Vierter Abschnitt.

Der Jüngling.

»Alles Große gebiert der Glaube.«


Es ist eine Tatsache, daß phantasie- und gemütvolle Naturen zumal in der Jugend durchaus demjenigen, was ihnen von der allgemeinen Ueberzeugung entgegengetragen wird, selbst in der Form der allgeltenden Moral und der bestehenden Kirche mit gläubiger Hingebung anhangen. Das Bedürfnis ihres Herzens treibt sie zu dieser Hingabe, und die vorherrschende Tätigkeit ihrer Phantasie hält sie davon ab, die gegebenen Normen mit prüfendem Verstande zu untersuchen. Sie fragen zunächst nicht, ob das Ewige, das sie hinter diesen Formen verborgen wähnen, wirklich darin liegt, oder ob es sich bereits im Bewußtsein der Menschen einen andern Ausdruck gegeben hat. Ja, so weit geht ihre kindliche Unbefangenheit, daß sie bereits längst die neue Anschauung sich angeeignet haben, dieselbe in all ihrem Tun und Lassen bewähren und doch noch an den alten Formen hängen, in dem gläubigen Wahne, die höchste Wahrheit sei hier noch lebendig gegenwärtig.

Zu einer solchen Betrachtung giebt die Erscheinung Mozarts die lebendigste Anregung. Zwar hatte er von Natur den durchdringendsten Verstand, so daß seine Gattin noch in späteren Lebensjahren von diesem vorzugsweise eingenommen schien und meinte, ihr Mann wäre sicherlich ein ebenso guter Mathematiker geworden wie ein Musiker. Allein, wie fern lag seiner Natur jede kritische Zersetzung! Sein Gemüt trieb ihn zur einfach gläubigen Hinnahme dessen, was ihm seine Kirche bot, und die Richtung seines Wesens[67] auf die Erzeugung des Schönen hielt ihn von jeder religiösen Grübelei fern.

Die Jahre, in denen wir jetzt stehen, sind die sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, dieselben, in denen ein Lessing sogar auch die wenigen Dogmen und Sinnbilder, welche die protestantische Lehre hatte stehen lassen, angriff und eine andere Anschauung anbahnte. Wie hätte dieser echte Sohn des deutschen Geistes, der schon im Norden so viel Torheit und Beschränkung zu überwinden hatte, erst in dem damaligen Salzburg über den verdunkelnden Wust der Unvernunft eisern müssen! Wie hätte er erst da für den gefunden Menschenverstand in die Schranken treten können und den Nebel entfernen, der die helle Sonne zu trüben trachtete! Es war kaum mehr als ein halbes Jahrhundert verflossen, seitdem dort die ganze Schar der Anhänger der neuen Kirche mit Härte ausgetrieben und so dem Lande, das in diesen Auswanderern seine wohlhabendsten Bürgern verlor, unheilbarer Schaden zugefügt, ja vollständige Verarmung bereitet worden war! Und wenn auch fortan der Salzburger allgemein als ein »Fex«, als eine Art von Kretin betrachtet wurde und statt des Rufes einer tüchtigen Bildung, den er früher besonders wegen seiner Hochschule genoß, nun eine gewisse Geringschätzung wegen seiner geistigen Unbehilflichkeit zu tragen hatte, so daß es auch einem Mozart dort bald unerträglich zu leben war, so kann man doch nicht sagen, daß diese ganze Weise, dieser Mangel an prüfendem Verstande für die Entwicklung eines musikalischen Genius ungünstig gewesen wäre.

