen Lichtes in die Welt der irdischen Finsterniss anzudeuten scheint, und dadurch trefflich zu dem letzten Satze hinüberleitet, welcher nun in einem prachtvollen Vocalchor das erste ermunternde Thema, durchwebt von einem lieblichen Sopransolo, wieder aufnimmt. Es folgt nun wieder ein lyrisch-dramatisches Seelengemälde, wie im 42. Psalm. Eine Stimme ermahnt die übrigen, mit ihren fröhlichen Erfahrungen von der Hülfe des Herrn nicht zurückzuhalten: »Sagt es, die ihr erlöset seid durch den Herrn,« und der Chor stimmt in diese Ermahnung ein. Es folgt nun ein herrliches Duett von zwei weiblichen Stimmen, ebenso tief und innig, als höchst lieblich und wohlthuend, welche dieser Ermahnung nachkommen: »Ich harrete des Herrn und er neigte sich zu mir und hörte mein Flehn; wohl dem, der seine Hoffnung setzt auf den Herrn!« Hierauf schildert ein düsteres und ergreifendes Tenorsolo abermals den furchtbaren Zustand, ehe die göttliche Hülfe kam: »Stricke des Todes hatten mich umfangen und Angst der Hölle hatte mich getroffen.« Die dreimal sich immer schmerzlicher steigernde[258] Frage: »Hüter, ist die Nacht bald hin,« ist von der erschütterndsten Wirkung. Da plötzlich ertönt, wie eine Botschaft von des Himmels Höhen, von einer weiblichen Stimme, gleich der eines Engels, das tröstliche Wort: »Die Nacht ist vergangen,« und jubelnd wiederholt der ganze Chor: »Die Nacht ist vergangen, der Tag ist gekommen,« woran sich wie von selbst die fromme Entschliessung knüpft: »So lasst uns ablegen die Werke der Finsterniss und anlegen die Waffen des Lichts!« Dieser Doppelchor, der alternirend die Worte »die Nacht ist vergangen, der Tag ist gekommen« (jedesmal mit dem Hauptaccent auf Tag und Nacht in einer aushaltenden Note) wiederholt, ist vielleicht das Grösste dieser Art, was in neuerer Zeit geschrieben wurde und nach seiner gewaltigen Wirkung nur mit dem Chor in Haydn's Schöpfung: »Es werde Licht« oder mit des Tondichters eigenem Chor im Paulus »Mache Dich auf, werde Licht« zu vergleichen. In dem Lobgesangschor ist aber fast noch mehr Wucht, als in dem zuletzt genannten. An diesen Chor schliesst sich sehr natürlich der christliche Ausdruck des Dankes in dem von Instrumenten festlich begleiteten Choral »Nun danket alle Gott,« wobei wieder das Unisono in dem zweiten Verse von ganz besonderer Wirkung ist. Der Text dieses Verses ist zweckmässig variirt in die Worte: »Lob dem dreiein'gen Gott, der Nacht und Dunkel schied von Licht und Morgenroth, ihm danket unser Lied.« Um nun aber dem Werke einen neuen musikalisch schönen Schluss zu geben, folgt jetzt noch ein liebliches Duett: »Drum singe ich mit meinem Liede ewig Dein Lob, Du treuer Gott«, worauf noch einmal die ganze Pracht der Tonmassen in der erhebenden, das Ganze höchst würdig schliessenden Fuge: »Ihr Völker, ihr Könige, der Himmel, die Erde bringe her dem Herrn Ehre und Macht!« zusammentritt. Dass der so überaus passende und aus der Bibel zusammengestellte Text von M. allein, ohne die Beihülfe seiner theologischen Freunde herrührt, verdient besonders erwähnt zu werden. Ich will Niemandes Urtheil vorgreifen, aber mir erscheint dieser Lobgesang als eines der grössten und genialsten Werke M.'s, in welchem frei von jeder Anlehnung an vorhandene Vorbilder, was z.B. im Paulus nicht[259] immer der Fall ist, seine ganze Eigenthümlichkeit in ursprünglichster und wohlthuendster Weise zur Erscheinung kommt. Man weiss nicht, soll man mehr die lichtvolle Durchführung der gegebenen Motive, die fromme und innige Freude an Gottes Herrlichkeit, oder den entzückenden Wohllaut der Harmonie und Melodie in diesem Werke rühmen. Also am besten Alles zusammen. – Die erste Aufführung des Werkes war übrigens grossentheils glänzend. Chöre und Orchester wie immer vortrefflich. Nur die Sopransoli, zu welchen man eine fremde Sängerin hatte kommen lassen, nachdem die anfangs gehoffte Theilnahme der schon oben genannten hiesigen ausgezeichneten Künstlerin, ich weiss nicht aus welchem Grunde unterblieben oder hintertrieben war, liessen Vieles zu wünschen übrig. Trotzdem erregte das Werk bei allen Hörern den grössten Enthusiasmus, der sich freilich in der Kirche nicht durch laute Beifallsbezeigungen äussern durfte. Aber schon nach dem ersten wundervollen Duett wehte ein leises Flüstern und Säuseln durch die gedrängt volle Kirche und gab die freudige Erregung der Versammlung kund. An einem der nächstfolgenden Abende wurde M. von einigen Sängerchören vor seiner Wohnung in Lurgenstein's Garten ein Fackelständchen gebracht. Der Meister kam sichtlich erfreut selbst herab. »Meine Herren,« sagte er in seiner schlichten freundlichen Weise, mit jener ihm eigenen rührenden Biegsamkeit der Stimme, »Sie wissen, es ist nicht meine Art, viel Worte zu machen, aber ich danke Ihnen, danke Ihnen herzlich.« Ein dreifaches gesungenes Hoch war unsere Antwort.

