V. Characteristik Mendelssohn's als Mensch und Künstler.

Es wäre schlimm, und ein Beweis dafür, dass ich bei dem Versuch, statt des früheren »Denkmals für Freunde«, ein Gesammtbild des Lebens und Wirkens Felix Mendelssohn-Bartholdy's zu geben, meinen Zweck verfehlt hätte, wenn nicht jedem meiner Leser dieses Bild einer ebenso liebenswürdigen Persönlichkeit als einer ganz ungewöhnlichen Schaffenskraft unwillkürlich eingeprägt worden wäre. Aber eben wegen des grossen Reichthums und der Mannigfaltigkeit dieses Lebens und Wirkens möge es mir vergönnt sein, die Hauptzüge des Bildes am Schlusse dieses Werkes noch einmal in Kürze zusammenzufassen.

Zuerst ein Bild der Leiblichkeit als ergänzenden Commentar zu dem Holzschnitt nach dem trefflichen Bilde von Magnus, welches, eines der wenigen gelungenen, diesen Band als Titelkupfer ziert. Mendelssohn war ein Mann von beinahe unter mittlerer Grösse, etwas nachlässig, aber dabei doch graziös in Gang und Haltung. Sein Haupt umflossen von glänzend schwarzen, leicht gelockten Haaren,[363] die Stirn, wie sich von selbst versteht, als die Behausung einer Fülle von Gedanken, hoch und gewölbt; die Züge des Gesichts entschieden ausgeprägt, aber edel. Das Auge von einem unaussprechlich bedeutenden Ausdruck – wenn es zürnte oder befremdet forschte, kaum zu ertragen; wenn es freundlich blickte, hinreissend schön, unendlich gewinnend; die Nase imposant, leicht gebogen, fast römisch; der Mund fest, hatte geschlossen etwas Ehrfurchtgebietendes, konnte aber auch sehr anmuthig lächeln. In diesem zierlichen, wohlgebauten Körper wohnte nicht nur ein hoher Geist, sondern auch das trefflichste Herz. Um das Bedeutsamste in seinem Character gleich voranzustellen: M. war evangelischer Christ im vollsten Sinne des Worts. Er kannte und liebte die Bibel, wie Wenige in seiner Zeit; aus dieser Erkenntniss kam ihm der starke Glaube, die gottinnige Frömmigkeit, ohne welche es ihm unmöglich gewesen sein würde, jene so tief empfundenen ergreifenden geistlichen Tonwerke zu schaffen; aber auch das andere Princip des ächt evangelischen Lebens, die Liebe, war gleich mächtig in ihm. Sohnesliebe, Geschwisterliebe, Gattenliebe, Vaterliebe, Freundesliebe, in allen diesen Strahlenbrechungen der grossen Centralsonne, der göttlichen Liebe im Menschenherzen und Menschenleben steht M. als unübertreffliches Vorbild da. Mit welcher zärtlichen Ehrfurcht er an seinem Vater hing, wie er ihn als den besten Freund und Rathgeber verehrte, davon giebt vor allem sein tiefer Schmerz über dessen Verlust ein rührendes Zeugniss; wie er als guter Sohn seine Mutter auf den Händen trug, und sie zur Vertrauten nicht nur seiner Herzensangelegenheiten, sondern auch seines künstlerischen Schaffens machte, dafür sprechen seine Briefe an sie, und ihre Briefe an und über ihn, unter letzteren namentlich ein Brief der Mutter an Felix' Schwester Rebecka, von einer Reise mit M. zum Musikfeste in Köln 1835, den uns Hensel, die Fam. M., Thl. I, S. 398 aufbehalten hat, worin es heisst:


»Durch Felix wirst Du erfahren, dass Lea in Abrahams Schooss wohlbehalten sass, denn er schreibt Dir von allen Orten mit wahrer Pietät. Dass er aber eine leibhaftige, nur noch veredelte, gesteigerte, liebenswürdigere Krankenpflegerin ist, wird Dir seine Bescheidenheit[364] verhehlt haben. Ich durfte im eigentlichen Sinne nicht hart treten, was bei manchen Wirthshaustreppen und Schwellen schwer zu vermeiden ist.« (Sie hatte sich kurz vor der Reise den Fuss vertreten.) »Er hat zu allem Geschick,« sagte R. einst bei anderer Gelegenheit. »Ja fast zu sorgsam pflegte und hätschelte er mich auf der Reise ... Nur lachen und spassen durfte ich, wozu sein angenehmes Gespräch mir genug Gelegenheit gab.«


Von dem innigen Verhältniss, in welchem er zu Schwester Fanny, dem zärtlichen zu Rebecka, dem aufrichtigen Freundschaftsverhältniss, in welchem er zu seinem Bruder Paul stand, sind uns in diesen Blättern schon mehr als genug Beispiele begegnet. Mit welcher innigen Liebe, welcher Zärtlichkeit und sorgsamsten Rücksicht er die ihm über alles theure Gattin hegte und pflegte, gehört in das stille verborgene Heiligthum, das sich dem profanen Blick des Zuschauers entzieht. Wie glücklich aber auch ihn ihre Liebe machte, wie er in ihr die wohlthätige Ergänzung seines Wesens und Daseins fand, haben wir gleichfalls schon in seinen Briefen mehrfach gesehn.

