IV. Zwischenzeit in Berlin – Rückkehr nach Leipzig. Wirksamkeit daselbst. Tod und Begräbniss 1841–47.

Hatte auch der geistreiche König Friedrich Wilhelm IV. für M. keinen festen Wirkungskreis, so doch grosse Ideen in Bereitschaft, um ein so grosses Talent würdig zu beschäftigen. M., der Componist, hatte seiner Anregung in der That sehr viel zu danken. Die Musik zu der Sophoklei'schen Trilogie König Oedipus, Oedipus auf Kolonos, Antigone, die vollständige Musik zum Sommernachtstraum, sowie zu Racine's Athalia gingen in rascher Aufeinanderfolge aus diesen Ideen, auf welche M. bereitwilligst einging, hervor; und auch Leipzig hatte davon reichen Genuss.

Das erste, was von den Ideen des Königs zur Ausführung kam, war die Composition der Ouvertüre, der Chöre und des Melodramatischen zu Sophocles' Antigone. M. ergriff die Aufgabe mit allem Feuer seines dichterischen Genius. War er doch schon von Jugend auf durch sein Studium der griechischen Sprache mit dem Geiste der griechischen Poesie vertraut, und steht doch gerade dieses[275] Stück des Sophocles auch heute noch unserem menschlichen Gefühle am nächsten. Uebrigens war es Ludwig Tieck, der seinem königlichen Herrn die Antigone vorgeschlagen hatte, und bei der Inscenirung des Stückes mit Rath und That an die Hand ging. Mit welcher Freude und mit welchem feinen Verständniss M. sich der Lösung seiner Aufgabe widmete, davon giebt der Brief an seinen Freund David vom 21. October 1841 Zeugniss:


»Hab' Dank, dass Du die Antigone gleich durchgelesen hast; dass sie Dir ungeheuer gefallen würde, wenn Du sie durchläsest, das wusste ich wohl vorher, und eben dieser Eindruck, den das Durchlesen auf mich machte, ist eigentlich Schuld, dass die ganze Sache zu Stande kommt. Denn Alles sprach hin und her darüber und Keiner wollte anfangen; sie wollten es aufs nächste Spätjahr verschieben und dergleichen, und wie mich das Herrliche des Stückes so packte, da kriegte ich den alten Tieck an und sagte, jetzt oder niemals. Und der war liebenswürdig und sagte: jetzt, und so componirte ich aus Herzenslust darauf los, und jetzt haben wir täglich zwei Proben davon, und die Chöre knallen, dass es eine wahre Wonne ist. – Die Aufgabe an sich war herrlich, und ich habe mit herzlicher Freude gearbeitet. Mir war's merkwürdig, dass es so viel Unveränderliches in der Kunst giebt; die Stimmungen aller dieser Chöre sind noch heute so ächt musikalisch und wieder so verschieden unter sich, dass sich's kein Mensch schöner wünschen könnte zur Composition.« (Briefe von F.M.B., II. Theil, S. 317 u. 18.)


Anfänglich dachte M. einen Augenblick daran, ob er nicht die Chöre ganz recitativisch unisono, zum Theil auf Solostimmen übertragen, singen, wenn nicht gar sprechen, und nur von solchen Instrumenten begleiten lassen sollte, wie sie etwa zur Zeit des Sophocles angewendet wurden, also etwa von Flöte, Tuba und Harfe (statt der Leyer); aber er warf diesen Gedanken bald wieder weg. Er wollte nicht antik componiren, sondern seine Musik sollte die Brücke schlagen zwischen dem antiken Stück und dem modernen Menschen. Sehr richtig sagte Fanny Hensel in ihrem Tagebuch: »Dass die Musik viel beigetragen, um das Verständniss des Ganzen näher zu führen, ist wohl gar keine Frage: hätte sich Felix auch streng antik halten wollen, wir und das Stück, wir wären nicht zusammen gekommen.« Dass aber M. dennoch richtig den Character[276] der Antike getroffen, davon urtheilte der Altmeister der Philologen in Berlin, Geheimrath Böckh: »er finde die Musik ganz übereinstimmend mit seinen Anschauungen vom griechischen Wesen und Leben, und von der Muse des Sophocles. M. habe die modernen Kunstmittel so in Bewegung gesetzt, wie es dem Character der Chorlieder und der darin enthaltenen Gedanken angemessen sei, das Edle und Würdige des Gesammteindruckes entscheide für die Vortrefflichkeit der Musik und hierdurch dürfe sich jedes antiquarische Gewissen beschwichtigt fühlen, zumal da kein Antiquar im Stande sein würde, an die Stelle dieser Musik eine antike zu setzen.« Und über den Eindruck, den die erste Darstellung auf der Bühne hinterliess, sagt Eduard Devrient eben so wahr als schön: »Die Sensation, welche sie hervorbrachte, war sehr gross. Der tiefe Eindruck, den die Verlebendigung der antiken Tragödie auf unser theatralisches Leben hervorbringen konnte, versprach epochemachend zu wirken. Er reinigte unsere Bühnenatmosphäre; und gewiss ist, dass M. ein grosses wichtiges Verdienst um diese Wirkung hatte.« (E.D., meine Erinnerungen, S. 224.)

M. componirte die Musik in der unglaublich kurzen Zeit von 11 Tagen. Am 9. und 14. September nach Tieck's erster Vorlesung der Antigone deliberirte er noch mit Devrient über die Auffassung der Chöre, am 25. und 26. zeigte er ihm schon die Entwürfe davon und verhandelte mit D. über die Melodramen, die er am 28. feststellte. In den ersten Tagen des October konnte schon das Studium der Chöre beginnen; am 10. October begleitete M. die Melodramen bei der Leseprobe am Clavier und rückte dann mit der Instrumentirung so rüstig vor, dass am 22. October die erste scenische Probe im Concertsaale des Schauspielhauses in Berlin vorgenommen werden konnte. Am 26. October fand die Generalprobe im neuen Palais in Potsdam, im königlichen Privattheater, wo die Attische Bühne nachgebildet war, und am 28. vor einem zahlreichen eingeladenen Publicum aus den vornehmsten und gebildetsten Kreisen Berlins die Aufführung selbst statt.1 Fanny Hensel,[277] die mit den übrigen Gliedern der Familie Mendelssohn's auch unter den Geladenen war, spricht sich über diese Aufführung so aus:


»Der Anblick des kleinen Hauses war überraschend schön. Ich kann nicht sagen, wieviel nobler und schöner ich diese Einrichtung finde, als unsere löschpapierene Coulissenwirthschaft mit der abgeschmackten Lampenreihe unten. Wann ist wohl je die Beleuchtung von unten gekommen? Schon das Fallen des Vorhangs beim Anfang, so dass man die Köpfe der Spieler zuerst sieht, ist weitaus vernünftiger als unsere Mode, wo wir mit deren Beinen zuerst Bekanntschaft machen. Die Crelinger (damals bedeutendste Schauspielerin in Berlin) mit ihrer wunderbar schönen Art zu sprechen, war eine ausgezeichnete Antigone und brachte den edlen Geist und die hohe Würde dieser idealsten Frauengestalt vortrefflich zur Erscheinung. Es war wohl das Interessanteste, was in langer Zeit auf der Bühne vorgegangen war, und der gewaltige Ernst, die tiefe Bedeutung dessen, was man sah und hörte, verfehlte seinen Eindruck auch auf diejenigen nicht, denen das wahre Verständniss nicht aufgegangen war.« (Hensel, die Familie M., Bd. II, S. 254.)


In's grössere Publicum aber drang lange nichts über die Wirkung des Stücks. Leipzig sollte es aufbehalten bleiben, die neue herrliche Schöpfung seines Lieblings unter dessen eigener Direction am 5., 6. und 8. März 1842 zuerst in die Oeffentlichkeit einzuführen. Berlin folgte erst am 13. April desselben Jahres nach.

Ueber eine weitere Wirksamkeit M.'s in Berlin während der ersten Hälfte des Winters verlautet nur, dass er daselbst einige grosse Concerte dirigirte. Auch in der zweiten beschränkte sie sich lediglich auf zwei Aufführungen des Paulus, deren erste er im Concertsaale des Schauspielhauses auf besonderen Wunsch des Königs veranstaltete und am 10. Januar selbst dirigirte. Sie soll sehr gut gegangen sein, und besonders Mantius, der jedenfalls den Stephanus sang, sich dabei ausgezeichnet haben. Die andere fand in der Singacademie gleichfalls unter des Componisten eigener Direction am 17. Februar statt. Devrient bemerkt über den Erfolg dieser Aufführungen:


»Die Wirkung war gross und tief eindringlich, aber der Antheil des Publicums lau. Es war die Zeit des Rausches, in welchen Liszt's Clavierconcerte ganz Berlin bis zum Scandal versetzt hatten;[278] für ernsthafte Musik waren die Ohren nicht gestimmt. Es hatten sich auch bei der Probe unangenehme Auftritte wiederholt, die schon bei den Proben von ›Antigone‹ im Orchester stattgefunden. Man erlaubte sich spöttische Spässe, wohl gar dreisten Widerspruch gegen Felix's Anordnungen und trieb ihn in Aerger und Heftigkeit, wo eine eiskalte, aber nachsichtslos strenge Haltung, zu der sein Capellmeisterrang ihn berechtigte, mehr am Platz gewesen wäre.« (Devr., Erinnerungen, S. 227.)


Dagegen entfaltete M. in Leipzig auch in diesem Winter 1841/42 wieder eine, zwar durch die Reisen nach Berlin mehrfach unterbrochene, aber immer noch ausserordentlich reiche Thätigkeit. Zwar hatte, wie wir schon oben sahen, die Direction der Concerte einstweilen sein Freund David übernommen, und wir alle Ursache, mit einem Stellvertreter zufrieden zu sein, der das Institut so in Mendelssohn's Geiste fortzuführen wusste. Im ersten Abonnementconcert am 8. October vertrat wenigstens die herrliche Ouvertüre zur »Meeresstille und glückliche Fahrt« ihren Meister. Aber natürlich, er selbst war uns immer noch lieber. Und er kam, ehe wir es noch dachten, und dirigirte im November nach einander, am 13., am 22. und am 25., drei prächtig ausgestattete Concerte. Im ersten wurde die Ouvertüre zu Oberon und Beethoven's A dur-Symphonie gegeben. Im zweiten producirte David eine neue Symphonie seiner Composition, und M. spielte mit ihm Beethoven's grosse Sonate für Pianoforte und Violine in C moll, ausserdem noch Lieder ohne Worte. Ferner wurde die Ouvertüre zu Leonore in C und der 95. Psalm von M. (noch immer als Manuscript) dargeboten. Es war das Concert zum Besten des Orchesterpensionsfonds. Im dritten dieser Concerte (dem 7. Abonnementconcert) spielte er nochmals Beethoven's G dur-Concert mit eingelegten herrlichen Cadenzen, und sein 114. Psalm, Ouvertüre, Chöre und Soli aus Paulus wurden aufgeführt. In der ersten musikalischen Abendunterhaltung am 27. November hörten wir ein neues Clavierwerk M.'s, die trefflichen Variations serieuses (Op. 54). So gestärkt, konnten wir leicht wieder für ein paar Monate die Anwesenheit des geliebten Meisters entbehren. Uebrigens war dies Jahr wieder ein rechtes Paulusjahr. In Reichenberg in Böhmen auf einem Musikfest,[279] in Freiberg in Sachsen (20. Juni), in Naumburg, in Aachen, selbst in Frankreich in la Rochelle wurde der Paulus aufgeführt. In letzterer Stadt von dem Congrès musical de l'Ouest; ein Herr Prof. Garnault hatte den Text in's Französische übersetzt. Paris folgte im Jahre 1842.

Das zuletzt genannte Jahr brachte uns denn abermals zwei neue herrliche Werke M.'s. Zwar die ersten beiden Monate vergingen nur unter mehrfachen Erinnerungen an seine frühere reiche Wirksamkeit. So vergegenwärtigte uns Frau Dr. Schumann, diejenige Künstlerin, die nächst dem Componisten selbst seine Clavierstücke wohl am tiefsten erfasste, im Neujahresconcert den Geist des Meisters auf's lieblichste durch den höchst vollendeten Vortrag seines G moll-Concerts. Ausserdem hörten wir noch in diesen beiden Monaten die Ouvertüre zu Meeresstille und glückliche Fahrt (31. Januar in dem Abschiedsconcert eines Herrn Tuyn, eines jungen Tenorsängers aus Holland, der neben der auf's neue engagirten Mrs. Shaw in dem Gewandhausconcert mehrfach aufgetreten war), zu den Hebriden (14. Februar im 10. Abonnementconcert), so wie in der dritten musikalischen Abendunterhaltung das Quartett H moll (Op. 3, bereits 1824 componirt), wobei Sterndale-Bennett die Pianofortepartie übernommen hatte, und in der vierten (12. Februar) das Streichquartett aus D dur Op. 44, E moll, componirt in Frankfurt 1837. Bereits gegen Ende Februar aber kam er selbst und dirigirte am letzten dieses Monats das Concert des berühmten Harfenvirtuosen Parish Alvars, in welchem unter andern seine Ouvertüre zum Sommernachtstraum gegeben wurde. Ueberhaupt durfte damals, in Leipzig wenigstens, ein Virtuos kaum auf ein volles Concert rechnen, wenn er nicht irgend eine der M.'schen Compositionen mit zur Aufführung brachte.

Am 3. März aber, im 19. Abonnementconcert, erschien das neue Werk, dem man schon längst mit Spannung entgegen gesehen hatte: M.'s Symphonie in A moll. Es war die dritte, die er schrieb, aber die erste, die zur allgemeinen Kenntniss der musikalischen Welt gelangen sollte. Denn seine erste in C moll war eine Jugendarbeit, auf welche er selbst keinen besonderen Werth legte, die zweite in A dur, über die wir schon gesprochen haben, hatte er[280] für die philharmonische Gesellschaft in London geschrieben, und sie war bis dahin über England noch nicht hinausgegangen. Durch diese dritte erst bewährte er seine Meisterschaft auch auf diesem höchsten Gebiete der Instrumentalmusik vollständig. Wir haben früher gesehen, dass ihm der erste Gedanke zu dieser Symphonie beim Besuch des alten verfallenen Schlosses in Edinburg kam, wo der Sänger Rizzio, der Geliebte der leichtsinnigen Königin Maria Stuart auf Anstiften ihres rohen Gemahls Darnley ermordet wurde. Dieser Gedanke drückte der nachher von M. »die schottische« genannten Symphonie von vornherein ihren etwas düsteren, melancholischen Character auf. M. fing bereits in Rom im Winter 1830/31 an, diese Symphonie zu arbeiten. Es war ihm aber unmöglich, sie unter den heiteren Eindrücken des südlichen Himmels und Klimas fortzusetzen, weshalb er zuerst lieber die A dur in Angriff nahm, die er denn auch schon im Jahre 32 in London aufführte. Mehrere andere bedeutende Compositionen, unter ihnen der Paulus, traten der Fortsetzung der A moll hindernd entgegen; erst Anfang 42 wurde sie in Berlin vollendet, daher sie denn auch M. in Leipzig wohl erst als Manuscript aufführen liess. Er ist in diesem Werke seinem Character als Componist ganz treu geblieben. Es ist ein feines, sinniges, von einem zarten Duft der Schwermuth überhauchtes Werk, welches nicht im mindesten nach grossartigen Effecten suchend, sich durch möglichst einfache Mittel den sicheren Weg zum Herzen bahnt. M. producirte sie zuerst als ein Ganzes ohne Unterbrechung in vier eng aneinander hängenden Sätzen. Diese Art der Aufführung war dem Verständniss nicht allzuförderlich; er trennte sie daher später und bezeichnete nun die Sätze als Introduction und Allegro agitato, Scherzo assai vivace. Adagio cantabile, Allegro guerriero und Finale maestoso. Der erste, etwas lang ausgesponnene Satz bringt nach einer kurzen Einleitung in A moll einige Themen, die fast wie schwermüthige Volkslieder klingen, darauf folgt dann als zweiter Satz ein herzerfrischendes Scherzo, das wie ein erquickendes Bad auf die vorige schwüle Stimmung wirkt, dann folgt das Adagio, das wieder Töne inniger Wehmuth, doch auch der Versöhnung anschlägt.[281] Unter dem Allegro guerriero, das sich immer wieder in Moll bewegt, aber in einem beschwingteren Rhythmus, könnte man sich vielleicht den letzten Entscheidungskampf denken, der der Königin Elisabeth durch den tapferen Murray zum vollständigen Siege über ihre unglückliche Nebenbuhlerin half, und in dem diesem angehängten kurzen aber prachtvollen Finale maëstoso in dem hellleuchtenden A dur geht gleichsam nach einer stürmischen Nacht die Morgensonne über den wildbewegten Fluthen auf und verkündet die bessere Zukunft. Ohne diesen versöhnenden Schluss wäre die tiefe Schwermuth, welche das Werk grösstentheils beherrscht, kaum zu ertragen. Doch wurde die Symphonie auch als Ganzes recht beifällig aufgenommen, wenn auch das reizende, überaus graziöse Scherzo und das tiefe, innige Adagio den lebhaftesten Anklang im grösseren Publicum fanden. Gleich im folgenden Concert, dem letzten des Abonnements, wurde sie auf allgemeines Verlangen wiederholt. Im Juni desselben Jahres producirte M. dieses sein neuestes Werk im philharmonischen Concert in London, wo es mit dem grössten Beifall aufgenommen wurde, und dedicirte es, sobald es im Druck erschienen war, als Schottische Symphonie der Königin Victoria, welche es mit dem freundlichsten Danke annahm.

In Leipzig aber musste man um so dankbarer für diese Gabe sein, als sie sich unmittelbar mit den Vorbereitungen zu einer zweiten, womöglich noch werthvolleren kreuzte. Schon am 5. März ging bei übervollem Hause Antigone von Sophocles, nach der Uebersetzung von Donner, mit Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy über die Leipziger Bühne. Der Componist dirigirte selbst und wurde mit Jubel empfangen. Ueber das Verhältniss der Musik zu dieser antiken Tragödie haben wir schon oben aus dem Munde Fanny Hensel's ein treffendes Urtheil gehört. Selbst von dem herben Feuer der Tragödie durchdrungen, brachte diese Musik das Verständniss der Dichtung den Gemüthern von heute nahe, indem sie durch sinnige Andeutungen den tragischen Eindruck derselben verstärkte, und wo diese ihrer nicht bedurfte, bescheiden schwieg. Dies haben selbst die Philologen, wenigstens die deutschen anerkannt; denn sie beschlossen bei ihrer Zusammenkunft in Cassel, im Herbst[282] 1843, M. ein Dankschreiben zuzusenden, »weil er durch seine Musik wesentlich zur Wiederbelebung des Interesses an der griechischen Tragödie beigetragen habe«. Bei uns waren, wie vielleicht überall, der Eroschor mit seinem heiligen Schauer vor der Liebe göttlicher Allgewalt, und der Bachuschor, der frohbewegt den Thyrsus schwingend, den Sohn der Kadmosjungfrau preist, von der angenehmsten, ebenso die melodramatischen Stellen, wo Antigone klagend in's hohle Todtenbrautgemach hinabsteigt und wo Kreon den Leichnam des Sohnes hineinträgt, von der erschütterndsten Wirkung. Aber der Eindruck des herrlichen Stückes war freilich auch schon an sich ein gewaltiger. Mit Staunen erfuhr unsere heutige Welt die Kraft der alten tragischen Muse und erkannte »das grosse gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt«. In athemloser Stille lauschte die Versammlung dem melodischen Fluss der gewichtigen Worte und folgte gespannt der durch keine störenden Zwischenacte unterbrochenen Handlung. Die Bühne selbst war Dank dem erfahrenen Rathe des ehrwürdigen Nestors der Philologen, Prof. Gottfried Hermann, der tiefe Einsicht mit Geschmack verband, in möglichster Treue nach den Vorschriften der alten Scenik hergestellt; die Chöre wurden nicht allein gut gesungen, sondern auch mit würdigem Anstand gespielt, und die Darstellung der beiden Hauptrollen Kreon und Antigone durch Herrn Reger und Mad. Dessoir liess wenig oder nichts zu wünschen übrig. Gewiss, kaum einer der Zuhörer verliess das Haus ohne das Gefühl einer tiefen inneren Befriedigung und vielleicht die meisten hatten die sittlich reinigende, erhebende Kraft des alten Dramas, mehr oder weniger bewusst, aber lebhaft empfunden. Selbst Leute ganz gewöhnlichen Schlages und von geringer Bildung hörte ich wenigstens »die herrliche Sprache« des Stückes loben, wodurch das Gerede eifersüchtiger Kritik eines Laube und Consorten von »bleiernem Versgeklapper« vielleicht am besten widerlegt wird. Uebrigens wurde das Stück dreimal nach einander, den 5., 6. und 8. März bei stets übervollem Hause und unter den unzweideutigsten Zeichen des Beifalls gegeben. Am Schlusse der ersten Vorstellung wurden der Componist und die Darsteller der Hauptrollen[283] gerufen. Etwa ein Jahr später ging die Tragödie abermals bei gefülltem Hause über die Bühne.2 Auch in Berlin wurden nun am 13. April Antigone mit M.'s Musik öffentlich im Schauspielhause gegeben. Der Eindruck war, wie Devrient berichtet, auch hier ein so entschieden günstiger, dass binnen drei Wochen noch sechs Vorstellungen gegeben werden mussten. Am 25. April führte M. zum Besten der Armen (ich weiss nicht, ob in dem Saale der Singacademie oder in einer Kirche) seinen Lobgesang auf. Hoffentlich hat er damals auch in Berlin bei den Freunden ächter Musik entschiedeneren Beifall gefunden, als bei einer gewissen Classe der Berliner Kritik, die M. seine fromme gläubige Richtung als Schwäche auslegte! –

Mit dem Nahen des fröhlichen Pfingstfestes begab sich M. abermals in die deutsche Heimath seines ersten Künstlerruhms, nach Düsseldorf, um das dortige Musikfest gemeinschaftlich mit seinem Freunde Julius Rietz zu leiten. Das Fest war vom mildesten Frühlingshimmel begünstigt, die musikalischen Mittel höchst zahlreich und glänzend. Ueber 500 Spieler und Sänger, unter ihnen als Solisten die Damen Fräulein Caecilie Kreutzer, Frau Pirscher vom Theater zu Darmstadt und Fräulein Sophie Schloss, die eben aus Holland zurückkehrte, sowie die Herren Tenorist Schunke und die Bassisten Oehrlein und Lämmer hatten ihre Kräfte vereinigt, um die grossartige musikalische Feier in jeder Beziehung würdig herzustellen. Am Pfingstsonntage wurde das Fest mit Beethoven's C moll-Symphonie eingeleitet, woran sich Händel's Israel in Egypten schloss. Da die Orgel in dem ohnehin beschränkten Räume des Saales eher hinderlich gewesen wäre, so hatte M. ihre Partie für Blasinstrumente gesetzt, und ausserdem das Accompagnement[284] der Recitative für zwei Celli und Contrabass eingerichtet. Am zweiten Tage wurde M.'s Lobgesang aufgeführt und als ein glänzendes, ächt musikalisches Werk auch dort anerkannt. Nächstdem wurde noch Beethoven's Festmarsch aus den Ruinen von Athen, Haydn's Motette »des Staubes eitle Sorgen« und Weber's Festcantate gegeben. Am dritten, der Musik des Salons gewidmeten Tage, trat M. für den Geiger Ernst, der durch Krankheit in Weimar zurückgehalten wurde, mit dem Vortrage des Beethoven'schen Es dur-Concerts und zwar unvorbereitet ein. Der geistvolle Berichterstatter in der Leipziger neuen Zeitschrift für Musik schrieb über diesen Vortrag sehr bezeichnend:


»Sein Auftreten, nach dem so vieler anderer weitbelobten Künstler, erinnerte uns an die ägyptischen Magier, mit denen einst Moses zu kämpfen hatte. Was Kunststücke, Fertigkeit, Fingergewandtheit betrifft, so war keine Palme mehr zu ernten. Aber der Künstler wollte diese nicht, sondern bestrebte sich lediglich, das geistvolle Beethoven'sche Tongedicht im Geiste wiederzugeben und erlangte vollständig seinen Zweck. Jedermann war ergriffen, erstaunt: Musik und Musik, Clavier und Clavier als so entgegengesetzte Dinge aufzufassen, und Wenige mögen sich in der zahlreichen Versammlung befunden haben, die nicht dem Geiste den Kranz vor der Maschine verabreicht hätten.«


Sehr wahr und zutreffend ist hier hervorgehoben, wodurch sich M.'s Virtuosität von der gewöhnlicher Virtuosen unterschied. Er besass wohl ihre Fertigkeit, aber sie nicht seinen Geist; ihm war sie höchstens Mittel zum Zweck, während sie den Virtuosen von heute und am Ende denen aller Zeiten Selbstzweck ist. –

Nach dem Es dur-Concert erfreute M. die Versammlung noch durch einige seiner Lieder ohne Worte und schloss mit einer freien Phantasie, in welcher er das Bedeutendste aus den Musikstücken der beiden vorhergegangenen Tage höchst geistreich durchlief.

