Stoffe aus dem Leben.

[46] Weniger düster, aber in seiner Grundstimmung durchaus noch dem Gebiete der Gefühle angehörend, die den Menschen aus sich heraus zu einem Höhern hinleiten, ist die vielverbreitete Phantasie in C-moll (Op. 11 Nr. 1). Sie enthält die ganze Reihe der Bilder, die in solcher Stimmung vor der Seele vorüberschweben, und verdankt ihre allgemeine Beliebtheit der Klarheit und Bestimmtheit, mit der die Empfindungen zum Ausdruck gebracht sind: es scheint fast zur Rede zu kommen. Von diesem Werke hat Beethoven für seine Klaviersachen offenbar viel gelernt, besonders in Bezug auf seine und treffende Charakteristik, aber nicht ebenso in Bezug auf Schönheit. Unzweifelhaft ist der Ideengehalt seiner Klaviersonaten, die mit Recht ein unerschöpflicher Born der Poesie heißen, weit größer als der der Mozart'schen. Aber eben dieser überschüssige Gehalt verhindert, besonders in den Adagios, gar oft die klare Übersichtlichkeit und freie Bewegung, es wird ein gewisser Holzton nicht ganz überwunden, es kommt nicht zum reinen Klingen. Andrerseits treibt die Macht seines Geistes ihn gerade hier zum ersten Male in auffallender[46] Weise über die Gränzen seiner Kunst hinaus; wir meinen das bereits genannte Recitativ in der Sonate Op. 31 Nr. 2. Der leidenschaftliche Drang seiner Empfindung läßt ihm keine Ruhe, er will durchaus »sprechen«, er muß sich verständlich machen. Da das Mittel aber, zu dem er greift, nur der Schein der wirklichen Rede ist, nur eine Erinnerung, daß dramatische Worte von der Musik in dieser Weise begleitet zu werden pflegen, so tritt an solchen Stellen das gerade Gegentheil von dem ein, was beabsichtigt wurde: der volle Strom der reinen Empfindung ist unterbrochen und das Höhere, was uns dafür entschädigen sollte, die deutliche, klare Sprache des Geistes, erscheint nicht, da nicht wirkliche, von der Musik nur beseelte und erhöhte Worte kommen, sondern der leere Schein derselben, die nüchterne Allegorie. So sind wir wie mit kaltem Wasser übergossen, und alle Mühe, die sich manche Klavierspieler geben, möglichst viel Ausdruck in eine solche Stelle zu legen, enthüllt nur um so mehr, daß hier recht eigentlich ein musikalischer Inhalt fehlt. Die Mozart'sche Sonate, die hier vorliegt, ist ein klares Beispiel, wie weit zum Äußersten bei Instrumentalsachen in der Dramatisirung gegangen werden darf.

Mit dem Andante der Sonate Op. 62 kommen wir schon dem Leben, ich möchte sagen dem Weltlichen näher. Es empfindet sich hier ein Schmerz über ein bestimmtes Verlornes, eine süße Traurigkeit, die fast an einen wirklichen Vorgang erinnert. Das Mädchen freut sich seiner Betrübniß, es spielt mit seinem Kummer um den Geliebten, der sie verlassen, mit jeder Veränderung des sanft klagenden Themas wird das Herz leichter und freier; und wenn man der folgenden Menuett glauben soll, so hat das gekränkte Herz gar bald einen andern Gegenstand seiner Neigung[47] gefunden, daß es sich daran erquicke und übe; es spricht im Trio die ganze Süßigkeit seines Liebens neu und ungeschwächt aus. – Man hat die Authenticität dieser Sonate bezweifelt. Aber wer irgend Mozart kennt, weiß, daß es niemals Einen gegeben, der solche Empfindung so wahr und schön auszudrücken vermocht hat wie er. Übrigens lassen besonders das Incorrecte in den Einzelheiten, sowie einige Stellen im ersten und letzten Satze darauf schließen, daß für diese beiden das hinterlassene Manuscript (die Sonate ist nach Mozart's Tode herausgekommen) nicht vollständig in der Ausarbeitung gewesen ist. Der letzte Satz (Rondo) ist wie ein Maskenspiel. Durch eine Art Trompetenstoß wird jedesmal der Eintritt einer neuen Hauptfigur angezeigt, am drolligsten der des täppischen Pantalon in seinem weißen Costüme durch das dreimalige Tappen des tiefen C; aber es folgt ihm auf dem Fuße in lieblichster Melodie die zärtliche Columbine.

