Beethoven's Übergriffe.

[33] Die Art und Weise, wie sich in der Reihenfolge der Künste die Idee immer deutlicher zur Erscheinung zu bringen strebt, läßt allerdings als Gesetz ein Suchen nach der am meisten »sprechenden« Form erkennen. Sobald nun aber ein Werk, z.B. der bildenden Kunst, so sehr mit Leben erfüllt ist, daß es aussieht, als wolle es jeden Augenblick wirklich reden, so ist die äußerste Gränze der Kunst erreicht, und der Eindruck des Werkes ist schon nicht mehr vollkommen befriedigend. Denn der Beschauer wird fortwährend gestört[33] durch die unwillkürliche Vorstellung, als sei hier in den Stoff ein Geist gebannt (»verwunschen«), der nicht hinein gehöre, der sich durch ihn nicht ausdrücken lasse und deßhalb immerfort strebe, wieder herauszukommen. Daher uns Bilder und Statuen, die gar zu sehr »sprechend« sind, immerfort mit ihren Augen zu verfolgen scheinen, als flehe der Geist darin, daß man ihn erlöse. Es sei als ein schlagendes Beispiel dieser Art genannt der berühmte Moses des Michelangelo. Er steht in der Kirche S. Pietro in vincoli in Rom, und es ist als wenn er uns mit seinem unheimlich gewaltigen Blick durch den ganzen Säulenraum hin nachschaue; dieser Eindruck hat in der That etwas Peinigendes. Es scheint auch, als wenn sein Meister geahnt habe, daß hier des Guten zu viel geschehen sei; denn man zeigt an dem mächtigen Knie des Bildes ein Mal, von dem Hammerschlage Michelangelo's herrührend, der von der Gewalt des Geistes, den er dem Steine eingehaucht, selbst ergriffen zuletzt, als wolle er den Marmor zur wirklichen Lebendigkeit erwecken, einen gewaltigen Schlag auf das Bild gethan habe mit den Worten: Adesso parla.

Einen ähnlichen Eindruck machen die großen Werke Beethovens. Schon in der Klaviersonate Op. 31 Nr. 2 (D-moll), einem der ersten Werke, in dem die Stimme des Löwen ganz und voll ertönt, greift Beethoven gewissermaßen gezwungen und um jenen unbehaglichen Eindruck zu vermeiden, den das allzunahe Herantreten an die Gränze der Kunst bereitet, zu dem Auswege des Instrumentalrecitatives. Endlich aber kann er gar nicht anders, als zum Worte selbst, dem Ausdrucksmittel einer höheren Stufe der Kunst, zu greifen, um seine bis zur bestimmten Vorstellung gesteigerte Empfindung verständlich zu machen. Der Drang seiner übervollen Seele läßt ihn auch an[34] jenem »Schein der Rede« nicht mehr Genüge finden. Vergleichen wir damit zwei andere Werke der Kunst, Mozart's Requiem und Raphael's Transfiguration, beides letzte Werke ihrer Meister, von denen man mit Recht sagt, die Fülle ihres Geistes drohe den Rahmen zu sprengen, so finden wir, daß trotz dieser Fülle des Gefühls, die im Requiem so übermächtig anschwillt, der Ton vollkommen zum Ausdruck desselben hinreicht. Es bleibt in jedem Augenblicke reines Gefühl und droht niemals weder zum Gedanken noch zur That sich zu steigern und so die Gränzen der Kunst zu verlassen. Es bleibt immer bloß ein »Wogen« der Seele, mögen die Empfindungen, die hier ausgesprochen werden, sich auch fast bis zum Affecte erheben. Denn die Wellen gehen hier hoch, wie das nicht anders denkbar ist bei einem Werke, das die höchste Empfindung des Menschen zum Inhalte hat, die volle Hingabe des Geschöpfes an seinen Schöpfer, der Seele an ihren Urquell und Vater; und zudem war es Mozart, der es geschrieben, diese echt musikalische und daher echt religiöse Natur. Ebensowenig sehnen sich die Geister der Apostel noch irgend einer Person in der »Verklärung« aus dem engen Rahmen des Bildes heraus, sondern trotz seiner übergroßen Fülle und fast stürmischen Bewegung hält sich der Geist des Ganzen durchaus innerhalb der Gränzen dessen, was Linien und Farben darzustellen vermögen.

Nicht so bei Beethoven. Ihm wird es im eigentlichen Sinne zuweilen in seinen Gränzen zu eng, d.h. wenn man annehmen will, daß ihm die Sphäre der Musik von der Natur selbst angewiesen war. Ihn drängt es immerfort zum Gedanken und zur That. Er scheint, wie sein Vorläufer Schiller, zum Philosophen oder zum[35] Staatsmann fast mehr berufen als zur Kunst, soviel ist seiner Phantasie von dem Geiste des Denkens und Wollens hinzugemischt. Aber da seine Zeit und sein Land kein öffentliches Leben kannte, worin sich der Mann zum Manne entwickeln konnte, da er all seine Tage im engen Kreise des Privatlebens versitzen mußte, so blieb ihm nichts übrig, als zu geistigen Thaten zu greifen. Und wie man viele Schöpfungen des Dichters Byron in geistreicher Weise mit dem Ausdruck »verhaltene Parlamentsreden« bezeichnet hat, so erklären sich manche Auswüchse, die sich jene beiden Lieblinge der deutschen Nation in ihrer Kunst haben zu Schulden kommen lassen, aus diesem verhaltenen oder versetzten Drang nach Thaten. Sie wollten etwas, sie wollten Ideen »verwirklichen«, sie wollten die Lage der Menschheit verbessern; überhaupt sie wollten Bestimmtes, und der wahre Künstler soll nie wollen, er soll nur müssen. Er schafft aus dem Drange seiner Seele heraus, so wie sie ihn heißt; er »denkt« nicht Ideen, er »will« nicht Zwecke, er ist nicht wahrheitbringender Philosoph, nicht menschenbeglückender Staatsmann, er ist nur Mensch, und hat als solcher zwar jene beiden im Keime in sich, aber er bleibt in den Gränzen des ihm angewiesenen Kreises, nicht Ideen zu »verwirklichen«, sondern das Urbild der Dinge, sowie er es in seiner Seele erschaut, zur schönen Erscheinung zu bringen und durch diesen reinen Abglanz des Göttlichen, den seine Werke geben, den Menschen, seinen Brüdern, von der Herrlichkeit des Höchsten eine Ahnung zu geben, die bildet und bessert, indem sie beglückt.