Noch möge als schlichter aber beredter Ausdruck der Stimmung, welche damals nach der Aufführung des Lobgesanges das musikalische Leipzig beherrschte, das folgende M. von Freundeshand zugesendete Gedicht, anschliessend an den Text des Lobgesanges, hier stehn:


Sohn des Geistes, Sohn der Kraft,

Held der ew'gen Ritterschaft,

Freue Dich, es ist gelungen!

Freue Dich, Du hast gesiegt,

Was im Schlaf des Todes liegt,

Hast Du jubelnd wach gesungen.


»Legt des Lichtes Waffen an,«

Sangest Du, ein deutscher Mann,

Sangest es mit Gotteszungen!

Finsterniss nun abgethan,

Lug und Trug und eitler Wahn

Nieder in den Staub gerungen.[260]


»Lobe meine Seel' den Herrn,«

Felix, Felix, unser Stern

Leuchten sollst Du der Gemeine!

Mögen denn von Pol zu Pol

Völker flehen für Dein Wohl,

Dass Dein Licht uns ferner scheine.


»Er, der unsre Thränen zählt

In der Noth« – hat Dich erwählt,

Dir des Lichtes Weg gewiesen.

Danket, Völker, preiset ihn,

Der ihm solche Macht verlieh'n,

Aber Du auch sei gepriesen!


Denn mit siegender Gewalt

Schaffest Du dem Wort Gestalt,

Christus lebt in Deinem Liede.

Ihm bereitest Du den Steg,

Leit' uns ferner seinen Weg

Und mit Dir sei Gottes Friede!


Kaum hatte M. durch ein so herrliches Werk sich ein bleibendes Denkmal im Herzen aller wahren Freunde der Kunst gestiftet, so dachte sein unermüdlicher Geist schon wieder darauf, das Andenken des grössten seiner Vorgänger, dem er unter den Dahingeschiedenen das Meiste zu verdanken sich bewusst war und dem er auch in seinem Streben am meisten glich, durch ein bleibendes Zeichen zu sichern. Johann Sebastian Bach, der so lange als Cantor an der Thomasschule zu Leipzig segensreich gewirkt, sollte, wie sein Geist durch M. wieder heimisch geworden war, jetzt auch sichtbar wieder vor das Auge der dankbaren Nachwelt treten. M. beschloss, ihm aus eigenen Mitteln ein Denkmal zu errichten, und verband damit zugleich den Zweck, die musikalische Jüngerschaft mit den Werken des Verewigten vertrauter zu machen. Er gab mehrere Concerte, deren Ertrag diesem Denkmal Bach's gewidmet sein sollte und in welchen nur Werke dieses Meisters zur Aufführung kamen. Er selbst kündigte diese Concerte mit Angabe des Zwecks und seines Namens Unterschrift im Leipziger Tageblatt mehrfach an. Das erste derselben, zu welchem er schon am 29. Juli und dann wiederholt eingeladen hatte, war ein in der Thomaskirche am 6. August Abends 6 Uhr gegebenes Orgelconcert. Er und zwar er allein spielte darin die schönsten und schwierigsten Sachen von Bach, nämlich die herrliche Fuge in Es dur, Phantasie über den Choral: »Schmücke Dich, o liebe Seele,« Präludium mit Fuge in A moll, die sogenannte Passacaille in[261] C moll mit ihren 21 Variationen, die Pastorella und die Toccata in A moll und schloss mit einer freien Phantasie über den Choral: »O Haupt voll Blut und Wunden.« Diese Leistung war um so staunenswerther, als M. seit längerer Zeit das Instrument nicht mehr berührt hatte.

