Mozart und Goethe.

[64] Also die Liebe war es, die diese Gestalten bildete, die unserm Meister die Herzen der Menschen öffnete, daß er hineinschaute wie in ein Buch, und daraus ablas und abschrieb, wie aus den Schriften der Ewigkeit; denn der Menschen Herzen bleiben sich in Ewigkeit gleich. Nun zeigt aber sein Zeitgenosse und Zwillingsbruder, unser größter lyrischer Dichter, Goethe, ganz dieselbe Erscheinung. Auch er, man kann es sagen, stoß über von Liebe, auch ihm drang sie bis in die Fingerspitzen hinein und strahlte von da auf Jeden über, der sich ihm nahte. Keiner konnte ihn lassen, Jeder fühlte sich gefesselt, denn er fühlte sich geliebt. [64] Goethe liebte den Menschen, und in ihm die Menschheit. Sein ganzes Leben ist ein Werk der Liebe gewesen und er der eigentliche Dichter der Liebe, wie Mozart ihr Sänger war. Wie ist diese Erscheinung zu erklären? Sollte es Zufall sein, daß zwei Männer von so ganz verschiedenem Talente (Goethe verstand im Grunde die Sprache des Tones nicht), von verschiedenster Erziehung, verschiedener Confession, verschiedensten Landestheilen angehörend, auf ganz verschiedenen Gebieten des Schaffens thätig und ohne miteinander in Berührung zu stehen, ja ohne von einander sonderlich viel zu wissen, dennoch ganz von gleichem Geiste erfüllt und in ihrem Innersten getrieben worden sind? Es weist die Geschichte kaum ein Beispiel auf, daß die eigentliche Triebfeder für ein Handeln, welches das ganze Leben umfaßte, so ausschließlich die Liebe gewesen wäre, wie bei diesen beiden Männern. Es muß also hier ein besonderer Grund vorliegen.

Wir haben bereits ausgeführt, in welcher Weise sich in den beiden großen Vorgängern Mozart's, in Händel und Bach, der Geist des Christenthums, welches die Religion der Liebe heißt, ausgesprochen hatte. Händel war durch und durch Protestant, er protestirte gegen jede Autorität, gegen jede Beschränkung, seine Werke sprechen energischen Freiheitssinn aus, daher er, der thatkräftige Mann, sich nur in dem freien Volksleben Englands behaglich fühlte. Denn sein Streben war mehr die äußere Freiheit als die innere; innen war er, wie noch heute das englische Volk, an das Dogma, an das Gesetz gebunden. Die innere Freiheit, die Freiheit des Gefühls, der Neigung, die das Evangelium lehrt, haben wir bei Bach gefunden; er lebte ganz in der frohen Botschaft von der Erlösung des Menschen durch Liebe und Gnade. Aber[65] seine Empfindung war transcendental, wie der Inhalt jener Verkündigung; er hoffte dort oben jene Erlösung und volle Freiheit, hienieden genügte es ihm, innen frei zu sein durch die Gewißheit seines Glaubens, und wir haben gesehen, wie sehr sein Inneres im Fluß, wie so gar nichts an seiner Empfindung starr war und wie seine Gluth auch die strengste Form fließend machte. Die Außenwelt war ihm nichts, das Leben war ihm eine Pilgerschaft, und wenn ihm auch das Fleisch nicht gerade sündig sein mochte, so galt es ihm doch so wenig, als es einem echten Christen thun soll. Sein Wirken ging nicht nach außen. Aber seine Liebe war auch nicht thätig, wenigstens nicht in höherem Grade als bei allen Menschen, sie ging nicht über seine Familie hinaus, strahlte nicht ihre Wärme auf Jeden: wir wissen, daß der alte Cantor wenn nicht verschlossen, doch stets sehr ernst war, ein stiller, in sich zusammengefaßter Bürger, der seinen Pflichten nachging. Und nun Mozart und Goethe? Können wir von diesen Beiden sagen, daß der eigentliche Geist des Christenthums, der Geist der Liebe, die das Gesetz aufhebt, in seiner ganzen Fülle und Tiefe in ihnen lebendig geworden ist? Ja, und wieder ja.