Die römische Kirche hatte, wenn ein Protestant hier richtig urteilt, nach ihrer großen und weiten Auffassung der Dinge durchaus den Grundsatz, das Leben und die Eigentümlichkeiten der Menschen in ihren verschiedenen Formen zu tolerieren und ihnen nur den Stempel des Höheren aufzudrücken, das sie selbst vertritt. Sie betrachtet die Religion zugleich als ein Mittel, das Leben zu heben und zu veredeln; sie stört keine Weise der menschlichen[68] Regungen, ja, sie begünstigt die natürlichen Bewegungen, sie will, daß das Dasein zu einem heiteren, zu einem schönen und glücklichen geschaffen werde, und sie reichte deshalb vor allem jeder Kunst von jeher bereitwilligst die Hand. Die katholische Menschheit aber folgte diesem schönen Zuge mit ruhiger Freude, und wer weiß, ob sie in diesem stetigen Entwicklungsgange nicht allgemach dem Bedürfen und dem glücklicheren Bestand des Lebens näher kommt als der Protestantismus mit seinem jähen kritischen Vorgehen?

Mag dem nun sein, wie ihm wolle, soviel steht fest, daß die obengeschilderte Toleranz auf die Entwicklung einer Individualität wie die Mozarts den günstigsten Einfluß übte. In dem kritischen Norden, zumal in Berlin, von dem derzeit die »Aufklärung« ausging, wäre kein Mozart gediehen. Jenes Forschen und Streben, welches damals den Norden mit so großer Unruhe erfüllte, war einer ruhigen Gemütstätigkeit nicht günstig, wie hatte selbst Lessing, dem doch die Natur die schärfsten Waffen der Kritik gegeben hatte, zu kämpfen, um sich in dem blühenden Dogmengezänke, das er selbst erregt hatte, nur soweit aufrecht zu erhalten, daß er seine Sache ruhig und einfach vortragen konnte! Seine Schriften, auch die poetischen, haben noch etwas Unruhiges, nach allen Seiten hin Abwehrendes, das ihnen den Eindruck einfacher Wahrheit und Schönheit durchaus verkümmert. Und selbst in die norddeutsche Musik drang dieses Unruhige ein und machte die Erreichung des Schönen unmöglich. Wie hätte also da eine Natur wie Mozart, deren Grundanlage Harmonie war, und die sich durchaus in dieser schönen Harmonie erhalten mußte, wenn sie das Schöne schaffen wollte, sich nach ihrer Art entfalten sollen? So hatte Mozart aus ganz natürlichen Gründen zunächst eine gewisse Abneigung gegen das »Lutherische«, die sich erst spät verlor, und niemals schwand aus seinem Herzen die Anhänglichkeit an seine liebevolle Mutter, die katholische Kirche. Vielmehr brach sie am Abend seines Lebens noch einmal und da erst in ihrer ganzen Macht und Tiefe hervor. Das Requiem verrät nicht bloß, wie tief das[69] religiöse Gefühl Mozarts überhaupt war, sondern vor allem auch, welche bedeutende Gewalt die kirchlichen Vorstellungen über die Phantasie und das Gemüt unseres Meisters ausübten.