Er schrieb über dieses Concert unter'm 10. August an seine Mutter:


»Am Donnerstag habe ich hier in der Thomaskirche ein Orgelconcert gegeben, von dessen Ertrag der alte Sebastian Bach einen Denkstein hier vor der Thomasschule bekommen soll. Ich gab's solissimo, und spielte neun Stücke und zum Schluss eine freie Phantasie. Das war das ganze Programm. Obwohl ich ziemlich bedeutende Kosten hatte, sind mir doch über 300 Thlr. rein übrig geblieben. Nun werde ich im Herbst oder Frühjahr noch einmal solchen Spass machen, und dann kann schon ein ziemlicher Stein gesetzt werden.13 Ich habe mich aber auch 8 Tage lang vorher geübt, dass ich kaum mehr auf meinen Füssen gerade stehen konnte, und nichts als Orgelpassagen auf der Strasse ging.«


Ueberblicken wir die Grösse und Mannigfaltigkeit dieser Leistungen M.'s während der kurzen Frist eines Jahres, so dürfen wir uns nicht wundern, dass sein zarter Körper für einige Zeit den Dienst versagte. Er erkrankte nicht lange nach diesem Orgelconcert ziemlich bedeutend. Kaum war er nur einigermaassen wieder hergestellt, so rüstete er sich zur Abreise nach England. Er hatte versprochen, das im September stattfinden sollende Musikfest in Birmingham zu dirigiren und dabei seinen Lobgesang aufzuführen. Da er am 11. September noch nicht in London eingetroffen war, so musste die erste Probe dazu in Hannover Squares Room ohne ihn abgehalten werden. Mr. Knyvett dirigirte, Turle übernahm die Partie der Orgel und Moscheles half die Tempi bestimmen. Am 18. Sept. kam M. selbst in London an; am 20. reiste er mit Moscheles nach Birmingham und am 23. fand die Aufführung des Lobgesanges statt, der unter andern seine Anverwandten, Souchay's aus Manchester, sein Freund Klingemann und[262] der englische Componist Chorley mit beiwohnten. Ueber den glänzenden Erfolg bedarf es weiter keiner Worte.

M. reiste nun in Begleitung des zuletzt Genannten und seines Freundes Moscheles am 2. October von London wieder nach Leipzig ab. Das erste Abonnementconcert daselbst musste daher noch ohne ihn, unter der Direction David's stattfinden, aber im zweiten sehen wir ihn bereits wieder am Dirigentenpult. Moscheles verlebte in dieser Zeit vierzehn glückliche Tage in M.'s Hause, wobei M. noch manche dem Freunde unbekannte Composition hören liess. Am 19. October gab er ihm eine Soirée im Saale des Gewandhauses, worin die beiden Ouvertüren zu Leonore und der 42. Psalm unter Mitwirkung von Frau Dr. Livia Frege zur Aufführung kam. Moscheles selbst spielte sein G moll-Concert, dann mit M. sein Hommage à Händel und mit ihm und Frau Dr. Clara Schumann ein Tripelconcert von Bach.

Einer der schönsten musikalischen Tage aber sollte für Leipzig der 3. December werden. In dem am Abend stattfindenden Concert für den Orchesterpensionsfond wurde der Lobgesang zum erstenmal im Gewandhaus gegeben. Das mit Blumen reichgeschmückte Dirigentenpult, der Beifallssturm, mit welchem er empfangen ward, bezeugte dem Componisten im voraus die Dankbarkeit des Publicums. Nachdem das Concert mit der prachtvoll ausgeführten Jubelouvertüre würdig eingeleitet war, folgte eine Arie aus Titus, von Fräulein Schloss gesungen, und Beethoven's herrliche Phantasie für Pianoforte mit Chor (»Schmeichelnd hold und lieblich klingen« u.s.w.), die Pianofortepartie von einem Herrn Ferdinand Kufferath sehr wacker ausgeführt. Der Lobgesang bildete des Concertes zweiten Theil. Die Mitwirkung der ausgezeichneten oben genannten Künstlerin, welche die Sopransoli's diesmal übernommen hatte, verhalf der Composition erst zu ihrem vollen Recht. Nie wurde das »Lobe den Herrn, meine Seele« reiner, inniger und seelenvoller gesungen. Aber auch die Alt- und Tenorpartie, vertreten durch Fräulein Schloss und Herrn Schmidt, Chöre und Orchester waren vortrefflich. Der Enthusiasmus der Zuhörer kannte fast keine Grenzen mehr. Wenig fehlte, man hätte den Componisten mit den sein Pult[263] schmückenden Blumen umwunden und ihn auf den Händen nach Hause getragen.