Ungeachtet seiner fortwährenden Thätigkeit widmete er sich aber auch seinen vier Kindern, so viel er nur konnte, fand im Umgang mit ihnen, in der Beobachtung ihrer Eigenthümlichkeiten, der Pflege ihrer Fähigkeiten seine reinste Freude, und in schweren ihn treffenden Trauerfällen den besten Trost. Mit einem Wort: sein Familienleben war das glücklichste. Ja, auch bis auf seine Dienerschaft herab erstreckte sich seine liebevolle Fürsorge, wovon unter andern die Briefe an seinen Bruder und an seinen Freund Klingemann (M.'s Br. II, S. 4, 76, 79 u. 80) rührendes Zeugniss geben. – Wer ihn nicht näher kannte, und an ihm wahrnahm, wie klug und vorsichtig er jede fremde Berührung, jeden störenden Einfluss von sich fern hielt, hätte vielleicht nicht denken können, dass sein Herz auch für Freundschaft empfänglich und ihr leicht zugänglich wäre. Aber die nicht kleine Zahl derer, mit denen er im vertrautesten Briefwechsel stand, die Offenheit, mit welcher er sich gegen sie aussprach, die innige Theilnahme an ihren Erlebnissen, überhaupt sein inniges Verhältniss zu den Freunden in Berlin, Düsseldorf, London und Leipzig, der reiche Schatz von Mittheilungen, den jeder seiner[365] näheren Freunde aufzuzeigen hatte, beweisen das Gegentheil. Ein Mann, wie er, konnte sich natürlich nicht an Jeden verschenken, der vor ihm sein Herz ausschütten wollte. Er war da in einer ähnlichen Lage wie Goethe – nur ungleich wärmer und mittheilsamer, als dieser. Eigenthümlich war ihm nur eine fast krankhafte Scheu vor der Oeffentlichkeit über Alles, was seine Person anging. Aus Princip las er fast nie, was über ihn geschrieben wurde, wollte aber auch nicht, dass etwas von ihm und über ihn, ausgenommen Musikalisches, gedruckt würde. Enthusiasmus, der ihm massiv entgegenkam, war ihm zuwider; er hatte zuviel gemachten gesehen, als dass er leicht an den wirklichen geglaubt hätte. Ein feines Lob indessen freute ihn auch. Dass er bisweilen gereizt und durch Tadel leicht verstimmt war und sich einer augenblicklichen übeln Laune hingab, wird Niemand, der ihn näher kannte, läugnen wollen, aber ein so zart besaitetes Gemüth konnte auch gar leicht verstimmt werden, und wer eine solche Fülle der Gedanken in sich trug, hatte wohl auch das Recht, sich bisweilen gehen zu lassen. Seiner Erziehung und der Umgebung gemäss, in welcher er sich von Jugend auf bewegte, besass er ganz den Ton und die Sitten der feinen Welt. In grösserer Gesellschaft war er häufig zurückhaltend, besonders da, wo es ihm nicht der Mühe werth schien, sich mitzutheilen; hatte er aber einmal das Schweigen gebrochen, so drängte sich oft Schlagwort an Schlagwort und es war, da er auch sehr schnell sprach, dann nicht ganz leicht, den zündenden Blitzen eines Geistes zu folgen, der bei seiner universalen Bildung über die meisten Kreise menschlichen Wissens und menschlicher Kunst sich mit Leichtigkeit erging. Im vertrauten Freundeskreise, wo er sich heimisch fühlte und nicht fürchten durfte, missverstanden zu werden, war er oft lustig bis zur Ausgelassenheit. Auch grössere Zirkel belebte er oft sehr anmuthig durch seine Kunst, woran in Leipzig die Männerliedertafel und ein aus der besten Gesellschaft von Damen und Herren gebildetes Gesangskränzchen sich stets mit dankbarer Freude erinnert haben. In letzterem waren es vorzüglich seine reizenden vierstimmigen Lieder, die schon durch das Einstudiren[366] vor und die Wiederholung während der Tafel allen Theilnehmern den reinsten und edelsten Genuss gewährten. Namentlich bei diesen Proben war er unendlich anregend und liebenswürdig.

M. war durch das Erbe von seinen Eltern, durch seine Frau und durch das Honorar für seine Arbeiten reich mit Glücksgütern gesegnet; aber er machte davon stets den edelsten Gebrauch. Er hatte das Wort erkannt, dass Wittwen und Waisen in ihrer Trübsal besuchen, ein reiner Gottesdienst, und Hungrige zu speisen und Nackende zu kleiden, ein Fasten sei, Gott angenehm, und er befolgte es in der That und Wahrheit. Seine Schwelle war von Bedürftigen aller Art beständig umlagert, aber auch seine Wohlthätigkeit kannte keine Grenzen, und das Zartgefühl, mit welchem er seine Gaben mittheilte, erhöhete den Werth dieser oft auch materiell höchst beträchtlichen Gaben noch unendlich. Es sei mir erlaubt, zum Beleg dafür einen Hergang zu erzählen, zu dessen Mittheilung mich der damalige, jetzt auch schon heimgegangene glückliche Empfänger ausdrücklich ermächtigt hat, wenn ich dereinst M.'s Biographie schreiben würde.