Ueber die Leitung der grossartigen Masse musikalischer Kräfte an diesem Feste sagt derselbe Berichterstatter gleichfalls sehr bezeichnend:


»Im ganzen Schwalle hob sich der Festleiter (Mendelssohn) wie einer, der geboren ist, die widerstrebende Masse zu vereinigen,[285] zu einem organischen Ganzen zu beseelen, und bewegte durch seine einnehmende Höflichkeit, durch seinen schlagenden Witz, wie durch den überall hervorsprechenden Reichthum von Sachkenntniss selbst die Lauesten zu hellem Eifer, die Widerhaarigsten zur Ausdauer, zur Aufmerksamkeit.«


Wurde nun M. für seine unläugbaren Verdienste um dieses Fest gewiss die vollste Anerkennung der Mitwirkenden wie der Hörer zu Theil, so erreichte ihn in dieser Zeit auch ein neues Zeichen königlicher Huld. Im Juni meldeten die Journale, dass ihn der König von Preussen zum Ritter der Friedensclasse des von Friedrich dem Grossen gestifteten und von Friedrich Wilhelm IV. erneuerten Ordens pour le mérite ernannt habe. Mit Anfang desselben Monats reiste M., diesmal in Begleitung seiner Gemahlin, nach England, wo die alten Freunde und neue Triumphe seiner warteten. Musikalische Genüsse im Freundeskreise, namentlich in Moscheles' Hause und unter dessen Mitwirkung lösten sich in reichem Wechsel mit ehrenvollen öffentlichen Leistungen ab. Am 13. Juni gab und dirigirte M. im Philharmonischen Concert zum ersten mal seine A moll-Symphonie, die mit grossem Beifall aufgenommen wurde; am 24. spielte er in Moscheles' Concert für die Abgebrannten in Hamburg mit diesem Hommage à Händel und accompagnirte der damals ersten Sängerin Englands, Miss Adelaide Kemble, nachherigen Gräfin Sartorius, seine Lieder »Auf Flügeln des Gesangs« und das Frühlingslied »Es brechen im schallenden Reigen«, sowie Miss Hawes das Altsolo aus Paulus »Doch der Herr vergisst der Seinen nicht«. Das Concert brachte über 700 Pfund Sterling ein. Miss Kemble gab ihm am 28. Juni eine Soirée. Tags vorher liess er im Philharmonischen Concert seine Ouvertüre zur Fingalshöhle aufführen und spielte sein D moll-Concert. Am 6. Juni hatte er in einer Soirée bei Moscheles mit diesem sein vierhändiges Duo in A dur gespielt, und nachdem er dem Freunde am 26. desselben Monats die Musik zur Antigone aus dem Manuscript vorgeführt, wurde sie am 9. Juli in Moscheles' Hause mit Clavier gegeben, wobei M. accompagnirte. Die Ouvertüre zu Ruy Blas von Victor Hugo und die Variationen über ein Originalthema in Es dur (Op. 82), welche M. dem Freunde am 10. Juli[286] gleichfalls aus dem Manuscripte vorspielte, bildeten den letzten dieser musikalischen Genüsse.

Als ein in seiner Art bedeutendes und einziges Ereigniss aus diesem Aufenthalte M.'s in London verdient auch sein Besuch bei der Königin Victoria, den er ihr am 20. Juni auf ihre Einladung im Buckingham Palace abstattete, Erwähnung. Sehr ausführliche Schilderungen davon giebt M. selbst in zwei Briefen an seine Mutter vom 21. und 22. Juni aus London und vom 19. Juli aus Frankfurt, wie sie sich abgedruckt in seinen Briefen II. Theil, S. 326 und 327, und bei Hensel, Fam. M., II, S. 260–264 finden. Um nicht zu weitläufig zu werden, bitte ich meine verehrten Leser, diese allerliebsten Schilderungen an den citirten Stellen selbst nachzulesen, und beschränke mich hier nur auf das, was ich aus M.'s eigenem Munde gehört habe. Ihre höchst graziöse Majestät, bekanntlich ebenso wie ihr königlicher Gemahl, grosse Freundin der Musik und selbst ausübende Künstlerin, empfing unseren Tondichter im vertrautesten Zirkel, d.h. nur in Gegenwart des Prinzen Albert und eines Prinzen von Gotha in ihrem Wohnzimmer. Als er eintrat, entschuldigte sie sich, dass im Zimmer nicht vollständige Ordnung sei, und räumte in seiner Gegenwart auf, wobei ihr M. helfen durfte. Hierauf bat sie M., Einiges zu spielen, und sang dann auf sein Ersuchen selbst einige Lieder, unter anderem das Lied »Schöner und schöner« (von M.'s Schwester Fanny unter seinem Namen erschienen). Ehe sie aber sang, sagte sie: »Erst muss der Papagei hinaus, sonst schreit er lauter, als ich singe.« Der Prinz von Gotha sagte, »Ich will ihn hinaustragen«, M. aber fiel ein, »das erlauben Sie mir zu thun«, und trug den grossen Käfig hinaus, zum Erstaunen der Bedienten im Vorzimmer. Als die Königin gesungen hatte, war sie mit ihrer Leistung nicht völlig zufrieden und äusserte scherzend: M. solle nur Lablache fragen, sie könne es schon besser, aber vor ihm fürchte sie sich. Hierauf sang auch Prinz Albert, der gleich anfangs einen Choral auf der im Zimmer stehenden Orgel gespielt hatte, auswendig mit Pedal, so hübsch und rein, dass mancher Organist sich was draus nehmen konnte, das Lied: »Es ist ein Schnitter, der heisst Tod.« Zum Schluss musste M. über den Choral, den der[287] Prinz gespielt, und das Lied, das er gesungen, phantasiren, wobei er auch die beiden Lieder, welche die Königin gesungen hatte, mit hinein verwebte. Er sagt, er sei recht im Zuge gewesen und das Phantasiren sei ihm gelungen, wie selten. Als die Königin einen Augenblick weggegangen, (sie war im Begriff, nach Claremont abzureisen), verehrte ihm Prinz Albert im Auftrag der Königin ein kleines Etui mit einem schönen Ring, auf welchem V.R. 1842 eingravirt war.

Als ein Zeugniss des enthusiastischen Empfanges, den M. diesmal in England fand, möge hier nur noch eine Stelle aus dem vorerwähnten Briefe vom 22. Juni an seine Mutter stehen:


»Neulich komme ich in ein Concert in Exeter Hall, wo ich gar nichts zu thun hatte, schlendere ganz pomadig mit Klingemann hinein – es war schon in der Mitte des ersten Theils, – ein Stücker 3000 Personen gegenwärtig, und wie ich eben in die Thür trete, fängt ein Lärmen und Klatschen und Rufen und Aufstehen an, dass ich erst gar nicht glaubte, es gälte mir, dann aber merkte ich es, als ich an meinen Platz kam, und Sir Robert Peel und Lord Wharncliffe ganz nahe bei mir hatte, und sie mit applaudirten, bis ich Diener machte und mich bedanken musste. – Ich war höllisch stolz auf meine Popularität in Peel's Gegenwart; als ich nach dem Concerte wegging, brachten sie mir wieder ein Hurrah.«


Am 12. Juli reiste M. mit seiner Gemahlin wieder von London ab und begab sich zunächst wohl zuerst nach Berlin, um von den Anstrengungen und Triumphen seiner englischen Reise ein wenig auszuruhen und seiner Familie sowohl des engeren als des weiteren Kreises zu leben. Dann aber im August unternahm er eine Erholungsreise, wie es scheint, mit Frau und Kindern, nach der Schweiz. Die beiden Briefe an seine Mutter aus Interlaken vom 18. August, wo er die alten lieben Erinnerungen von seiner ersten und zweiten Schweizerreise 1824 als Knabe und 1832 als gereifter Jüngling in dem gewohnten Hôtel Interlaken mit vor der Thür stehenden schönen Nussbäumen wieder auffrischte und am Schluss der Reise von Zürich aus am 3. September, wo ihm auch Regen und Nebel die gute Laune nicht verderben konnten, athmen Behagen und innige Zufriedenheit. Vielleicht gleich beim[288] Beginn dieser Schweizerreise (ich vermag das Datum nicht genau anzugeben) ging er direct und wohl allein nach Lausanne, wohin man M. eingeladen hatte, um seinen Lobgesang zu dirigiren. Er kam aber um einen Tag zu spät, und hörte nicht einmal mehr Rossini's Stabat mater, welches am ersten Tage des Musikfestes unmittelbar auf seinen Lobgesang folgte. Allerdings eine etwas sonderbare Zusammenstellung, an welcher sich M. selbst nicht sonderlich erbaut haben dürfte, obgleich er den divino maëstro, mit welchem er bereits im Jahre 1836 in Frankfurt eine für beide Theile gleich angenehme Zusammenkunft hatte, gebührend schätzte. Doch wurde er bei seinem Erscheinen Tags darauf überall mit Freuden begrüsst, und es scheint sich ein Urtheil über die Befähigung der beiden Meister gebildet zu haben, welches dem Componisten des Lobgesanges nur angenehm sein konnte. Mendelssohn, hiess es, der tiefsinnige Schüler Händel's und Bach's, erfülle als Meister der strengen und ernsten Töne das Herz mit Andacht, während Rossini sehr angenehm unterhalte und höchstens eine Sentimentalität aufrege, die man fast sinnlich nennen möchte. – Uebrigens wurde der Lobgesang in diesem Jahre auch am 8. Juli auf dem Musikfest im Haag, am 22. August in Reichenberg in Böhmen neben F. Schneider's Weltgericht und am 18. October in der Schönburgischen Stadt Glauchau zur 300jährigen Jubelfeier der Einführung der Reformation in den Schönburgischen Landen aufgeführt. In Erfurt gab man am 13. Juni den 42. Psalm und im Spätherbst in Görlitz zum Besten der Abgebrannten zu Camenz den Paulus.

Aus der Schweiz zurückkehrend, begab sich M. mit seiner Familie nach Frankfurt, wo er 16 Tage, vom 9. bis 25. September verweilte. Hier fand er seinen Freund Ferdinand Hiller mit einer anmuthigen, mit schöner Stimme begabten Italienerin verheirathet. Die Zeit während dieses Aufenthalts M.'s in Frankfurt verging unter mannigfachen musikalischen Genüssen und heiteren Festlichkeiten auf das angenehmste. Ein dem Hiller'schen Ehepaar von Rom her befreundeter talentvoller Maler, Carl Müller, erklärte sich bereit, ihm eine Bleistiftzeichnung von M. anzufertigen. M. willigte ein unter der Bedingung, dass Frau Hiller ihm[289] während der Sitzung etwas vorsingen wolle. So füllte sie denn die Sitzung mit sechzehn längeren und kürzeren Gesangstücken aus, und das so entstandene Porträt, mit M.'s Unterschrift und dem Datum, 15. September 1842 versehen, gehörte fortan zu den liebsten Besitzthümern des Paares. M. spielte Hiller vor Allem die Chöre zur Antigone vor. Die zuletzt in London aufgeführte A moll-Symphonie hatte er für Pianoforte vierhändig einzurichten begonnen und beeilte diese Arbeit seinem Freunde zu Liebe. Am Vorabende einer Matinée, zu welcher Hiller die Frankfurter Bekannten eingeladen hatte, wurde M. mit der Bearbeitung fertig und die beiden Freunde eröffneten den musikalischen Morgen glanzvoll mit diesem neuesten Meisterwerke. Die jugendlichen Sänger und Sängerinnen Frankfurt's hatten es sich nicht nehmen lassen, auch diesmal wieder dem gefeierten Meister ihre Huldigungen darzubringen. Man gab ihm auf dem Sandhofe ein Fest und sang ihm im Walde seine vierstimmigen Lieder vor. »Niemals«, schreibt eine Berichterstatterin, »habe ich einen glückseligeren Menschen gesehen, als M. es war. Sein ganzes Gesicht leuchtete, die Augen sprühten in Wahrheit vor Freude. Dabei schlug er förmlich aus, sprang auf einem Beine herum und rief nach jedem Liede: ›O nochmal, bitte nochmal!‹ Den ›Lerchengesang‹ mussten wir mit allen Wiederholungen dreimal hinter einander singen.«

M. vergalt dem Freunde alle ihm erwiesene Liebe, indem er in der edelsten und zartesten Weise sich bei Simrock in Bonn verwandte, ohne Hiller etwas davon zu sagen, dass dieser den Verlag einiger Werke desselben übernehmen möchte. Dieser Brief und die Antwort an Simrock, als dieser die Bitte bereitwillig erfüllte, gehört zu den schönsten Zeugnissen der ächt collegialischen Gesinnung M.'s für seine Berufsgenossen. (Man sehe die beiden Briefe in M.'s Briefen, Theil II, S. 341–345, wieder abgedruckt in Hiller, Erinnerungen, S. 157–161.)

Am 25. September ging M. über Leipzig vorerst für einige Tage nach Berlin. In Leipzig war unterdessen eine für das dortige Musikleben nicht ganz unwichtige Veränderung vorgegangen. Der Gewandhaussaal, der schon längst nicht mehr die grosse Zahl der begierigen Hörer[290] fassen wollte, war mittelst Durchbrechung seiner oberen Räume rechts und links mit Galerieen versehen worden und hatte sein ehrwürdiges im Laufe der Zeit etwas russig gewordenes Gewand mit einem anderen sehr hellfarbigen, sowie die etwas trüben, aber gemüthlich brennenden Lampen mit brillanter Gasbeleuchtung vertauschen müssen. Leider waren dabei die werthvollen, freilich auch ziemlich angerauchten Oeser'schen Deckengemälde gleichfalls zerstört worden. Manche fürchteten, dass mit dem alten Gewande auch der alte Geist von dem Saale weichen würde, eine Befürchtung, die jedoch in keiner Weise eintraf. War doch wenigstens die alte Devise des Saales: »Res severa est verum gaudium« stehen geblieben oder doch nur aufgefrischt worden. Auch hatte die treffliche Akustik des Saales durch den Neubau nicht gelitten. Und siehe da, als der Tag der Einweihung des so erneuten Saales gekommen war, da stellte sich auch der sicherste Bürge ein, dass vor der Hand an ein Weichen dieses Geistes, dieses schönen und ernsten Strebens nach dem Höchsten in der Kunst nicht zu denken sei. M., eigens dazu von Berlin herübergekommen, dirigirte das erste Concert. Der Jubel der Versammlung über sein Erscheinen überbot noch den der Jubelouvertüre, mit welcher das auch übrigens höchst glänzend ausgestattete Concert eingeleitet wurde. Frau Dr. Schumann, Fräulein Schloss und Herr Concertmeister David wirkten durch Solovorträge zu seiner Verherrlichung mit. Den Schluss bildete Beethoven's A dur-Symphonie, die das Orchester, durch M.'s Gegenwart inspirirt, mit »besonderem Enthusiasmus und nie wankender Sicherheit« spielte.

Nach diesem ersten Concert kehrte M. noch einmal für einige Wochen nach Berlin zurück, um einige Symphonie-Soiréen zu dirigiren. Zugleich erneuerten sich die Verhandlungen mit Friedrich Wilhelm IV. über M.'s Stellung und Wirkungskreis in Berlin. Sie endeten damit, dass M. auf die Hälfte seines Gehaltes verzichtete, dem König aber freistellte, ihn rufen zu lassen, wenn er ihn brauche, und sich den vom Könige gestellten Aufgaben zum Componiren, vorläufig der Musik zu Athalia, dem Sommernachtstraum, und Oedipus auf Kolonos bereitwillig unterzog. In einer Abschiedsaudienz, die er vom Könige sich erbeten hatte,[291] von diesem sehr gnädig entlassen, ging M. Ende October wieder nach Leipzig, wo er sich mit seiner Familie in seinem alten Quartier wieder häuslich einrichtete. Er hatte versprochen, zum 15. November zu seiner Schwester Fanny Geburtstag wieder in Berlin zu sein, konnte aber dieses Versprechen nicht halten, weil er gerade um diese Zeit nach Dresden reisen musste, um das schon erwähnte Blümner'sche Legat für das Leipziger Conservatorium vom Könige (Friedrich August von Sachsen) »loszueisen«, ihm zugleich für seine freundlichen wohlwollenden Anerbietungen (Capellmeisterstelle in Dresden) zu danken und ihm auseinanderzusetzen, warum er sie nicht annehmen könne. »Das ist nun geschehen,« schreibt er an Schwester Fanny unter'm 16. November von Leipzig aus, »ich bin von ihm auf's Liebenswürdigste empfangen und habe nun die Gewissheit, dass die ewig lange Angelegenheit meines hiesigen oder Berliner Engagements ohne Zwist und zu allseitiger Zufriedenheit entschieden ist.« (Hensel, die Fam. M., Theil II, S. 270.)

Vom 6. Abonnementconcert (12. November) an dirigirte nun M. wieder die Leipziger Concerte, und zwar ununterbrochen bis zu Ende des Winterhalbjahres 1842/43. Natürlich konnten sie unter seiner Leitung nur gewinnen. Ganz besonders thätig wirkte er diesmal auch in mehreren Extraconcerten mit; so z.B. in dem am 21. November zum Besten des Orchesterpensionsfonds gegebenen Concert, wo seine Ouvertüre zum Sommernachtstraum gegeben wurde und er mit Clara Schumann die bekannte grosse vierhändige Sonate von Moscheles spielte; und am 26. November in einem von der berühmten Schauspielerin Sophie Schröder veranstalteten Concert, in welchem ihre Tochter Mad. Schröder-Devrient und Tichatschek sangen, M. sein D moll-Concert spielte und seine Ouvertüre zu Ruy Blas zur Aufführung kam. Ein besonders merkwürdiger Monat sowohl für uns, als für M. selbst war dann der December. Zuerst am 8. December im 9. Abonnementconcert spielte er das G dur-Concert von Beethoven, nach des Leipziger Berichterstatters Ausdruck mit so wunderbarer Vollendung und so glücklicher Inspiration, als wir nur je etwas gehört hatten. Dazu fügte er einige Lieder ohne Worte, von denen das[292] letzte in A dur neu und von unwiderstehlichem Reiz war. (Lieder ohne Worte, Op. 62 H. V, Nr. 6.) Das letzte Concert des Jahres, Mittwoch, am 21. December, beehrte der König von Sachsen wieder mit seiner Gegenwart. Es wurde mit dem Doppelchore von Friedrich Rochlitz »Haltet Frau Musica in Ehren« zum Gedächtniss dieses am 16. December verstorbenen geistvollen und liebenswürdigen Kenners der Tonkunst eröffnet. David spielte seine Variationen über ein russisches Volkslied, Beethoven's Eroica, die Ouvertüre zum Sommernachtstraum und der 42. Psalm von M. wurden gegeben. Der König, der die meisten Stücke des Concerts, namentlich die Eroica und die Mendelssohn'schen Compositionen selbst gewählt, bezeugte sichtbar sein grosses Wohlgefallen. Aber auch ihm fühlte sich M. zu grossem Danke verpflichtet. Denn er hatte kurz vorher eine Lieblingsidee M.'s, die dieser freilich zum Besten Leipzig's und der ganzen musikalischen Welt bisher im Busen getragen und gepflegt hatte, realisirt. Schon im November schrieb M. an Moscheles: »Jetzt oder nie ist der Zeitpunkt, wo die Idee eines Conservatoriums in Leipzig in's Leben treten muss.« Und um die nöthigen Fonds herbeizuschaffen, wandte sich M. unmittelbar an den König, dem die freie Disposition über das Legat des Oberhofgerichtsrath Blümner von 20,000 Thalern kraft dessen Testamentes zustand. Der König bewilligte nicht nur dieses Legat als Fonds für das Conservatorium, sondern gründete auch sechs Freistellen für Inländer. So konnte M. denn hoffen, diese Lieblingsidee, bei welcher er übrigens auch von vielen anderen Seiten bereitwilligst unterstützt wurde, bald in's Leben treten zu sehen. Aber, als ob die beiden gekrönten Häupter in ihren Gunstbezeugungen gegen den Liebling wetteifern wollten, erhielt M. am 4. December ein Schreiben des Königs von Preussen, das ihm den Titel eines Generalmusikdirectors verlieh und die Oberleitung aller kirchlichen und geistlichen Musik in Preussen, insbesondere auch bei dem Domgottesdienst in Berlin übertrug. M. wäre trotzdem jedenfalls noch in Leipzig geblieben, wenn ihn nicht ein grosser Schmerz nach Berlin gerufen hätte. Am 12. December starb, wie wir früher schon einmal bei Gelegenheit der Walpurgisnacht erwähnten, M.'s Mutter einen ebenso sanften Tod, nach[293] kurzem kaum merklichen Krankenlager, wie ihr Gatte. M. verlor in ihr seine treue geistige und leibliche Pflegerin, die zugleich seine erste Lehrerin war. Er ertrug diesen Verlust, der tief in seine Seele schnitt, dennoch mit männlicher Fassung. Bald kehrte er wieder zu seinem einmal übernommenen Wirkungskreise in Leipzig zurück, wo seiner vollendenden Meisterhand noch so viele und grosse Aufgaben warteten, wohl wissend, dass die beste Heilung für solche Schmerzen in angestrengter Thätigkeit liegt.


Aus dem Jahre 1843 erwähnen wir zunächst eine bedeutende musikalische Leistung in der Nachbarstadt Halle. Hier wurde Anfang Januar unter Direction des damaligen Organisten, späteren Universitätsmusikdirectors – gegenwärtig noch lebenden, als hervorragender musikalischer Lyriker und pietätvoller Bearbeiter Bach- und Händel'scher Vocalwerke allbekannten und mit Recht hochverehrten Meisters – Robert Franz3 von der Singacademie zum Besten des zu errichtenden Händel-Standbildes eine grosse Aufführung veranstaltet. Das Programm bestand aus der Ouvertüre zu den Hebriden, einem vierstimmigen Gesang von Schubert, Mozart's D moll-Concert und Mendelssohn's Lobgesang. Von letzterem heisst es, dass das grossartige Werk mit wahrer Andacht angehört wurde und einen unauslöschlichen Eindruck hinterliess. Das Tenorsolo »Hüter, ist die Nacht bald hin?« erschien dem dortigen Berichterstatter von der tiefsten und der Chor »Die[294] Nacht ist vergangen« von der grossartigsten Wirkung in der ganzen neueren oratorischen Musik.

In Leipzig erschien am 16. Januar 1843 das vorläufige Programm der neuen Musikschule, welches Unterricht in der Composition, im Violin-, Clavier-, Orgelspiel und Gesang, nebst wissenschaftlichen Vorträgen über Geschichte der Musik, Aesthetik, Uebungen im Zusammenspiel und Chorgesang verhiess. Als Lehrer wurden vorläufig Mendelssohn, Moritz Hauptmann, Robert Schumann, Ferdinand David, Chr. Aug. Pohlenz und K.F. Becker genannt, und zugleich diejenigen, welche als Zöglinge aufgenommen sein wollten, aufgefordert, sich bis zum 23. März zur Aufnahmeprüfung zu melden. Die Zahl der sich Meldenden betrug bis zu diesem Termin schon 46, im Juli waren es 68, von welchen 42 aufgenommen wurden, darunter zwei Holländer, ein Engländer und ein Amerikaner.4 Am 3. April wurde das Conservatorium durch den damaligen Kreisdirector, nachherigen Minister von Falkenstein, dem M. bereits in einem Briefe vom 8. April 1840 den Plan zu einem in Leipzig zu errichtenden Conservatorium vorgelegt und dringend empfohlen hatte, im Namen Sr. Majestät des Königs feierlich eröffnet.

Mitte dieses Monats wurde der vollständige Lectionsplan ausgegeben. Mendelssohn hatte Uebungen im Sologesang, Instrumentenspiel und Composition, Hauptmann Harmonielehre und Contrapunct, Schumann Clavierspiel[295] und Durchsicht von Privatarbeiten in der Composition, David Violinspiel und Becker Orgelspiel übernommen. Statt des am 10. März unerwartet schnell gestorbenen verdienten Gesanglehrers und Musikdirectors Pohlenz, dem Concert und Oper die Ausbildung manches schönen Talents zu verdanken hatten, waren Frau Grabau-Bünau und Herr Böhme für den Unterricht im Solo- und Chorgesang eingetreten. Ausserdem sollten die zuerst genannten Lehrer noch durch die Herren Klengel (Violinspiel), Wenzel5 und Plaidy (Clavierspiel) unterstützt werden. Unterricht in der italienischen Sprache ertheilte Herr Ghezzi. Die wissenschaftlichen Vorträge übernahm später seit dem Jahre 1843 der durch seine Vorträge über Geschichte der Musik rühmlich bekannte Herr Franz Brendel, sehr befreundet mit Schumann, und nach ihm Redacteur der Leipziger neuen Zeitschrift für Musik, in welcher er für Schumann, aber auch für Liszt, Richard Wagner, Berlioz eifrig eintrat. – Mehrere Gönner und Freunde unterstützten die neu erblühende Anstalt durch sehr werthvolle Gaben. So überwies ihr Herr Regierungsrath Dörrien ein Geschenk von 500 Thlr., die Firma Breitkopf & Härtel schenkte aus ihrer damals berühmten Fabrik einen schönen Flügel; der Musikalienhändler (jetzt Commissionsrath) C.F. Kahnt bot sechs Zöglingen sein Leihinstitut zu unentgeltlicher Benutzung an. Uns interessirt bei gegenwärtigem Zwecke vorzüglich die Art, in welcher sich M. an seiner Schöpfung betheiligte. Er war nicht nur ihr Begründer, sondern auch einer ihrer thätigsten Mitarbeiter. Mit dem ihm eigenen Feuer ergriff er auch diese Sache, und bewährte, was man wirklich kaum in dem genialen Manne gesucht hätte, auch ein überaus grosses Talent für musikalische Pädagogik. Wie belehrend seine Winke bei der Durchsicht von Compositionen, wie anregend die Stunden im höheren Pianofortespiel[296] und Sologesang waren, können seine Schüler und Schülerinnen nicht dankbar genug rühmen. Der Privatprüfungen der einzelnen Classen, sowie der halbjährigen allgemeinen Hauptprüfungen nahm er sich, so oft er nur in Leipzig war, mit dem grössten Eifer an. Auch in den unteren Classen musste ihm bei den Privatübungen oft jeder Einzelne den Beweis seiner Fertigkeit z.B. im Moduliren (Uebergehen aus einer Tonart in die andere) liefern, sein blitzendes Auge, sein feines Ohr war überall, und die Furchtsamen, die sich unter dem grossen Haufen verstecken wollten, zog er bisweilen selbst hervor; aber auch, wenn ihm das sittliche Benehmen eines einzelnen vorgeforderten Zöglings irgend missfiel, wusste er ihn höchst ernsthaft zurechtzuweisen. In der ersten Zeit sass er einmal eine halbe Nacht, um bei der Censurvertheilung für jeden einzelnen Schüler eine passende Bemerkung niederzuschreiben. Dieses Interesse an dem Institute in so specieller Weise durchzuführen, erlaubte ihm natürlich in der Folge sein musikalischer Beruf nicht; aber dem Unterricht widmete er sich, so lange er in Leipzig weilte, stets mit voller Liebe, die öffentlichen Hauptprüfungen leitete er, wenn er es irgend möglich machen konnte, stets selbst, und immer war er, wo es galt, mit Rath und That, mit Lob und Tadel, mit Ermunterung oder Zurückweisung in die gebührenden Schranken bei der Hand. Dabei lehnte er selbst mit edler Bescheidenheit es ab, als oberster Leiter des Ganzen zu gelten; er wollte, nach seinem eigenen Ausdruck, nur »einer von den 6 Lehrern« sein. Wie es dagegen immer zu seinen Lieblingswünschen gehört hatte, mit Moscheles vereint zu leben und zu wirken, wenn dieser sich einmal von England zurückziehen sollte, so drückte er ihm auch in seinen Briefen wiederholt den Wunsch aus, Moscheles' Schule in das Leipziger Conservatorium verpflanzt zu sehen, und schlug ihm vor, die Leitung im Verein mit den bereits angestellten Lehrern zu übernehmen. Durch M.'s Vermittlung verständigten sich die Directoren des Conservatoriums mit Moscheles, der von dem Jahre 1846 an bis zu seinem 1870 erfolgten Tode sich dem neuen Berufe mit Liebe widmete und das Andenken seines liebsten Freundes und ehemaligen Schülers durch[297] fortgesetzte Pflege dieser bereits mit so erfreulichen Früchten gesegneten Pflanzschule ehrte.