Man wende nicht ein, daß der Eine sich gegen das Christenthum ziemlich gleichgültig verhalten habe und von Goethe das Wort verlautet: »er sei kein Antichrist, aber auch kein Unchrist, sondern ein dezidirter Nichtchrist.« Man wende nicht ein, daß sich Beide zum Dogma dieser Kirche nicht eigentlich aus Überzeugung bekannt. Denn wir sagen: wenn der In halt einer Religion Wahrheit ist, so muß sich diese Wahrheit unbewußt, ja gegen Absicht und Willen des Einzelnen offenbaren, der im steten Genusse dieser Religion aufgewachsen ist, und nirgend mehr,[66] als in bevorzugten Geistern. Nun ist es aber in unser Aller Herzen gewiß, daß sich im Christenthume die hohe Wahrheit offenbart hat, deren wir jetzt genießen: würde es Einer bezweifeln, der wäre auf den Gang der Weltgeschichte zu verweisen, auf den unendlichen Gehalt, der durch diese Lehre der Menschheit gegeben oder doch zum Bewußtsein gebracht worden ist. Und wir finden diese höchste Wahrheit in dem köstlichen Worte ausgesprochen, daß »die Liebe die Summe aller Gebote ist«. Erst in diesem Worte ist dem Menschen ganz und voll die Seele gegeben, die als Anlage von Urbeginn in ihm lag und deren stilles Weben ebenso von Urbeginn der Menschheit unendlich schöne Gaben in allen Zeiten und Ländern, in allen Religionen hervorgebracht hat. Erst Christi Lehre predigte der Welt diese Innerlichkeit, und sie ist es, die sich das ganze Mittelalter hindurch zum Lichte emporringt. Sie gab Dante und Wolfram von Eschenbach ihre Mysterien, den italischen und deutschen Meistern ihre Madonnen, Palestrina und Orlando di Lasso ihre Kirchengesänge, Bach und Händel die Macht und Tiefe der Werke, die schon nicht mehr ausschließlich der Kirche angehörten. Aber innerhalb der Kunst wird sie erst zur vollen That, und dadurch volles Besitzthum jedes Einzelnen in unsern Meistern. Erst in ihnen tritt das Gefühl, daß es nur Eine allwaltende Macht gebe und daß diese Macht in jedem Augenblicke uns umwehe, daß sie in der ganzen Natur und vor Allem im Menschenherzen zur vollen Offenbarung gelange, in seiner ganzen Reinheit und Klarheit hervor. Erst für sie ist das menschliche Innere die einzige reine und volle Quelle, aus der das Göttliche strömt. Erst sie sind es, die im vollen Sinne das Göttliche in das Menschenherz zurückziehen und es einzig dort[67] suchen. Und eben weil diese Idee in beiden Männern zunächst nur als Gefühl, als volle und tiefe Empfindung auftritt, so bezeichneten wir die Liebe als die Triebfeder und den ganzen Gehalt ihres Wesens. Denn die erste ganze und vollkommene Äußerung des Gefühles, daß der Geist Gottes die ganze Welt erfüllt und in Allem webt, ist die Liebe, die Hingebung an diesen Geist in seiner Allgemeinheit und die Hingebung an jedes menschliche Wesen als den reinsten Träger dieses Geistes. Erst in Mozart und Goethe wird aber diese Liebe völlig, denn erst sie gelangen über die kirchliche Lehre hinaus zu der Liebe, die auch das Irdische, das Weltliche, die Natur umfaßt. Erst ihnen ist das Fleisch nicht mehr sündig, sondern es gelangt auch der Leib wieder zu seinem Rechte als Gefäß und Träger des Geistes, ein Wort, das Jahrhunderte lang ausgesprochen, das aber alle factischen Zustände eben so lange Lügen gestraft haben. Erst in ihnen erscheint wieder der ganze und volle Mensch, bei dem Natur und Geist im Gleichgewichte stehen und der daher auch die ganze Wirklichkeit mit Liebe umfassen kann. Erst Goethe war Einer von denen, die auch außerhalb des Gebietes, auf dem wir uns hier bewegen, auch außerhalb seiner Kunst jenes Wort von der Liebe, die Natur und Geist versöhnen soll, wirklich machte, indem er sie in die Häuser einführte, in die Stätten der Menschen, in die Familie, daß nun mit Bewußtsein die Liebe zu dem Bande gemacht wird, das die Einzelnen verbindet. Alle seine Werke haben den Inhalt, den Menschen dem Menschen näher zu bringen, und sein ganzes Leben beweist, wie er mit gutem Beispiele voranging.

Und doch wissen wir kaum, auf wessen Seite die echte Liebenswürdigkeit und Herzensgüte, die den rechten Menschen[68] anzeigt, in höherm Maaße zu suchen ist. Es kann nicht laut genug ausgesprochen werden, was von Mozart's Herzen erzählt wird. Schon das vierjährige Kind ging oft täglich mehrmals im Hause umher, zu fragen, ob ihn auch Jeder noch lieb habe; und wenn es Einer zum Spaß verneinte, weinte es. Die Biographieen theilen hundert Züge mit, wie sich sein Herz mit unwillkürlicher Liebe jedem Menschen öffnete. Nicht bloß seine Gattin rühmt es und erzählt rührende Einzelnheiten und verzeiht ihm gern alle kleinen Unarten, die er an sich hatte: es liegt ja das Wesen des Menschen nicht in seinen Fehlern und Tugenden, es liegt unendlich tiefer. Sie verzeiht ihm auch, daß sie durch seine Arglosigkeit und Sorglosigkeit oft genug der Noth ausgesetzt waren, ja sogar seine kleinen Treulosigkeiten gegen sie selbst verzeiht sie ihm: »denn er war so gut, man konnte ihm nicht bös sein«. Es rühmen dieses Liebenswerthe seines Wesens Alle, die je mit ihm in Berührung gekommen; Jeder weiß davon zu erzählen.