Der damals noch in Weimar lebende, später nach Leipzig übergesiedelte J.C.L. .., der sich nachher als theoretischer Musiker durch seine Schriften einen ehrenvollen Namen erwarb, hatte es gewagt, vor das kritische Publicum des Gewandhauses mit einer Art symphonischem Tongemälde unter seiner eigenen Direction zu treten. Die Concertdirection hatte es angenommen, also war er ausser Schuld. Aber das Publicum verhielt sich ablehnend, es liessen sich sogar einige zischende Stimmen vernehmen. Der arme Mann stand auf dem heissen Podium, wie gerichtet. M. besuchte ihn am nächsten Morgen, redete ihm tröstend zu und fragte wie en passant, wie viel L. wohl Honorar bekommen habe. Dieser nannte ihm die geringe Summe. »Hm, wenig genug,« sagte M. und liess im Fortgehen ein Röllchen Gold in die Hand des dadurch nicht beschämten, sondern getrösteten und tief gerührten Empfängers gleiten. Wo seine eigene Schatulle nicht zureichte, um wackeren Musikern zu einer Gehaltsaufbesserung zu verhelfen, da that er es durch seine kräftige[367] Verwendung. Wie er dem Gewandhausorchester, dessen Mitglieder zum grossen Theil erbärmlich bezahlt wurden, in zwei verschiedenen Raten von je 500 Thaler, zusammen also 1000 Thaler im Durchschnitt jährlich circa 20 Thaler pro Mann Zulage, bei der Concertdirection verschaffte, haben wir schon früher gesehn. Ebenso verwendete er sich dringlich in einem ausführlichen Schreiben an den Rath zu Leipzig vom 9. October 1843, wobei er sich auf das ihm verliehene Ehrenbürgerrecht berief, um eine Erhöhung der sehr geringen Einnahme des Stadtorchesters für seine Mitwirkung bei den Theateraufführungen. (Briefe, II. Thl., S. 399–406); und in einer Immediateingabe an den König von Preussen bat er diesen für einen jungen Componisten, Namens G ..., dessen Werke, eine grosse Charfreitagsmusik und eine Reihe Lieder, ihm von unverkennbaren Talent und wahrem musikalischen Gefühl zu zeugen schienen, um ein Stipendium von 200 Thalern auf zwei Jahre, um seiner Kunst sorgenfreier leben zu können; eine Bitte, die der König huldreich gewährte. (Briefe, II. Theil, S. 407–9.) – Als einen zarten Zug dieser Wohlthätigkeit M.'s darf ich wohl noch erwähnen, dass er jedesmal, wenn ihm ein Kind geboren wurde, seinem Hausarzt eine ansehnliche Summe für eine arme Wöchnerin übergab.

Was aber bei seiner äusseren glücklichen Lage gewiss noch als ein besonderer Vorzug zu rühmen ist, das war seine Arbeitslust, die rastlose Thätigkeit in seinem Künstlerberuf. Manche Erzeugnisse der deutschen Muse waren Kinder der Noth, und wären ohne äusseren Druck vielleicht niemals entstanden; an manchem Talent, das in Armuth aufwuchs, hat man erlebt, dass es ermattete, ja erlosch, so bald ihm die Glücksgöttin lächelte; er aber, von Jugend auf im Schooss des Glücks, gab sich niemals müssig dem Behagen des irdischen Besitzes hin; er benutzte ihn nur, um seinem Genius ungestört zu huldigen; er brauchte nicht zu schaffen, um zu leben, aber er lebte, um zu schaffen. Freilich war dieser Trieb zur Thätigkeit in ihm auch Naturanlage. Müssig zu sein, war ihm unmöglich. Selbst während z.B. die Schüler im Conservatorium seine theoretischen Aufgaben zu lösen versuchten, zeichnete er wenigstens mit der Feder, und oft entstanden[368] auf diese Weise allerliebste kleine Landschaftsbilder, die er dann allerdings auch sammelte und mit nach Hause nahm. Uebrigens konnte ihn nichts so leicht in seiner Arbeit stören. Der Ort war ihm gleichgültig. Auf seinen häufigen Reisen componirte er sofort, sobald er nur unter Dach und Fach war, und rückte sich ein Tischchen zurecht, um, wie er sich auszudrücken pflegte, »Noten zu schreiben«.