Ganz aus dem Gebiete des Lebens, und zwar des persönlichen Verkehrs der Herzen miteinander, scheint das Andante einer Sonate in B (André, Nr. 10) zu sein (wir nehmen unsere Beispiele absichtlich aus den Werken, die für Jedermann leicht zugänglich sind); und wir kommen hier auf die interessante Frage, wieweit auch der Musiker nach Modellen zu arbeiten, d.h. den Inhalt seiner Dichtungen aus der Wirklichkeit zu nehmen im Stande ist.

Mozart's Leben ist bekannt. Er war von Jugend auf gewöhnt, unter Menschen zu leben, er war viel gereist, er hatte von Natur offenen Sinn für das Leben, für seine Freuden, für Liebe, für Freundschaft. Er trat allen Menschen, mit denen er zusammenkam, sehr leicht und in vertraulicher Weise nahe. Jahn erzählt hiervon eine Menge von Beispielen. Sein Vater, der verständige Mann, hatte[48] immerfort viel zu schaffen, ihn wieder loszumachen, wo er sich zu tief eingelassen, in Mannheim beim Musikdirector Cannabich, bei dem armen Musikus Weber, dessen älteste Tochter Aloisia Mozart's heiße Jugendliebe war und dessen andere Tochter Constanze er später in Wien heirathete; ferner die drolligen Geschichten mit dem »Bäsle«, dem er nachher von Salzburg aus einen neckischen Brief schrieb mit einem parodirten Gedichte Klopstock's ( »Dein süßes Bild, Edone«. Vergl. Jahn, Beil. XI). Man hat oft gesagt, Mozart selbst sei ein Don Juan gewesen; aber gewiß hatte er nicht dessen rücksichtslose Frechheit, wenn er ihm auch die unendliche Liebesfülle einhauchte, die seines Herzens Eigenthum war; aber sie ward im Don Juan zur Begehrlichkeit verkehrt. Man sagt ferner, er sei im gewöhnlichen Leben stets wie ein Unerwachsener gewesen und habe vom wirklichen Leben nichts verstanden; träumend und dichtend, habe er auf nichts geachtet, was um ihn vorgegangen, deßhalb sei es ihm so schlecht ergangen. Dies ist Alles wahr, wenn man darunter bloß das materielle Leben versteht, aber in keinem andern Sinne. Vielmehr ist nach dem Vorhergehenden und nach seinen Schöpfungen zu urtheilen, er habe sein ganzes Leben so sehr in der Wirklichkeit, sowie sie ihn umgab, gelebt, daß man sogar von ihm sagen kann, was von Raphael und Goethe gilt: er habe den Inhalt seiner Werke durchaus der Wirklichkeit entnommen. Oder sind die Empfindungen der Liebe und Freundschaft, die ein Mensch für den andern hegt, nicht etwa wirklich? Fühlt er nicht an den tausend Schmerzen und Qualen, die sie ihm verursachen, ihre wirkliche Existenz so gut wie der Dinge, die er mit den Händen greift, mit Augen sieht und[49] mit seinen Ohren hört? Wohl fühlt der Mensch in seinem Herzen mit unendlicher Gewißheit die Wirklichkeit der Liebe, die er zum Menschen hegt; ja allein am Menschen, am wirklichen Menschen, im wirklichen Leben erkennt er sie und übt sie. Nun war Mozart sein ganzes Leben voll von dieser Empfindung, er liebte immer, kann man sagen, und diese Liebe erschloß ihm hinwiederum den ganzen unendlichen Schatz der Empfindung, der sich in jedem Innern so tausendfach verschieden gestaltet. Er nahm seinen Stoff nicht so aus der bloßen Phantasie, wie Beethoven, der »unablässig bemüht war, des undurchdringlichen Ichs düstere Wege zu späh'n«. Er nahm ihn aus den Herzen der Andern, lebender Wesen, und deßhalb haben seine Schöpfungen lebenswarmes Blut in den Adern, nicht ἰχωρ, wie es Homer den unsterblichen Göttern zuschreibt und wie es Beethoven's Gestalten haben, die wie Max und Thekla in ewiger Kühle schweben. Mozart schrieb geradezu seine Musik aus den Menschen ab. Bedürften wir hierfür eines andern Beweises, als seine Werke, so liegt auch dieser vor. Mozart schreibt selbst von Mannheim aus an seinen Vater: »Da fragte mich der junge Danner, wie ich das Andante zu machen im Sinne habe. – Ich will es ganz nach dem Caractère der Mlle. Rose machen. – Als ich es spielte, gefiel es halt außerordentlich. Der junge Danner erzählte es hernach. Es ist auch so: wie das Andante, so ist sie«.