Wir behaupten aber, es sei dieser Geist der Liebe, so wie wir ihn eben näher bezeichnet haben, der eigentliche Inhalt jener ganzen Zeit gewesen, der in diesen beiden Männern nur den vollen Ausdruck gewann; sie sind unstreitig die bedeutendsten, die jene Zeit hervorgebracht hat. Wie sehr mußte besonders Mozart's Freundeskreis von diesem Geiste erfüllt sein, wenn Einer von ihnen im Übermaaß seines Fühlens, sogar alle Schaffenskraft, alles Genie nur von der Liebe herleitet. Und spricht sich in all den schwärmerischen Freundschaften jener Zeit, in Siegwart, in Werther's Leiden und allem, was ihnen folgte, etwas anderes aus, als ein Bedürfniß nach Liebe? Wir erkennen in diesem allgemeinen Liebebedürfniß, das die Zeit characterisirt, in diesem Zurückgehen auf die Natur, auf die Natürlichkeit und[69] Wahrheit alles Empfindens, das sich in einzelnen Gebieten sogar als Sturm und Drang äußert, der zunächst alle Formen brechen will, wir sehen in allem diesem ein Symptom, daß die Menschheit die Einheit ihres Wesens wieder sucht, die Einheit, die sie nicht zum wenigsten verloren hatte durch die unglückliche Trennung von Geist und Körper, welche die Kirche als Lehre aus der christlichen Religion in die Welt gebracht hatte. Es characterisirt jene Zeit, daß sie zur Heilung des tiefen Schadens, den sie mehr ahnte als erkannte, mit richtigem Instincte das einzige Mittel ergriff, das hier heilen konnte: sie ging auf den Urgrund alles Seins, auf das Gefühl zurück und fand in dieser unmittelbaren Einheit der menschlichen Seele das Verlorene wieder. Sie streifte, in Schwärmerei und Exaltation versunken, zunächst alles Bewußte und Feste, das sich die Menschheit mühevoll errungen, wieder ab und gab im Eifer ihres neuen Besitzes manches schätzenswerthe Gut des Geistes hin. Aber sie schuf in dieser Wiedergeburt des reinen, kräftigen Gefühles die feste Grundlage für eine neue Welt in den höheren Regionen des Geistes. Der junge Goethe rief: »Nun fühle ich es, daß es nichts ist, als die Empfindung, die den Dichter macht.« Er sah noch nicht, daß er selbst später Einer von denen werden sollte, die weit über die bloße Empfindung hinaus ein neues Leben des Geistes schufen. Wir, die wir nachgefolgt sind und die Werke des Geistes übersehen, welche die großen Philosophen aus dem tiefen Fühlen und Schauen jener Zeit weiter zur Klarheit des Gedankens gefördert haben, wir können sagen, daß jene Ahnung richtig, daß jenes Zurückgehen auf die reinen Tiefen der Empfindung der einzige Weg war, der Menschheit die wahre Einheit, den wahren Frieden der Seele zurückzugeben.[70]

Aber wem war diese Richtung der Zeit günstiger als der Musik, der Kunst der Seele. Es ist der ganze Gefühlsgehalt der menschlichen Natur, es ist ja die Seele selbst, die sich dieses Ausdrucksmittel geschaffen hat. Und wenn nun gar in einer Zeit die ganze Menschheit sich in dieser Form des Geistes zusammenfaßt, dann kann es allein die Musik sein, die ihr zum Ausdrucke ihres Inhaltes verhilft. Und ist es da ein Wunder, wenn ein von Natur, so wie Mozart, für den Gefühlsausdruck durch Töne organisirter Mensch die Musik auf einen Höhepunkt bringt, der vorher nicht einmal geahnt werden konnte? Musikalische Talente hat die Natur gewiß aller Orten und aller Zeiten hervorgebracht, aber aus einem solchen Talente vermochte einen Mozart nur eine Zeit zu bilden, wo selbst das »Genie« noch eine besondere Seele hatte und diese den Namen Liebe führte, den Inbegriff aller Gefühle. Schon einige Zeit später hätten die Bedingungen gefehlt, die hier wirkten. Schiller war nur vier Jahre jünger als Mozart, und Beethoven etwa nur fünfzehn Jahre, aber beide scheinen um mehr als ein halbes Jahrhundert von unserm Meister entfernt. Mag bei dem Einen das Gebiet seiner geistigen Beschäftigung, bei dem Andern der Ort seiner Geburt, nahe der Gränze Frankreichs, mitgewirkt haben, diese Kluft so unendlich zu vergrößern, und mag es richtig sein, daß Schiller, der Dichter und Philosoph, mit zwanzig Jahren nicht so alt und reif war, als der Musiker Mozart mit fünfzehn Jahren, genug, jene beiden erscheinen uns als Kinder einer Zeit, die von der Mozart'schen so weit geschieden ist, wie die Regionen des unbewußten Geistes von denen des Selbstbewußtseins.

Quelle:
Ludwig Nohl: W.A. Mozart. Ein Beitrag zur Ästhetik der Tonkunst, Heidelberg 1860, S. 64-71.
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