Einen eigenthümlichen Lichtpunkt in einer Skizze seines Characters bildet auch sein Verhalten gegen andere Künstler, namentlich gegen solche, deren Richtung von der seinigen bedeutend abwich. Denn dass er gegen Künstler, wie Moscheles, Rietz, David, Gade, Wilh. Taubert, Robert Franz u.A., deren Streben mit dem seinigen harmonirte und die überdies seine persönlichen Freunde waren, liebevoll verfuhr, wollen wir ihm nicht als grosses Verdienst anrechnen. Wenn er aber bei der Reinheit und Gediegenheit seines eigenen Strebens, bei dem heiligen Ernst, mit dem er die Kunst behandelte, bei der Strenge gegen sich selbst, kalt und abweisend gegen Solche sich verhalten hätte, die mit ihm nicht gleiche Bahnen wandelten, so dürfte sich auch Niemand wundern. Dies war aber höchst selten der Fall. In seinem Urtheil über die Leistungen fremder Kunstgenossen war er sehr vorsichtig; doch war bisweilen allerdings schon sein Mienenspiel ein guter Barometer. Die Schaar der Virtuosen, deren Verdienst nur in ihrer Fingerfertigkeit besteht, ertrug er mit vieler Geduld; ja, war diese Fingerfertigkeit enorm, so versagte er schon dieser seine Anerkennung nicht, obwohl ihn die Misshandlung grosser Meisterwerke unter ihren Händen gewiss oft in tiefster Seele schmerzte. Gesellte sich aber zu dem mechanischen Talent auch wirklich Geist und Geschmack, dann war er der erste, der seine Bewunderung offen und neidlos aussprach und solche Künstler bei ihrem Auftreten wirksam unterstützte. Einige Beispiele mögen das beweisen. Im Januar 1840 kam Franz Liszt zum ersten male nach Leipzig, um Concert zu geben. Durch seinen Geschäftsführer, der die mercantile Seite etwas zu stark hervorhob und einige unerhörte Neuerungen mit den Plätzen im Saale gemacht hatte, war ein Theil des Publicums im[369] voraus gegen ihn eingenommen. Als er sich an den Flügel setzte, wurde er nicht nur nicht mit Beifall begrüsst, sondern es liessen sich sogar einige Zischer hören. Liszt warf einen Löwenblick in die Versammlung und begann ruhig zu spielen, worauf sich dann nach Beendigung dieses Stückes, so wie jedes folgenden allerdings rauschender Beifall hören liess. Aber es war doch durch dies Alles eine fatale Spannung zwischen ihm und dem Publicum eingetreten. Was that Mendelssohn? Er gab im Saale des Gewandhauses Liszt eine glänzende Soirée, zu welcher er die halbe musikalische Stadt einlud und nicht nur mit der Götterspeise der Musik, sondern auch mit leiblichen Erfrischungen bewirthen liess. Es war eine förmliche Abendgesellschaft im grossartigsten Styl, in welcher er und seine Gattin in anmuthigster und liebenswürdigster Weise die Wirthe machten. Die schöne Frau, angethan mit einem einfachen weissen Gewande, die Brust mit Demanten geschmückt, schwebte zwischen ihren Gästen auf und ab, gleich einer holdseligen Erscheinung vom Himmel. Musik wurde die beste, und so vollkommen gemacht, als es Liszt vielleicht in seinem Leben noch nicht gehört hatte. Auf sein Verlangen die damals ganz neu aufgefundene C dur-Symphonie von Franz Schubert, der 42. Psalm und einige Stücke aus Paulus von Mendelssohn. Zum Schluss spielte M. mit Liszt und Hiller das Tripelconcert von Bach. Das Publicum wurde durch die Art, wie M. Liszt aufnahm und behandelte, vollkommen mit diesem ausgesöhnt. Man trennte sich in der heitersten Stimmung. Liszt spielte dann noch in einem Concert für den Orchesterpensionsfond und in einem zweiten sehr gefüllten eigenen Concert unter stürmischem Beifall.

Ein zweites Beispiel ist aus dem Jahre 1843. Anfang Februar d.J. kam Hector Berlioz von Weimar aus nach Leipzig. Er, der es selbst fühlte, dass seine Richtung von der M.'s gründlich divergire, hatte gefürchtet, bei ihm keine besondere Theilnahme zu finden. Capellmeister Chelard in Weimar ermunterte ihn indess, an M. zu schreiben. M.'s Antwort an ihn war folgende:


»Lieber Berlioz! Ich danke Ihnen recht von Herzen für Ihren schönen Brief, und dass Sie sich noch unserer römischen Freundschaft[370] erinnern. Ich werde dies mein Lebelang nicht vergessen, und freue mich, es Ihnen bald mündlich zu sagen. Alles, was ich vermag, um Ihnen den Aufenthalt in Leipzig glücklich und angenehm zu machen, werde ich mit Vergnügen, und als meine Schuldigkeit thun. Ich glaube, Ihnen versichern zu können, dass Sie mit der Stadt zufrieden sein werden, d.h. mit den Musikern und dem Publicum.« (Es folgen nun einige Erörterungen über die äusseren Erfordernisse zu einem Concert.) »Ich fordere Sie demgemäss auf, sobald Sie Weimar verlassen können, hierher zu kommen. Ich freue mich darauf, Ihnen die Hand geben, und ›Willkommen in Deutschland‹ sagen zu können. Lachen Sie nicht über mein schlechtes Französisch, wie Sie in Rom zu thun pflegten, sondern bleiben Sie mein Freund, wie Sie es damals waren und wie ich stets sein werde Ihr ergebener Felix Mendelssohn-Bartholdy.1«


Berlioz kam in Leipzig, wie wir schon oben gehört haben, gerade zur Generalprobe der Walpurgisnacht, die ihm ein Meisterwerk schien. Er erinnerte M. an ihren beiderseitigen Aufenthalt in Rom und an ihre Begegnung in den Bädern Caracalla's (wo Berlioz über M. wegen seines Glaubens an Unsterblichkeit, Vergeltung nach dem Tode, Vorsehung u.s.w. etwas frivol gescherzt hatte) und bat sich schliesslich M.'s Dirigentenstab aus, den dieser gutwillig genug hergab, unter der Bedingung, dass jener ihm den seinigen dafür schicke. Obwohl nun M. von den oben abgehaltenen Proben zur Walpurgisnacht und der Tags darauf stattfindenden Aufführung gewiss ziemlich erschöpft war, half er doch Berlioz gleich in den nächsten Tagen sein Concert organisiren und benahm sich gegen ihn, nach dessen eigenem Ausdruck, wie ein Bruder.