Dieser wohlverdiente Triumph sollte sich sehr bald in stillerer und doch wo möglich noch ehrenvollerer und glänzenderer Weise wiederholen. Unser König, Friedrich August, der sinnige Pfleger der Kunst und Wissenschaft, kam am 15. December nach Leipzig, und hatte den Wunsch ausgesprochen, M.'s Lobgesang zu hören. In seiner Gegenwart wurde daher, ausgeführt von denselben Mitwirkenden, das Prachtstück am 16. December wiederholt. Vorher gingen, nach des Königs eigener Wahl, Ouvertüre zu Oberon, Cavatine aus Figaro »Giunse alfin il momento«, gesungen von Fräulein Schloss und die grosse Kreutzersonate von Beethoven, ausgeführt von M. und David. Es war interessant, die beiden Könige, den König im Reiche des Geistes und den eines irdischen Reiches, ihm verwandt durch sinniges Nachempfinden, einander gegenüber zu sehen. Die Versammlung lauschte in athemloser Stille der Musik sowohl, als dem Eindruck der Musik auf den geliebten Fürsten. Nach Beendigung des Concerts erhob sich der König rasch von seinem Sessel und ging mit schnellen Schritten durch den Mittelgang auf das Orchester zu, wo M., David und die übrigen Mitwirkenden standen. Er dankte mit wenigen Worten, aber auf das freundlichste. M. begleitete dann den König auf seinem Rückweg einige Schritte und gewiss Manchem der Zuhörer und Zuschauer fiel das Wort des Dichters bei:


»Es darf der Sänger mit dem König gehn,

Sie beide wandeln auf der Menschheit Höhn.«


Von auswärtigen Erfolgen, die M.'s Werke in diesem Jahre errangen, ist noch zu erwähnen, dass der 42. Psalm auf dem Schweizerischen Musikfeste zu Basel (6.–9. Juli), sowie auf dem Pfälzer Musikfeste zu Speier neben M.'s Meeresstille und glückliche Fahrt gegeben wurde, und laut den Berichten M.'s Compositionen unter allen Musikstücken am unmittelbarsten auf die Gemüther wirkten und wahrhaften Enthusiasmus erregten. Ausserdem wurde Paulus am 8. Juli unter M.'s eigner Direction auf dem norddeutschen Musikfeste in Schwerin, am 20. September unter[264] dem Chordirector Schmidt zu Reichenberg in Böhmen, Anfang October zu einem milden Zweck in Dresden, und am 26. October im Saal des Schauspielhauses zu Mainz aufgeführt.

Schliesslich ist noch zur Geschichte des Jahres 1840 zu erwähnen, dass M. bereits am 8. April desselben Jahres den Grund zu einem höchst wichtigen segensreichen Werke, der Stiftung eines Conservatoriums zu Leipzig zu legen begann. Er schrieb unter diesem Datum einen höchst ausführlichen und einsichtsvollen Brief an den damaligen Kreisdirector von Falkenstein in Dresden, in welchem er ihm die Gründe darlegte, warum gerade in Leipzig die Errichtung einer Musikschule höchst wünschenswerth und thunlich sei, und ihn um seine Fürsprache beim Könige bat, dass dieser die Verwendung eines Legats des Hofkriegsraths Blümner von 20,000 Thalern zu diesem Zwecke genehmigen möchte. Wir werden später sehen, welchen ausgezeichneten Erfolg dieser Brief hatte. Ebenso verdient noch bemerkt zu werden, dass es M.'s Bemühungen bereits Anfang Februar dieses Jahres gelungen war, dem Gewandhausorchester eine Zulage von 500 Thalern zu vermitteln, worüber er in dem Briefe an seinen Bruder Paul vom 7. Februar d.J. seine Freude und zugleich den Vorsatz ausspricht, mit diesen Bemühungen im nächsten Jahre wieder von vorn anzufangen. »Dann hoffe ich, ist den Musikern ein reeller Dienst geschehen. Der Dank oder Nichtdank ist am Ende einerlei!«


Aus dem Jahre 1841 haben wir zunächst abermals M.'s überaus thätigen Antheil an den Concerten zu rühmen. Im 12. Abonnementconcert am 14. Januar spielte er Beethoven's Pianoforteconcert in G dur. Der Berichterstatter der neuen Zeitschrift für Musik sagt über diesen Vortrag:


»Die Perle des heutigen Concerts war das Beethoven'sche Concert. Herr Musikdirector M.B. spielte es. Wie denn durch ihn viele von der Bornirtheit übersehene Werke ihr Auferstehungsfest feiern, so hat er jetzt wieder diese Composition an's Licht gebracht, Beethoven's vielleicht grösstes Clavierconcert, das in keinem der[265] drei Sätze dem bekannten in Es dur nachsteht. Die von M. in beiden Sätzen eingeflochtenen Cadenzen waren, wie immer, besondere Meisterstücke im Meisterstück, die Rückgänge zum Orchester beidemal überraschend zart und neu. Das Publicum stürmte sehr nach dem Concert.«