Heißt das nicht, geradezu nach einem Modell arbeiten? Und in der That, sollte nicht das geistige Auge des Musikers die Seele des Menschen, so wie sie sich aus dem Gefühle aufbaut, ebenso deutlich erblicken, wie das Auge des Malers den Leib schaut, das Gefäß dieser Seele, das von ihr den Stempel trägt, und wie der Dichter die ganze[50] geistige Persönlichkeit des Menschen erschaut? Er sieht eben das am Menschen, was an ihm musikalisch ist, er sieht die ganze Innerlichkeit, die ganze concrete Fülle der Gefühle, die so höchst persönlich, so individuell ist, und die eben nur der Ton völlig darzustellen vermag; er sieht, was an dem Menschen Empfindung ist, und nimmt es ebenso in sich auf zur Darstellung seiner Tonwesen, wie Raphael von seiner bella fornarina sich Farben und Formen lieh für seine herrlichen Frauengestalten, und Goethe von Kestner's Lotte das Individuellste und Lebendigste, was uns an Werther's Lotte entzückt. Oder sollte nicht jeder Mensch sein eigenes Gesicht innen so gut haben wie außen? Sollte es nicht musikalische »schöne Seelen« geben, die den Musiker aufrufen, eine Idealgestalt erklingen zu lassen, sogut wie dem Maler bei seinen Wanderungen hoch auf der Treppe sitzend eine Mutter mit ihrem Kind erscheint, so schön, daß er im raschen Entzücken das Bild auf den Deckel eines Fasses hinwirft, um später eine Madonna della Sedia daraus zu machen? Zweifelte Einer, den würde jenes Wort Mozart's belehren. Aber was musikalisches Modell zu sein vermag, das entscheidet nur der Musiker. Nur er sieht an dem Menschen das rein Seelenhafte, das rein Empfindende und rein Klingende, wie nur der echte Maler die höchste Schönheit der körperlichen Erscheinung. Der Kriegsrath Merck sah in Goethe's Lotte eben auch nur eine hübsche blonde Erscheinung, und nicht Jeder hätte aus Frau von Stein sich die tiefe Beseelung gesogen wie Goethe, der an die Geliebte schreibt: »Und ich bitte die Grazien, daß sie meiner Leidenschaft die innere Güte geben und erhalten mögen, aus der allein die Schönheit entspringt.«

[51] Rosa Cannabich war dreizehn Jahre alt, als der einundzwanzigjährige Mozart sie unterrichtete. Das Andante, von dem er schreibt, mag wohl das obengenannte sein. Es ist Amoroso betitelt, geht ausEs hat einen Grad von individueller Lebendigkeit, und zwar einer Empfindung, wie sie Mozart hier haben mochte, und eine so sprechende Characterisirung, solch leises Fragen und schüchternes Antworten, und all das reizende Getändel der Neigung hin und wieder, daß hier recht gut eine junge Mädchenseele gezeichnet sein könnte, die von der Herrlichkeit des Lebens so eben eine süße Ahnung bekommt. Und nun denke man sich den in jugendlicher Empfindung glühenden Musiker, dem das Herz ohnehin immer überläuft. Konnte Pygmalion den Stein beseelen, wie viel eher vermochte dieser Meister mit seinem Feuer ein Wesen zu entzünden, in dem wenigstens die Seele schon als Fähigkeit und Ahnung vorgebildet lag. Mag darum sein wie ihm wolle. Wir wissen nicht, welches Andante das von Mozart gemeinte ist. Das unsrige ist 1777 geschrieben, in der Zeit, wo Mozart in Mannheim war. Bestimmteres ist darüber auch von Jahn nicht angegeben. Hier genügt die Thatsache, daß überhaupt einmal »abconterfeiet« worden ist, und das wird gewiß nicht das letzte Mal gewesen sein. Übrigens ist uns kaum eine Instrumentalcomposition, auch nicht von Mozart bekannt, die in ihrer Liebesempfindung so wahr und so unendlich concret wäre, als dieses Amoroso in Es-dur.

Quelle:
Ludwig Nohl: W.A. Mozart. Ein Beitrag zur Ästhetik der Tonkunst, Heidelberg 1860, S. 46-52.
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