Eine der schönsten und zugleich für die Musikfreunde genussreichsten Huldigungen, die Mendelssohn einem sinnverwandten Meister darbrachte, war noch am 25. Juni 1846 eine dem würdigen Spohr zu Ehren arrangirte Soirée. Er liess darin in gediegenster Auswahl nur Compositionen von Spohr ausführen: Ouvertüre zu Faust, Arie aus Jessonda, Violinconcert in E moll (von dem gerade anwesenden[371] Joachim gespielt), zwei Lieder mit Begleitung der Clarinette, und die Symphonie »Weihe der Töne«. Es muss für Spohr ein seltener Hochgenuss gewesen sein, seine Sachen in dieser Vollkommenheit und unter dieser Leitung zu hören. Die beiden grossen Meister so beisammen zu sehen, war eine Freude. Zuletzt stieg Spohr selbst auf das Podium des Orchesters und dirigirte, um den Musikern seinen Beifall zu erkennen zu geben, mit allem Jugendfeuer die beiden letzten Sätze seiner Symphonie.

Was M. als Künstler einen so grossen Umfang seiner Wirksamkeit verlieh, war die Vereinigung dreier Gaben, die sonst nur einzeln verliehen sind. Er war gleich gross als Dirigent, wie als Virtuos und Componist. Sein Directionstalent wurde sehr bald weltberühmt. Hielt seine feine feste Hand einmal den Tactirstock, so schien in diesen sogleich das electrische Feuer von M.'s Natur, und aus ihm wieder über Orchester, Sänger, Dilettanten und Publicum zu fahren. Oft glaubten wir, es müsse der Strahlenbüschel der Dioskuren aus diesem Zauberstabe hervorbrechen, durch dessen gewaltige Wirkung selbst das ausgesprochenste Phlegma mit fortgerissen ward. Aber M. dirigirte auch nicht allein mit diesem Stabe, sondern, fast möchte man sagen, mit seinem ganzen Körper. Anfangs, wenn er an das Dirigentenpult trat, ruhte auf seinem Gesicht jedesmal ein feierlicher Ernst. Man sah, dass ihm der Tempeldienst der Kunst etwas Heiliges war. So wie er aber den ersten Tact angegeben hatte, kam dann ein eigenes Leben in die feinen schönen Züge, sein edles Mienenspiel begleitete die ganze Musik und man konnte die kommenden Effecte oft zum voraus darin lesen. Die Forti's und Crescendi's begleitete er mit einem eigenen energischen Ausdruck des Gesichts und mit lebhaften Schwingungen, während er bei den Decrescendi's und Piani's oft beide Hände beschwichtigend aufhob und langsam wieder sinken liess. Den entfernteren Musikern winkte er, wenn sie anfangen sollten und markirte es auch oft durch eine sehr characteristische Handbewegung, wenn ihre Pause kam, als wollte er sagen: »Weg damit.« Ueber die Unachtsamkeit eines Musikers, der mit seinem Instrument[372] nicht zur rechten Zeit eintrat, konnte er sich sehr erzürnen. Sein unendlich feines Gehör liess ihn auch in der grössten Tonmasse bei Instrumentisten, wie bei Sängern sofort jeden falschen Ton erkennen. Er hörte ihn nicht nur, sondern er wusste auch sogleich, woher er kam. So wendete er sich noch bei einer der letzten grossen Aufführungen, wo gegen 300 Sänger und über 200 Instrumente in voller Thätigkeit waren, mitten in der Musik zu einer unweit von ihm singenden jungen Dame, und sagte ganz freundlich: »F, liebes Fräulein, nicht Fis.« Für die Sänger und Sängerinnen waren seine Chorproben stets ein Genuss. Sein Lob hatte immer etwas Begeisterndes, während sein Tadel nie ganz entmuthigte. Durch allerlei eingestreute feine Bemerkungen und heitere Scherze wusste er auch die Trägen und Lässigen anzuregen und die Müden bei guter Laune zu erhalten. Bei wiederholter und geflissentlicher Unachtsamkeit konnte allerdings auch ihm die Geduld reissen, aber eigentlich grob wurde er nie; dazu hatte er zu viel Welt und angeborne Grazie; er wurde höchstens sarkastisch. »Meine Herrschaften,« sagte er einmal zu denen, die sich fortwährend noch unterhielten, als er das Zeichen zum Anfang gab, »ich glaube es ja gern, dass Sie sich einander sehr viel zu sagen haben, aber ich bitte, machen Sie das doch lieber draussen ab; hier wollen wir singen.« Dies war die stärkste Bemerkung, die ich aus seinem Munde vernommen habe. Allerliebst war er, wenn er die Damen lobte. »Wirklich, meine Damen,« sagte er, wenn ein Chor gleich beim ersten Anfassen passabel ging, »sehr gut, für's erste mal recht gut; aber eben deshalb lassen Sie uns den Chor gleich noch einmal machen,« worauf der ganze Chor dann gewöhnlich zuerst in ein fröhliches Gelächter ausbrach und nachher mit doppelter Begeistrung sang. Alles längere Verweilen auf den Noten, als vorgeschrieben war, litt er nicht, auch nicht am Schlusse des Chors. »Warum ruhen Sie so lange auf diesem Ton aus, meine Herren; es steht nur ein Achtel da, weg damit!« Ebenso war ihm alles Schleppen zuwider. »Meine Herrschaften,« sagte er einmal in einem der erwähnten Gesangskränzchen, »merken Sie sich das, auch wenn Sie zu Hause singen: Singen Sie nie ein Lied so, dass man[373] dabei einschlafen kann, auch selbst ein Wiegenlied nicht.« Die Piani's konnten ihm nicht zart genug gesungen werden. Blieb der Chor halbwegs bei einem mezzo forte, so rief er mitten hindurch, als ob ihn ein physischer Schmerz gepackt hätte: »Piano, Piano, ich höre ja gar kein Piano!« Dafür war es dann auch bei der Aufführung von grosser Wirkung, wenn der ungeheure Chor an den geeigneten Stellen gleichsam wie in einem Hauche dahin starb. M.'s unermüdliche Ausdauer bei diesen Proben war übrigens gewiss um so bewunderungswürdiger, je zarter sein Körperbau, je feiner und verletzbarer sein Gehör, je absoluter die Vollendung war, in welcher jedes Kunstwerk vor seiner Seele schwebte.