Vom 13. bis 16. Abonnementconcert gab es wieder historische Concerte, deren Programme aus den Werken der ersten Heroën deutscher Tonkunst, Bach, Händel, Haydn, Mozart, Beethoven gebildet waren. Die Einrichtung schien diesmal noch geeigneter, das historische Verständniss zu fördern, denn in jedem dieser Concerte wurden nur ein, höchstens zwei Meister vorgeführt. Durch Auswahl, Zusammenstellung, Direction und thätige Mitwirkung waren diese Concerte völlig M.'s Werk. Er spielte im ersten Bach's chromatische Phantasie und ein Thema mit Variationen von Händel aus dem Jahre 1720, im dritten das D moll-Concert und Begleitung zu Liedern von Mozart, im vierten begleitete er Mad. Schröder-Devrient die Adelaide und dirigirte – die D moll-Symphonie. Diese letztere wurde vom Publicum feuriger als je aufgenommen. Die Ausführung war aber auch eine ganz besonders lebendige, M.'s Scharfblick hatte noch neue Effecte herauszustellen gewusst. »So hörten wir,« sagt der Berichterstatter in der oben genannten neuen Zeitschrift, »im Scherzo einen Ton, den wir früher nie gehört; das einzige d einer Bassposaune macht dort eine erstaunliche Wirkung, und giebt der Stelle ein ganz neues Leben.« Ich muss es mir leider den nicht völlig musikalischen Lesern zu Liebe versagen, die überaus interessant und sinnig gewählten Programme dieser Concerte ausführlich herzusetzen. Nur eins möge hier wieder gleichsam als Belegstück dastehen, das Haydn'sche. Es wurde darin gegeben: Einleitung, Recitativ, Arie und Chor aus der Schöpfung, das Kaiserquartett, Motette »Du bist's, dem Ruhm und Ehre gebühret«, Symphonie in B dur und Jagd und Weinlese aus den Jahreszeiten. Wer mit Vater Haydn's Werken nur im mindesten vertraut ist, wird zugeben, dass man nicht sinniger, nicht bezeichnender und zugleich für den Hörer genussreicher wählen konnte. Aber das Interessante war nicht bloss in diesen historischen Concerten vereinigt; fast jedes der noch folgenden Concerte[266] brachte noch etwas Besonderes und zwar mit specieller Beziehung auf Mendelssohn. Im 17. hörten wir in Folge eingetretener Heiserkeit von Fräulein Schloss als Ersatz zum erstenmal das wundervolle Lied, Jäger's Abschied, »Wer hat Dich, Du schöner Wald aufgebaut so hoch da droben?« vorgetragen von dem schon damals unter Hermann Langer's Direction blühenden Universitäts-Sängerverein zu St. Pauli. Ist schon der Text an sich ganz ausserordentlich schön, so hat ihm M.'s Composition eine solche Weihe gegeben, dass dieses Lied in allen fühlenden Herzen ewig anklingen muss. Es ist vielleicht M.'s populärste Composition, und hat auch bereits die Runde durch die halbe Welt gemacht. Allüberall ertönt das »Lebewohl, du schöner Wald«, mit seinem tiefen innigen Gemüthsklang.14 Im 19. Abonnementconcert wurde uns der seltene Genuss zu Theil, den Liederkreis Beethoven's »An die ferne Geliebte« von Herrn Schmidt, dem kunstsinnig gebildeten, mit einer sehr schönen Stimme begabten Tenoristen unsers Theaters, vortragen zu hören. M. accompagnirte, und Sänger und Spieler verstanden sich so trefflich, dass die Darstellung dieser köstlichen Gefühlslyrik eine unbedingt vollendete wurde. Im 20. sang Madame Schröder-Devrient, die damals eben auf dem Leipziger Theater gastirte, mehrere Lieder, unter andern Suleika »Ach um deine feuchten Schwingen«, diese wundervolle so ganz dem Geist des Textes entsprechende Mendelssohn'sche Composition. Durch stürmischen Beifall um eine Zugabe gebeten, fügte sie mit etwas mehr Koketterie, als das Lied vertrug, aber doch[267] mit sinniger Beziehung gegen M. sich wendend, den Gesang hinzu »Es ist bestimmt in Gottes Rath«, wobei denn natürlich die Worte »doch musst Du dieses recht verstehn, wenn Menschen auseinandergehn, so sagen sie, auf Wiedersehn« von der Sängerin und dem Publicum unter herzlichem Jubel auf M. selbst bezogen wurden. Es waren damals schon Unterhandlungen über eine Berufung M.'s nach Berlin im Gange. Leider sollte die Abschiedsstunde wirklich bald schlagen, doch kam auch das Wiedersehen damals bald.–Noch spielte M. am 31. März in einem von Clara Schumann zum Besten des Orchesterpensionsfonds gegebenen Concert mit ihr ein Duo, eigens für dieses Concert von ihm componirt, und flocht dadurch eine der anmuthigsten Blumen in den Kranz der verdienten Künstlerin. Auch dirigirte er in diesem Concert eine neue Symphonie von Schumann die B dur Nr. 1. M. hatte in drei verschiedenen Proben alles gethan, um dieses erste grössere Instrumentalwerk zu möglichst vollendeter Darstellung zu bringen. Aber noch war der Geist dieses seit Beethoven grössten Romantikers der Neuzeit dem Orchester, wie dem Publicum zu fremd, als dass die Aufnahme eine so enthusiastische hätte sein können, als sie es später bei wiederholten Aufführungen stets gewesen ist.–Ausserdem hatte M. in diesem Winter in den meisten Quartettabenden seines Freundes David wieder mitgewirkt.