Kehren wir jetzt von diesem gewiss vielen unserer Leser noch neuen und interessanten Seitenblick auf M.'s musikalisch-pädagogische Wirksamkeit zu seiner eigentlichen künstlerischen Thätigkeit zurück. Im 15. Abonnementconcert, am 20. Januar 1843, wurde die A moll-Symphonie zum dritten male aufgeführt, ohne einen gerade glänzend zu nennenden Erfolg. Dagegen bereitete sich uns schon seit einiger Zeit der Genuss vor, ein neues Meisterwerk M.'s zu hören, welches zwar gleichfalls in sehr früher Zeit entstanden, dennoch vielfältig umgearbeitet, als ein erst jetzt vollendetes gelten konnte, und jetzt jedenfalls zum erstenmale in Leipzig öffentlich aufgeführt wurde. Es war die erste Walpurgisnacht, Cantate von Goethe, welche im 16. Abonnementconcert, Donnerstag den 2. Februar 1843, gegeben ward. Die Soli's hatten Fräulein Schloss, die Herren Schmidt, Pögner und Kindermann übernommen, die Chöre wurden von Dilettanten ausgeführt. Das Concert war auch übrigens prachtvoll ausgestattet. Eine Symphonie von Haydn, Arie von Mozart »Deh per questo istante solo«, Beethoven's Fantasia für Pianoforte, Chor und Orchester, die Pianofortepartie vorgetragen von Frau Dr. Schumann, welche auch noch Variationen von Adolf Henselt spielte, Ouvertüre zu Euryanthe und Chöre aus »Leier und Schwert« von Weber bildeten des Concertes ersten Theil, während den ganzen zweiten die Walpurgisnacht füllte. M. hatte sich, wer wollte es läugnen, in sehr noble Gesellschaft gebracht. Doch lag auch darin wieder eine grosse Bescheidenheit, dass er die Empfänglichkeit des Publicums durch so viele Meisterwerke vor dem Producte seiner Muse zum voraus in Anspruch nahm. Die Ausführung dieses neuen Tonwerkes war übrigens gleich zum ersten male eine höchst vollendete.

Ueber die Entstehung, Ausführung und Geist der Composition habe ich mich schon in einem Excurs darüber im zweiten Theil so ausführlich ausgesprochen, dass kaum noch etwas zu sagen übrig bleibt. Interessant wird aber den Lesern das Urtheil eines fremden Künstlers sein. Hector Berlioz, der soeben in Leipzig angekommen, gerade in[298] den Gewandhaussaal trat, als die Hauptprobe zur Walpurgisnacht stattfand, sprach sich über das Werk aus, wie folgt:


»Wahrlich, ich war im ersten Augenblick ganz ausser mir über die Schönheit der Stimmen, über die Gewandtheit der Sänger, die Genauigkeit und den Schwung des Orchesters und ganz besonders über die Herrlichkeit der Composition. Ich möchte dieses Werk M.'s für das gediegenste von allen halten, die er bis auf den heutigen Tag geschrieben. Man muss M.'s Töne hören, um zu ermessen, was Alles ein so reichhaltiger Stoff der Goethe'schen Dichtung einem geschickten Componisten darbietet. Er hat ihn wunderbar benutzt. Seine Partitur ist trotz ihrer vielfältigen Verschlingungen vollkommen klar; Stimmen und Instrumentaleffecte durchkreuzen sich nach allen Richtungen in mächtigem Widerspiel und in einer scheinbaren Verwirrung, die den höchsten Gipfel der Kunst erreicht. Ganz vorzüglich muss ich als herrliche Kunsterzeugnisse entgegengesetzter Gattung preisen den geheimnissvollen Gesang während der Aufstellung der Wächter und das Finale, wo in Tönen ruhiger Andacht die Stimme des Priesters in verschiedenen Absätzen sich erhebt über den teuflisch tobenden Chor der falschen Hexen und Höllengeister. Man weiss nicht, was man am meisten darin bewundern muss, ob das Orchester, ob den Chor, oder den mächtigen Wirbel, der das Ganze bewegt. Ein wahres Meisterstück!«


Wir können nicht anders, als diesem Urtheil freudig beipflichten.

Ich übergehe mehrere Leistungen von und durch M. in den nun folgenden Concerten, insofern sie nichts Neues darboten. Erwähnung verdient, dass Fräulein Schloss in ihrem Benefizconcert am 9. Februar eine neue bis dahin noch nicht gedruckte Scene und Arie für Sopran und Orchester (B dur, später als Op. 94 erschienen) »Unglücksel'ge, er ist auf immer Dir entfloh'n« von M. sang. Sie war grossartig angelegt, feurig und geschmackvoll, etwa zwischen dem Style des »Ah perfido, spergiuro« von Beethoven und dem der grossen Arie aus Athalia von Weber die Mitte haltend. Wir hörten sie bei M.'s Lebzeiten nur noch einmal wieder in dem Concert am 29. October 1846. Später ist sie bis zum Jahre 1879 noch vierzehn mal wiederholt worden, ein Beweis, welchen lebhaften Anklang sie bei den Sängerinnen, wie dem Publicum fand. In der am 9. März zur Erinnerung an das[299] hundertjährige Bestehen des Abonnementconcerts veranstalteten grossartigen musikalischen Feier war M. durch den achtstimmigen Psalm 114 vertreten. Uebergangen soll auch hier nicht werden, dass am 2. März im 8. Abonnement-concert zum ersten male die Symphonie von Niels W. Gade, Nr. 1, C moll, unter grossem Beifall des Publicums aufgeführt wurde. M. selbst hatte daran die reinste herzlichste Freude, ein Beweis, wie er jedes emporstrebende wirklich grosse Talent neidlos anerkannte. Er schrieb gleich nach der ersten Probe am 13. Januar an Schwester Fanny:


»Eine neue Symphonie von einem Dänen, Namens Gade, haben wir gestern probirt und bringen sie im Laufe des nächsten Monats (wurde noch etwas verzögert) zur Aufführung, die mir so viel Freude gemacht hat, wie seit langer Zeit kein anderes Stück. – Der hat ein grosses bedeutendes Talent, und ich möchte, Du hörtest diese ganz eigenthümliche, sehr ernsthafte und wohlklingende Symphonie. Ich schreibe ihm heute ein paar Zeilen, obwohl ich gar nichts weiter von ihm weiss, als dass er in Kopenhagen lebt und 26 Jahre alt ist. Doch muss ich ihm für die Freude danken; es giebt wirklich kaum eine bessere, als schöne Musik zu hören, und sich mit jedem Tact mehr zu verwundern und doch mehr zu Hause zu fühlen. – Käme es nur nicht so selten!« –


Ebenso warm spricht er sich nun auch in dem Briefe von demselben Datum an Gade selbst aus. (Beide Briefe in Band II der M.'schen Briefe, 6. Auflage, S. 377–379.)

Einflussreicher aber auf das musikalische Leben Leipzig's und alle daran sich knüpfende Erinnerungen war noch das Concert, welches M. am 23. April zur Enthüllung des Bachdenkmals veranstaltete. Es fand an diesem Tage Sonntags früh halb elf Uhr im Saale des Gewandhauses statt. Um das Andenken des grossen Mannes auf das würdigste zu feiern, hatte M. aus dessen Meisterwerken ein ebenso reiches als mannigfaltiges Programm zusammengestellt. Dasselbe bot zuerst: Suite für grosses Orchester, bestehend aus Ouvertüre, Arioso, Gavotte, Trio und Finale (Bourée und Gigue) und die doppelchörige Motette à capella: »Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn.« Dann folgte ein Concert für Pianoforte mit Orchesterbegleitung, gespielt von M., die Arie mit obligater Hoboë, aus der Passionsmusik: »Ich will bei meinem Jesu[300] wachen,« gesungen von Herrn Schmidt, und eine Phantasie über Bach'sche Motive von dem Concertgeber. Den zweiten Theil bildete die Cantate auf die Rathswahl in Leipzig 1723, Prélude für die Violine allein, von David gespielt, und Sanctus aus der H moll-Messe für Chor und Orchester. M., obgleich unwohl, leistete doch alles, was er versprochen hatte. Unmittelbar nach dem Concert fand die Enthüllung des Denkmals statt. Ein Choral von Bach eröffnete die Feier, Regierungsrath Demuth hielt eine kurze angemessene Rede und die Feierlichkeit, bei welcher übrigens ein Enkel Sebastian Bach's, der 83 jährige Capellmeister Bach aus Berlin, Sohn Christoph Bach's (des Bückeburgers) gegenwärtig war, schloss mit des grossen Tondichters Motette, gesungen vom Thomanerchor: »Singet dem Herrn ein neues Lied.« Das Denkmal, entworfen von Bendemann und Hübner, in Sandstein ausgeführt von Knauer, ist allerdings kein glänzender Beweis genialer Erfindung, aber es erfüllte seinen Zweck, die Nachwelt an den grossen Meister zu erinnern, der an dieser Stätte wirkte und zugleich an den, der mit so vieler Pietät und Sorgfalt das Andenken an sein Vorbild sicherte. Es steht links vom Thomaspförtchen, ohnweit der alten Thomasschule. Uebrigens hatte die Stadt, dankbar für so viele Verdienste, die sich M., so lange er in ihr weilte, und zuletzt noch durch diesen ihr geschenkten Schmuck erwarb, M. schon am 17. April d.J. zu ihrem Ehrenbürger ernannt. Der Bürgerbrief lautete:


»Wir, Bürgermeister und Rath der Stadt Leipzig, urkunden und bekennen hiermit, dass wir im Einverständnisse mit den Herren Stadtverordneten allhier dem Königl. Preussischen Generalmusikdirector und Königl. Sächsischen Kapellmeister


HERRN D. FELIX MENDELSSOHN-BARTHOLDY


in Anerkennung seiner grossen Verdienste um die musikalische Bildung in hiesiger Stadt das Ehrenbürgerrecht derselben als einen Beweis unserer aufrichtigen Hochachtung ertheilt haben.

Indem wir nun kraft dieses Briefes dem Königl. Preussischen Generalmusikdirector und Königl. Sächsischen Kapellmeister Herrn D. Felix Mendelssohn-Bartholdy das


EHRENBÜRGERRECHT DER STADT LEIPZIG


[301] und alle nach Gesetz und Verfassung damit verbundenen und etwa künftig daran zu knüpfenden Ehrenrechte und Befugnisse verleihen, fügen wir die besten Wünsche für dessen Wohlergehen und die Versicherung unserer grössten Hochachtung hinzu, haben auch zu dessen Urkunde dieses


DIPLOM


unter Vordruckung des grösseren Rathssiegels und verfassungsmässiger Unterschrift ausgefertigt.«

Leipzig, den 13. April 1843.

Der Rath. der Stadt Leipzig

Otto, V. Bürgermeister.

Berger, Stadtschreiber.


Das bisher noch nicht veröffentlichte umgehend überreichte Dankschreiben M.'s für diese Auszeichnung der Stadt, die ihm vor allen anderen theuer und werth war, dessen beglaubigte Abschrift aus den Acten des Rathes ich der Freundlichkeit des Herrn Archivar Köhler mit Genehmigung des Herrn Bürgermeister Dr. Tröndlin, eines warmen Freundes Mendelssohn'scher Musik verdanke, ist wiederum ein sprechendes Zeugniss der edlen Bescheidenheit des grossen Künstlers, und lautet, wie folgt:


Ein Edler und hochweiser Rath der Stadt Leipzig

hat mir durch die Ertheilung des Ehrenbürgerrechts, dessen Diplom Herr Stadtrath Fleischer mir heute gütigst überreichte, eine so ausgezeichnete Ehre, eine so unerwartete überraschende Freude bereitet, dass ich wirklich nicht weiss, mit welchen Worten ich meinen Dank dafür herzlich und lebhaft genug werde ausdrücken können. Mein Streben in der Kunst haben Sie für etwas schon Erreichtes, Gelungenes aufgenommen; während ich mir Mühe gebe, nur dem so recht zu genügen, was ich meine Pflicht und Schuldigkeit (und die eines jeden Künstlers) nennen möchte, geben Sie mir eine Belohnung, die ich gewiss nicht jetzt, aber auch wohl schwerlich je in Zukunft hätte erwarten und verdienen können. Desshalb würde auch solche allzuhohe Auszeichnung misstrauisch gegen mich selbst machen müssen, wenn ich sie nicht andrerseits doch als eine Bestärkung in jenem Streben, als einen Sporn zu neuer Thätigkeit ansehen könnte. So betrachtet macht sie mich auch nicht muthlos, sondern giebt mir neue Lust, das Unverdiente zu verdienen, und als Beweis Ihrer Zufriedenheit mit meinem bisherigen Wirken, könnte sie mich stolz machen, und macht sie mich sehr glücklich.

[302] Indem ich Sie bitte, diese Gesinnungen herzlichster Dankbarkeit auch den Herren Stadtverordneten in meinem Namen ausdrücken zu wollen, bin ich

Eines hochedeln Rathes

ergebenster Felix Mendelssohn-Bartholdy.

Leipzig,

den 14. April 1843.


Nachdem M. noch eine öffentliche Aufführung seines Paulus in Dresden geleitet (allerdings schon vor jenem Concert zur Enthüllung des Bachdenkmals, am Palmsonntage), so scheint er sich für einige Zeit Ruhe gegönnt, d.h. seine Thätigkeit mehr nach innen gewendet und auf den ihm zunächst liegenden Wirkungskreis beschränkt zu haben. Wenigstens war er in diesem Sommer weder in England noch am Rhein und dirigirte überhaupt kein grosses auswärtiges Musikfest. Wahrscheinlich ist, dass er seine meiste freie Zeit der neuen Schöpfung des Conservatoriums zugewendet hat, und gewiss, dass er in diesem Sommer, zunächst auf Veranlassung des Königs von Preussen, die noch übrige Musik zu Shakespeare's Sommernachtstraum componirte. Einmal trat er auch noch in Leipzig öffentlich auf. Es war am 19. August in dem von Pauline Viardot-Garcia gegebenen Concert, wo er mit Clara Schumann ein Andante mit Variationen für zwei Flügel, componirt von Robert Schumann, vortrug. In demselben Monat wurde Antigone mit M.'s Musik unter grossem Beifall auf der Mannheimer Bühne gegeben. Herr Reger vom Leipziger Stadttheater gastirte dort als Kreon. Am 14. Oct. fand die erste Aufführung von Shakespeare's lieblicher Dichtung im neuen Palais zu Potsdam statt. Die Probe dazu begann schon am 27. September im Obergeschoss des Königlichen Schlosses in Berlin, im sogenannten Elisabethsaale, weil das tägliche Spiel im Schauspielhause dort die Aufstellung des dreistöckigen Gerüstes nicht zuliess, auf dem ein Theil der Handlung, in Nachahmung des alt englischen Theaters vor sich gehen sollte. Ludwig Tieck hatte zur Inscenirung des Stückes abermals seine kunstsinnige Hand geboten. Doch war es ein Missgriff, dass Tieck die Hauptacteurs (natürlich nicht die Handwerker) im spanischen Costüm des 17. Jahrhunderts[303] auftreten liess. Ebenso hatte er zwar ganz zweckmässig, damit die Waldnacht nicht unterbrochen werde, das Stück in drei Acte getheilt, aber M. nicht zuvor unterrichtet, der bereits nach der Schlegel'schen Eintheilung zwei Zwischenmusiken, Nr. 5 und 7 componirt hatte, die zu schön waren, um sie zu unterdrücken. Es musste also das Auskunftsmittel getroffen werden, dass bei dem Agitato in A moll die Darstellerin der Hermia das Suchen nach dem Geliebten in anziehender und abwechselnder Pantomime ausführte; bei dem Notturno E dur (Nr. 7) musste aber immerhin der langdauernde Anblick der schlafenden Liebespaare peinlich wirken und die Auskunft, welche Tieck traf, Versetzstücke von Buschwerk zur Deckung der Liebenden vorzuschieben, war etwas plump theatralisch und bedenklich dazu. (Devrient, Erinnerungen, S. 239.)

Trotz dieser kleinen Ausstellungen, von denen das grössere Publicum nichts bemerkte, gefiel der Sommernachtstraum mit seinem reizenden musikalischen Commentar der geladenen Versammlung, unter der natürlich auch M.'s Anverwandte waren, ausserordentlich. Fanny und M. selbst schrieben über diese Aufführung an Schwester Rebecka, die zu der Zeit gerade in Rom war, allerliebste ausführliche Briefe, die in Hensel die Familie M., Band III, S. 48–50 abgedruckt sind.

Am 18. October fand in Berlin die erste öffentliche Aufführung statt, der unter fortwährendem Beifall auch des grösseren Publicums häufige Wiederholungen folgten. Die Anforderungen, die an M. in dieser Zeit binnen wenigen Tagen gestellt wurden, waren aber in der That fast zu stark. Er sollte, nachdem er am 15. October, des Königs Geburtstag, also gleich nach der ersten Aufführung des Sommernachtstraums die Kirchenmusik im Berliner Dom geleitet hatte, und nachdem an demselben Tage die Medea des Euripides mit Musik vom Capellmeister Taubert in Scene gesetzt worden war, am 19. October schon wieder die Aufführung der Antigone im neuen Palais za Potsdam dirigiren! –

Mit der Uebersiedelung M.'s nach Berlin wurde es jetzt zu grosser Betrübniss seiner treuen Leipziger Ernst.[304] Der König hatte ihm nun dort einen bestimmten Wirkungskreis angewiesen, indem er die Leitung der Kirchenmusik im Dom, sechs grosser Concerte in der Singacademie und der Symphoniesoiréen der Berliner Capelle übernehmen sollte. Zum Dirigenten der Leipziger Gewandhausconcerte für diesen Winter war Ferdinand Hiller ernannt. M. leistete dem an ihn ergangenen Rufe nach Berlin jetzt wirkliche Folge, und siedelte dorthin mit Familie über, gönnte uns aber noch gar manchen freundlichen Abschiedsgruss. Im ersten Abonnementconcert spielte er noch ein mal sein reizendes G moll-Concert, und liess uns Lieder ohne Worte, sowie eine freie Phantasie über Thema's aus Euryanthe und über die grosse Arie der Rezia hören. In dem Concert zum Besten des Orchesterpensionsfonds am 30. October spielte er mit Hiller und Clara Schumann Bach's Tripelconcert; der letzte Abschiedsgruss aber, bei welchem ihm die bedeutendsten Musiker Leipzig's gleichsam das Ehrengeleit gaben, wurde uns in der Abendunterhaltung am 18. November zu Theil. Nachdem hier M. zuerst mit Herrn Wittmann eine neue Sonate von sich (D dur Op. 58) für Pianoforte und Violoncell, dann auch ein Trio (in D dur) von Beethoven für Pianoforte, Violine und Violoncell mit David und Wittmann unter lebhaftestem Beifall vorgetragen hatte, traten folgende Herren vor, um M.'s Octett auszuführen: Concertmeister David, Herr Klengel, Musikdirector Hauptmann, Musikdirector Bach (am Theater), Mendelssohn selbst, Niels W. Gade und die Herren Grenser und Wittmann. Schon als diese höchst stattliche musikalische Phalanx sich vorwärts nach den Pulten bewegte, wurde sie mit stürmischem Beifall begrüsst, der sich natürlich nach jedem Satze des Octetts wiederholte. Wenige Tage später reiste M. nach Berlin ab und wir sahen sein Angesicht einige Monate lang wirklich nicht mehr. Zu einigem Trost blieb uns eine englische, durch M. engagirte Sängerin, Miss Birch, welche seit dem fünften Abonnementconcert bei uns aufgetreten war, und zwar etwas kalt, wie die meisten englischen Sängerinnen, übrigens aber vortrefflich sang. Hiller behauptete den schwierigen Posten eines Dirigenten nach Mendelssohn, mit sehr beifallswerthem Streben. Als ein zwar streng genommen nicht hierher gehöriges,[305] aber in der Geschichte des Leipziger Musiklebens Epoche machendes Ereigniss darf nicht unerwähnt bleiben, dass am 4. December ein Hauptwerk des nach M. genialsten Componisten jener Zeit, Robert Schumann's »Paradies und Peri« zur Aufführung kam. Das romantisch-lyrische Drama, in welchem die schon mehrfach erwähnte liebenswürdige Künstlerin, Frau Dr. Livia Frege, die Peri mit wundervollem bis heute noch nicht übertroffenem Ausdruck sang, wurde am 11. December auf allgemeines Verlangen wiederholt. Am Schluss des Jahres aber, den 30. December, trat er selbst, der Hohepriester der Kunst in einem seiner neuesten Werke, wenn auch nicht sichtbar, doch hörbar und vernehmlich, vor uns. An diesem Tage wurde auf der Leipziger Bühne zum ersten male der Sommernachtstraum mit Musik von M. gegeben. Die äussere Ausstattung des Stückes war trotz der damals keineswegs glänzenden Mittel unseres Theaters, anmuthig und geschmackvoll. Die Befähigung der Darsteller reichte aber für manche einzelne Rollen nicht aus. Das Meiste war zu massiv aufgefasst und zu stark aufgetragen. Desto mehr musste sich die Aufmerksamkeit der Musik zuwenden. Man erkannte von neuem in ihr ein Stück von des Componisten tief eigenster Natur und genoss mit ihm das innige Behagen an den Gebilden eines duftig phantastischen Reiches, dem sich mit kecken Humor die Trivialität des wirklichen Lebens gegenüberstellt, die aber zuletzt besiegt von den höheren Gewalten der Poesie und Liebe, das Feld räumen muss. Diese Musik war eigentlich keine neue Schöpfung, es war nur die weitere Entfaltung der in der Ouvertüre schon gegebenen reizenden und sprechenden Motive. Das liebliche Elfengaukeln auf Blatt und Blüthe im Mondenschein, der täppische Handwerkerscherz, die Klage und Sehnsucht getäuschter Liebe, die Kraft des Heldenzeitalters und der festliche Pomp einer fürstlichen Hochzeit, es war ja dies Alles schon in der prächtigen Tonmalerei der fast 20 Jahre früher entstandenen Ouvertüre ausgedrückt und durfte nur für die einzelnen Scenen des Stückes selbst weiter ausgeführt und gehörigen Ortes angebracht werden; und das ist es, was der Componist mit unendlich feinem Tact und sinnigem Verständniss der[306] Dichtung gethan hatte. Als eigentlich neu dürften das allerliebste Scherzo Nr. 1 Allegro molto vivace B dur, der reizende Schlummergesang der Elfen für Titania, Nr. 3 in A dur, das Intermezzo, Allegro appassionato in A moll, Nr. 5 Hermia sucht Lysander, welches in bewundernswerther Weise Bach'sche Kunst mit Mendelssohn'scher Phantasie und Grazie vermählt, das köstliche Notturno in E dur Nr. 7, ein Nachtlied ohne Worte von wahrhaft südlichem Colorit, welches Titanien's Ruhe in der Grotte (leider mit Zettel!) begleitet, der überaus brillante und kräftige Hochzeitsmarsch Nr. 9 C dur, mit seinem reizenden Trio und als Gegensatz dazu der lächerlich burleske Trauermarsch in Nr. 10 beim Tode Thisbe's nur für Pauke, Fagott und Clarinette gesetzt, bezeichnet werden. Ausserdem darf aber auch die sehr wirkungsvolle Musik zu den Melodramen in Nr. 2 B dur, Nr. 6 E moll, Nr. 12 E dur, nicht übergangen werden, sowie zuletzt der wunderschöne Uebergang aus den verklingenden Tönen des Hochzeitsmarsches in das Elfenmotiv. Ueber letztern sagt Fanny in ihrem Briefe an Rebecka: »Das Schönste im ganzen Stück, das Einzige, was mir im Lesen niemals einen so ergreifenden Eindruck gemacht hatte, ist die letzte Scene, nachdem der Hof sich mit dem prächtigen Hochzeitsmarsch entfernt hat, der nun immer leiser und ferner wird und plötzlich in das Thema der Ouvertüre fällt, während zugleich Puck und die Elfen wieder denselben Baum betreten – ich sage Dir, das ist zum Heulen schön.« Und über das ganze Verhältniss der Mendelssohn'schen Musik zum Shakespeare'schen Stück bemerkt sie sehr treffend: »Wir sind aber auch wirklich mit dem Sommernachtstraum vollkommen verwachsen und namentlich Felix hat sich ganz denselben eigen gemacht, allen Characteren ist er gefolgt, alle hat er gleichsam nachgeschaffen, die Shakespeare in seiner Unerschöpflichkeit hervorgebracht. Von dem prachtvollen, wahrhaftig festlichen Hochzeitsmarsch bis zu der kläglichen Musik bei Thisbe's Tode, die wunderschönen Elfengesänge, Tänze und Zwischenacte, Alles, Menschen, Geister wie Rüpel, hat er vollkommen auf gleicher Linie mit Shakespeare in seiner Kunst hingestellt.« In gleichem Sinne erlaube ich mir aus eigener Wahrnehmung noch[307] hinzuzufügen: Es wäre vielleicht zu viel gesagt, wenn man behaupten wollte, das Gedicht selbst habe durch M.'s Musik noch gewonnen; denn eine Schöpfung Shakespeare's bedarf wohl keiner Verbesserung; aber das ist gewiss, die Auffassung des Gedichts hat unendlich gewonnen, die Musik, welche diese phantastischen Gebilde einer Sommernacht in Töne übersetzte, hat durch ihr liebliches Helldunkel sie vor dem grellen Lichte der heutigen Tageswelt geschützt und selbst prosaischen Gemüthern, die auch von der Poesie immer nur das Reale fordern, ihr Verständniss eröffnet.