In diesem Geiste schuf Mozart, schufen Raphael und Goethe; sie schufen aus dem Drang ihrer Seele heraus, ohne Absicht, ohne Wollen. Bei Beethoven dagegen lauert hinter dem Aussprechen dessen, was ihm die[36] Seele bewegt, fast überall und gerade in seinen bedeutendsten Schöpfungen am meisten jenes Wollen. Hieraus erklärt sich aber auch seine Wirkung auf die Massen; es zieht sie zu ihm wie zu ihrem Lieblingsdichter eben jener ethische Zug, der unserer Nation mehr eigen ist als der Sinn für Schönheit. Sich mit dem reinen Schein der Idee, wie ihn das echte Kunstwerk gibt, zu begnügen, ist nicht Jedermanns Sache, es gehört dazu eine feinere Organisation und höhere Entwicklung des Geistes. Im Allgemeinen will man wirklich etwas sehen, hören, fühlen, man will die Sache, nicht bloß ihren Schein. Nun sind es aber gerade jene beiden Großen, die immerfort die Miene annehmen, als wollten sie in Wirklichkeit die Sache geben, da dies doch keinem sterblichen Menschen verliehen ist. Aber gerade dieses mächtige Wollen, dieses Prophezeien, dieses Aufrufen aller Menschen in voller Begeisterung: »Wir sind Alle Gottes Kinder, es ist Keiner verloren, wir sind Alle gleich und gleich berechtigt zur Freiheit«, dieser Zuruf, der aus den Posaunenklängen des letzten Satzes der großen C-moll-Symphonie zu ertönen scheint, reißt ihm die Jugend entgegen und alle, die sich im Drucke fühlen. Und dieß ist ja der Zustand der Meisten unter den Menschen, da nur Wenigen es gelingt, durch eigenen Kampf und freie Aufnahme der Naturbedingungen in den Willen sich volle Harmonie und innern Frieden zu bereiten. Und in dem Sturme der Begeisterung für ihre Propheten, die ihnen Glück und Freiheit als ihr Recht zusprechen und verheißen, vergessen sie ganz, daß hier die Kunst nur als Mittel verwandt wird zu einem außer ihr liegenden Zwecke, da es doch hundertmal gesagt ist und nicht oft genug ausgesprochen werden kann, daß das Schöne Niemanden dient, sondern frei wie das Göttliche, dessen Abglanz[37] es ist, einherwandelt, sich nur dem freien Manne ergebend, nicht dem in Knechtschaft gebundenen; sie vergessen, was unendlich wichtiger ist, daß dies gar nicht das Mittel ist, Glück und Freiheit zu erlangen, sondern daß, wie nur die wahre Kunst von beiden die beseligende Ahnung zu geben vermag, auch die Freiheit und das Glück in Wirklichkeit nur zu erreichen ist, sowie sie das wahre Schöne im Scheine giebt: durch vollkommene Harmonie zwischen Geist und Natur, durch freiwillige Aufnahme des Gesetzes in die Neigung. So ist es zwar vollkommen wahr, was wir gesagt haben, daß Beethoven dem, der sich ihm mit voller Seele hingibt, mächtig hilft und stärkend zur Hand geht im Kampfe, im Ringen nach dem letzten Ziele. Aber ebenso gewiß ist es, daß Mozart's reine Kunst selbst den Menschen frei macht, indem sie ihm von jener Harmonie mittheilt, die der Schönheit eigen ist. Oder wenn wir sagen: Nur die Wahrheit macht frei, so ist es immerhin die Schönheit, ihr Abglanz, die den Weg weist zu dieser Freiheit; sie reicht dem Menschen, dem bestimmt ist, nach jener stets zu streben und sie doch niemals ganz zu erreichen, auf seinem Wege stärkende Labe, daß er nicht müde wird, dem Göttlichen, das er im Bilde erschaut, in der Wirklichkeit stets nachzustreben. Wollte man also nach dem ethischen Einflusse, wie man nicht thun soll, den Werth der Kunst beurtheilen, so würde auch hier nach unserer Ansicht Mozart's Musik den höheren Rang einnehmen; denn wenn sie auch nicht, wie die Beethoven's, direct zu allem Guten, überhaupt zum Handeln antreibt, so leistet sie das Höhere: sie reinigt das Herz, indem sie es rührt durch die reine Schönheit ihrer Gebilde.[38]

Quelle:
Ludwig Nohl: W.A. Mozart. Ein Beitrag zur Ästhetik der Tonkunst, Heidelberg 1860, S. 33-39.
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