Die neuere Musik.

[77] Aber wir sind im Gebiete der Kunst, und die Kunst steht höher als der Künstler. Beethoven bezeichnet schon den Anfang des Endes in der Tonkunst. Mit dem weitern Inhalte, den er der Musik gegeben, ist das Gebiet dieser Kunst, dessen Gränzen Mozart's unendlich sicheres Kunstgefühl überall so sein gewahrt hatte, fast bereits überschritten. [77] Beethoven's größte Ideen sind schon nicht mehr durch den Ton allein darstellbar, er muß zum Worte greifen, und wo er es nicht thut, bringt er seinen Inhalt nicht mehr zur vollen Darstellung. Da sagen nun seine Verehrer, es sei diese Musik allerdings nicht mehr mit dem Ohre allein zu hören, man müsse mit dem Geiste horchen. Das heißt dasselbe, wie in der Malerei etwas darstellen wollen, was nicht mehr gesehen werden kann, sondern auf irgend eine andere Art verstanden werden muß. Wird so der Sinn des Gehöres ebenso wie es mit dem des Sehens bereits geschehen ist, nun auch nach innen gezogen, so ist das Gebiet der Musik bereits verlassen und die Poesie tritt ein. Beethoven selbst faßte in späteren Lebensjahren den Plan, »die vielen seiner Werke zu Grunde liegende poetische Idee anzugeben«. Er hat es zum Glück nicht gethan; nur sehr wenige Werke tragen Inhaltsüberschriften. Aber schon diese Äußerung beweist, daß die Kunst der Töne an ihrer äußersten Gränze angelangt ist. Selbst der neueste Biograph Beethoven's, Professor Marx in Berlin, sagt (2. Band S. 20 Anm.): »Beethoven's Melodie war im Fortschreiten seines Geistes transcendent geworden«. Es ward nothwendig, zur Programmenmusik überzugehen. Schon Schubert, der noch ein Jahr vor Beethoven starb, will mehr sagen als er und die ganze Tonsprache zu sagen vermag; den größeren Theil der gewaltigen Formen, die Beethoven's Wollen geschaffen, füllt schon nicht mehr ein großer Inhalt, es ist vieles leere Phrase: »den Willen spüre ich wohl, allein ich sehe nichts gethan.« Schumann, der unglückliche, muß seine Phantasie gewaltsam überreizen, den Ideen, die nun der Inhalt der Tonsprache geworden, noch halbweg Leben zu verleihen. Berlioz muß, wie Liszt, lange Erörterungen vorausschicken, damit ungefähr verstanden[78] werde, was er sagen will; es ist hier kaum noch Fleisch und Bein, das mit den Sinnen zu fassen wäre. Ihre Klänge zerreißen gewaltsam das Ohr, wenn man einfach hinhört, und das Ganze scheint erst Sinn zu gewinnen, wenn man die eigene Phantasie gewaltsam anstrengt, Sinn hineinzulegen. Dann ahnt man freilich, daß die Componisten, die zum Theil einen bedeutenden Geist haben, sich etwas dabei gedacht haben. Aber eben daß es Gedanken sind oder doch bestimmte Vorstellungen, die sie durch den Ton zum Ausdruck bringen wollen, ist das Unrichtige, da es in alle Ewigkeit Sache der Tonkunst bleibt, Gefühle auszusprechen.

Es ist hier nicht der Ort, zu entscheiden, ob sich im Laufe der Zeit aus den Bestrebungen unserer Tage wieder eine reine Musik zu entwickeln vermag. Wer überhaupt kann dies entscheiden! Jedenfalls müßte, was jetzt noch Reflexion, Gedanke ist, vorerst in das Fleisch und Blut der unmittelbaren Empfindung übergehen, ehe es sich durch den Ton allein vollständig zu verkörpern vermöchte. Die Bestrebungen der heutigen Oper liegen nicht mehr ganz auf dem Gebiete der Kunst, mit der wir uns hier zu beschäftigen haben. Für uns bezeichnet der Name Mozart den Höhepunkt der musikalischen Kunst und die Bestrebungen nach ihm müssen zum Theil einseitige Fortentwicklung irgend einer Seite dieses Meisters, zum Theil gradezu Abwege genannt werden. Mozart ist wie der jugendliche Held Alexander; sein kurzes Leben gleicht einem einzigen Siegeszuge, in dem er das gesammte Reich der Tonkunst eroberte; kein Gebiet, das ihm nicht gehorchte. Nach seinem Tode war keine Hand da, die soweit hätte greifen können wie die seinige. Das Reich zerfiel, und die Diadochen gründeten neue Reiche. Was Wunder,[79] wenn Einer von ihnen in seinem Separatreiche ein größerer Herrscher ward, als der Beherrscher des Ganzen gewesen war. Aber Universalherrscher ward Keiner wieder.

Quelle:
Ludwig Nohl: W.A. Mozart. Ein Beitrag zur Ästhetik der Tonkunst, Heidelberg 1860, S. 77-80.
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