In Berlin hatte unterdess M. seine Wirksamkeit mit der Direction der Symphoniesoiréen begonnen, und dabei, wie es scheint, viele Anerkennung gefunden. Eine Neuerung aber, welche in diese Soiréen, wohl hauptsächlich auf M.'s Veranlassung eingeführt werden sollte, erregte das Missfallen der an der alten Form hängenden Berliner Musikphilister. Es war von einer Seite her der Wunsch ausgesprochen worden, es möchten in diesen Soiréen nicht mehr blos Symphonieen und Ouvertüren, sondern auch Instrumental- und Vocalsoli's geboten werden, wobei man sich vielleicht die Leipziger Gewandhausconcerte zum Vorbilde nahm. In der ersten Soirée des zweiten Cyclus am 28. Februar 1844 trat daher Miss Birch, deren Engagement in Leipzig unterdess abgelaufen war, mit einer Arie auf und Concertmeister Ganz spielte ein Violoncellsolo. Aber es erhoben sich so viele Stimmen gegen diese Neuerung, dass man bald wieder zu der früheren Zusammensetzung des Programms zurückkehren musste. Von weiterer Thätigkeit M.'s wird noch gemeldet, dass er am Palmsonntag den 12. März auf den Wunsch des Königs Israël in Egypten aufführte. Seine eigenen Compositionen fanden auch in anderen preussischen Städten lebhaften Anklang. In Danzig wurde unter dem thätigen Musikdirector Markull der Sommernachtstraum zu Anfang des Jahres siebenmal hinter einander und im März die Musik zur Antigone mit verbindender Declamation gegeben, welche im April wiederholt wurde. In Breslau wurde zu Ostern der Paulus für einen milden Zweck aufgeführt. In Leipzig ging am 12. April wieder einmal Antigone[308] über die Bühne und zu gleicher Zeit empfingen wir die Nachricht, dass sie auch in ihrem Vaterlande, in Athen, natürlich in der Ursprache, begleitet von M.'s Musik in Scene gesetzt worden sei. Selbst in Paris wurde sie im Mai d.J. auf dem Odeontheater gegeben, nachdem ein deutscher Componist, Julius Stern, die Musik zuerst in einigen Privatzirkeln mit deutschen Sängerchören aufgeführt hatte. Es hiess in den Zeitungen, M. werde sie selbst dirigiren. Doch ist dies nicht wirklich geschehn, denn am 5. Mai schrieb man zwar aus Frankfurt: »M. ist seit einigen Tagen hier und wird nach Paris gehen, um die Aufführung seiner Antigone zu leiten, aber die gewiss höchst zuverlässigen Nachrichten seines Freundes Moscheles melden schon am 8. Mai seine Ankunft in London, wo er sich anheischig gemacht hatte, die bereits am 29. April begonnenen Concerte zu dirigiren. Auch spricht gegen die Anwesenheit M.'s in Paris der Umstand, dass die Aufführung der Antigone, besonders des musikalischen Theiles, nur sehr mittelmässig ausgefallen sein soll, was in seiner Gegenwart und unter seiner Leitung gewiss nicht der Fall gewesen wäre. Es ist sicher, dass M. die Weltstadt an der Seine seit seiner letzten Anwesenheit nicht wieder betreten hat. Als ein zur Antigonegeschichte gehöriges Curiosum sei hier gleich mit bemerkt, dass am 24. September d.J. die Schüler des Friedrich-Wilhelmgymnasiums in Berlin die Antigone mit M.'s Musik, aber gleichfalls, wie zu Athen, in der Ursprache aufführten. Auch Leipzig's Gymnasien sind diesem Beispiele, aber erst nach M.'s Tode einige mal gefolgt. Ende d.J. wurde das Stück auch auf dem Coventgardentheater in London einstudirt. Der aus 60 Personen bestehende Chor aber soll der Kritik wenig genügt haben.«

M. selbst führte in diesem Sommer 1844 wieder ein ausserordentlich bewegtes Leben. Nachdem er schon im Februar Leipzig mit einem flüchtigen Besuch erfreut, wobei er am 22. d.M., dem Orchester unbewusst, die Ausführung seiner A moll-Symphonie mit angehört hatte, kehrte er Mitte April zurück und half mit edler Bereitwilligkeit am 24. sogleich dem berühmten Violoncellisten Servais sein Concert schmücken, indem er mit ihm und David[309] Beethoven's B dur-Trio spielte. Von hier reiste er, wie schon erwähnt, über Frankfurt nach London, wo er seit seiner Ankunft am 8. Mai eine in der That fast unermessliche Thätigkeit entfaltete. Gleich am Tage der Ankunft probirte er mit Moscheles ein neues Werk, vierhändige Variationen in B dur. Am 13. Mai führte er im philharmonischen Concert seine Symphonie in A moll auf, am 14. spielte er Moscheles seine Musik zur Walpurgisnacht vor; am 19. spielte der damals noch sehr jugendliche Joachim, der schon in Berlin ein freudiges Aufsehen erregt hatte (jetzt bekanntlich der König der Geiger) in einer musikalischen Unterhaltung bei Alsager mit M. ein und Quartett und Quintett von des Letzteren Composition, und M. mit Madame Dulken (David's Schwester) eine der vierhändigen Polonaisen Beethoven's. Am 21. übertraf er sich selbst in einer herrlichen Phantasie bei Chorley, und am 23. phantasirten M. und Moscheles zusammen in einer Soiré bei Ayrton. Am 24. wurde ihm in einer Versammlung der Händel-Gesellschaft ein prachtvolles Exemplar der Londoner Ausgabe von »Israël in Egypten« überreicht. Am 27. Mai dirigirte er im 5. philharmonischen Concert seine Musik zum Sommernachtstraum, welche im 6. auf den Wunsch der königlichen Familie wiederholt werden musste und spielte im 7. am 24. Juni Beethoven's G dur-Concert mit vortrefflichen Cadenzen, sowie er auch am 28. Juni in Exeterhall seinen Paulus aufführte. Zwischen diese Hauptproductionen fallen noch eine Anzahl Concerte und Soiréen, in welchen er jedesmal mitwirkte. So spielte er am 1. Juni in Moscheles' Concert mit diesem und Thalberg Bach's Tripelconcert, welches am 10 Juni in einem zweiten Concert Moscheles' wiederholt wurde. Am 24. Juni spielte er in J.B. Cramer's Abschiedsconcert mit Moscheles Hommage à Händel, und in Ernst's Concert am 5. Juli nochmals Bach's Tripelconcert, aber diesmal mit Moscheles und Döhler, und accompagnirte Miss Dolby Schubert's Erlkönig. Endlich wirkte er auch in einem von Jiulius Benedict veranstalteten Riesenconcert mit, welches uns zugleich einen Begriff von der ungeheuren musikalischen Receptivität der Engländer giebt. Es wurden darin nicht weniger als 38 Piècen aufgeführt. Die[310] ausübenden sich producirenden Künstler waren ausser M. die Grisi, die Shaw, die Tenoristen Mario und Salvi, die Bassisten Lablache und Staudigl, die Pianisten Madame Dulken und S. Thalberg, die Violinisten Camillo Sivori und Josef Joachim und der Harfenvirtuos Parish-Alvars. Besonders gefiel ein Trio, Nocturne et Valse brillante, ausgeführt von Jul. Benedict und Mad. Dulken. Am 8. Juli wurde im 8. philharmonischen Concert zum ersten mal die Walpurgisnacht gegeben und am 9. spielte M. in einer Abschiedssoirée bei seinem Freunde Klingemann die Variations sérieuses (Op. 54) und mit Moscheles jene von beiden Künstlern zusammen componirten Variationen über Preciosa, sowie er auch der Frau Gräfin Adelaide Sartorius, geb. Kemble, einige seiner Lieder accompagnirte. Der englische Correspondent der Leipziger neuen Zeitschrift für Musik sagt über diesen Aufenthalt M.'s in London: »M's. Erscheinen im vierten philharmonischen Concerte, wie in der Probe gab Veranlassung zu dem unbeschreiblichen Lärm und Jubel, wie ihn wohl nur die Engländer zu machen im Stande sind. Wer hätte aber auch nicht einstimmen sollen in die dem so feingebildeten liebenswürdigen Manne, als grossen Künstler gebrachte Huldigung? Seine Leitung brachte sogleich eine grosse Veränderung der Dinge hervor ... Auf das Orchester hatte seine energische Leitung den entschiedensten günstigen Einfluss; seine Leistungen erreichten einen Grad der Vollkommenheit, der vorher nie gekannt, auch schwer zu bewahren sein dürfte.« Ein anderer Correspondent in den Signalen fügt hinzu: »M. ist schon für das folgende Jahr für alle Concerte der philharmonischen Gesellschaft gewonnen. Es sollen verschiedene alte Herren der Notabilität dagegen gewesen sein, weil sie dadurch in ihrem gewohnten Eckenschläfchen gestört würden. Aber seit M.'s Zauberstab die erschlafften Orchestergeister belebte, donnern seine Harmonieen durch alle Räume, unbekümmert um die Harmonieen der Eckenprivilegien.« Endlich schreibt auch Klingemann als Ohren- und Augenzeuge in der Nachschrift zu einem Briefe M.'s aus London vom 18. Mai an Rebecka:


[311] »Als Künstler hat hier nie ein Fremder eine Stellung gehabt, wie Felix, sie ist so nobel und rein und sein mächtiger stiller Wille trägt ihn so sicher und triumphirend durch allen Rauch und alle Nebel in die klaren Regionen; alle, auch die Philister, fühlen das, und Alles respectirt und würdigt, Jeder in seiner Art und Weise die Kraft, die Jeder erkennt ... Warum sind Sie nicht einmal dabei gewesen, wie Felix empfangen wird. Es würde Ihr schwesterliches Herz erquicken, und thut einem simpeln Zuschauer wohl. So war es im ersten Philharmonic-Concert, was er dirigirte. Alles, Orchester wie Zuhörer, hatte solches Leben bekommen, sie spielten seine A moll-Symphonie schöner, als je vorher, und die Anderen hörten andächtiger und genossen jauchzender, als je ... sie mögen den Propheten und Magier merken, und sich mit leisem Schauder, unbewusst, zu ihm hingezogen fühlen.«


Am 10. Juli reiste M. von London ab, aber nur, um sofort einer neuen Thätigkeit zuzueilen. Er hatte versprochen, das Pfälzische Musikfest zu dirigiren, welches diesmal am 31. Juli und 1. August in Zweibrücken stattfand und dessen Programm am ersten Tage Paulus, am zweiten Beethoven's B dur-Symphonie, die Walpurgisnacht und Marschner's Bundeslied enthielt. Sein Directionstalent, wie Geist und Form seiner Wirksamkeit erregten hier wie überall den grössten Enthusiasmus. Den Verlauf und Erfolg seines dortigen Wirkens beschreibt er selbst sehr heiter und anmuthig in einem Briefe an Schwester Fanny vom 15. August von Soden aus, wo er mit Gattin und Kindern wieder zusammengetroffen war (Briefe, II. Theil, S. 419–24). Im September fand er sich wieder in Frankfurt mit seinem Freunde Moscheles zusammen, in dessen Concert am 25. d.M. er mit ihm Hommage à Händel spielte. Im Bad Soden, wo inzwischen M.'s Gattin mit den Kindern gelebt hatte, spielte M. Moscheles ein neues Violinconcert in E moll (Op. 64) natürlich nur auf dem Clavier andeutend, vor. Mit diesem für seinen Freund David geschriebenen Werke hatte sich M. schon lange getragen. Es war dasselbe, mit welchem uns David im letzten Abonnementconcert der Saison 1844–45 in Leipzig bekannt machte. Von Frankfurt aus drang nach Leipzig die Kunde, M. wolle in diesem Winter in Frankfurt leben. Und so geschah es auch. Doch musste sich M. erst von seinen[312] Verpflichtungen in Berlin lösen. Dorthin reiste er jetzt, sowohl auf der Hin- wie auf der Rückreise Leipzig berührend. Die Direction der Gewandhausconcerte in Leipzig wurde dem schon oben genannten Niels W. Gade übertragen, dessen Name bereits durch seine am 2. März in Leipzig aufgeführte C moll-Symphonie, sowie seine Ouvertüre Klänge aus Ossian, einen sehr guten Klang erlangt hatte. M. dirigirte in Berlin erst noch einige Symphoniesoiréen. Am 31. October wurde die erste dieser Soiréen mit Beethoven's B dur- und Haydn's Es dur-Symphonie, so wie den Ouvertüren zur Zauberflöte und zum Wasserträger ausgefüllt, während an demselben Tage in Leipzig M.'s Lobgesang gegeben wurde. Die zweite Soirée am 14. November, zugleich die letzte, die M. dirigirte, brachte die Symphonie von Spohr, Nr. 2 D dur, die C moll von Beethoven und die Ouvertüren zu Coriolan und Euryanthe. Ueber M.'s Direction dieser Soiréen sprach man sich damals in Berlin mit der grössten Anerkennung aus. »M.«, schreibt der Berliner Correspondent in der oft genannten Zeitschrift, »behandelt das Orchester, als wenn er ein Instrument unter den Händen hätte. Er spielt dieses Rieseninstrument mit einer Präcision, einem Feuer, das nichts zu wünschen übrig lässt. Von der glänzendsten Kraft bis zum zartesten Verschweben der Töne tritt Alles klar, innig und seelenvoll hervor.« Trotz dieser wachsenden Anerkennung nicht nur einer verständigen Kritik, sondern auch gewiss des grösseren Theiles des Publicums fühlte sich doch M. unbehaglich in einer Stellung, die ihn in seiner Unabhängigkeit beschränkte und doch keinen eigentlich bestimmten Wirkungskreis gewährte. In der Mitte dieses Monats begehrte M. vom König von Preussen seinen Abschied. Er erhielt ihn in den gnädigsten und ehrenvollsten Ausdrücken, unter Belassung seines Titels als Generalmusikdirector und eines ansehnlichen Theiles seines Gehaltes, den ihm der König fast aufnöthigte, nur unter der Bedingung, dass er auf seinen besonders ausgesprochenen Wunsch zuweilen nach Berlin komme und etwas von sich aufführen möchte. M. sprach sich über diese Gestaltung seiner Verhältnisse in einem Briefe an Devrient, der jetzt in Dresden angestellt war, von Berlin aus geschrieben, folgendermaassen aus:


[313] »Meine hiesige Stellung hat sich seit einigen Tagen ganz nach meinen Wünschen, und so angenehm, wie ich nur hoffen konnte, entwickelt. Ich bleibe in meinem Componisten-Verhältniss zu dem Könige, werde auch ein mässiges Gehalt dadurch beziehen, bin aber ausserdem all' meiner Verpflichtungen für das hiesige öffentliche Musikwesen, meiner Anwesenheit in Berlin, kurz alles dessen, was mich seit so lange quälte und drückte, los und ledig. In kurzer Zeit denke ich zu den Meinigen in Frankfurt zurückzukehren und zum Besuch so oft als möglich, bleibend aber niemals wieder nach Berlin zu kommen. Sogar meine Geschwister werde ich dadurch besser sehen und geniessen, als das in diesem unbeschreiblichen Orte möglich ist, sobald ich ihn bewohnte, und somit ist Alles so wie ich mir gewünscht hatte, und wie es nur durch ein besonders glückliches Zusammentreffen zu erreichen war.«


Der Schlussact von M.'s Thätigkeit in Berlin war für diesen Winter die Aufführung des Paulus, die er auf Verlangen des Königs am 28. Nov. noch einmal in der Singacademie leitete. Dann begab er sich über Leipzig nach Frankfurt, um in seiner Weise eine Zeit lang auszuruhen, d.h. zurückgezogen von öffentlichen Leistungen, nur seinem Berufe als Componist zu leben. Wer ihm bisher auf dem vielfach verschlungenen Pfade seines bewegten Lebens gefolgt war, musste ihm diese Ruhe recht von Herzen gönnen. Noch ist von seiner Compositions-Thätigkeit in diesem Jahre zu melden, dass er auf Veranlassung des Königs von Preussen einen Theil der Musik zu Racine's Athalia, nämlich die Ouvertüre in D moll und Marsch der Priester, F dur, (als Op. 74 zuerst in London erschienen), vermuthlich schon im Anfang d.J. geschrieben hat, nachdem er bereits im J. 1843 die Chöre zu demselben Stück einstweilen nur für weibliche Stimmen mit Pianofortebegleitung componirt hatte. Ausserdem componirte er noch die Hymne »Hör meine Bitte« für eine Sopranstimme, Chor und Orgel, vier Sonaten für Orgel, zwei Psalmen, den. 43. und 22., für achtstimmigen Chor, das fünfte Heft Lieder ohne Worte, und mehrere Hefte Lieder für zwei und vier Stimmen, theils Männerstimmen, theils gemischten Chor, unter ersteren das so beliebt gewordene »Maiglöckchen läutet in dem Thal«, unter letzteren »Wem Gott will rechte Gunst erweisen«. Man sieht, schon eine reiche Frucht der ihm[314] gewordenen Musse. Nicht minder dürfen wir aber wohl in diese Zeit die Conception und die ersten Anfänge zu seinem Oratorium, Elias, mit welchem er sich schon, wie bereits erwähnt, seit dem Jahr 1838 trug, zu der Musik zu Oedipus auf Kolonos, und endlich die Composition des grossen Trios in C moll (Op. 66) setzen. Als ein ärgerliches Curiosum mag hier noch erwähnt werden, dass der König Friedrich Wilhelm IV. von Preussen (Gott weiss, wer ihm das in den Kopf gesetzt), durchaus verlangte, M. solle auch die Oresteia des Aeschylus: Aganemmon, die Coëphoren und die Eumeniden in Musik setzen. Zuerst handelte es sich nur um die Musik zu den Eumeniden, nachher aber zu einer aus den drei Stücken in eines zusammengezogenen Darstellung. Wer die wuchtigen Gedanken, aber auch die rauhe ungelenke Sprache in den Stücken des Aeschylus kennt, kann sich keinen Augenblick darüber wundern, dass M. Beides ablehnte. Der König war darüber sehr ärgerlich, beruhigte sich aber endlich. Doch hatte M. viel Verdruss davon, und auch dadurch wurde ihm die dienstliche Stellung in Berlin verleidet. Die verdriessliche Angelegenheit, die bis in den März des Jahres 1845 hineinspielte, ist dargestellt in dem Briefwechsel zwischen den Herren Geheimräthen Bunsen und Müller einer- und M. andererseits, abgedruckt in den Briefen II. Theil, S. 410–17 und S. 442–446.

In Leipzig war unterdessen auch in M.'s Abwesenheit unter Gade's Direction und David's Mitwirkung das Musikleben in seinem Geiste fortgeführt und sehr häufig auch durch seine Compositionen genährt worden. Ausser der schon erwähnten Aufführung des Lobgesanges wurden die Ouvertüren zu den Hebriden und zu Meeresstille und glückliche Fahrt, und im Neujahrsconcert der 95. Psalm geboten. M.'s G moll-Concert wurde zweimal von auswärtigen Virtuosen (Mortier de Fontaine und Emile Prudent) gespielt. Am 25. Januar wurde abermals das Octett wiederholt und am 27. Februar die Walpurgisnacht aufgeführt. In demselben Concert hörten wir auch die zwei herrlichen vierstimmigen Lieder à capella von M. »Wenn im letzten Abendstrahl« und »Durch schwankende Wipfel« aus Op. 59. Ebenso in dem am 8. März von Emil Prudent gegebenen[315] Extraconcert zwei von den 6 zweistimmigen Liedern Op. 63, unter denen vorzüglich das »Maiglöckchen läutet in dem Thal« lebhaft ansprach. War der weibliche Sologesang in diesem Winter etwas dürftig vertreten, so hatten wir dafür eine um so glänzendere Saison für die Violine. So spielten unter andern am 25. November 1844 die Herren Ernst, Bazzini, Joachim und David das Concertante für 4 Violinen von Maurer, ein Zusammenwirken von vier Virtuosen ersten Ranges, welches in der That einzig zu nennen war. Den grössten Genuss aber bereitete uns David in dem letzten Concert dieser Saison am 13. März 1845 durch den überaus vollendeten und gediegenen Vortrag des Mendelssohn'schen Violinconcerts, welches seit Beethoven und Spohr wohl die schönste Composition für dieses Instrument, wie ein reizender Frühlingsgruss des Meisters zu uns herüberklang. M. hatte über dieses Concert mit dem Freunde brieflich viel verhandelt und oft gleich ganze Figuren und Cadenzen in die Briefe gar zierlich hineingeschrieben. Jetzt erschien es durch Geist und Vortrag als höchst vollendetes Kunstwerk. Noch ist dieser Schilderung des Leipziger Musiklebens hinzuzufügen, dass den höchst würdigen Schlussstein dieser künstlerischen Bestrebungen eine sehr wackere Aufführung der grandiosen Missa solemnis von Beethoven am Charfreitage 1845 in der Paulinerkirche bildete.

Im nächsten Winter 1845–46 sollte dann dieses Musikleben unter des Meisters eigener Leitung wieder auf das schönste erblühen. Schon im Frühling verbreitete sich die Kunde, M. und Moscheles würden jetzt vereint ihre Kräfte dem Conservatorium widmen. Eine andere Nachricht lautete, M. sei eingeladen, zuerst das grosse Sängerfest in Würzburg zu dirigiren, was er jedoch nicht angenommen hat. Anfang August langte er, zur grossen Freude Leipzig's, wieder in unsern Mauern an, und man durfte hoffen, er werde wiederum seinen dauernden Aufenthalt bei uns nehmen. Die Concertsaison versprach höchst glänzend zu werden. M. und Gade sollten die Concerte gemeinschaftlich leiten, Miss Dolby, welche M. bei seinem letzten Aufenthalt in England kennen gelernt, war als Solosängerin gewonnen, und sogar Jenny Lind hatte ihre Mitwirkung für einige Concerte zugesagt. Ohne die Genüsse dieses[316] Winters, was mir die Leser Dank wissen werden, alle einzeln aufzuzählen, will ich nur in aller Kürze das Wesentlichste erwähnen. Am 23. October dirigirte M. zum zweiten male Robert Schumann's B dur-Symphonie (allerdings wohl, wenn nicht die edelste, so doch eine der edelsten Perlen der neueren Instrumentalmusik), und lieferte damit einen thatsächlichen Beweis, mit welcher Pietät er auch gegen die Werke solcher lebenden Künstler verfuhr, die eine niedrige Gesinnung als seine Rivalen bezeichnete. Unter Schumann's eigener Direction wäre dieses edle Product seiner Muse schwerlich mit solcher Klarheit und so präcis ausgeführt hervorgetreten. An demselben Abend erfreuten wir uns auch abermals an M.'s Violinconcert, welches David, inspirirt durch die Gegenwart seines Freundes, womöglich mit noch grösserer Vollendung als das erste mal vortrug. (Später am 3. October 1846 versuchte sich daran auch Joachim.) Im 8. Abonnementconcert am 4. December 1845, erschien sie nun wirklich, die Königin des Gesanges, die unvergleichliche Zauberin, welche in ihren Glockentönen mit der Keuschheit und Zartheit des Nordens die Gluth und Innigkeit des Südens verschmolz. Sie sang im ersten Concert die »Casta diva« aus Norma, mit Miss Dolby das Duett aus Romeo und Julie, Recitativ und Arie aus Don Juan »Ich grausam, o mein Geliebter«, und die beiden Lieder von M. »Auf Flügeln des Gesanges« und »Leise zieht durch mein Gemüth«. Das letzte besonders ist nie so schön gesungen worden und wird auch nie wieder so schön gesungen werden. In diesem Concert spielte Joachim. In dem zweiten unmittelbar darauf am 5. December von Jenny Lind zum Besten des Orchesterwittwenfonds gegebenen Concerte sang sie Scene und Arie aus Figaro, Scene und Arie aus dem Freischütz, Partie des Finale aus Euryanthe und schwedische Lieder. M. spielte sein G moll-Concert und ein Lied ohne Worte, Nr. 6 aus Heft 5. Es war höchst interessant, den grössten productiven Künstler und die grösste ausübende Künstlerin der Gegenwart, den Tondichter, der selbst ohne Worte sang, und die Sängerin, die den Gesang wieder zum Gedicht umschuf, so vereint wirken zu hören. M. hielt, wie er nicht anders konnte und durfte, auf die Lind grosse Stücke. Er weidete sich[317] am Enthusiasmus des Publicums und auch an dem unsrigen, den wir gegen ihn aussprachen. »Ja,« sagte er mit drolliger scheinbarer Trockenheit, »es ist eine sehr brave Person.« Wollte man sich die Mühe nehmen, diesen allerdings sehr absichtslos gesprochenen Worten einen besonderen Sinn unterzulegen, so könnte er damit den tiefen sittlichen Ernst, die Reinheit und Keuschheit, womit Jenny Lind die Kunst behandelte, bezeichnet haben. Sie war darin allerdings mit ihm sehr verwandt. Zu einem Aufsatze, den damals ein enthusiastischer Bewunderer der Lind in die deutsche allgemeine Zeitung geschrieben, und den nüchterne Seelen als übertrieben schwärmerisch tadelten, meinte M. ganz ernsthaft: »Gar nicht zu viel gesagt.«

In Berlin traten inzwischen zwei sehr bedeutende Werke M.'s an's Licht, die er auf Veranlassung des Königs von Preussen geschaffen hatte, die Musik zum Oedipus auf Kolonos und die zur Athalia. An beiden ziemlich heterogenen Stoffen, dem einen aus dem Sagenkreis des classischen Alterthums, dem andern aus der Geschichte des alten Testaments entlehnt, arbeitete er nicht in einem Zuge, sondern in verschiedenen Zwischenräumen und an den Orten Leipzig, Berlin, Frankfurt von 1842–45, war aber mit beiden bis zum März 1845 zum Abschluss gekommen. Ueber den Anfang und Fortgang der Musik zu Oedipus auf Kolonos finden wir die erste Andeutung in einem Briefe M.'s an Klingemann aus Leipzig, den 23. November 1842, worin er von seinen gegen den König von Preussen übernommenen Verpflichtungen spricht: »jetzt habe ich z.B. Musik zum Sommernachtstraum, zum Sturm und zum Oedipus auf Kolonos zu liefern;« dann ebendaher an seine Mutter, den 28. November 1842: »Den Sommernachtstraum und den Oedipus wälze ich täglich schneller im Kopfe herum;« an seinen Bruder Paul, Leipzig, 21. Juli 1843: »Zugleich hatte ich mich erklären sollen,« (gegen Herrn v. Massow im Auftrag des Königs) »wie weit ich mit dem Oedipus sei. Ich habe geantwortet, dass ich Tieck's Wünschen gemäss den Sommernachtstraum zur Aufführung im neuen Palais bearbeitet hätte, dass ich dann zur Athalia, auf speciellen Auftrag des Königs, Chöre geschrieben hätte und dass ich die Chöre des Oedipus seit vorigem Herbst[318] nicht wieder vorgenommen hätte, weil man ein anderes griechisches Stück zur Aufführung bestimmt habe.« (Vielleicht die Medea des Euripides mit der Musik von Taubert?) An den geheimen Cabinetsrath Müller, der ihm immer noch zusetzen sollte, die Musik zur Oresteia des Aeschylos zu componiren, schrieb M. unter'm 12. März 1845: »Indem ich Ew. Excellenz bitte, dies Sr. Majestät mitzutheilen« (die ausserordentliche Schwierigkeit einer derartigen Composition), »bitte ich Sie zugleich, der drei Compositionen von mir Erwähnung zu thun, die auf Befehl Sr. Majestät bereit liegen, nämlich der Oedipus zu Kolonos des Sophocles, die Racine'sche Athalia und der König Oedipus des Sophocles. Beide ersteren liegen in vollständig fertiger Partitur vor, so dass es zu deren Darstellung nur der Vertheilung an die Sänger und Schauspieler bedarf. Auch die letztere (der König Oedipus) ist im Entwurf fertig.« Müller antwortet darauf unter'm 19. März: »Seine Majestät bedauern, dass Allerhöchstdieselben auf die Freude, die Aeschylei'schen Chöre von Ihnen componirt zu sehen, Verzicht leisten müssen, freuen sich aber der vollendeten Sophoclei'schen Trilogie, sowie auf die Chöre der Athalia und sehen Allerhöchstdieselben Ihrer hiesigen Anwesenheit im bevorstehenden Sommer entgegen, da Sie die Bekanntschaft dieser neuen Compositionen nur unter Ihrer Direction machen wollen.« König Oedipus scheint aber doch nur im Entwurf geblieben zu sein. Es fehlen darüber alle weiteren Nachrichten, ist auch nichts von der Composition jemals gedruckt worden. An seine Schwestern schreibt M. am 25. März 1845 aus Frankfurt, nachdem er in sehr launiger Weise über eine Darstellung der Antigone im Covent-Garden-Theater in London berichtet: »Trotz alledem haben sie bei mir anfragen lassen, wann sie den Oedipus geben könnten, weshalb ich sie an den König von Preussen verwiesen habe. Meine Partitur ist seit einigen Tagen fix und fertig und wenn mir die Musik so lieb bleibt, als sie es jetzt ist, so denke ich, sie wird Euch auch gefallen, wenn ich sie Euch in Soden vortrommle.« Endlich auch in einem Briefe an Devrient, Frankfurt den 26. April 1845: »So habe ich denn mancherlei Neues gemacht, zuletzt ein Trio für Piano mit Violine und Bass,[319] auch wieder eine Symphonie angefangen und mancherlei Gesangsachen; auch ein neues Heft Lieder ohne Worte kommt in diesem Jahre heraus und sechs Sonaten für Orgel. Auch die Chöre zum Oedipus in Kolonos sind fertig und hoffentlich viel besser, als die zu Antigone.«

Am 1. November 1845 wurde Oedipus auf Kolonos mit Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy zum ersten mal im neuen Palais zu Potsdam, am 10. November im Schauspielhause zu Berlin aufgeführt. In Leipzig hörten wir das Werk bei M.'s Lebzeiten nicht. Dagegen wurde die Musik unter Julius Rietz' Direction zum ersten male im Orchesterpensionsfondsconcert am 25. Februar 1850 im Gewandhaus gegeben, wiederholt noch in Extraconcerten am 30. Januar 1855 und am 4. Februar 1873; ausserdem noch die beiden Chöre »Ach wär ich, wo bald die Schaar« und »Zur rossprangenden Flur, o Freund«, in einem Abonnementconcert am 10. Januar 1856 gegeben.