M.'s Virtuosität war kein blosses Gaukelspiel, keine enorme Fingerfertigkeit, die blos wegen des Flitterstaates der Triller, chromatischer Läufer und Octavengänge da zu sein scheint, sondern das, wovon das Wort abgeleitet ist, virtus, wahre männliche Tugend, eine Beharrlichkeit, die alle mechanischen Hindernisse überwand, aber nicht, um musikalischen Lärm, sondern um Musik zu machen, um den Geist werthvoller Tonstücke aus den verschiedensten Zeitaltern der Kunst zur vollkommensten Darstellung zu bringen. Die äussern Vorzüge seines Spiels waren ein höchst elastischer Anschlag, ein vorzüglicher Triller, überhaupt Eleganz, Rundung, Sicherheit, vollkommene Deutlichkeit, Kraft und Zartheit, jedes an seinem Platze. Der Hauptvorzug bestand aber eben darin, dass M. jedes Stück, wie schon Goethe andeutete, von der Bach'schen Epoche heran bis zu seinen eigenen Productionen vollkommen in seinem Character spielte, und bei aller Treue und Pietät gegen die älteren Meister selbst das wirklich schon Veraltete durch seinen geschmackvollen Vortrag, durch die geistreichen von ihm selbst eingelegten Cadenzen theils zu verdecken, theils mit neuem Reiz zu schmücken wusste. Am liebsten und schönsten spielte er Beethoven's Compositionen, und aus diesen wieder vor allem die Adagios, die er mit hinreissendem Schmelz, mit unaussprechlicher Innigkeit und Zartheit vortrug. Ueberhaupt war das Piano, wie bei der Einübung der Chöre, so auch in seinem Spiel auf dem Flügel, was immerhin paradox klingen mag, seine Stärke,[374] in der ihn bisher noch Niemand übertroffen hat, ja auch nur ihm gleichgekommen ist. Seiner Fertigkeit auf der Viola (Bratsche) ist schon gedacht worden. Er selbst besass eine hübsche etwas schwache Tenorstimme, deren er sich aber nur bediente, um bei der Leitung der Chorproben oder auch dem Einstudiren irgend eines Sologesanges hin und wieder eine Tonfigur, ein Intervall anzugeben, oder höchstens einmal, wenn er ganz vortrefflich aufgelegt war, ein dem Chor vorausgehendes kleines Recitativ zu singen.