Wir besitzen über diese Dinge auch einen Bericht von dem bekannten Musikschriftsteller Johann Friedrich Rochlitz (1769 bis 1842), der zu bezeichnend für Mozarts Anschauungsweise ist, als daß wir ihn nicht mitteilen sollten. Freilich ist ein Berichterstatter wie dieser phantasiereiche Mann nicht in jedem Wort ein gültiger Zeuge, allein die Hauptsache ist wohl wahrheitsgemäß. »Mozart war im Jahre 1789 in Leipzig. ›Unersetzlicher Schade,‹« sagte Einer, »daß es so vielen großen Musikern, besonders der vorigen Zeit, ergangen ist wie den alten Malern, daß sie nämlich ihre ungeheuren Kräfte auf meistens nicht nur unfruchtbare, sondern auch geisttötende Sujets der Kirche wenden mußten.« Ganz umgestimmt und trübe wendete sich Mozart hier zu dem Andern und sagte, dem Sinne nach, obschon nicht auf diese Weise: »Das ist mir auch einmal wieder so ein Kunstgeschwätz! Bei euch aufgeklärten Protestanten, wie ihr euch nennt, wenn ihre eure Religion im Kopfe habt, kann etwas Wahres darin sein, das weiß ich nicht. Aber bei uns ist das anders. Ihr fühlt gar nicht, was das heißen will: Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nebis pacem! Aber wenn man von frühester Kindheit, wie ich, in das mystische Heiligtum unserer Religion eingeführt ist; wenn man da, als man noch nicht wußte, wo man mit seinen dunkeln, aber drängenden Gefühlen hin sollte, in voller Inbrunst des Herzens seinen Gottesdienst abwartete, ohne eigentlich zu wissen, was man wollte, und leichter und erhoben daraus wegging, ohne eigentlich zu wissen, was man gehabt habe; wenn man diejenigen glücklich pries, die unter dem rührenden Agnus Dei hinknieten und das Abendmahl empfingen und beim Empfang die Musik in sanfter Freude aus dem Herzen der Knieenden sprach: Benedictus qui venit u.s.w., dann ist's anders. Nun ja, das geht dann freilich durch das Leben der Welt verloren,[70] aber – wenigstens ist's mir so – wenn man nun die tausendmal gehörten Worte nochmals vornimmt, sie in Musik zu setzen, so kommt das alles wieder und steht vor einem und bewegt einem die Seele.« – Er schilderte nun einige Szenen jener Art aus seinen frühesten Kinderjahren in Salzburg, dann auf der ersten Reise nach Italien und verweilte mit besonderem Interesse bei der Anekdote, wie ihm die Kaiserin Maria Theresia als vierzehnjährigem Knaben aufgetragen habe, das Te Deum zur Einweihung – ich erinnere mich nicht, eines großen Krankenhauses oder einer andern ähnlichen Stiftung – zu komponieren und an der Spitze der ganzen kaiserlichen Kapelle selbst aufzuführen. »Wie mir da war! wie mir da war«, rief er einmal über das andere. »Das kommt doch alles nicht wieder – man treibt sich herum in dem leeren Alltagsleben.«

So verblieb in Mozarts Gemüt zeitlebens eine außerordentlich lebendige Erinnerung an die Eindrücke, die die Hoheit und Würde seiner Kirche dem jugendlichen Herzen gegeben hatten. Ja er hing mit Liebe selbst an ihren Dogmen und Bräuchen, und das ist ein schöner Zug seines Wesens. Der vierzehnjährige Knabe schreibt: »An die Nandl meine Empfehlung und sie soll fleißig für mich beten.« – »Ich gratulire der Mama zu dem Namensfeste und wünsche, daß die Mama noch möge viele hundert Jahre leben und immer gesund bleiben, welches ich immer bei Gott verlange, und bete alle Tage und werde alle Tage für Sie alle beten. Ich kann unmöglich mit Etwas aufwarten, als mit etlichen Loretto-Glöckeln und Kerzen und Haubeln und Flor, wenn ich zurückkomme.« – »Ich bitte, bete die Mama für mich, daß die Oper gut geht, und daß wir dann glücklich wieder beisammen sein können.« Er versichert noch in späteren Jahren dem ängstlichen Vater, daß er regelmäßig die Messe besuche und zur Beichte gehe: »Ich habe geschrieben, daß mir Ihr letzter Brief viel Freude gemacht hat, dies ist wahr, nur eins hat mich ein wenig verdrossen – die Frage, ob ich nicht das Beichten vergessen habe? – ich habe aber nichts[71] dawider einzuwenden nur eine Bitte erlauben Sie mir und diese ist, nicht gar so schlecht von mir zu denken.« Auch nach seiner Verlobung schreibt er dem Vater, daß er schon seit längerer Zeit mit seiner Konstanze zusammen zur Kirche gehe: »Und ich habe gefunden, daß ich niemalen so kräftig gebetet, so andächtig gebeichtet und communicirt hätte, als an ihrer Seite – und so geht es ihr auch.« Er war eine jener seltenen Naturen, in denen jede Regung der Seele fromm ist. Sein tiefstes und eigentlichstes Wesen war stetes Bedürfnis der Wiedervereinigung mit dem Ewigen, und dieses »Heimweh zu Gott« stillte er wie jede echte Künstlerseele in der Tätigkeit seiner Kunst. Das Schöne war ihm zugleich ein Kultus und die Kunst ein Ort, wo er für sich allein aus tiefster Seele betete.