Nachdem wir so das Chronologische des Anfangs, Fortgangs und der Vollendung eines der bedeutendsten Werke M.'s thunlichst festgestellt, erübrigt uns noch, einige betrachtende Blicke auf den Inhalt und Gang des Stücks zu werfen. Wer oder was ist Oedipus auf Kolonos? Ich fürchte, nur die classisch Gebildeten unter meinen Lesern, und vielleicht auch diese nicht alle, werden auf diese Frage eine deutliche Antwort haben, und doch ist es ohne diese Antwort nicht möglich, den Geist der Mendelssohn'-schen Musik zu verstehen. Antigone ist schon bekannter. Oedipus aber ist meines Wissens ausser der Berliner Bühne auf keine andere gekommen.


Oedipus auf Kolonos (gedichtet von dem Athener Sophocles, geb. in Kolonos 495, † 406 v. Christo, der nach der Schlacht von Salamis als der schönste Jüngling den Siegesreigen vortanzte) ist die zweite Tragödie in der Trilogie, König Oedipus, Oedipus auf Kolonos, Antigone. Oedipus, Sohn des Lajus, Königs von Theben, wurde von seinem Vater an den Füssen verstümmelt und auf dessen Befehl auf dem Waldgebirge Kithäron ausgesetzt, weil dieser ein Orakel empfangen hatte, dass der Sohn ihn umbringen werde. Ein Hirt fand den Oedipus dort und brachte ihn zum Könige von Korinth, Polybus, dessen kinderlose Gemahlin den Knaben mit Freuden aufnahm und erzog. Herangewachsen, befragte Oedipus das Orakel,[320] wer seine Eltern wären, erhielt aber die Antwort, er solle die heimathlichen Fluren vermeiden, sonst würde er seinen Vater tödten und seine Mutter heirathen. Oedipus verliess desshalb Korinth und wandte sich nach Theben. Unterwegs begegnete er seinem wirklichen Vater, und da die Wagenlenker in Streit geriethen, in den die Fürsten sich mischten, erschlug Oedipus unwissend den Vater. In Theben angekommen, befreite er die Stadt von einem gefährlichen Ungeheuer, einer Sphinx, die jedem Vorübergehenden ein Räthsel aufgab, und wenn er es nicht löste, ihn vom Felsen herabstürzte. Oedipus löste das Räthsel und erhielt die ausgesetzte Belohnung, den Königsthron und die Hand der Königin Wittwe, seiner Mutter, die ihm noch vier Kinder, die Söhne Eteokles und Polynices, und die Töchter Antigone und Ismene gebar. So erfüllte sich an dem unglücklichen Oedipus auch der zweite Theil des furchtbaren Orakels. Als er es erfuhr, stach er sich beide Augen aus, nachdem er die Gemahlin Mutter an ihrem Bett erhängt gefunden hatte. So weit König Oedipus.


Unser Stück beginnt nun damit, dass der blinde Greis, geführt von der treuen Tochter Antigone, irrend von Land zu Land auf Kolonos bei Athen ankommt. Kolonos ist ein Gebiet mit einem Hain, der den Eumeniden (den Rächerinnen jedes Unrechts) und dem Gott Poseidon geweiht ist. Kein Sterblicher, ausser den opfernden Priestern, soll den geheiligten Boden betreten. Oedipus aber fleht die Greise, Bewohner von Kolonos, die auf ergangene Anzeige eines Koloners kommen, ihn zu suchen, an, ihn dort zu lassen, weil ihm der Geist des Orakels sagt, dass er hier das ersehnte Ende, »der Stunden letzte, die ihn aus dem Leben führt«, finden wird. Antigone verbindet sich seinem Flehn. Inzwischen ist auch die andere Tochter Ismene aus Theben zu rührendem Wiedersehen gekommen. Die Greise, von schmerzlichem Mitleid bewegt, nachdem sie den Namen und das furchtbare Missgeschick des Fremdlings erfahren, wollen ihn nicht vertreiben, legen aber die Entscheidung in die Hände des Königs Theseus von Athen, der auf den Wunsch des Oedipus herbeigerufen, alsbald erscheint und dem Unglücklichen seinen Schutz fest zusagt. Nachdem er sich entfernt hat, singt der Chor der Greise begeistert das Lob des von Poseidon und Athene so reich gesegneten Ortes. Kaum aber hat er geendet, so erscheint als böser[321] Störenfried Kreon, jetzt König von Theben, der, nachdem die Brüder Eteokles und Polynices, seine Neffen, sich entzweit, die Herrschaft an sich gerissen hat; er kommt mit Gefolge und will, nachdem dieses schon die Töchter des Oedipus entführt hat, auch ihn selbst mit Gewalt fortführen. Da erscheint Theseus wieder, zwingt Kreon, ihn dorthin zu begleiten, wo die Töchter sind und verheisst sie zurückzubringen. Der Chor der Greise, der ihn nicht begleiten kann, stimmt ein freudiges Kampflied an, und fleht für Theseus zu den Göttern Zeus, Athene, Apoll und Artemis um Sieg. Theseus kommt denn auch alsbald mit den Töchtern zurück. Jetzt erscheint nun auch noch Polynices, der ältere Sohn, den der jüngere, Eteokles, aus Theben vertrieben und der jetzt die sieben Fürsten gegen die Vaterstadt und den eigenen Bruder heranführen will. Er erlangt aber nur des Vaters Fluch und die Weissagung, dass beide Brüder sich gegenseitig im Zweikampf tödten werden. Er geht ab, die Götter bittend, dass nimmer die Schwestern ein Leiden treffe, »denn Alle wissen's, ihr verdient kein trübes Loos.« Nun aber ist auch das Ende der Leiden des armen Dulders gekommen. Zeus ruft ihn wiederholt unter starken Donnerschlägen. Dem Rufe gehorchend, steigt er schmerzlos und sanft zum Hades hinab. Der Ort, wo sein sterbender Leib ruht, ist heilig und verleiht dem Lande, so lange er dort liegt, unzerstörbaren Frieden. Theseus verheisst den Schwestern alles, was fortan ihnen zuträglich erscheint und was jenen erfreut, der drunten im Grab nun wohnt, und der Chor der Greise schliesst mit den versöhnenden Worten: »So lasst denn ab, und der Klag' Ausruf weckt länger nicht mehr: dies Wort ist heilig und wahrhaft.«

Dies also der hochtragische, unserm modernen Gefühl allerdings theilweise sehr widerstrebende Stoff, in welchem jedoch auch Momente sind, die sich zur musikalischen Behandlung wohl eignen: der arme blinde Greis, der sein unverschuldetes Unglück nicht unmässig bejammert, sondern nur lebensmüde das Ende herbeisehnt, die rührende Treue der Töchter namentlich der Antigone, das Mitleid des Chores der Alten, der Edelmuth des Theseus, der Conflict mit dem hartherzigen Kreon, der Kampfesmuth,[322] der diesen Conflict siegreich löst, die Heimrufung des edlen Dulders unter Donner und Blitz zu den versöhnten Göttern, dies alles waren wohl Situationen, die dem Componisten zur Lösung der Aufgabe die rechte Stimmung verleihen konnten, und er hat sie gelöst, dem tragischen Stoffe angemessen, würdig, lebendig, gross und edel. Ohne der Musik, die als Op. 93, Nr. 22 der nachgelassenen Werke im Druck erschienen ist, in alle Einzelnheiten nachzugehen, sei es nur gestattet, auf einige der wichtigsten Punkte darin hinzuweisen. M. schrieb keine Ouvertüre zu dem Stück, sondern nur eine Introduction, die in 13 Tacten, in gehaltenen Accorden, anhebend in D moll, schliessend mit A dur, würdig vorbereitet auf »das grosse gewaltige Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt«. Von da ab schweigt die Musik, dem Dialog zwischen Oedipus und Antigone, zu denen sich noch ein Bewohner von Kolonos gesellt, freien Lauf lassend, bis der erste Chor auftritt mit den Nr. I. in A moll zweistimmig von Tenören und Bässen gesungenen Worten: »O schau, er entfloh, wer nur war's? Wo weilt, entschwunden, gescheucht von dieser Stätte der schamlose, der freche Mann?« Ihm erwidert der zweite Chor: »Blick' um rings, schau nach ihm, send' allhin Deinen Ruf.« Worauf wieder der erste Chor: »Als Flüchtling umher schweift er, der Alte, rings fremd hier, denn er beträte sonst nie der schreckengerüsteten Jungfraun nimmer betretenen Hain« .... Dann folgt ein Solo: »Und nun sagt man, erkühnt ein Frevler sich daher zu kommen: ich spähe nach ihm in dem ganzen Bezirk und vermag noch nicht zu ersehn ihn, wo er verweile,« worauf Oedipus mit dem gesprochenen Wort hervortritt: »Hier ist er! Aus Euren Stimmen vernahm ich Euer Begehr.« Der Chor singt bei dem plötzlichen Anblick des blinden Greises: »O Graun, o Graun! Mir graut vor dem Anblick, graut vor dem Wort,« und nun entwickelt sich in wechselndem Gesang des Chors und gesprochenen, meist melodramatisch begleiteten Worten des Oedipus eine lebhafte Scene, die mit einem wunderschön vierstimmig gesetzten von beiden Chören gesungenen Chor abschliesst: »Fleuch, ein Fremdling im fremden Land, Unglückseliger, was der Stadt missfällig[323] ist, als, hassenswerth, was sie verehrt, verehre.« Ein angenehmer Satz in A dur begleitet melodramatisch die gesprochenen Worte der um Mitleid für sich und den Vater flehenden Antigone. Nr. Ib ein kurzes Allegro non troppo in dem hellen D dur verkündet das Herannahen der Ismene. Dann folgt wieder in Nr. II ein recht zart gehaltener erst zwei-, dann vierstimmiger Chor in D moll: »Grausam ist es, o Freund, wecken ein Leid, welches bereits lange geschlummert: und doch zu vernehmen wünsch' ich, welch' herbes, welch' schmerzliches Graunverhängniss, Unglücklicher, Dich umstrickt hält.« Oedipus enthüllt nun, oft unterbrochen von Ausrufen und Zwischenfragen des Chors, in melodramatisch begleiteten Worten sein grausiges Schicksal. Ein Allegro tranquillo in F dur kündet das Nahen des edlen Theseus an, und nachdem dieser im längern Dialog mit Oedipus Schutz versprochen, tritt einer der Glanzpunkte, wo nicht der Glanzpunkt der ganzen Musik ein, in hellleuchtendem F dur des Allegro tranquillo, welches das Motiv des vorigen wieder aufnimmt, der prachtvolle Chor Nr. IV, in dessen Worten der Dichter selbst die Herrlichkeit der vaterländischen Flur, die ihn gebar, schildern wollte. In feierlicher Pracht preist der Gesang des Chors, in einfachen Rhythmen und sanfter gefälliger Melodie einherschreitend, begleitet von vollen Accorden, des Landes besten Wohnsitz, »das glanzvolle Kolonos, wo häufig die Nachtigall in helltönenden Lauten klagt, wo weinfarbiger Epheu rankt, Narcisse und Krokus blühn, wo Bachus und Cythere wohnen, wo der blauschimmernde friedenspendende Oelbaum blüht, Athene's Geschenk, vom ewig wachen Blick des Zeus behütet, wo der grosswaltende Meergott dem Rosse den wuthstillenden Zügel zuerst umwarf und auf dem Meer das schnellrudernde Schiff die Nereiden hundertfüssig umtanzen.« Sind schon die poetischen, so wohllautenden Worte an sich Musik, der Zauber der Mendelssohn'schen Muse hat sie noch verklärt. Einen besseren Interpreten seines Preisgesanges konnte sich der Dichter nicht wünschen. Das nächste an Werth ist wohl diesem prächtigen Chor das Allegro vivace, wiederum in D moll Nr. V, das Sieg verheissende Kampflied, welches mit einem weihevollen Gebet um die Hülfe des[324] Zeus, Athene's, Apollo's und der Artemis schliesst. Dann folgt in Nr. VI der tiefsinnige schwermüthige Chor, hindeutend auf Oedipus' nahes Ende mit den bekannten Worten: »Nie geboren zu sein, ist der Wünsche grösster, und wenn Du lebst, ist das Andere, schnell dahin wieder zu gehn, woher Du kamst.« Die Tonart G moll, in welcher dieser Chor wesentlich geschrieben ist, entspricht dem schwermüthigen Inhalt. Doch schliesst der Chor, tröstend auf das Ende der nimmer ruhenden Leiden hindeutend, mit einem mächtigen Doppelchor in G dur. In Nr. VII finden wir eine gewaltige Tonmalerei von Blitz und Donner, dem furchtbaren Zeichen, mit welchem Zeus den Dulder zu sich ruft, Chor in C moll, begleitet von Paukenwirbel und sonstigen Instrumentaleffecten; darauf folgt ein weihevolles Gebet an die unterirdischen Götter Nr. VIII, Soli mit Chor in As dur, endlich Nr. IX eine bewegte Scene zwischen Antigone, Ismene, Theseus und dem Chor, der die Schwestern ermahnt: »Theuerste, weil des Lebens Ende sich für ihn so selig schloss, hemmet die Klage, wer entfloh je dem verhängten Unheil?« (vierstimmig in D moll) und zuletzt, nachdem Theseus den Schwestern Schutz und jedes Gute verheissen, in einem Adagio maëstoso (D dur) vierstimmiger Chor mit dem schon oben genannten versöhnenden Schluss: »So lasst denn ab und der Klag' Ausruf weckt länger nicht mehr, dies Wort ist wahrhaft und heilig.« So schliesst das ganze Werk, das in D moll angefangen, mit dem schönen freundlichen D dur, wohl kein blosser Zufall, sondern Absicht des Componisten.

Möchten diese flüchtigen Andeutungen genügen, um die grandiose Schönheit des Werkes in's Licht zu stellen. Wird es jetzt auch selten mehr aufgeführt, was wohl an der Sprödigkeit des Stoffes liegt, so verdient es doch nie der Vergessenheit anheim zu fallen.

Viel näher unserem Verständniss und Gefühl liegt der zweite Stoff, welchem M. auf den Wunsch des Königs von Preussen in einem grossartigen musikalischen Werke höheren Reiz und Schmuck verlieh: Jean Racine's (geb. 1639, † 1699) Athalia. Wir befinden uns hier nicht mehr auf dem Boden der Sage, sondern auf biblisch-geschichtlichem[325] Grunde, den wir in dem 2. Buch der Könige Kap. 11 und 2. Chron. Kap. 22 und 23 finden.


Athalia, Tochter des Königs Ahab von Israël und der phönizischen Königstochter Iesebel, welche bekanntlich im Leben des Propheten Elias ihre traurige Rolle spielen, war wie ihre Mutter, (der Apfel fällt nicht weit vom Stamme) ein dem Götzendienst ergebenes blutgieriges Weib. Als ihr Mann, Joram König von Juda, an einer bösen Krankheit gestorben, und sein Nachfolger ihr Sohn Ahasja von dem Könige Israëls Jehu wegen seines Götzendienstes und seiner Blutthaten ermordet worden war, rottete Athalia sämmtliche noch übrige männliche Sprossen des Königshauses aus und schwang sich selbst auf den Thron, den sie von 884–76 v. Chr. behauptete. Ein zarter Knabe nur, Joas, Ahasja's jüngster Sohn, wurde durch seine Tante, die Königl. Prinzessin Josabeth, Gattin des Priesters Jojada, aus dem allgemeinen Blutbad gerettet, und während der sechs Regierungsjahre Athalia's von Letzterem heimlich im Tempel erzogen. Im Jahre 876 nun stellte Jojada den dem Jehovahcultus treu gebliebenen Iseaëliten den Joas als ihren rechtmässigen König dar, bewaffnete die Leviten und liess die gottlose Athalia tödten. Dies ist der Punkt, mit dem Racine's Stück einsetzt.


Es ist ein religiöses Drama mit tragischem Untergrund, doch unserem religiösen Gefühl mehr zusagend, als die antike Tragödie, der aber Racine einigermaassen nahe tritt, indem er zum ersten und einzigen male in der französischen dramatischen Poesie den Chor der Alten nachzubilden versuchte. Bei ihm ist der Chor aus frommen Israeliten beiderlei Geschlechts gebildet, wodurch dem Componisten der schönste Spielraum für gemischten vierstimmigen Gesang wie für reizende Sopran- und Altsoli, Duette, Terzette und selbst Wechselchöre zwischen männlichen und weiblichen Stimmen gegeben ist. Uebrigens schrieb Racine seine Athalia für ein Fräuleinstift in St. Cyr, daher ein gewisser weicher, um nicht zu sagen weichlich-sentimentaler Character und frommer Phrasenreichthum sich wohl erklären lässt. Der Componist aber hat diese Schwächen, wenn es anders solche sind, durch die Kraft und Fülle seiner Musik wundervoll ausgeglichen. Man dürfte wohl sagen, über dem Ganzen schwebe jetzt etwas wie ein morgenländischer Duft, auch verleiht der ausgiebige Gebrauch[326] der Harfe als begleitendes Instrument, den M. in dieser Musik gemacht hat und der lebhaft an die Psalmen beim Tempeldienst der Leviten erinnert, dem Werke einen ganz eigenthümlichen hohen Reiz. Die Geschichte der ersten Aufführung des Stückes, nicht mit der Mendelssohn'schen, sondern der Musik eines gewissen Schulz, ist einigermaassen pikant. König Friedrich Wilhelm IV., der das Stück wegen der darin ausgesprochenen Idee des rechtmässigen Königthums von Gottes Gnaden liebte, liess es bald nach seiner Thronbesteigung wahrscheinlich Ende December 1840 oder Anfang Januar 1841 im Königl. Schauspielhause aufführen. Aber das Publicum verhielt sich dagegen mehr als ablehnend, mit lauten Zeichen des Missfallens. M. sprach sich über diese Kundgebung missbilligend aus. Er schrieb an seinen Bruder unter'm 9. Januar 1841 aus Leipzig: »Die Beispiele, die Du mir von der Bildung einer öffentlichen Meinung anführst, haben mich sehr interessirt, aber ich gestehe es Dir, wenig erfreut. Ich nenne das nicht eine öffentliche Meinung, was sich durch anonyme Zusendung von Schmähgedichten, durch Auspochen eines alten Meisterwerks u.s.w. kundgiebt.« Der König, der sein Lieblingswerk nicht verloren geben wollte, übertrug nun M. die Ausführung einer neuen Musik, welche dieser gern übernahm. Der Dichter Raupach bearbeitete die Chöre in einer neuen Uebertragung. M. componirte aber die Musik nur nach und nach, 1843 in Leipzig die Chöre, anfangs nur für weibliche Stimmen mit Pianofortebegleitung, 1844 die Ouvertüre in D moll und Kriegsmarsch der Priester in F dur, 1845 die Instrumentirung und Einrichtung der Chöre für Sopran, Alt, Tenor und Bass. In dieser späteren Bearbeitung wurde das Werk zum ersten male am 1. Dec. 1845 im Königlichen Theater in Charlottenburg mit grossem Beifall aufgeführt. Ob es dann auch im Schauspielhause in Berlin öffentlich gegeben worden ist, darüber fehlen mir Nachrichten. In Leipzig hörten wir es erst nach M.'s Tode in einem Concert für den Orchesterpensionsfonds am 1. Februar 1849 mit den Gang der Handlung erläuternden Zwischenreden von Eduard Devrient. Es wurde mit Begeistrung aufgenommen und schon am 1. März desselben Jahres wiederholt, nachher noch fünfmal, zuletzt im Jahre[327] 1874. – Sollen wir aus dem umfangreichen Werke Stücke von besonderer Schönheit hervorheben, so ist es vor allem die herrliche Ouvertüre,6 ein Meisterwerk schon an und für sich, in welchem in einem Maëstoso con moto nach 18 Tacten meist nur von den Blasinstrumenten und der Viola getragener Accorde eben die hinzutretende Harfe einen wundervollen Effect macht, welche dann wieder von einem pianissimo der Violinen con arco abgelöst wird, und nach verschiedenen reizenden Motiven tritt gegen den Schluss der Ouvertüre hin in einem Maëstoso wie oben unterstützt von einem ff der Violinen, die Harfe wiederum zum vollen Orchester, mit einem unaussprechlich schönen Gesammteindruck in D dur schliessend. Darauf folgt der herrliche glaubensfreudige vierstimmige Chor in C dur, der wie eine Kriegserklärung gegen den Götzendienst, gleichsam die Signatur der Stimmung des ganzen Werkes bildet: »Herr, durch die ganze Welt ist Deine Macht verkündet, Lob, Ehr', Dank und Anbetung sei ewig Dir gebracht« u.s.w. Dann folgt ein schönes Altsolo: »Vergebens will der Feind uns zwingen, im Tempel unsers Herrn nicht Psalmen mehr zu singen,« worauf sehr passend Sopr. I Solo das erste Thema wieder aufnimmt: »Denn durch die ganze Welt ist Deine Macht verkündet,« in welches der Chor mit einem vollen Tutti einstimmt: »Wir preisen Deinen Ruhm, lobsingen Deiner Macht.« Dann, nachdem Gottes Schöpfermacht noch in drei schönen Solis von Sopran II, Sopran I und Alt I gepriesen ist und letzteres als das höchste Gut das Gesetz nennt, das heilige reine, das Gottes Hand verliehen, stimmt wieder der Chor in dem feierlichen As dur die Erinnerung an die Gesetzgebung auf Sinai an: »O Sinaï, gedenk der heil'gen Stunde, wo Deinem Haupte Gott in Wolken sich genaht,« und an die Erinnerung, was Gott mit seinem Gebote gewollt, in einem Sopran- und Altsolo, schliesst sich wieder ein herrlicher Chor: »O welch heilig göttliches Gebot, wie überschwänglich reich ist seine Gnade« und die Ermunterung: »Kommt, lasst uns wallen auf seinem Pfade und Treue ihm halten bis in den Tod,« worauf endlich[328] das ganze Stück mit dem Andante maëstoso wieder in C dur schliesst in vollem Chor, wie es angefangen hat: »Herr, durch die ganze Welt ist Deine Macht verkündet. Anbetung und Dank sei ewig Dir gebracht.« An dieser einen Probe von der vollendeten Durchführung eines grossen religiösen Gedankens in musikalischem Gewande möge es genug sein. Ich begnüge mich, um meine Leser nicht allzusehr zu ermüden, nur noch einzelne Glanzpunkte, gleichsam musikalische Cabinetsstücke, hervorzuheben, wobei einem freilich die Wahl schwer wird, weil eben im Grunde alles schön ist. Da ist denn zuerst zu nennen aus Nr. 2 nach dem Andante quasi Recitativo der Soprani, Alti, Tenori und Bassi tutti, welches alternirend in den einzelnen Stimmen die Empfindungen beim ersten Anblick des Königskindes ausdrückt (B dur), das reizende Duo der beiden Soprane: »O wie selig ist das Kind, das der Herr in Schutz genommen,« dem der vierstimmige Chor antwortet: »Sel'ge, sel'ge Kindertage, die von dem Herrn beschützt hinfliessen ohne Klage;« ebenso das berühmte Altsolo, mit darauf folgendem Chor, das sich gleich beim ersten Hören jedem musikalischen Ohr unvergesslich einprägen wird: »Du schweigst Zion, Du schweigst, wenn diese Fremde schon Dir gottlos entwendet der Väter heil'gen Königsthron« (Es dur), ebenso das schöne Solo, Sopran I, in B dur: »Wie lange noch, o Herr, wie lange soll es dauern, dass wider Dich die Bösen erheben ihr Haupt,« welches wiederum der Chor aufnimmt, den das feierliche choralartige Stück in lauter halben Tactnoten von getragenen Accorden begleitet: »Wir aber singen Dir, o Gott, im vollen Chor – Dein Lied soll stets in meinem Munde sein.« Nr. 4 beginnt mit dem wundervollen achtstimmigen Chor in Es dur, durchgehends von der Harfe begleitet, was einen ganz besonders herrlichen Effect macht: »Lasst uns dem heil'gen Wort des Höchsten lauschen« u.s.w. Es ist der Moment, wo der Priester Jojada als Prophet das zukünftige Schicksal Jerusalem's weissagen will. An diese melodramatisch begleitete Weissagung schliesst sich in Nr. 4 ein schönes Tutti von Sopran und Alt: »Ist es Glück, ist es Heil, was uns sein Wort verkündet«, worauf wieder, wunderbar schön musikalisch erfunden, alternirend ein Frauenchor und[329] ein Männerchor folgen, deren erster das Zagen, der zweite die Siegeszuversicht ausdrückt. Nachdem ein Sopransolo ermahnt hat: »Lasst ab von Eurer Furcht! Erharret in Geduld, was Gott für Euch beschieden,« antwortet ein vierstimmiger Chor: »Wir harren aus in Frieden, vertrauen fest,« worauf wieder ein liebliches Terzett von Sopran I, II und Alt I folgt: »Ein Herz voll Frieden hat Trost in jedem Augenblick,« was ein Chor von Männern und Frauen vertrauensvoll wiederholt. Endlich sei noch der herrliche Marsch der Priester genannt in F dur, ein Stück voll Kraft und Frische, durchdrungen von heiligem kriegerischen Feuer, wenn auch nicht so glänzend, doch nicht minder schön als der berühmte Hochzeitsmarsch im Sommernachtstraum. Dem Priestermarsch folgt der liebliche Frauenchor: »So geht, ihr Kinder Aarons, geht,« dem der Männerchor im Abgehen antwortet: »Wir geh'n für unsern Königssohn, lasst uns den edlen Kampf besteh'n.« Nachdem der Sieg über die böse Athalia verkündet ist, schliesst die ganze Musik wie sie angefangen, mit dem prächtigen Chor in C dur: »Ja, durch die ganze Welt ist Deine Macht verkündet, Anbetung und Dank sei ewig Dir gebracht.« – Sind nun mit dieser ausführlichen, doch noch keineswegs vollständigen Aufzählung noch lange nicht alle Schönheiten dieser Musik erschöpft, so ergiebt sich von selbst, dass wir es hier mit einem Kunstwerk ersten Ranges zu thun haben. Es steht musikalisch wohl höher, als die Musik zu Oedipus in Kolonos. Es ist wie aus einem Gusse geschaffen, und man fühlt, dass M. sich hier ganz in der ihm eigenen Sphäre bewegt hat. Ist es auch kein eigentliches Oratorium, sondern mehr ein religiöses Drama, so ist doch die Wirkung ganz oratorisch, d.h. erhebend und erbaulich. Da wir jetzt die verbindenden Worte von Devrient haben, bedarf es keiner Aufführung auf der Bühne mehr, und die herrliche Musik sollte mindestens einmal alljährlich im Repertoir unserer grossen Concerte wiederkehren.