Nach allen diesen jetzt aufgeführten Leistungen M.'s sollte man eine Steigerung nicht mehr für möglich halten. Und dennoch kam sie. Die grösste Probe seines Directionstalentes war noch zurück. Ungefähr seit Mitte Februar 1841, vielleicht schon etwas früher, studirte er einem sehr zahlreichen Chor von Dilettanten und namentlich Dilettantinnen die Chöre der Bach'schen Matthäuspassion ein, in der That auch bei den ausgezeichnet willigen und zum Theil musikalisch sehr gebildeten Kräften Leipzig's eine Herkulesarbeit. Zwar den Geist eines Herkules besass[268] der Dirigent wohl, aber dieser Geist wohnte in einem sehr zierlichen Körper, dessen Ausdauer bei diesen Proben man oft bewundern musste. Welche unendliche Mühe und Geduld kostete allein der erste überaus schwierige Doppelchor mit seinen seltsam dazwischen geworfenen aber gewaltig ergreifenden Fragen! Bei den ersten paar Malen, wo dieser Chor probirt wurde, gab es ein wahrhaft komisches Durcheinander und M. selbst konnte sich, ungeachtet des höchst ernsten Gegenstandes eines herzlichen Gelächters nicht erwehren. Aber er ruhete auch nicht, bis jede dieser Fragen auf das bestimmteste sich aussonderte, und überhaupt der ganze Chor auf das deutlichste klang und in einander griff. Und wie mit diesem einen Chor, so machte er es mit allen, und wenn erst die Noten sicher waren, dann ging es an ein Ausarbeiten des Characters, in dem jedes Stück gesungen werden musste. Ganz besondern Fleiss verwendete er auf die Choräle. Sie mussten mit der grössten Pietät und Zartheit gesungen werden. Als in den letzten Proben die Soli dazu traten, war alles entzückt von der Tiefe und Grossartigkeit der Musik. Wir durften uns rühmen, jetzt dieses grösste oratorische Tonwerk aller Zeiten einigermaassen begriffen zu haben. Die Aufführung selbst fand am Palmsonntag, den 4. April 1841, in der erleuchteten Thomaskirche und zwar zum Besten des Bachdenkmals statt.15 Seit Bach am Charfreitag 1729 seine Passionsmusik in der nämlichen Kirche dirigirt hatte, war sie in Leipzig nicht wieder gehört worden. Der Eindruck auf die zahlreichen Zuhörer war gewiss ein gewaltiger, herzerschütternder. Wurde die Musik auch vielleicht von der Mehrzahl noch nicht oder nicht mehr verstanden, so liess sie doch sicher in aller Herzen[269] die reinigende Wirkung des Erhabenen, Sittlich-Grossen zurück. Ist sie doch seitdem zu einer Lieblingserbauung der Leipziger geworden, die seit vielen Jahren an keinem Charfreitag mehr fehlen darf.

Als Beweis der nimmerruhenden Thätigkeit M.'s mag noch angeführt werden, dass er am 15. April schon wieder in Weimar auf dringende Bitten seinen Paulus dirigirte. In demselben Monat wurde auch, wahrscheinlich auf seinen Betrieb, in einem Aufsatze des Leipziger Tageblatts zum ersten mal die Idee eines zu errichtenden Conservatoriums für Musik angeregt, wie er sie in dem oben erwähnten Briefe dem Kreisdirector Falkenstein an's Herz gelegt hatte. Sie fand auch bei den Leitern des Leipziger Musikwesens günstigen Anklang.