Als erzbischöflicher Konzertmeister hatte er, wie alle seines Berufes, zu den Ceremonien seiner Kirche, zumal an besonderen Festen, die Musik zu schreiben. Auf diese Weise entstand in den Jahren, die Mozart in seiner Vaterstadt verlebte, eine Reihe von Messen, Litaneien, Vespern und kirchlicher Instrumentalmusik, die zum Teil zu dem Lieblichsten gehören, was der Genius dieses Meisters geschaffen hat. Es war Fügung seines Geschickes, was den Jüngling aus dieser Bahn herausriß und einer andern Aufgabe seiner Kunst zuwendete. Denn seine Neigung war eben so sehr, ja vielleicht noch inniger bei dieser Musik beschäftigt wie bei der Oper, und wir werden sehen, wie er am Abend seines Lebens, nachdem er die Wandlungen des Daseins alle durchgemacht hatte, sich durchaus wieder der Betrachtung der höchsten Dinge zuwendet und in ihr den tiefsten Trost findet.

Aber auch schon jetzt zeigen sich in derjenigen Musik, die direkt für den Kultus berechnet ist, die Spuren jener frommen Weisheit, die mit ursprünglichem Ahnungsvermögen den tiefen und großen Sinn der Welt errät. Schon jetzt, so sehr seine Musik sich der damals üblichen Art anschließt, erwecken ihm die heiligen Worte die Geister des Innern, und schauend geht sein Blick über die Gefilde[72] alles Seins und sucht das, was ewig ist. Es sind Stellen in diesen Messen, die für alle Zeiten die Vorstellung des Göttlichen in seiner Reinheit und Wahrheit erwecken werden, die in vollkommener Ursprünglichkeit das Gefühl wiedergeben, das der Mensch hat, wenn er sich seinem Gott nähert, – Stellen, die das Gefühl des frommen Dankes, der Anbetung, der reuigen Demut und wiederum der Versöhnung mit sich und dem Göttlichen so sehr in seiner Wahrheit wiedergeben, daß sie für alle Zeiten Andacht erzeugen werden. Diese Stellen sind es denn auch, in denen sich das, was an des Künstlers eigener Natur ewig war, darstellt, und sie schöpften ihren Inhalt aus einem Herzen, das in der Reinheit und Tiefe seines Empfindens ebenso schön dasteht wie die Kraft der künstlerischen Phantasie, die diese Regung der Menschenbrust in so vollendeter Einfachheit auszusprechen wußte, daß sie jedes Hörers Ohr sofort versteht und sein Herz im Innersten auffaßt.

Daneben freilich ist in der großen Reihe der Kompositionen jener Zeit, die über 20 Messen, Litaneien und Vespern und viele Hymnen, Psalmen, Offertorien und Motetten aufweist, wie sich nicht anders erwarten läßt, auch eine Menge solcher Sätze, die von einer echten Religiosität, sowie sie für alle Zeiten wahr bleibt, weit entfernt, nur jene Art der äußerlichen Verrichtung der kirchlichen Gebräuche wiedergeben, die in der Zeit Mozarts nur zu allgemein war. Ein gewisses anständiges Abtun der hergebrachten Pflicht, das so leicht möglich ist in einer Kirche, die eben für jede Art der Gottesverehrung von alters her bestimmt ausgeprägte Formen hat, kann sich natürlich auch in der Musik widerspiegeln. Die kirchliche Tonkunst jener Tage hatte wie die Architektur den Charakter einer bloß hoffärtigen Ueppigkeit oder koketten Zierlichkeit, die immer mehr einreißen mußte, sobald die Weisen der Oper, die damals alle Welt beschäftigten, auch in die Kirche eindrangen. Das Geflirre der Koloratur wurde mit der Zeit in der Kirche kaum geringer als in der[73] Oper, und die Begleitung der Instrumente, die dem Kirchenchore bisher ganz gefehlt hatte, diente der üppigen Manier und der sinnlichen Aeußerlichkeit dieser Zeit zum passendsten Ausdruck.