Werfen wir jetzt wieder einen Blick auf M.'s Wirksamkeit in Leipzig. Am 22. Jan. 1846 hörten wir hier im Gewandhaussaale die Musik zum Sommernachtstraum unter M.'s eigener Direction in denkbar höchster Vollendung. Unser braves Orchester, von des Meisters Zauberstab[330] electrisirt, schien sich selbst übertreffen zu wollen. Die Elfenstelle, namentlich das Scherzo, waren wie hingehaucht. Auch die Vocalmusik wurde durch zwei junge Damen, die Fräulein Vogel und Schwarzbach, sehr gut ausgeführt. In dem Abschiedsconcert von Miss Dolby spielte M. sein Rondo in Es dur (Op. 29). Als Jenny Lind am 12. April noch ein Concert gab, spielte M. mit David die G dur-Sonate von Beethoven für Pianoforte und Violine, dann allein die Cis moll-Sonate und ein Lied ohne Worte. Es ist dies um so erwähnenswerther, als es das letzte mal war, dass M. in Leipzig öffentlich als Clavierspieler aufgetreten ist. Wie aber in den grossen Concerten, so war er auch an den Quartettabenden zur Freude aller wahren Freunde der Musik wieder sehr thätig. Hier stellte er es sich hauptsächlich zur Aufgabe, die grossen seltener gehörten Clavierwerke aus Beethoven's späterer Periode an's Licht zu ziehen. So spielte er z.B. die grosse Sonate in C moll (Op. 111). Von ihm selbst ist noch vor allem sein Trio in C moll (Nr. 2, Op. 66) zu nennen, welches er in derselben Soirée, 20. December 1845, mit David und Wittmann zum ersten und leider ebenfalls zum letztenmale vortrug. Es gleicht im Stil einigermaassen dem aus D moll, trägt aber, wie schon die Tonart bedingt, einen ernsteren, schwermüthigeren Character, ein grossartig angelegtes herrliches Werk.7 Am 3. April 1846 spielten Zöglinge des Conservatoriums in einer in der Nicolaikirche abgehaltenen Prüfung drei Sonaten für Orgel von M., F moll, C dur und D dur aus Op. 65.

Während dieser, wie man wohl sieht, sehr umfangreichen Thätigkeit nach aussen spannte er aber auch nochmals alle productive Thätigkeit an, um jenes Werk zu vollenden, an welchem er immer in der Stille, aber mit grosser Liebe schon seit Jahren gearbeitet hatte. Es war sein Elias, den er auf dem im August 1846 stattfinden sollenden Musikfest zu Birmingham zum ersten male zur Aufführung bringen wollte. Wir haben schon früher gesehen, dass er sich bereits im Jahre 1838 mit dem Plane[331] zu diesem Oratorium trug. Ueber den Text conferirte er fleissig mit seinem Freunde, dem Prediger Schubring in Dessau. Unter dem 2. November 1838 schrieb er an diesen:


»Du leistest mir einen wahren, wesentlichen Dienst, für den ich Dir herzlich dankbar bin ... Ich habe fast nichts mehr zu thun, wenn alles so zusammen ist, als Musik dazu zu machen ... Ich hatte mir eigentlich beim Elias einen rechten durch und durch Propheten gedacht, wie wir ihn etwa heut zu Tage wieder brauchen könnten, stark, eifrig, auch wohl bös und zornig und finster, im Gegensatz zum Hofgesindel, und fast zur ganzen Welt im Gegensatz, und doch getragen wie von Engelsflügeln ... Es ist mir darum recht um das Dramatische zu thun, und wie Du sagst, epische Erzählung darf darin nicht vorkommen. Auch dass Du die allgemeine an's Herz gehende Bedeutung der Bibelworte aufsuchst, erfreut mich; nur wenn ich eins zu bemerken hätte, wär's, dass ich das dramatische Element noch prägnanter, bestimmter hier und da hervortreten sehen möchte.«


Ueber das Dramatische spricht er sich dann nochmals aus in dem Briefe vom 6. December 1838. Bemerkenswerth ist auch eine Stelle in Ferdinand Hiller's Erinnerungen, wo er aus seinem Zusammensein mit M. in Leipzig im Winter 1839/40 erzählt. »In einer Abendstunde traf ich unsern Felix die Bibel vor sich aufgeschlagen.« »Höre zu,« sagte er, und er las mir mit leise bewegter Stimme die Stelle vor aus dem ersten Buch der Könige, die mit den Worten beginnt: »Und siehe, der Herr ging vorüber« (1. Buch d. Könige, Kap. 19, v. 11 u. 12). »Wäre das nicht herrlich für ein Oratorium?« rief er aus – es war ein künftiges Stück des Elias. Am 16. Dec. 1842 schreibt dann M. nochmals an Schubring:


»Hier schicke ich Dir nun, Deiner Erlaubniss gemäss, den Text des Elias, so weit ich ihn jetzt habe. Ich bitte Dich, hilf mir tüchtig daran, und schicke mir ihn mit recht vielen Bemerkungen am Rande (d.h. Bibelstellen und dergl.) bald wieder. – Auch Deine früheren Briefe lege ich bei, da Du es wolltest. Sehr richtig berührst Du gleich in dem ersten dieser Briefe (auf der ersten Seite unten) die Hauptschwierigkeit des Textes und den Punkt, worin es ihm auch jetzt noch am meisten mangelt: die allgemein[332] gültigen, allgemein eindringlichen Betrachtungen und Worte, denn natürlich ist es nicht meine Absicht, eine biblische Walpurgisnacht hinzustellen, wie Du erwähnst. – Durch die mit lateinischen Lettern geschriebene Stelle habe ich diesem Mangel abzuhelfen gesucht, aber es fehlt immer noch, auch an der Durchführung derer und an den recht prägnanten Worten für die Motive. Das ist denn der erste Punkt, auf den ich Dich bitte zu denken und wo Deine Nachhülfe sehr nöthig ist.«


Auch was M. über einen zweiten Punkt, die dramatische Einrichtung, an den bibelkundigen Freund schreibt, ist für die Entstehungsgeschichte des Oratoriums sehr interessant, doch ist der Brief zu lang, um ihn hier nochmals abdrucken zu lassen, und bitte ich die geneigten Leser, ihn in Band II der Briefe M.'s, S. 368–70 selbst nachzulesen. Der letzte Brief, den M. in Sachen des Elias an Schubring schreibt, ist aus Leipzig vom 23. Mai 1846. Der Anfang desselben lautet:


»Lieber Schubring! Noch einmal komme ich, um Dir Last zu machen wegen des Elias; hoffentlich ist's das letzte mal und hoffentlich kann ich Dir dann später auch einmal ein Vergnügen damit machen. Und wie froh wollte ich sein, wenn das einträfe! Ich bin nämlich jetzt mit dem ersten Theile ganz fertig und vom zweiten stehen auch schon 6, 8 Nummern auf dem Papier. Nun fehlen mir aber an mehreren Orten des zweiten Theiles noch recht schöne Bibelstellen zur Auswahl und darum bitte ich Dich nun! Ich reise heute Abend nach dem Rhein, also hat es keine Eile, aber in drei Wochen bin ich wieder hier und dann möchte ich auf der Stelle die Arbeit wieder angreifen und beendigen können. Also bitte ich Dich dringend, schicke mir bis dahin hierher eine recht reiche Ernte schöner Bibelstellen. Wie viel Du mir zum ersten Theil geholfen hast, das glaubst Du gar nicht. Das sage ich Dir mal mündlich. Aber eben desshalb bitte ich Dich, hilf mir auch recht den zweiten Theil schmücken.«


Von dem weiteren Verlauf des Briefes gilt dasselbe, wie von dem vorigen. Der freundliche Leser sehe selbst nach am angef. Orte S. 460–462. Man sieht aus diesen Briefen, mit welcher Sorgfalt M. bei der Zusammenstellung des Textes zu Werke ging.

Wohl wäre es sehr interessant, auch einen Einblick[333] in die Compositionsarbeit selbst zu thun, aber wer vermöchte in die geheimste Werkstätte des Künstlers einzudringen? Grösstentheils componirt und vollendet hat M. das Werk sicher in Leipzig bis Ende des Frühjahres 1846. Noch im Juni war das Werk so weit vollendet, dass er die Stimmen verschicken konnte. Den Text, gebildet aus dem 16., 17. und 18. Kapitel des ersten Buches der Könige, übersetzte ein gewisser Herr Bartholomew, bekannt als geschickter Uebertrager deutscher Meisterwerke, in's Englische. Das Oratorium beginnt mit Elias' verhängnissvoller Weissagung der Hungersnoth, welcher die Wehklagen der darunter Leidenden folgen; dann die Abreise des Propheten, die Lebenserweckung des Sohnes der Wittwe, der Untergang der Baalspriester, das Oeffnen des Himmels durch Elias' Gebet, dem ein köstlicher Chor des Dankes gegen den Herrn folgt, dass jetzt die Wasserströme sich erheben. Damit schliesst der erste Theil. Der zweite Theil umfasst die Verfolgung des Elias, seine Flucht in die Wüste, seine Himmelfahrt und die Weissagung auf den Messias. Ueber die musikalische Bedeutung des Werkes später noch einige Worte. Zuerst werfen wir noch einen Blick auf die Früchte der vorhin in dem letzten Briefe M.'s an Schubring erwähnten Reise an den Rhein, auf der er Staunenswerthes leistete.

Was M. an Thätigkeit nach aussen im vorigen Jahre versäumt, das schien er jetzt doppelt und dreifach nachholen zu wollen. Er übernahm die Direction von nicht weniger als drei in kurzer Frist auf einander folgenden Musikfesten. Zuerst das Fest in Aachen, welches durch Jenny Lind's Mitwirkung verherrlicht ward. Die Aachener hatten in die Welt hinausposaunt, dass Jenny Lind kommen werde, M. äusserte scherzend, ihm wäre lieber gewesen, sie hätten für ein paar tüchtige Contrabässe mehr gesorgt. Von Aachen bat ihn sein Freund Julius Rietz, zu einer von ihm projectirten Soirée nach Düsseldorf herüberzukommen. In dieser spielte M. die Pianoforte-Partie des Beethoven'schen B dur-Trios, seine eigene Sonate B dur mit Cello, Op. 48, mit Rietz, und drei Lieder ohne Worte. Von da ging er nach Lüttich, wo er für die grosse 600-jährige Jubelfeier der ersten Einführung des Fronleichnamsfestes[334] am 11. Juni 1846 die berühmte Sequenz des Thomas von Aquino (1224–1274) »Lauda Sion Salvatorem« neu componirt hatte. Dieses grossartige Werk bedarf einer eingehenden Besprechung, welche mir, obgleich wir das das Werk in Leipzig erst nach M.'s Tode, 22. März 1849, im Gewandhaus hörten, verstattet sein möge, hier einzuschalten. Der halb legendarische, halb geschichtliche Ursprung des Fronleichnamsfestes, dieses Hauptfestes der katholischen Christenheit, ist folgender: Zu Anfang des 13. Jahrhunderts erschien in Lüttich, der Legende nach, Christus einer Nonne im Traum und sprach zu ihr: »Ihr katholischen Christen feiert zwar viele gar herrliche Feste, aber das beste habt ihr vergessen: das Fest der Verwandlung der Hostie in meinen Leib und mein Blut« (Fronleichnam = des Herrn Leib). Ein dortiger Archidiacon, dem die Nonne diesen Traum berichtete, hielt sogleich beim Papst um die Erlaubniss an, dieses Fest feiern zu dürfen, und da er nachher selbst unter dem Namen Urban IV. Papst ward, bestätigte er natürlich die Erlaubniss. Das Fest ward am 11. Juni 1246 zum erstenmal in Lüttich gefeiert und verbreitete sich von da über die ganze katholische Christenheit, besonders seit es 1311 von Clemens V. nochmals sanctionirt worden war. Als nun im Jahre 1846 die 600-jährige Jubelfeier der Einsetzung dieses Festes in Lüttich begangen werden sollte, so musste diese Feier natürlich nicht nur für Lüttich, sondern für das ganze katholische Belgien und die Rheinlande von grosser Bedeutung sein. Man wollte sie ganz besonders verherrlichen und lud deshalb den grössten der damals lebenden Tonkünstler zu einer neuen Composition des »Lauda Sion« ein.

Obwohl mit der Vollendung seines Elias beschäftigt, löste doch M. diese Aufgabe in bewunderungswürdiger Weise und gab, indem er ein völlig dem katholischen Gefühl entsprechendes Werk schuf, abermals einen Beweis seiner ausserordentlichen künstlerischen Objectivität. Im strengsten Kirchenstyl gehalten, wie kaum ein anderes Werk M.'s, und doch nicht ohne grosse Lieblichkeit und wohlthuende Abwechslung, bezeugt es in überraschender Weise den Meister in jeder Gattung. Er theilte sehr zweckmässig die lange Sequenz von 23 drei- und vierzeiligen Versen in 8 ziemlich[335] gleichmässige Abschnitte, in welchen Chöre mit Solis und Quartetten mit und ohne Chor, aber alles in fortlaufendem Zusammenhange wechseln. Nach einer kurzen Introduction, einem Andante maëstoso in dem solennen C dur, worin die gedämpften Posaunen einen sehr schönen Effect machen, folgt in derselben Tonart ein ziemlich einfacher, heller und freudiger Chor Nr. 1 »Lauda Sion Salvatorem«, der nur in dem zuerst vom Sopran eingesetzten »quantum potes, tantum aude« (wieviel du kannst, soviel wage es, nämlich den Heiland zu loben) etwas kunstvoller verschlungen ist. Daran schliesst sich der zweite Chor, der den eigentlichen Zweck des Festes näher andeutet, das specielle Thema des Lobes, »das göttliche Lebensbrod, welches heute vorgelegt wird«, zuerst alternirend von Bässen und Tenören, dann von den Sopranen und Alten, und im zweiten Theil des Chores in vereinter Harmonie gesungen. Die Tonart ist das geheimnissvolle lugubre C moll. Nr. 3 ein lieblich einfaches Sopransolo und Chor; ersteres in As dur und F moll fordert nochmals zu einem vollen, klangreichen Lobe und zu einem anmuthigen, züchtigen Jubel des Herzens auf; letzterer, der Chor, giebt in einem merkwürdigen recitativo unisono, quasi parlando der Bässe und Tenöre dazu gleichsam den Grund an: »Denn der feierliche Tag ist da, an welchem die erste Einsetzung des Gottestisches nochmals begangen wird.« Dieser Chor schliesst in sehr frappanter Weise mit D dur und leitet dadurch hinüber zu dem schönen Quartett Nr. 4 in G dur, welches in kunstreichen Verschlingungen den Sieg des neuen Passahs über das alte, des Lichtes über die Nacht, des neuen Königs über das alte Gesetz feiert, und zuletzt den Befehl Christi hinzufügt, das Mahl zu seinem Gedächtniss zu begehen. Der nun folgende Chor Nr. 5: »Docti sacris institutis,« in A moll, die beiden ersten Verse unisono, der letzte in harmonischem Satz, drückt die volle Zuversicht des katholischen Glaubens an das Dogma, der Wandlung aus, so unbegreiflich es immer dem Verstande sein mag, und deutet im letzten Satze bei sehr energischer und prachtvoller Instrumentirung auf die res eximiae, die mächtigen Dinge hin, welche unter der Gestalt des Brodes und Weines verborgen sind. Hierauf folgt Nr. 6, ein Sopransolo in F dur, äusserst lieblich und[336] innig, welches die gläubige Zuversicht der einzelnen Seele darstellt, dass das Brod wirklich der Leib, der Wein wirklich das Blut, und unter beiden Gestalten doch der ganze Christus ungetheilt sei. In Nr. 7 (F dur) tritt wieder der Chor unisono auf, bestätigt das von der einzelnen gläubigen Seele ausgesprochene Dogma und schildert dann die verschiedenen Wirkungen des Genusses des heiligen Leibes, der dem Bösen zum Tode, dem Guten zum Leben gereicht. Dieser Chor hat sehr grosse Momente, im Character ähnlich dem »Tuba mirum spargens sonum« in Mozart's Requiem. Besonders ist von mächtiger Wirkung das »fracto demum sacramento« in dem klaren B dur, wobei Chor und Orchester in kurzen Sätzen abwechseln. Endlich schliesst sich hieran noch, nicht als besondere Nummer angegeben, ein Quartett mit Chor in C dur, welches zuerst in dem »Ecce panis angelorum« die Weise des Anfangs der ganzen Musik wieder aufnimmt und so andeutet, in welchem innigen Zusammenhange das Lauda Sion und das panis angelorum (Brod der Engel) stehen, dann aber in äusserst lieblicher Harmonie und Melodie die Wirksamkeit Christi als des guten Hirten, des Beschützers der Seinen, der sie im Lande der Lebendigen viel Gutes schauen lässt, schildert. Die Composition des letzten Verses »Tu, qui cuncta scis et vales« ist interessant nach Des dur hinüber modulirt; dann folgt der Satz »Bone pastor, panis vere« wieder. Dieser Satz, bei welchem der festgehaltene Orgelpunkt in G mit dem darauf gebauten Thema von ganz besonders schöner musikalischer Wirkung ist, hat gemäss dem behandelten Stoff eine feine pastorale Färbung. Das Ganze schliesst mit einem einfachen, sanft beruhigenden Amen.

Hoffentlich ist schon aus dieser Darstellung klar geworden, wie interessant M. auch einen so eigenthümlichen, und man möchte sagen, einförmigen Stoff hier wieder zu behandeln gewusst hat. Die Instrumentirung ist, wie es sich bei ihm von selbst versteht, vollkommen angemessen, weise sparsam, aber am gehörigen Orte von angemessenem Effect. Die Wirkung in der Kirche, vor einer katholischgläubigen Menge, muss ausserordentlich gewesen sein; doch macht das Werk auch im Concertsaale auf jeden[337] kunstsinnigen Hörer, gleichviel welcher Confession er auch angehöre, vermöge seiner reichen harmonischen und melodischen Schönheiten einen höchst wohlthuenden Eindruck. Es gehört zu dem Besten, was Mendelssohn geschaffen. M. hat die Musik übrigens nicht selbst dirigirt. Die Mittel, welche die Bischofe zugestanden hätten, bezeichnet er als höchst mangelhaft, doch habe er sich beim Zuhören sehr gut amüsirt und könne sich jetzt doch ganz genau vorstellen, wie sein »Lauda Sion« bei guter Aufführung klingen müsste. Zu besonderer Ergötzlichkeit spielte man ihm auf dem Markte seine Ouvertüre »Meeresstille und glückliche Fahrt« vor, wobei sich allerdings die Stille ausserordentlich still ausgenommen haben soll.

Von Lüttich ging M. zuerst nach Aachen, dann über Düsseldorf zu dem ersten deutsch-vlämischen Sängerfeste nach Köln. Er hatte dazu Schiller's Festgesang an die Künstler componirt von den Worten an: »Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben, bewahret sie;« allerdings ein höchst bedeutungsvoller und würdiger Text, der von einem Mendelssohn behandelt und von über dreitausend Stimmen vorgetragen, nur von Blechinstrumenten begleitet, die imposanteste Wirkung hervorbringen musste. Meines Erachtens gehört diese Composition zu den gelungensten M.'s, ja sie ist in ihrer Art unübertrefflich schön. Gleich einem mächtigen Strome und doch mit lieblichem Wohllaut in dem klaren B dur quillt die herrliche Melodie und Harmonie gleich im ersten Satze hervor. Dann folgt ein geheimnissvoller Mittelsatz in den ersten beiden Zeilen mit einem Unisono der Bässe und Tenöre beginnend, aber bei den Worten »in der Camönen Chor« wieder eine liebliche Melodie einflechtend, und in dem letzten Absatz: »Der frei'sten Mutter freie Söhne, schwingt Euch mit festem Angesicht« u.s.w. nimmt Gesang und Begleitung wieder einen so fröhlichen und dabei doch so edlen Aufschwung, und dabei klingt Alles so natürlich und ungesucht, dass jedes Ohr und Herz sich mit Entzücken füllen muss. Mit einem Wort, diese Musik ist classisch, denn Text und Composition decken einander vollkommen. Nie hört man sie sich zum Ueberdruss, so sehr sich auch die einzelnen Melodieen dem Ohre eingeprägt haben mögen.[338]

In Leipzig hörten wir den Festgesang an die Künstler zum erstenmal im Gewandhaus am 14. December 1848, ebenso 1854 an demselben Tage, beidemal von dem Paulinerverein unter Direction Hermann Langer's vortrefflich vorgetragen, ebenso zweimal bei der imposanten Feierlichkeit des Rectorwechsels in der Aula der Universität, zuletzt noch am 31. October 1885. Es war eine Freude, das ganze grosse durch zweistündige Vorträge etwas abgespannte Auditorium unter den Feierklängen dieser Musik wieder aufleben zu sehn. Bei dieser Gelegenheit sei gleich mit erwähnt, dass M. im Sommer 1846 auch den schönen Gruss an die Deutschen in Lyon für vierstimmigen Männergesang: »Was uns eint als deutsche Brüder« componirte, ein Lied voll Schwung und ächt deutscher Gemüthstiefe. Wem bei dem Klange des »Lass mich Deine Hand ergreifen, Bruderherz auf Du und Du« u.s.w. das Herz noch nicht aufgegangen wäre, der müsste sich noch nie als Deutscher gefühlt haben.

Ueber die Aufführung in Köln schrieb M. am 27. Juni 1846 aus Leipzig an Schwester Fanny:


»Abends war in Köln die erste Probe auf dem Gürzenich, wo ich meinen Schiller'schen Festgesang zum ersten mal hörte und dirigirte. Er klingt recht flott. Andern Tages kamen die Zweitausend an. Wie das klingt? Nicht schärfer stark, als jeder andre Chor (und darüber wundern sich die Leute immer), aber an dem gewissen Schwirren und Sausen merkt es jedes geübte Ohr – gerade so, wie dreissig Geigen nicht gerade stärker als zehn, aber anders, eindringlicher, massenhafter. Ich habe grosse Freude gehabt. Und dann machte mir's auch einen sehr tiefen, freudigen Eindruck, dass die Leute in Deutschland mir so viel Ehre anthaten und mir so viel Freundlichkeit erwiesen; wo ich mich nur sehen liess, fast in den ganzen drei Wochen, aber am meisten während dieser Kölner Tage, waren sie lustig und jubelten, und wie die grosse Mehrzahl von den zweitausend Sängern mein Volkslied (M. meint ›Wer hat dich, du schöner Wald‹) auswendig anstimmten, war mir's auch eine sehr frohe Empfindung, und machte mir gar zu grosse Freude! Davon kann ich Dir mündlich noch manche lustige Momente erzählen, geschrieben nimmt sich dergleichen gar zu wenig aus!« (Hensel, die Familie M., III., S. 243.)


Ausser dem Festgesang dirigirte M. in Köln auch noch andere Stücke, u.A. seinen Bachuschor aus Antigone, ein[339] Te Deum von Bernhard Klein und den Chor: »O Isis und Osiris« aus der Zauberflöte. Nach diesem Feste kehrte er noch einmal nach Leipzig zurück. Ich sprach ihn selbst. Er schien sehr befriedigt; die materiellen Missstände des Festes, die abscheuliche Prellerei der Kölner Wirthe u.s.w. hatten ihn natürlich unberührt gelassen; das Massenhafte der musikalischen Mittel in dem grossen Grürzenichsaale hatte ihm imponirt, und das sich kundgebende patriotische Element, die Sympathieen zwischen Vlämischen und Deutschen wohlthuend angesprochen. In musikalischer Hinsicht hatte ihm der Chor »O Isis und Osiris« am meisten behagt. Ueberhaupt aber war er in der heitersten Laune, lobte nebenbei sehr die Düsseldorfer Musikfeste, und versprach, es uns wissen zu lassen, wenn einmal etwas recht Ausgezeichnetes gegeben würde. Ach, dass er diese Zusage nie mehr erfüllen sollte! Er war leider das letzte mal in seinem lieben Düsseldorf gewesen.