Wie an Arbeiten, so war auch an Ehrenbezeigungen für M. dieses Jahr reich, für Leipzig nur zu reich. Im Juni d.J. ernannte ihn der König von Sachsen, Friedrich August, zum Capellmeister. Dieser hätte fast seine Uebersiedlung nach Dresden gewünscht, begnügte sich aber mit der Zusage M.'s, wenn es der König wünsche, ab und zu ein Concert für ihn in Dresden zu veranstalten. Aber König Friedrich Wilhelm IV., welcher seit seiner Thronbesteigung trachtete, alle grossen Talente der Gegenwart in seine nächste Nähe zu ziehen, hatte sein Auge gleichfalls auf den ehemaligen Insassen seiner Hauptstadt gerichtet und ihn fast gleichzeitig und zwar mit dem glänzenden Gehalt von 3000 Thalern zu seinem Capellmeister ernannt und in seine Nähe berufen. Der König beabsichtigte die in Berlin schon bestehende Academie der Künste in vier Classen einzutheilen: Malerei, Sculptur, Architectur und Musik, und jeder Classe einen Director vorzusetzen, welchem nach einer bestimmten Reihenfolge abwechselnd die Oberleitung der Academie zugedacht war. Zum Director der vierten Classe war M. ausersehen. Schon im November 1840 hatte sich der Geheimrath v. Massow an M.'s Bruder Paul gewandt, um mit diesem Mittel und Wege zu berathen, wie die Berufung in's Werk gesetzt werden sollte. Die musikalische Classe sollte im Wesentlichen aus einem grossen Conservatorium bestehen, und es wurde in Aussicht genommen, dass dieses einst, in Verbindung mit[270] den Mitteln des Königlichen Theaters öffentliche Concerte theils geistlichen, theils weltlichen Inhalts geben solle. Aber so viel Anlockendes dieser Plan für Mendelssohn auch haben konnte, vermisste er doch darin einen bestimmten ihm angewiesenen Wirkungskreis, wie er einen solchen in dem ihm so liebgewordenen Leipzig hatte. Er äusserte starke Zweifel, nicht sowohl daran, dass der obige Plan ausgeführt werden könnte, als dass er ausgeführt werden würde, und die nächste Folgezeit schon rechtfertigte diese Zweifel, denn die Idee eines zu errichtenden Conservatoriums zerfloss später wieder in die Luft, und ist auch, so lange M. lebte, nicht zur Ausführung gekommen, während dagegen die Ausführung eines solchen in Leipzig ihrer Vollendung immer näher rückte. Man konnte sagen, M.'s Herz blieb in Leipzig, obwohl er den wiederholten ehrenvollen Anträgen König Friedrich Wilhelms IV. nur schwer widerstehen konnte. Endlich, nach langen herüber und hinüberschwebenden Unterhandlungen, entschloss sich M. vorläufig für ein Jahr von seiner Stellung in Leipzig Urlaub zu nehmen. Nachdem er im Mai 1841 persönlich in Berlin mit Herrn v. Massow Rücksprache genommen, auch an den Cultusminister v. Eichhorn ein Pro Memoria über eine in Berlin zu errichtende Musikschule eingereicht hatte, verliess er Leipzig im Juli mit seiner Familie, jedoch ohne auch nur seine Wohnung zu kündigen. Am Abend vor seiner Abreise brachten ihm seine Leipziger Freunde noch ein Abschiedsständchen. Als die Sänger ihm sein Lied »Es ist bestimmt in Gottes Rath« gesungen hatten, trat er unter sie, und intonirte energisch »Auf Wiedersehn«. Die Leitung der Gewandhausconcerte für den Winter 1841–42 übernahm interimistisch sein Freund Ferdinand David.

1

Ein Talent ersten Ranges, von damals noch ungeahnter Grösse, der augenblicklich noch lebende 85jährige Componist einer missa solemnis für 16 Solostimmen und 4 vierstimmige Chöre ohne Begleitung, meines Erachtens der grössten Vocalmusik der Neuzeit. Grell, seit 1851 Director der Singacademie, componirte das Werk 1861. Der Riedel'sche Verein in Leipzig führte es noch am 17. Mai 1885 in entzückender Weise auf, wiederholt am 7. Februar 1886.

2

Mit Recht sehr gerühmt sind die trefflichen, tiefgemüthlichen Aquarellskizzen zu diesem Mährchen von Moritz v. Schwind. Sie waren vor einigen Jahren im Leipziger Museum ausgestellt.

3

Fanny Hensel hatte nicht ganz Unrecht, wenn sie dem Bruder, wie aus seinem Briefe vom 7. April hervorgeht, die Angemessenheit gerade des ersten dieser Lieder für 4stimmigen Gesang bestreitet. Es macht einen komischen Eindruck, wenn man sich denkt, dass sich je 2 Paar so einander ansingen. Doch ist das Lied wunderschön gesetzt und die zwei folgenden sind ja episch erzählend.

4

Ein feiner kluger Kopf, bedeutender Kenner der Musik, auch selbst einigermaassen ausübend, nachher unzertrennlicher Freund, Rathgeber und Gehülfe Mendelssohn's, wodurch er selbst auch viel Einfluss auf Leipzigs Musikleben gewann, starb als vieljähriger verdienstlicher Director des Leipziger Conservatoriums im Jahre 1881.

5

Ich entnahm diese Notizen über die Geschichte der Concerte der oben erwähnten vortrefflichen Festschrift von Dr. Alfred Dörffel. Die Universität Leipzig creirte ihn wegen derselben zum Dr. phil. honoris causa.