Auch Mozart, ein Kind seiner Zeit und seiner ganzen Natur nach fügsam, schrieb daher manche Messe in diesem Geschmacke. Und wie es so kommt, sind gerade diese Werke am meisten gedruckt und bekannt geworden. Allein selbst diese Sachen verraten nicht bloß jenes feine Gefühl für die Anmut, die dieser Meister von je all seinen Gebilden zu geben wußte, sondern sie haben auch bei allem bloß sinnlichen Reize, in dem sich der Kultus jener Zeit widerspiegelt, eine Würdigkeit und einen Adel, der sie weit über die Werke der Zeitgenossen erhebt. Nur ein Joseph Haydn und sein jüngerer Bruder Michael, der ebenfalls in Salzburg Kapellmeister war, können hier neben unserem Meister bestehen. Er selbst beklagte lebhaft die Beschränkung, die obendrein nach dem Tode des Erzbischofs Sigismund, der die kirchliche Musik sehr gepflegt hatte, der neue Herr, dem es nur auf äußeren Pomp ankam, der Musik beim Kultus auferlegte. Er schreibt am 4. September 1776 an den Padre Martini in Bologna: »Ich lebe hier an einem Ort, wo die Musik wenig Glück macht, obgleich hieselbst, auch nachdem einige fortgegangen sind, noch sehr tüchtige Componisten von gründlichem Wissen und Geschmack sind. Mit dem Theater sind wir aus Mangel an Sängern übel daran; wir haben keine Castraten und werden deren schwerlich je haben, denn sie wollen gut bezahlt sein, und Freigebigkeit ist nicht unser Fehler. Ich unterhalte mich unterdeß damit, daß ich für die Kammer und die Kirche schreibe, und es sind hier noch zwei sehr tüchtige Kontrapunktiker, Haydn und Adlgasser.1 Mein Vater ist Kapellmeister an der Metropolitankirche, wodurch ich Gelegenheit habe, für die Kirche zu schreiben soviel ich will. Uebrigens da[74] mein Vater schon 36 Jahr im Dienste dieses Hofes ist und weiß, daß der Erzbischof Leute von vorgerücktem Alter nicht gern sieht, so nimmt er sich der Sache nicht allzu sehr an und hat sich der Literatur zugewendet, die ja schon ohnedies sein Lieblingsstudium war. Unsere Kirchenmusik ist sehr verschieden von der in Italien und wird es immer mehr. Eine Messe, auch die feierlichste, wenn der Erzbischof selbst das Hochamt hält, darf nicht länger dauern als höchstens drei Viertelstunden. Diese Art von Compositionen verlangt ein eigenes Studium. Und dabei muß es eine Messe mit allen Instrumenten, Trompeten und Pauken u.s.w. sein. Ach wären wir nur nicht so entfernt von einander, wie viel hätte ich Ihnen noch zu sagen!«

Zum Schlusse dieses Abschnittes sei denn noch ein allgemeines Wort über Mozarts Kirchenmusik gesagt. Es betrifft zwar vorzugsweise deren ästhetischen Wert, berührt aber zugleich auch die gesamte geistige Art unseres Meisters.