Mitte August reiste nun M. nach England, um auf dem vom 25. bis 28. dieses Monats stattfindenden grossen Musikfest in Birmingham seinen Elias zu dirigiren. Das Programm dieses Festes war ausserdem aus Meisterwerken eines Händel, Haydn, Beethoven, Cherubini zusammengestellt. Mit der grössten Spannung aber sah man M.'s neuem Oratorium entgegen. Es wurde am Mittwoch Vormittag, den 26. August, in der grossartigen, damals noch überdies neu decorirten Stadthalle zum ersten male aufgeführt.8 Man hatte dem neuen Werke M.'s einen sehr würdigen Platz angewiesen zwischen Haydn's Schöpfung, welche am Dienstag und zwischen Händel's Messias, welcher am Donnerstag aufgeführt wurde, worauf am Freitag noch Beethoven's Missa solemnis in D folgte. Ueber den ersten Eindruck des Elias schreibt der Londoner Berichterstatter in den Signalen für die musikalische Welt:


»Wie soll man den heutigen Tag in der Musikhalle beschreiben? Nach solcher Aufregung ist es in der That schwer, seine Gefühle in der kalten Sprache wiederzugeben. Es war ein grosser Tag für das Fest, ein grosser Tag für die Künstler, ein grosser Tag[340] für Mendelssohn und ein Zeitabschnitt für die Kunst. Vier da capo's im ersten Theile und eine gleiche Anzahl im zweiten, also acht Wiederholungen und am Schlusse des Elias das Hervorrufen des Componisten sind wichtige Thatsachen, wenn man bedenkt, dass es strenge Verordnung des Comité war, das Publicum möge seinen Beifall durchaus nicht durch Applaudiren zu erkennen geben. Aber der Enthusiasmus lässt sich nicht durch Verordnungen unterdrücken; wenn das Herz voll ist, geht der Mund über. Es war eine zu grossartige Scene, diese überall mit Menschen gefüllte Halle, deren mit Damen besetzte Gallerien Tulpenbeeten glichen, dazu der Effect der herrlichen Musik und am Schlusse diese donnernden Bravos!«


Dies wäre also ein erstes Urtheil aus England, wenn auch von einem deutschen Berichterstatter – und was sagte man in Deutschland selbst von dem Werke? In Leipzig war man leider nicht so glücklich, dasselbe noch bei M.'s Leben und unter seiner Direction zu hören. Die Chorproben waren im Herbst 1847 schon im Gange, als die kurze Krankheit und der Tod M.'s dazwischen trat. Wir hörten das Werk erst am 3. Februar 1848 zur Gedächtnissfeier des Geburtstags des Künstlers. »Es war ein thränenfroher Abend für M.'s Freunde in Leipzig, der ihnen endlich den langersehnten Genuss brachte, das grosse letztvollendete Meisterwerk des nun verewigten Tonkünstlers zu hören,« so schrieb ich damals in den Signalen als Augen- und Ohrenzeuge der ersten Aufführung, bei welcher unter der Devise des Saales, »Res severa est verum gaudium«, M.'s wohlgetroffenes Reliefbildniss umkränzt von frischem Immergrün auf uns herniederblickte. Noch heute ziert es den alten Gewandhaussaal, unmittelbar über dem Orchester, das er so oft mit glänzendem Erfolg dirigirt hatte. Es sei mir vergönnt, aus dem ausführlichen Bericht, den ich damals schrieb, das Wesentlichste hervorzuheben:

»Freude, grosse Freude war es uns, am Geburtstage des Meisters ihn selbst gleichsam geistig auferstehen zu sehn in einem Werke, welches man dreist als eine durchaus neue und eigenthümliche Geburt seines schöpferischen Genius bezeichnen darf. Schon welch' ein herrlicher und imposanter Stoff, dieser Elias, dieser gewaltigste Repräsentant des Prophetenthums im alten Bunde, dieser kühne Sprecher der Theocratie gegenüber den Königen, dieser thatkräftige[341] Eiferer für Jehovah gegen den sinnlichen Cultus der Götzendiener und die Verblendung des durch sie verführten Volks, dieser starke, ja wenn man will, selbst bisweilen starre Held Gottes, dem es doch gleichwohl nicht an gar manchen ächt menschlichen Zügen gebricht, wie z.B. in der herrlichen Scene mit der Wittwe von Sarepta, deren Sohn er vom Tode erweckt, oder dem wehmüthigen Verzagen an der Erreichung seines Lebenszweckes in der Wüste, ›Es ist genug, so nimm nun Herr meine Seele,‹ und zu dem allen noch welche hochpoetische Zugabe in der Apotheose, der Himmelfahrt! Nächst Moses (welchen der Verewigte behandelt haben würde, wenn ihm nicht, wie man sagt, ein Anderer, dem er den Plan mittheilte, zuvorgekommen wäre), konnte der Künstler in der That keinen dramatischeren Stoff im ganzen alten Testamente finden, wofür auch schon der reiche Wechsel von Scenen in dem Oratorium spricht. Und mit welchem Geschick sind diese Scenen, zu welchen sich in der biblischen Erzählung das Material nur lose an einander gereiht und häufig durch Episoden unterbrochen vorfindet, zu einem künstlerischen Ganzen verbunden, mit welchem feinen und zugleich tief religiösen Gefühl, mit welcher Schriftkunde, welchem tiefen Verständniss der Bedeutung des Prophetenthums sind die verbindenden Stellen aus den Propheten und Psalmen gewählt, wobei allerdings dem berathenden Freunde Schubring ein Hauptantheil gebührt, schliesslich aber doch M.'s Entscheidung und Zusammenstellung den Ausschlag gab. Dass der Stoff dem alten Testament entnommen, ist für das Dramatische des Oratoriums jedenfalls ein Vorzug; denn schon als vollständige Geschichte eines Volkes enthält das alte Testament unläugbar weit mehr eigentlich dramatische Momente, als das neue, und die Sprache, die Ausdrucksweise des A.T. wird an kerniger und gediegener Kraft, an Reichthum poetischer Bilder gewiss Niemand unter die des neuen stellen wollen, wobei wir freilich von dem höheren sittlich religiösen Gehalt des N.T., auf den es aber bei der künstlerischen Betrachtung weniger ankommt, völlig absehn. Die ganze Schönheit eines Textes, wie Elias, kann freilich nur der würdigen, der selbst ein wenig Bibelkenntniss, eine Idee von volksthümlicher Poesie und etwas Phantasie besitzt ....«[342] Sicher ist, dass der Componist sich diesen Text mit vollem künstlerischen Bewusstsein erwählt und zusammengestellt, und dessen Behandlung mit allem Feuer seines Geistes sich hingegeben hat.

Man hat die Frage aufgeworfen, ob Elias dem Paulus gleich komme, ob Elias ein Fortschritt sei u.s.w. Darüber herrscht heutzutage kein Zweifel mehr. Paulus ist zwar (schon des Stoffes halber) kirchlicher; Elias aber als musikalisches Kunstwerk grösser, schon wegen der überwiegenden Originalität, des grösseren Reichthums der Erfindung, der markigen und scharf markirten Darstellung der gegebenen Situationen und Charactere. Eben darum ist von einer Verminderung der Kraft des Componisten in dem Werke keine Spur; vielmehr hat er in ihm den höchsten Gipfel seines künstlerischen Schaffens erreicht. Wenn von Berlin aus mit Recht bemerkt wurde, die eigentliche productive Kraft des Componisten offenbare sich vor allem in der Melodie: in welcher der Schöpfungen M.'s findet sich eine solche Fülle herrlicher Melodieen, die sich jedem nur einigermaassen musikalischem Ohr einprägen, dass sie es fast nicht wieder loslassen? Wir erinnern nur beispielsweise an die Arie des Obadja: »So ihr mich von ganzem Herzen suchet,« an das Motiv im Doppelquartett der Engel: »Denn er hat seinen Engeln befohlen über Dir,« an den Chor: »Wohl dem, der den Herrn fürchtet,« an das Gebet des Elias: »Herr mein Gott, lass die Seele dieses Kindes wieder zu ihm kommen,« an die Baalschöre, an das köstliche Solo des Elias mit Chor »Oeffhe den Himmel und fahre herab,« an das Hauptthema des Schlusschors im ersten Theil: »Dank sei dir Gott, Du tränkest das durst'ge Land,« an die Sopranarie: »Höre Israël, höre des Herrn Stimme,« die herrlichen Chöre »Fürchte Dich nicht« und »Siehe der Hüter Israëls schläft noch schlummert nicht,« die Arie des Elias: »Es ist genug«, die Altarie des Engels: »Sei stille dem Herrn und warte auf ihn,« vor allem das Terzett der Engel: »Hebe Deine Augen auf« u.s.w. Niemand wird behaupten wollen, dass die Chöre an den geeigneten Stellen nicht kräftig gedacht und instrumentirt wären, aber sie sind mehr als das, sie sind bis höchstens auf die Schlussfuge durchgängig genial und neu. In allen den genannten[343] Stücken aber verbindet sich der höchste Reiz der Melodie und Harmonie. Die beiden Theile, in welche das Werk zerfällt, erhalten bei aller Verschiedenheit des Characters den Zuhörer in fortwährender Spannung. Der erste Theil ist ein überaus lebendiges, dramatisches Bild mit rasch wechselnden und durch die musikalische Behandlung auf das feinste und entsprechendste schattirten Scenen. Völlig neu in der Form ist das an die Spitze stellen eines Recitativs, welches in der bedeutungsvollen Klangfarbe D moll anhebend und in A dur schliessend, sogleich den Propheten selbstredend einführt und dem Hörer die ganze Wucht und Macht des Prophetenthums mit einem Male verdeutlicht. Dem Tondichter scheint dabei die auch später im Oratorium angewandte Stelle aus Jesus Sirach vorgeschwebt zu haben: »Und der Prophet Elias brach hervor, wie ein Feuer, und sein Wort brannte wie eine Fackel.« Dies ist, könnte man sagen, die eigentliche Ouvertüre des Stücks, während die von dem Componisten so genannte Ouvertüre eigentlich nur ein den Uebergang zu den Klagen des Volks und seinem Flehen um Hülfe bildender Instrumentalsatz ist, der das Hereinbrechen eines gewaltigen Schicksals über das Land in Folge des göttlichen Zornes schildert. Im weiteren Verlaufe des ersten Theiles unterscheiden wir drei sehr characteristische Hauptgruppen, denen sämmtlich die Idee der von Gott verliehenen Macht des Prophetenthums zu Grunde liegt: Die Wiederbelebung des Sohnes der Wittwe zu Zarpath (Sarepta), der Kampf und Sieg des Dieners Jehovah's über die Baalspriester und die Wiedereröffnung des Himmels durch das Flehen des Propheten. Hyperweise Kritiker haben die ganze Scene mit der Wittwe als zu dramatisch aus dem Oratorium hinweggewünscht. Aber sollte etwa dieser ergreifende Hergang nur von einem Dritten erzählt oder gar gerade einer der schönsten und eindringlichsten Beweise von der Macht des Propheten herausgeschnitten werden? M. selbst hat sich darüber in einem seiner Briefe an Schubring ausgesprochen: »Bei einem solchen Gegenstande, wie Elias, muss das dramatische vorwalten, wie mir scheint, – die Leute lebendig redend und handelnd eingeführt werden, nicht aber um Gottes willen ein Tongemälde daraus[344] entstehen, sondern eine recht anschauliche Welt, wie sie im alten Testamente in jedem Capitel steht.« – Die ausserordentlich lebendige und dramatische Musik muss den kältesten Zuhörer »auf schwanker Leiter der Gefühle« mitten in die Handlung hineinführen, deren verschiedene Situationen nicht etwa nur von blos nationalem, sondern von allgemein menschlichem Interesse sind. Als eine der schönsten Stellen dieses ersten Theiles bezeichnen wir die schon vorhin genannte: »Oeffne den Himmel« in dem fromm schwärmenden As dur, zwischen welches die Worte des Knaben in dem hellen C dur in den weiten Intervallen des Dreiklangs wie Stimmen der Elemente hindurchklingen. Wir haben hier Seelen- mit Naturmalerei auf das herrlichste und ergreifendste verbunden. Von tieferem Gemüthsklange ist die Scene der Wittwe, gewaltig, heroisch die mit den Baalspriestern; ganz besonders prachtvoll und majestätisch auch der Schlusschor des ersten Theils, wo das Volk für den Regen dankt, die Stelle, wo der Tenor bei den Worten »doch der Herr«, zuerst in der Secunde einsetzt, geradezu überwältigend. Der zweite Theil enthält freilich weniger eigentliche Handlung, ist aber ein desto lebendigeres Gemälde von Seelenzuständen. Er führt von Stufe zu Stufe bis in das Mysterium des Allerheiligsten. Das herrliche Terzett der Engel à capella, der Chor »Heilig, heilig« mit dem dazwischen leuchtenden Triller des Seraphs, sind tiefe Blicke in eine höhere Welt, die so nur dem Auge des gottbegeisterten Künstlers sich erschliessen konnte. Auch in diesem Theile lassen sich wieder mehrere Gruppen sondern: Das Auftreten des Propheten gegen den König und die deshalb gegen ihn erhobene Anklage der Iesebel, die Flucht und der Aufenthalt in der Wüste, die Verklärung auf dem Berge Horeb und die Himmelfahrt. Als ganz besonders wirksam muss noch die Composition der ganzen Stelle genannt werden von »der Herr ging vorüber« bis zu den Worten: »Und in dem Säuseln nahte sich der Herr!« Nicht umsonst hatte der Geist des Herrn M. bei der ersten Conception des Elias gerade auf diese Stelle geführt.

Die an die Himmelfahrt geknüpften messianischen Weissagungen erscheinen zwar nur mehr wie ein Anhang,[345] doch enthalten sie noch mehrere herrliche Chöre. Ganz besonders tief, grossartig, geheimnissvoll ist der Chor: »Aber Einer erwacht vor Mitternacht« Es ist die erhabene Weissagung auf Christus. Die Instrumentirung ist durchweg herrlich; der Effect, namentlich durch die Blasinstrumente, oft wahrhaft wunderbar.

Die Ausführung des Oratoriums war so, wie man sie von der Mitwirkung unserer vorzüglichsten musikalischen Kräfte erwarten konnte. Das bedeutend verstärkte Orchester, wie gewöhnlich, trefflich. Der Vortrag der ersten Sopranpartie entsprach ganz der Intention einer Künstlerin, welche mit den herrlichsten Mitteln das tiefste Verständniss des Mendelssohn'schen Genius verband und alle Kraft aufbot, um durch, so weit es an ihr lag, vollendete Darstellung des grossen Werkes dem Andenken des allgeliebten Todten ein würdiges Opfer darzubringen. Ihr zur Seite stand würdig Herr Heinrich Behr, der die anstrengende Partie des Elias mit ebenso grosser äusserer Vollendung, als vollem Antheil der Seele sang.

So weit unser damaliger Bericht. Wir fügen dem nur das eine Wort hinzu: das Oratorium Elias ist unbestreitbar Mendelssohn's grösstes Werk.

Eine Wiederholung des ganzen Werkes hörten wir im Gewandhausconcert nur noch einmal, am 17. Januar 1856, ebenso wie das erstemal unter Direction von Julius Rietz. Der erste Theil allein wurde schon am 7. November 1850 gegeben; einzelne Arien öfter bis zum Jahre 1880. Die Aufführung des ganzen Oratoriums wurde später schicklicher Weise in die Kirche verlegt, für die sie wohl von Haus aus bestimmt war. Eine vortreffliche Ausführung hörten wir zuletzt am 14. März 1884 von unserem Verein für kirchliche Musik unter seinem hochverdienten Dirigenten Professor Dr. Carl Riedel.

Doch kehren wir jetzt wieder zu unserem damals noch lebenden Componisten zurück. M. sprach sich über die Aufführung des Elias in Birmingham an seinen Bruder Paul noch am 26. August von eben daher hochbefriedigt aus:


»Noch niemals,« schreibt er, »ist ein Stück von mir bei der ersten Aufführung so vortrefflich gegangen und von den Musikern und Zuhörern so begeistert aufgenommen worden, wie dies Oratorium.[346] Es war gleich bei der ersten Probe in London zu sehen, dass sie es gern mochten, und gern sangen und spielten, aber dass es bei der Aufführung gleich einen solchen Schwung und Zug bekommen würde, das gestehe ich, hätte ich selbst nicht erwartet. Wärest Du nur dabei gewesen! Die ganzen dritthalb Stunden, die es dauerte, war der grosse Saal mit seinen 2000 Menschen und das grosse Orchester, alles so vollkommen auf den einen Punkt, um den sich's handelte, gespannt, dass von den Zuhörern nicht das leiseste Geräusch zu hören war, und dass ich mit den ungeheuern Orchester- und Chor- und Orgelmassen vorwärts und zurückgehen konnte, wie ich nur wollte. (Man sehe den ganzen höchst lesenswerthen Brief. M.'s Briefe, II., S. 467 u. 68.)«


Nicht ganz so befriedigt sprach er sich in einem zweiten Briefe vom 31. August aus London an seine edle Freundin, Frau Dr. Livia Frege aus. Sie hatte das Werk entstehen sehn, indem er oft mit der Partitur unter dem Arm zu ihr kommen, ihr die halbfertigen Stücke vorspielen und sie ihm daraus vom Blatt vorsingen durfte. Desshalb schien es ihm Pflicht, ihr vor allem Bericht über die Aufführung abzustatten. Zwar ertheilt er derselben im Grossen und Ganzen dasselbe begeisterte Lob, auch den Soli's des Bassbaritons, des bekannten Herrn Staudigl, und einem jungen englischen Tenoristen, den er schon in seinem Briefe an den Bruder sehr gerühmt hatte (»er sang die letzte Arie so wunderschön, dass ich mich zusammennehmen musste, um nicht gerührt zu werden und um ordentlich Tact zu schlagen«); aber mit der Ausführung der ersten Sopranpartie war er sehr unzufrieden. »Alles war daran so niedlich, so gefällig, so elegant, so unrein, so seelenlos und so kopflos dazu, und die Musik bekam eine Art von liebenswürdigem Ausdruck, über den ich noch heute toll werden möchte, wenn ich daran denke.« Gewiss schwebte ihm dabei der edle seelenvolle Gesang, die so überaus sympathische Stimme seiner Leipziger Freundin vor. Hätte er sie doch bei der ersten Aufführung seines Elias in Leipzig hören können!

Noch verdient von dem Birminghamer Musikfest ein artiger Vorfall erzählt zu werden, der ein helles Licht auf M.'s Geistesgegenwart und Fähigkeit schneller Concentration wirft. Am letzten Tage des Festes sollte unter[347] anderem das sogenannte Anthem von Händel gegeben werden. Das Concert war schon im Gange, als man bemerkte, dass das kleine der eigentlichen Krönungshymne vorangehende Recitativ, welches das Publicum in den Textbüchern hatte, in den Stimmen fehlte. Die Directoren des Festes waren darüber in Verlegenheit. M., der sich eben in einem Foyer der Halle befand, hörte davon und sagte: »Wartet, ich will Euch helfen.« Setzte sich augenblicklich nieder und componirte das Recitativ sammt den Orchesterstimmen in Zeit von einer halben Stunde. Es wurde sofort ausgeschrieben, die Stimmen noch nass vertheilt und natürlich ohne alle Probe prima vista ausgeführt. Die Inspiration des Augenblicks wirkte, wie bei dem Componisten, so auch bei den Ausführenden. Es ging vortrefflich.


Kann man sich wundern, dass M. nach dem so überaus bewegten Leben und den fast unglaublichen Anstrengungen in diesem Sommer sich bei seiner Zurückkunft nach Leipzig angegriffen fühlte? Er betheiligte sich zwar abermals an der Leitung der Abonnementconcerte, die er wieder mit Gade gemeinschaftlich übernahm, und wirkte besonders für die treffliche Ausführung Beethoven'scher Symphonieen, wie z.B. der B dur und F dur, die wir fast noch nie so vollkommen gehört hatten. (Die B dur in dem neunzehnten Abonnementconcerte, Donnerstag den 11. März 1846, dem letzten, das M. in Leipzig überhaupt dirigirte.) Auch half er die neue Symphonie Robert Schumann's C dur, die er im fünfzehnten Abonnementconcert und gleich darauf in einem Extraconcert von Clara Schumann dirigirte, in die Welt einführen. Aber von seinen eigenen neuen Compositionen führte er in Leipzig nichts auf, und mit den älteren hielt er sehr zurück. Wir hörten in dem ganzen Concertcyklus unter seiner Leitung nichts von ihm, als die Scene und Arie B dur, Op. 92 von Fräulein Schloss gesungen, im vierten, die Ouvertüre zu Meeresstille und glückliche Fahrt im zwölften, und die A moll-Symphonie im sechzehnten Abonnementconcert. Ausserdem spielte[348] Mad. Dulken im ersten Abonnementconcert sein Concert in D moll und Clara Schumann in dem ihrigen das aus G moll, und in den musikalischen Abendunterhaltungen wurde ein Quartett und das Octett von M. gegeben, jedoch ohne seine Mitwirkung. Uebrigens war die Auswahl der Concerte grösstentheils vortrefflich, fast nur aus classischen Meisterwerken zusammengesetzt. In den historischen Concerten, welche mit dem siebzehnten des Abonnements in der früheren Weise der Zusammenstellung mehrerer Meister begannen, und deren letztes mit Werken der Gegenwart schloss, war er, wie man doch allgemein gehofft hatte, nicht vertreten. Das öffentliche Spielen war ihm vom Arzte seiner Reizbarkeit wegen verboten. Oft klagte er über heftiges Kopfweh. Mit Mühe konnte er bewogen werden, die Leitung der letzten Proben zu Paulus und der Aufführung, welche am Osterfeiertag 1847, die letzte unter seiner Direction, in der erleuchteten Paulinerkirche stattfand, selbst zu übernehmen. Seine grössere Zurückgezogenheit von derartigen öffentlichen Leistungen rechtfertigte er im vertrauten Kreise damit, dass er die ihm jetzt noch gegebene Zeit benutzen müsse, um zu componiren. Bis zu seinem vierzigsten Jahre müsse er noch arbeiten, dann wolle er ruhn. (Er meinte darunter natürlich nur seine productive Thätigkeit.) Dennoch ging er einem gegebenen Versprechen gemäss, unmittelbar nach der Aufführung des Paulus in Leipzig, nach England, um in der Exeterhall zu London auf Ersuchen der sacred harmonic society die Aufführung seines Elias zu leiten. Diese Gesellschaft für geistliche Musik suchte mit dem grossen Künstlerverein zu wetteifern, der das Meisterwerk ein Jahr vorher in Birmingham zum ersten mal zur Darstellung gebracht hatte. Ende April wurde Elias in Exeterhall dreimal mit stets gleichem Beifall unter M.'s Direction aufgeführt. Nach der ersten Aufführung schrieb der Prinz-Gemahl Albert die folgenden Worte in das Textbuch, dessen er sich bedient hatte, und schickte es M. als Andenken zu:


»Dem edlen Künstler, der, umgeben von dem Baalsdienste einer falschen Kunst, durch Genius und Studium vermocht hat, den Dienst der wahren Kunst, wie ein anderer Elias treu zu bewahren[349] und unser Ohr aus dem Taumel eines gedankenlosen Tönegetändels wieder an den reinen Ton nachahmender Empfindung und gesetzmässiger Harmonie zu gewöhnen – dem grossen Meister, der alles sanfte Gesäusel, wie allen mächtigen Sturm der Elemente an dem ruhigen Faden seines Gedankens vor uns aufrollt, – zur dankbaren Erinnerung geschrieben

Buckinghan Palace.

Albert.«


Gewiss ein herrliches Zeugniss von der Hand eines edlen kunstsinnigen Fürsten, gleich ehrenvoll für den Aussteller wie für den Empfänger.

Zwischen diesen drei Aufführungen in London wohnte M. auch einer trefflichen Wiedergabe seines Werkes in Manchester bei. Am 11. Mai brachte er in Gegenwart des Hofes im philharmonischen Concert seine Musik zum Sommernachtstraum zu Gehör und spielte Beethoven's G dur-Concert mit improvisirten Cadenzen, die den entzückten Anwesenden unvergesslich blieben.