6

Dieser ehrwürdige Jubilar, jetzt Dr. und wohlverdienter ältester pensionirter Lehrer, ältester Thomaner und Pauliner ist Einer von den wenigen Ueberlebenden der damaligen ersten Aufführung. Er sang 4 Jahre lang unter Mendelssohn's Direction alle ersten Tenorpartieen. Wir begegnen seinem Namen noch öfter.

7

Diese erste von M. dirigirte Symphonie war später auch überhaupt die letzte. Sie wurde Donnerstag, den 11. März 1847 im 19. Abonnementconcert zum letzten mal unter seiner Leitung gegeben, ein herrlicher Schwanengesang.

8

Haben die Herrschaften das wirklich gethan, so waren sie mit ihrem Urtheil sehr auf dem falschen Wege. Dieses reizende von allem Zauber einer jugendfrischen Romantik umwobene Werk fand den Beifall der ganzen musikalischen Welt und wird, so unzählig oft es auch seitdem gespielt worden ist, immer mit neuem Vergnügen gehört.

9

Eine künstlerisch ausgestattete von zwei Musikfreunden gestiftete Copie des Diploms befindet sich unter Glas und Rahmen an einer Wand des Directorialzimmers im neuen Concerthaus in Leipzig.

10

In diesem Punkte ist die Schilderung D.'s übertrieben. Als ich die Freude hatte, M.'s Gattin zum erstenmale in Leipzig zu sehen, war sie ein Bild blühender Gesundheit. Das feine Incarnat ihrer Wangen, die strahlenden dunkelveilchenblauen Augen verriethen damals noch nichts von der hektischen Anlage, die sie später wiederholt nach Bad Soden führte. Den wesentlichsten Antheil an ihrem verhältnissmässig frühen Tode (sie starb am 25. September 1853) hatte sicher der Gram um den Verlust des einzig geliebten Mannes.

11

In dem Concert für die Armen am 21. Februar 1838 wurde, als neu der 95. Psalm von M. gegeben »Kommt herzu, lasst uns den Herrn frohlocken« u.s.w. zur musikalischen Bearbeitung weit geeigneter, als Ps. 115; ein vortreffliches schwungvolles Werk, »ein Lied im höheren Chor«.

12

Ein noch merkwürdigeres Beispiel von Schnellcomposition aus Gefälligkeit ist aus dem folgenden Jahre die der schwungvollen Ouvertüre zu Ruy Blas, auf welche wir noch einmal zurückkommen werden.

13

Bis zur Enthüllung des Denkmals verging indessen doch noch eine geraume Zeit. Sie erfolgte, wie wir weiter unten sehen werden, erst am 23. April 1843.

14

Es wäre sehr interessant, die Entstehungszeit dieser populärsten aller Compositionen M.'s genau zu bestimmen. Vor einiger Zeit brachte das Leipziger Tageblatt eine, ich weiss nicht woher entlehnte Notiz folgenden Inhalts: Im Sommer 1842 machte M. von Soden aus mit Musikdirector Franz Messer in Frankfurt Ausflüge nach der sogenannten Nassauischen Schweiz im Taunus. Sie kamen dabei auch nach Eppstein, wo in der evangelischen Kirche eine neue Orgel war, zu deren Einweihung M. und Messer spielten. Nach Beendigung der Feier gingen sie durch das Lonsbacher Thal nach Hofheim M. entzückt über die grossartigen Naturschönheiten, skizzirte die Composition sofort, und spielte sie zum erstenmale im Gasthaus zur Krone in Hofheim seinen Freunden vor. Noch heute steht dort bei dem Gastwirth Fach der M.'sche Flügel. Alles recht schön, wenn nicht Julius Rietz in seinem Verzeichniss das Lied als bereits im J. 1840 componirt aufführte, und wenn es nicht eben notorisch bereits im Febr. 1841 im Leipziger Gewandhaus gesungen worden wäre. Es muss also in obiger Notiz die Jahrzahl verdruckt sein. Aber von einem Aufenthalt M.'s in Soden im J. 1840 weiss man nichts.

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Dr. Alfred Dörffel hat sich die dankenswerthe Mühe gegeben, die Namen der Solisten, welche in meinem ersten Büchlein weggeblieben waren, ausfindig zu machen, und sie in seiner »Festschrift« dem Andenken der Nachwelt zu überliefern. Die Sopransoli, sowie die Arie »Erbarme Dich mein Gott« sang Frau Dr. Livia Frege, den Soloalt Frau Henriette Bünau, den Evangelist der schon erwähnte Tenorsänger Carl Maria Schmidt, den Christus August Kindermann, erster Baritonist am Stadttheater; die kleineren Basspartien die Herren Pögner und Trefftz, das Violinsolo bei der Arie »Erbarme Dich«, spielte Karl Eckert.

Quelle:
Lampadius, Wilhelm Adolf: Felix Mendelssohn Bartholdy. Ein Gesammtbild seines Lebens und Wirkens. Leipzig: Leuckart, 1886., S. 181,271.
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