Wie nämlich kein Phidias, kein Raffael ein höheres Bild vom Ewigen finden konnte, als das Bild des Menschen in seiner vollkommenen Reinheit, so griff auch Mozart mit dem Instinkte der künstlerischen Natur, die mit ihrem Wesen dem Göttlichen so nahe steht, zu dem Mittel der Kunst, in dem sich das Persönliche des Menschen am reinsten ausspricht, zur Melodie. Auch er fand in dem Menschlichen den reinsten Abglanz des Göttlichen, auch seine Weise atmet selbst in der Kirche jenen warmen Hauch des individuellen Empfindens, das die Allmacht und die Größe und vor allen Dingen die unendliche Liebe des Göttlichen am reinsten preist. Auch ihm war schon in diesen Jugendjahren in innerster Seele das Göttliche und Menschliche eins: das eine der Ausdruck, die Ausbreitung, die reine Darstellung des anderen. Auch seine Musik ist daher wie Raffaels Madonnen göttlich und menschlich zugleich, und wie diese hat auch Mozarts kirchliche Musik selbst in den ernstesten Stellen noch jene heitere menschennahe Art, die den Menschen seines Daseins froh macht. Denn er selbst[75] war, wie der alte Haydn, stets in seinem Herzen so gar froh, wenn er an die Güte des Herrn dachte, und so schwindet in seiner Musik jener düstere Schauer, mit dem die alte Kirche sich umgab. Alles Herbe und Abweisende der mittelalterlichen Anschauung ist aufgelöst in jenen unsagbaren Zauber der Güte und Milde, der den Menschen vor allem leben heißt, der ihm das Dasein zur Freude macht, der ihn von aller Not erlöst und wahrhaft beglückt. Rein und golden geht der Klang aus von diesen Werken eines Herzens, das sich mit aller Welt versöhnt fühlt, weil es alle Welt liebend umschlingt. Und erwärmend und erleuchtend zugleich wie der Schein der lieben Sonne zieht er ein in diejenigen Gemüter, die Trost suchen und glücklich sein wollen.

Das ist Mozarts tiefstes Innere. Der Gang seines Lebens wird uns diesen Grund seiner Seele mehr und mehr enthüllen. Denn jetzt kommt die Zeit, die den Jüngling in den Kampf des Lebens führt, wo sich ihm in Leid und Freude alles das erschließt, was die Berührung mit Menschen gewährt. Und nachdem er in einer seltenen Weise den Reichtum des Lebens genossen, nachdem er mit offenen Sinnen das ganze Reich jener Wonnen und Leiden, die sich aus dem Menschenherzen gebären, durchmessen und den mannigfachen Gewinn dieses Treibens in herrlichen Werken niedergelegt hatte, kehrte er am Abend des Lebens mit seinem ganzen Wesen wieder zu dem Zustande des Empfindens, zu der heiligen Geschlossenheit der Seele zurück, in der wir ihn jetzt verlassen, um ihm in die offene Bahn des Lebens zu folgen. Die mehrjährige Stille hatte seinem Herzen wie seiner inneren Anschauung zur Sammlung und Kräftigung gedient. Jetzt wagte der junge Aar mit ausgewachsenen Schwingen den ersten Flug in die Welt, und diese volle Berührung mit dem Leben gewährte auch ihm die tiefere Erkenntnis des Lebens. Was bisher der bloße innere Drang geschaffen hatte, ward darnach zu der sicheren vollen Ueberzeugung, die den Mann vom Jünglinge unterscheidet und auch den Erzeugnissen seines Geistes[76] erst den vollen Gehalt gibt. Erst am Ende seiner Tage, nachdem der Kampf mit dem Leben ihm den freudigen Ernst gegeben hatte, mit dem der wahrhaft Gute an dem Höheren hängt, erschloß sich auch ihm als der beste Gewinn des Lebens der ganze Sinn des Lebens, erst da geschah es, daß in Wahrheit Ströme eines Lebens von ihm ausgingen, an denen sich eine ganze Welt erquickt.

Fußnoten

1 Anton Cajetan Adlgasser, seit 1751 erster Domorganist in Salzburg, stammte aus Innzell bei Frauenstein in Bayern (1728–1777) und galt seinerzeit als hervorragender Kirchenkomponist.


Quelle:
Ludwig Nohl: Mozarts Leben. Berlin 4[um 1910], S. 77.
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