Leider aber sollte nun alsbald auf diesen Höhen- und Lichtpunkt seines Lebens der tiefste dunkelste Schatten folgen. Auf seiner Rückreise traf ihn in Frankfurt, wo er die Seinigen zu finden sich freute, wie ein Schlag aus heiterem Himmel die Nachricht von dem am 17. Mai Nachmittags erfolgten plötzlichen Tode seiner heissgeliebten Schwester Fanny. Sie starb, wie wir schon früher erfahren haben, einen echten Künstlertod, mitten in einer Probe zu ihrer nächsten Sonntagsmusik. M. wurde durch diese Nachricht furchtbar erschüttert. Der Contrast zwischen den frohen Ereignissen, die er eben in England durchlebt, und diesem Trauerfall konnte nicht anders als schrecklich wirken. Wir wissen, wie er mit dieser Schwester von frühester Jugend an durch die feinsten geistigen Fühlfäden verbunden, wie innig der Ideenaustausch zwischen ihnen war, wie viel er auf ihr Urtheil gab, wie hoch er ihren Rath und Beistand schätzte. Auf die erste Nachricht von Fanny's Tode soll M. einen lauten Schrei ausgestossen haben. Es war aber nicht blos ein seelischer, sondern auch ein physischer Schmerz, der ihn so heftig ergriff. Wie der Nerv seiner geistigen Verbindung mit der Schwester durch diesen plötzlichen Todesfall abgerissen wurde, so zersprang nach der Ansicht seines Arztes in[350] diesem Momente heftiger Gemütsbewegung vielleicht in seinem Kopfe ein kleines Blutgefäss, und das in das Gehirn eintretende Blut war es, was ihm den starken Kopfschmerz verursachte und später bei wiederholten und gesteigerten Zufällen dieser Art seinen Tod herbeiführte. Mittelbar war also in der That der Tod der Schwester auch die Ursache seines frühen Scheidens, aber man würde, glaube ich, den Manen des grossen Künstlers zu nahe treten durch die Annahme, als habe er den Schmerz über ihren Abschied auch geistig nicht mehr verwinden können. »Perlen,« sagt Graf Appiani in Lessing's Emilia Galotti, »bedeuten Thränen,« aber auch Thränen können sich in Perlen verwandeln; so sind echte Perlen die beiden Briefe, welche M. bald nach dem Tode Fanny's an seinen Schwager Hensel und dessen Sohn Sebastian schrieb (abgedr. in Hensel, die Familie M. III, S. 249 und 250) und an Sebastian Hensel zu dessen Geburtstag, Baden-Baden, den 13. Juni 1847 (M.'s Briefe II, S. 493 und 494). Ungern versage ich es mir, sie hier nochmals abdrucken zu lassen. Sie sind ein Bild des theilnehmenden Herzens, das im eigenen Schmerz auch den des Anderen nicht vergisst, des edelsten, sittlich-reinsten Menschen. – Wohl war er auf's tiefste erschüttert, und konnte sich lange nicht fassen; aber hielten ihn nicht die süssesten und edelsten Familienbande, hielt ihn nicht das erhabene Ziel seines Künstlerberufes, das er sich selbst gestellt, noch auf der Erde zurück? Die eigentliche Ursache seines frühen Todes ist also vielmehr in seiner rastlosen Thätigkeit zu suchen, durch welche er die Kraft seines unendlich fein organisirten Nervensystems vorzeitig erschöpfte. Dafür spricht ausser seinem häufig wiederkehrenden Kopfleiden auch der Umstand, dass er in der letzten Zeit Musik bisweilen nicht hören konnte, ohne zu weinen. Wer aber wollte ihn darum tadeln, dass er dem schöpferischen Triebe nachgab, so lange er noch irgend Kraft und Lust in sich spürte? »Lass mich nur jetzt noch arbeiten,« sagte er oft zu der Gattin, die ihn mahnte, sich zu schonen; »es wird schon auch für mich die Zeit der Ruhe kommen,« und auch zu anderen Freunden sprach er bisweilen mit einer Art von Ahnung seines frühen Todes: »Ich muss[351] die Frist benutzen, die mir noch gegeben ist; ich weiss nicht, wie lange sie noch dauert.«

So suchte und fand er denn auch jetzt Linderung für seinen Schmerz in neuer schöpferischer Thätigkeit. Zwar anfangs wollte ihm dies noch nicht recht gelingen. In den ersten Wochen schrieb er in einem Briefe: »Ich kann nur noch mechanisch arbeiten,« und er hielt sich zu seiner Zerstreuung eine Zeit lang mit den Seinen in Baden-Baden auf. Von hier begab er sich nach der Schweiz und gewann im Anschauen einer grossen Natur und bei dem Triebe, selbst noch Grosses zu schaffen und zu vollenden, bald wieder die alte Stärke seines Geistes. Anfangs hatte er beabsichtigt, nach Vevey am Genfer See zu gehen; aber wegen der dortigen politischen Unruhen suchte er sich einen stilleren Winkel in der Schweiz aus und liess sich in dem reizend gelegenen Interlaken, anfangs zugleich mit seinem Bruder Paul und dessen Familie in dem alten lieb gewordenen Hôtel Interlaken unter den grossen schattigen Kastanienbäumen eine Zeit lang häuslich nieder. Hier arbeitete er oft ganze Tage ununterbrochen, schweifte aber dann auch wohl ungebunden Tagelang in und auf den Bergen umher.

Zwei grosse Werke waren es hauptsächlich, die ihn beschäftigten: ein neues Oratorium »Christus« und eine Oper »Loreley«, zu welcher ihm Emanuel Geibel den Text geschrieben. Von dem Oratorium ist nur das Stück von der Geburt Christi von ihm vollendet worden, bestehend aus Recitativ »Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande,« dem ein von drei Männerstimmen, Bass, Bariton und Tenor von Cellis begleitetes Terzett folgt: »Wo ist der neugebor'ne König der Juden, wir haben seinen Stern gesehn,« darauf ein Chor: »Es wird ein Stern aus Jacob aufgehn, und ein Scepter« u.s.w. 4. Mos. 24, 17 und zuletzt der Choral »Wie schön leucht' uns der Morgenstern;« eine vortreffliche Weihnachtsmusik, von schönster Wirkung, die jetzt häufig in unseren Kirchen aufgeführt wird. Ausserdem sind von dem Oratorium nur ein paar Chöre aus der Passion fertig geworden. Das Oratorium war grossartig angelegt. Es sollte in drei Theilen Christi irdische Wallfahrt, die Höllenfahrt und die Himmelfahrt enthalten.[352]

Von der Oper Loreley besitzen wir nur ein schönes Ave Maria, Chor mit Solo, dann das grosse äusserst dramatisch gehaltene Finale, in dem sich die von ihrem Geliebten betrogene Leonore den Wassergeistern überliefert, die ihr zur Rache helfen sollen, und die sie zur Braut des Rheines erklären. Ausserdem sind noch ein grosser Marsch mit Chor und die Anfänge von drei anderen Musikstücken vorhanden. Von der gewaltigen Wirkung des Finales konnte man sich noch am 4. November 1884 überzeugen, wo es auf der Leipziger Bühne vortrefflich ausgeführt wurde. Die junge Sängerin, Fräulein Beber, die damals die Loreley sang, ist leider seit jener Zeit auch schon entschlafen. – Ausser den genannten Stücken schrieb M. in Interlaken noch zwei Streichquartette in F moll und D moll und einige Motetten und Lieder, unter ihnen das herrliche Nachtlied von Eichendorff »Vergangen ist der lichte Tag«, Op. 71 Nr. 6, bei welchem er allerdings vorzugsweise der verstorbenen Schwester gedacht haben soll. Am 18. September kehrte er nach Leipzig zurück. Seine Stimmung schien, wie mir seine Freundin sagte, ziemlich ruhig und heiter; nur äusserte er, »es drücke ihn die Leipziger Luft«. Eine Reise nach und ein achttägiger Aufenthalt in Berlin bei seinen Geschwistern riss allerdings durch so viele schmerzliche Erinnerungen die kaum vernarbte Wunde wieder auf. Doch fasste er sich auch nach diesem Familientrauerfest bald wieder. Er liess sich von der schon öfter genannten liebenswürdigen Künstlerin, die ihm durch ihr grosses Talent, wie durch die innerliche Auffassung seiner Werke auch geistig nahe stand, die ganze Sopranpartie aus Elias vorsingen, äusserte mehrfach seine Freude an der begonnenen Oper und der Aussicht, seinen Elias in Wien zu dirigiren, worauf er ihn aber dann gleich in Leipzig zur Aufführung bringen und die Proben dazu selbst leiten wolle. Am 9. October brachte er seiner Freundin ein neues Heft seiner Lieder (wohl das vorhin genannte Op. 71), darunter das Nachtlied von Eichendorff.9 Aber indem[353] sie ihm auf sein Verlangen gerade dieses Lied zweimal sang, wurde er bei der Wiederholung desselben plötzlich sehr blass und von einem ohnmachtähnlichen Schwindel überfallen. Zwar ging er von da noch allein nach seiner Wohnung in der Königsstrasse, aber dort wiederholte sich diese Anwandlung in verstärktem Maasse, von der er sich indes noch einmal erholte. Am 28. October hatte er mit seiner Gattin einen Spaziergang gemacht, und mit gesundem Appetit sein Mittagsmahl verzehrt. Da aber erneuerte sich jener Zufall mit grösserer Heftigkeit; der herbeigerufene Arzt erklärte ihn für einen Nervenschlag. Der Kranke lag eine Zeit lang bewusstlos. Als er wieder zur Besinnung kam, klagte er über heftigen Kopfschmerz. Doch besserte sich sein Zustand wieder etwas, und die Aerzte schienen noch nicht alle Hoffnung aufzugeben. Jetzt erst wurde die Gefahr, in welcher ein so theures Leben schwebte, in der Stadt allgemein bekannt. Besorgniss, zärtliche Theilnahme zeigte sich auf allen Gesichtern. Wo man hinblickte und hinhörte, überall ängstliche und liebevolle Nachfrage nach des geliebten Kranken Ergehen. Noch einmal kehrte ihm die Besinnung zurück, und er antwortete zuweilen auf an ihn gerichtete Fragen, und schien die Umstehenden noch zu kennen. Wie viele heisse Gebete mögen in dieser Zwischenzeit für seine Erhaltung zum Himmel gestiegen sein! Aber im Rathe des Ewigen war es anders beschlossen. Am 3. November hatte der Kranke durch irgend einen geringfügigen Umstand, wie dies bei Nervenkranken so leicht zu geschehen pflegt, eine Gemüthsbewegung, nach welcher sich jener Schlaganfall zum dritten mal erneuerte und dem Kranken das Bewusstsein völlig raubte. Plötzlich wurde er, augenscheinlich durch einen furchtbaren Schmerz im Kopfe, emporgerissen, er stiess mit aufgerissenem Munde einen scharfen Schrei aus und sank in's Kissen zurück. Von nun an lag er im Taumelschlafe, antwortete nur noch mit Ja oder Nein, und einmal auf Caecilien's Frage, wie ihm sei: »Müde, sehr müde!« So[354] schlief er ruhig bis zum nächsten Tage, Donnerstag, den 4. November, Abends 9 Uhr 24 Minuten, da stockte sein Athem und er hatte seine edle Seele ausgehaucht. (Zum Theil nach Devrient, Erinnerungen, S. 286.) Seine Züge nahmen bald den Ausdruck hoher Verklärung an. So sehr glich er am ersten Tage noch einem Schlafenden, dass einige seiner nächsten Freunde wähnten, er wäre vielleicht nur scheintodt, eine Täuschung, der sich die hoffende Liebe so gern hingiebt. Seine Freunde Bendemann und Hübner, die von Dresden herbeigeeilt waren, hielten die verklärten Züge in einem Bilde fest. Der Bildhauer Knauer entnahm ihnen das Modell zu einer Büste.

Die Trauer über den Verlust des geliebten Mannes war im Anfang grenzenlos. Es schien, als habe die Stadt ein allgemeines Unglück betroffen. Hunderte von Leidtragenden drängten sich nach der Wohnung, um die geliebten Züge, deren Anblick die Familie mit edler Bereitwilligkeit gestattete, noch einmal zu sehen. Mild und friedlich lag er da in seinem engen Bett, wie Einer, der des grossen Augenblickes der Rechenschaft ernst aber freudig wartet, geschmückt mit den Zeichen seines wohlverdienten irdischen Ruhmes, mit Palmenzweigen und Lorbeerkränzen, die ihm die Liebe seiner Freunde in seine letzte Schlummerstätte mitgab, obwohl er ihrer jetzt nicht mehr bedurfte. Allmählich mussten seine nächsten Freunde die Fassung gewinnen, ihm eine würdige Todtenfeier zu bereiten. Sie fand am 7. November, Nachmittags 4 Uhr, in der erleuchteten Paulinerkirche statt. Vier schwarzverhüllte Rosse zogen den mit Palmenzweigen, Lorbeerkränzen und Blumen reichgeschmückten Sarg. Die Enden des kostbaren Bahrtuches trugen seine Freunde und Kunstgenossen Robert Schumann, David, Gade, Hauptmann, Rietz und Moscheles. Vor dem Sarge gingen die Mitglieder des Orchesters und Stadtmusikchores, die Lehrer und die männlichen Zöglinge des Conservatoriums, unmittelbar hinter ihm die nächsten Verwandten, darunter der Bruder des Verstorbenen, und seine Schwäger Hensel und Dirichlet, dann die Geistlichen, die Behörden der Regierung, Stadt und Universität, einige Officiere in Uniform und ein unübersehbarer Zug von Freunden und Verehrern des Verewigten,[355] der sich unter den feierlichen Klängen des Stadt- und Militärmusikchores, gemessenen Schrittes nach der Kirche bewegte. Moscheles hatte dazu das Lied ohne Worte in E moll aus dem fünften Hefte für Blasinstrumente gesetzt. In der Kirche angekommen, wurde der Sarg auf einen schwarzverhüllten Katafalk gestellt, und mit sechs auf hohen Candelabern brennenden Wachskerzen umgeben, während auf der Orgel ein Präludium aus Antigone – die Stelle, wo Kreon den Leichnam seines Sohnes Hämon hereinträgt – ertönte. Ein Zögling des Conservatoriums legte einen silbernen Lorbeerkranz zu des Meisters Füssen nieder. Hierauf stimmte der Chor den Vers: »Erkenne mich mein Hüter« an, in welchen die ganze Versammlung einfiel. Dann folgte der von M. selbst so herrlich gesetzte Choral aus Paulus »Dir Herr, Dir will ich mich ergeben«, worauf Pastor Howard von der reformirten Gemeinde dem Entschlafenen eine schlichte aber würdige Gedächtnissrede hielt, der er die Worte aus Hiob: »Der Herr hat ihn gegeben, der Herr hat ihn genommen« zu Grunde legte, und mit einem erhebenden Gebet schloss. Jetzt erklang wieder vom Chore herab unter Instrumentalbegleitung einer der schönsten Chöre aus Paulus, der, welcher nach dem Begräbniss des Stephanus eintritt: »Siehe wir preisen selig, die erduldet haben,« und nach dem Segen über den entschlafenen Geist und die entseelte Hülle der Schlusschor aus der Passionsmusik: »Wir setzen uns mit Thränen nieder, und rufen Dir im Grabe zu: Ruhe sanfte, sanfte Ruh!« – Es war Niemand, den diese Feier nicht ergriffen, erbaut, erhoben hätte. Als die ganze Versammlung schon die Kirche verlassen hatte, trat noch eine edle Gestalt in tiefer Trauer ein, kniete am Sarge nieder und betete. Sie war es, die dem Gatten das letzte Opfer der Liebe brachte.

Der Sarg mit seinem kostbaren Inhalt wurde noch in der Nacht mit einem Extrazuge nach Berlin abgeführt. Als der Zug um Mitternacht in Köthen ankam, wurde er durch einen Sängerverein mit einem Choral empfangen. In Dessau stand Morgens 1/22 Uhr auf dem Bahnhofe entblössten Hauptes der ehrwürdige Nestor der Tonkunst, Friedrich Schneider, umgeben von einem Sängerchore,[356] der durch einen eigens für diese Stunde der Trauer componirten Gesang unter bittern Thränen des greisen Componisten dem geliebten Meister die letzte Ehre erwies. Als der Sarg mit seinem ganzen Schmuck von Blumenkränzen und wehenden Palmen auf dem Anhaltischen Bahnhofe in Berlin eingetroffen war, wurde er auf den vor dem Hause haltenden Leichenwagen gebracht, während ein Musikchor den Choral »Jesus meine Zuversicht« ertönen liess. Denselben Choral sang der Domchor, als der Trauerzug, beleuchtet von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, auf dem Dreifaltigkeitskirchhofe vor dem Halle'schen Thore ankam. Der Prediger Berduschek, der Familie Mendelssohn nahe befreundet, hielt eine ergreifende Rede, bei welcher kein Auge ohne Thränen blieb. Nach dieser Rede ertönte von den Mitgliedern der Singacademie und mehreren Künstlern der Bühne unter Rungenhagen's Leitung der Gesang: »Wie sie so sanft ruhn,« dem wie mit Engelsstimmen ein kirchlicher von Grell componirter Gesang: »Christus ist die Auferstehung« durch den Domchor antwortete. Der Sarg M.'s wurde neben dem seiner Schwester in der Familiengruft beigesetzt. Bei der letzten Anwesenheit M.'s in Berlin hatte sich Fanny gegen den Bruder beklagt, dass er seit langem ihren Geburtstag nicht mehr bei ihr gefeiert hätte. »Verlass Dich darauf!« sagte M., »das nächste mal bin ich bei Dir.« Er hat Wort gehalten. So schlafen denn die beiden zärtlichen Geschwister neben einander, bis der grosse Tag der Auferstehung sie rufen wird.

Seit Menschengedenken hatte kein Trauerfall so die Theilnahme der ganzen gebildeten Welt erregt, wie dieser; nur die Trauer um Raphaël, von der uns Vasari erzählt, liesse sich mit ihr vergleichen. In ganz Deutschland wurden dem Verewigten zu Ehren Trauerfeierlichkeiten veranstaltet. So in Berlin in höchst würdiger Weise in einer der letzten Symphonie-Soiréen, wo zuerst der Trauermarsch aus Beethoven's Eroica ertönte, dann ein Kyrie, hierauf die A moll-Symphonie, die Ouvertüren zum Sommernachtstraum und zu den Hebriden. Den Schluss bildete ein Psalm à capella und das Lied »Es ist bestimmt in Gottes Rath«. Hofcapellmeister Wilhelm Taubert[357] hatte diese sinnige Feier angeordnet und geleitet. Die Singacademie wollte nicht zurückbleiben, und veranstaltete zu M.'s Gedächtniss eine zweite Aufführung des Elias, nachdem die erste, welche (nächst der in Hamburg?) in Deutschland überhaupt die erste war, bereits am Tage vor M.'s Tode stattgefunden hatte. Höchst grossartig war die Todtenfeier in Wien. Am 15. November fand hier die erste Aufführung des Elias statt, zu welcher man M. erwartet hatte. »Die zahlreiche Menge der Sänger und Sängerinnen erschien ganz schwarz gekleidet, die Damen des Chores weiss, mit einer schwarzen Atlasschleife auf der linken Seite. Das Pult, an welchem der Verewigte sein Werk hätte leiten sollen, war mit schwarzem Flor behangen. Darauf lagen eine Notenrolle und ein frischer grüner Lorbeerkranz; an einem zweiten Pulte dirigirte Herr Seidl. Nach den ersten Tacten des Tonwerkes trat Fräulein Weisbach vor, und sprach einen von L.A. Frankl, Redacteur der Sonntagsblätter, zu dieser Gelegenheit gedichteten sinnigen Prolog.« – Ebenso veranstaltete die sacred harmonic society am 17. November in Exeterhall eine abermalige Aufführung des Elias. Alle Anwesenden waren schwarz gekleidet. Das Concert wurde mit Händel's Todtenmarsch aus Saul eröffnet, den die ganze Versammlung stehend anhörte. Dieselbe Gesellschaft wollte M. in London ein Denkmal errichten, zu welchem die Königin Victoria und Prinz Albert 50 Pfd. Sterling zeichneten. Eine höchst sinnige Feier dieser Art fand aber auch in Leipzig statt. Am Todestage M.'s war das Concert ausgesetzt worden, weil keiner der Musiker, während der Meister mit dem Tode rang, spielen wollte, und auch schwerlich unter den wahren Musikfreunden ein Hörer sich gefunden hätte. Das Programm des nächsten Concertes, Donnerstag den 11. November, trug die Ueberschrift: »Zum Gedächtniss des entschlafenen Mendelssohn-Bartholdy.« Der erste Theil enthielt folgende Compositionen M.'s: Gebet von Dr. Martin Luther »Verleih uns Frieden gnädiglich«, Ouvertüre zur Melusine, Nachtlied von Eichendorff: »Vergangen ist der lichte Tag,« Motette à capella: »Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren« (in der Schweiz geschrieben) und die Ouvertüre zum[358] Paulus. Den zweiten Theil bildete Beethoven's Eroica. So war denn das ganze Leben des Verewigten trefflich versinnbildet: seine fromme Richtung nach oben, seine höchste irdische Liebe, der tiefste Schmerz, der durch sein Leben zog, seine Ergebung in Gottes Willen, nachdem er seinen Beruf treulich erfüllt und die Stimme, die ihn zur Auferstehung rief. Aber auch seine Liebe zu dem grössten Meister seiner Kunst, und der Platz, der neben diesem fortan seinen Werken auf Erden, und in unseren Herzen gebührt. Jenes Lied von Eichendorff sang die Künstlerin, die ihm im Leben am nächsten gestanden, tief aus dem Herzen heraus und doch mit wunderbarer Selbstbeherrschung auch in höchster äusserer Vollendung. Im Quartett der Motette trat Mendelssohn's treuer Freund, der längst nicht mehr öffentlich gesungen, Schleinitz, und die beiden Künstler, welche zuerst unter ihm die Blüthe der Concerte erlebt, Pögner und die Grabau-Bünau mit ein. Der Saal, der die Zahl der Hörer kaum fasste, glich in diesem Augenblicke einem Trauerhause, die Versammlung einer grossen Familie, die um einen geliebten Todten weint. Keine Hand regte sich zum Beifall, in andachtsvoller Stille lauschte die Versammlung den geweihten Klängen. Es war, als schwebe der Geist Mendelssohn's durch diesen hehren Raum, und senke sich in jedes Herz herab.

In ähnlicher Weise haben die Städte Köln, Bremen, Lübeck, Magdeburg, Frankfurt a.M., Mainz, Breslau, Altenburg und viele andere, jede nach ihren Kräften, das Andenken an den geliebten Todten gefeiert. Aber selbst die gekrönten Häupter sind hinter ihren Unterthanen nicht zurückgeblieben. Die Königin Victoria von Grossbritannien, die Könige von Preussen und Sachsen sendeten der trauernden Wittwe Trostschreiben voll inniger Theilnahme und ehrenvollster Anerkennung der Verdienste des Verblichenen. Das des Königs von Sachsen war eigenhändig. Auch die in Paris lebenden deutschen Tonkünstler sendeten eine Beileidsadresse. Jenen Trauerfeierlichkeiten wurde selbstverständlich von keiner Regierung irgend ein Hinderniss bereitet. Einzig der Kurprinz, nachherige Kurfürst von Hessen, versagte seinem Capellmeister Louis Spohr die Erlaubniss[359] zu einer Trauerfeier für den dahingeschiedenen Freund und Künstler. Es entspricht das der rauhen und tirannischen Gesinnung, welche diesen Fürsten wenige Jahre später vom Thron und aus dem Lande vertrieb. Der würdige Spohr aber konnte sich mit dem Andenken trösten, das für den Verewigten in allen Deutschen, ja in allen Herzen, die für das Hohe, Heilige erglühn, diesseits und jenseits des Meeres fortleben wird.

1

Hiernach ist die Angabe in meinem ersten Buche, 15. October, zu berichtigen.

2

Wie treu Leipzig noch an den Mendelssohn'schen Traditionen festhält und wie gross noch immer die Zugkraft der Antigone in Verbindung mit der Musik M.'s ist, bewies eine Aufführung derselben zum Gedächtniss des Todestages M.'s, welche der höchst einsichtsvolle fein kunstsinnige jetzige Director des Leipziger Stadttheaters, Stägemann, am 2. November 1885 mit ausgezeichneten Mitteln in Scene gesetzt hatte. Sie wurde gleich am 7. November bei völlig ausverkauftem Hause wiederholt. Die Kritik unseres vortrefflichen v. Gottschall sprach von dem Adel der Natur M.'s, überhaupt voll Anerkennung für das Ganze. Der 3. Februar 1886 brachte eine abermalige Wiederholung.

3

Den ersten näheren Berührungspunkt zwischen Mendelssohn und Robert Franz bildete die gemeinsame Verehrung für Sebastian Bach. Robert Franz war begierig, die in M.'s Besitz befindlichen Bach'schen Partituren, namentlich die Matthäus-Passion, kennen zu lernen und mit seiner Singacademie aufzuführen, wandte sich deshalb Anfang 1842 an ihn. M. stellte ihm »mit Freuden« eine Abschrift von der Original-Partitur (ein in hohen Ehren gehaltenes Geschenk seiner Grossmutter) zur Verfügung. – Später widmete Robert Franz M. sein bei Breitkopf & Härtel in Leipzig erschienenes Op. 3 Sechs Lieder und fügte dem Dedicationsexemplare seine kurz vorher ebenda herausgegebenen, Robert Schumann gewidmeten »Schilflieder« Op. 2 bei. Das im Anhange mitgetheilte, facsimilirte Antwortschreiben M.'s zeigt, in wie liebenswürdiger Weise er jüngere Künstler rückhaltlos anzuerkennen und zu ermuntern verstand.

4

Zum Beweise dafür, welcher Segen auf dieser Lieblingsschöpfung M.'s geruht, welchen grossartigen internationalen Aufschwung dieses Institut seit seiner Gründung bis heute genommen hat, sei erwähnt, dass gegenwärtig dasselbe aus 548 Zöglingen mit 35 vorzüglichen, jeder in seinem Fache ausgezeichneten Lehrern besteht. Ein sehr wichtiger Fortschritt seit einigen Jahren ist die Ertheilung des Unterrichts auch für Blasinstrumente, welche sogar die Ausführung grosser Orchesterwerke lediglich mit eigenen Kräften des Conservatoriums ermöglicht. Beweis dafür war eine herrliche Gedächtnissfeier am Todestage M.'s am 4. November 1885. Das Programm bestand aus: Chor aus Paulus »Siehe, wir preisen selig,« Quintett für Streichinstrumente Op. 87 B dur, Terzett aus Elias, »Hebe Deine Augen auf,« Violinconcert E moll, 2. u. 3. Satz, dem 98. Psalm für 8 stimmigen Chor und Orchester und der A moll-Symphonie, sämmtliche Compositionen nur von Mitgliedern des Conservatoriums vortrefflich ausgeführt.

5

Ernst Ferdinand Wenzel, ein feiner ungewöhnlich vielseitig gebildeter Mann von scharfem Verstand und klarem Urtheil, ganz besonders geeignet, Geschmack und höheres Verständniss für Musik in seinen Schülern und Schülerinnen zu wecken. Er widmete dem Conservatorium volle 37 Jahre seine besten Kräfte. † am 16. August 1880 in Bad Kösen. Die dankbare Liebe seiner Freunde, Schüler und Verehrer hat ihm auf dem Johannesfriedhofe zu Leipzig ein schönes Denkmal errichtet.

6

Von M. im Juli 1844 mitten unter einem grossen Geschäftstroubel in wenigen Tagen in London componirt.

7

Julius Rietz führte es in seinem chronologischen Verzeichniss der Werke M.'s noch als nicht gedruckt auf.

8

Julius Rietz giebt in seinem chronologischen Verzeichniss irrthümlich den 25. August an.

9

Nicht dieses Lied, sondern das altdeutsche Frühlingslied »Der trübe Winter ist vorbei, die Schwalben wiederkehren,« das letzte in Op. 86, Nr. 15 der nachgelassenen Werke, soll M.'s letzte Composition gewesen sein. Einer nicht ganz verbürgten Tradition nach soll er es seinem Freunde Schleinitz mit den Worten gebracht haben: »Da nimm es nur, es ist mein Letztes.«

Quelle:
Lampadius, Wilhelm Adolf: Felix Mendelssohn Bartholdy. Ein Gesammtbild seines Lebens und Wirkens. Leipzig: Leuckart, 1886., S. 271,360.
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