Ueber M., den Tondichter, noch etwas ausführliches zu sagen, ist kaum mehr nöthig, da wir fast jedes einzelne seiner Werke bei der Geschichte ihrer Entstehung besprochen haben. Uebrigens sprechen diese Werke für sich selbst, und thäten sie das nicht, so würde auch alles Raisonnement über sie nichts fruchten. Sie bedürfen aber Gott Lob keiner Anpreisung und keiner Verteidigung mehr. Selbst die vorlaute Kritik einiger Neulinge, denen Goethe's Wort gilt, »gewiss ist's einer von den Neu'sten, er wird sich grenzenlos erdreusten,« wird sich zuletzt vor der Macht der öffentlichen Meinung beugen müssen. Das, was jene Kritiker der Mendelssohn'schen Tonmuse hie und da zum Vorwurf gemacht haben, ist gerade ihr Vorzug: die grosse weiche Anmuth und Grazie, welche selbst den in strengerem Style geschriebenen Werken, wie etwa Orgelstücken, Motetten, Oratorien, nie ganz fehlt, ferner der leichte Fluss, in dem sich alles bewegt, der harmonische und melodische Reiz, der den Hörer nie zur wirklichen Ermüdung kommen lässt, sondern in ihm stets das Gefühl weckt: Verweile doch, Du bist so schön. Ausserdem ist noch zu sagen, dass ein grösserer Meister der Instrumentirung, namentlich in den Blasinstrumenten (man denke nur z.B. an die Ouvertüre zum Sommernachtstraum) weder vor ihm dagewesen, noch auch nach ihm, selbst Schumann und Wagner nicht ausgenommen, gekommen ist. Was ist es aber eigentlich, das M.'s Muse zu einer classischen macht? Zuerst vor allen Dingen des Meisters reines und edles Streben, welches sich selbst das höchste Ziel setzte, und wie schon einst Rellstab so treffend als schön sagte, sich vor keinem Thron, auch nicht vor dem der Welt gebeugt hat, die sittliche Energie seines Willens,[375] welche nicht nach dem fragte, was der Menge gefallen möchte, sondern allein dem inneren Drange göttlicher Begeistrung gehorchend, sich durch alle Hemmungen siegreich Bahn brach. Dann die universale Bildung seines Geistes, welche ihn in jeder Sphäre heimisch machte, ihn in jeden gegebenen Stoff tief eindringen und die seinem Wesen am meisten harmonische Form der Darstellung wählen liess. Ebenso der ganz eigentlich künstlerische, ich möchte sagen, plastische Bildungstrieb, geleitet von der grossen Klarheit seines Verstandes. Er wusste stets, was er wollte. Hatte er aber einmal einen Gegenstand erfasst, so ruhte er auch nicht, bis die Form der Darstellung der zur Klarheit gekommenen Idee vollkommen entsprach, wobei seine leichte glückliche Hand dem Werke stets den Talisman der Grazie verlieh. Es ist wahr, sein Styl war besonders in den grösseren Werken durchaus ernst streng und würdig, schon nach den Vorbildern, die er sich gewählt, aber niemals in's Abstruse sich verlierend. Mochte M. einen ernst religiösen, oder einen romantischen, einen lyrischen, epischen, oder dramatischen Stoff behandeln, immer führte er den Hörer unmittelbar in die Situation hinein, versetzte ihn in die rechte Gefühlsstimmung, und erhielt ihn bis zu dem stets befriedigenden Schluss in einer wohlthuenden Spannung. Der Hauptgedanke trat alsbald schlagend und kräftig heraus, und es war stets ein Gedanke, dem zu folgen der Mühe werth ist, ein Gedanke, durch den Gemüth und Geist mächtig gerührt und ergriffen wurde. So im Paulus der herrlich behandelte Choral »Wachet auf, ruft uns die Stimme«, der die Intention des ganzen Werkes bezeichnet, so im Lobgesang das wundervolle Thema: »Alles, was Odem hat, lobe den Herrn,« das durch den ganzen ersten Satz geht, und im letzten als ein mächtig brausender Gesang wieder auftaucht; so auch gleich die ersten Tacte der Ouvertüre zur Antigone, ganz und gar durchdrungen von jenem tiefen Ernst, von jenem herben der antiken Tragödie eigenthümlichen Feuer. Zu all' diesen ächten Künstlergaben gesellte sich aber auch in hohem Grade die unerlässlichste, der Reichthum einer Phantasie, die ihm immer neue Bilder und Formen zuführte, und auch einen schon gegebenen Stoff in idealem[376] Gewande, aber characteristisch, deutlich erkennbar, darstellen half. Die schönsten Belegstücke dafür bieten seine Characterouvertüren mit ihrer prächtigen durchaus deutlichen und doch niemals zu sehr in's Einzelne sich verlierenden Tonmalerei. So sieht man in der Ouvertüre zu den Hebriden den feuchten schweren Nebel, die grauenhaften seltsamen Wolkenbildungen, hört das einfache Lied des alten Barden, das dumpfe Getöse der Schlacht, und des Mädchens Klage, das am Meeresgestade vergebens des gefallenen Geliebten harrt. Und in der zarten wellenförmigen Figur der Ouvertüre zur Melusine, steigt sie nicht leibhaftig herauf, die schöne, leichtschwebende Wasserfee, und ergiebt sich in Liebe dem tapferen Ritter, bis er mit roher Neugier nach ihrem Ursprung forschend, zu ihrem eigenen tiefen Weh sie zu entfliehen zwingt? Fast noch characteristischer und lebendiger ist diese Tonmalerei in den beiden andern bereits besprochenen Ouvertüren. Nur ein völlig fantasieloser Hörer könnte, nachdem ihm der Dichter schon durch die Ueberschriften dieser Tongemälde den rechten Weg gezeigt hat, jene Bilder nicht in ihnen erkennen. Zuletzt aber ist es auch des Künstlers eigenes, tief innerstes Gemüthsleben, das Feuer edler Leidenschaft, die reizende Schwermuth, die sinnige Träumerei, der leichte graziöse Scherz, welcher sich besonders in den kleineren Werken, seinen Trios, Quartetten, Sonaten und Liedern mit und ohne Worten kund giebt, und den Hörer zur innigsten Theilnahme, zur Bewunderung, zum Entzücken hinreisst. Die Texte zu den 79 Liedern mit Worten, die er in den verschiedensten Perioden seines Lebens noch bis zuletzt (seine letzte Composition war die eines Liedes am 7. October 1847, also nur vier Wochen vor seinem Tode) in Musik gesetzt hat, mussten stets nicht blos musikalisch geeignet, sondern wirklich poetisch, künstlerisch vollendet sein, dann aber, wenn er einen Text nach seiner Wahl gefunden, war er ebenso bedeutend im Ausdruck fantastischer Aufregung und Leidenschaft, als des reizenden Naturlebens und des tiefen innigen Gefühls der von Sehnsucht bewegten oder von Dank und Freude erfüllten gottergebenen, liebeseligen Menschenbrust. In dieser grossen Zahl sind noch ungerechnet neun herrliche zweistimmige[377] Lieder, und die vierstimmigen sowohl für Männer- als gemischten Chor, in deren vielen er einen so ächt volksthümlichen Ton angeschlagen hat. Aber so formvollendet und reich an Inhalt alle diese Lieder mit Worten auch waren, die Liederdichter vermochten ihm nicht Stoff genug zu liefern, um den unerschöpflichen Born, der in seinem tiefsten Innern quoll, die Fülle reizender Melodieen, die seine Seele durchwogten, in eine künstlerisch vollendete Form zu giessen und festzuhalten. So entstand jene ganz neue M. allein eigenthümliche Musikgattung, die Lieder ohne Worte, zum Theil erst nach seinem Tode vollständig gesammelt, deren grosse Menge, 48 an der Zahl in 8 Heften, ein sprechendes Zeugniss sind für die reiche Welt der Töne, die in seinem Innern lebte. Es sind grossentheils herrliche tiefempfundene Stimmungsbilder, in denen er Natur-, Volks- und Menschenleben, bald in schwermüthigen Weisen, wie sie der Gondolier im Mondschein hören lässt, bald in jubelnder Wald- und Jagdlust, bald wieder in träumender Melancholie, oder in Frühlingswonne, in Tönen tiefster Sehnsucht, oder höchsten Liebesglückes geschildert, oder vielmehr aus der Tiefe seines Innern heraus geschaffen und plastisch gestaltet hat. Es würde sehr leicht sein, Beispiele aus dieser Sammlung Lieder ohne Worte zu dem Gesagten herauszuheben, aber ich möchte diesen Ueberblick über M.'s Leben und Wirken gern noch schliessen mit den Worten eines ächten Dichters, Emanuel Geibel, der bei einer für M. gehaltenen Todtenfeier das Wesen jener Gefühlsergüsse unübertrefflich schön so besungen hat:


O Du warst reich! Du trugst in Deiner Brust

Für jeden Schmerz den Klang, für jede Lust!

Du wusstest jenen dunkeln Laut zu binden,

Der über dem Erschaffnen in den Winden

Gleichwie des Weltalls leises Athmen schwimmt,

Und nun mit Jubel, nun mit tiefer Klage

Als Grundton stets zu unsres Herzens Schlage

Geheimnissvoll in unser Fühlen stimmt.

Du wusstest, welch ein ringend Lichtverlangen

Von Blatt zu Blatt im Frühlingswalde klingt,

Was auf der Fluth mit wundersamen Bangen

Der Geist der Nacht an Meeresgrotten singt;[378]

An Deine Seele klang des Herbsttags Trauer,

Wenn leise rieselnd in der Dämmrung Schauer

Vom abgestorbnen Baum das rothe Laub

Gleich blut'gen Thränen hinsinkt in den Staub;

In der zerrissnen Weise, die die Schwinge

Des Sturmes aus der Aeolsharfe wühlt,

Hast Du das ganze Klagelied der Dinge,

Die ganze Sehnsucht der Natur gefühlt.


So lebe denn fort, du edler Geist, nicht allein in dem Munde des Dichters, sondern in dem dankbaren Andenken aller der unzähligen Herzen, die Du durch Deine Harmonieen und Melodieen erfreut, erbaut und erhoben hast aus der Welt der gemeinen Wirklichkeit in das Reich des Idealen, lebe fort in Deinen Werken von Geschlecht zu Geschlecht. Er aber, dem Du als ächter Priester der heiligen Kunst schon hier auf Erden so treu gedient hast, er verleihe Dir droben eine Stelle im Kreise der Seraphim um seinen lichten Thron und schenke Dir die unverwelkliche Krone des ewig-seligen Lebens.

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Dieser so höchst graziöse Brief ist Berlioz' Bericht über seine musikalische Reise in Deutschland, der auch ein sehr günstiges Urtheil über Leipzig's musikalische Leistungen enthält, entnommen.

Quelle:
Lampadius, Wilhelm Adolf: Felix Mendelssohn Bartholdy. Ein Gesammtbild seines Lebens und Wirkens. Leipzig: Leuckart, 1886., S. 360,379.
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