4a.

Haydn als Sängerknabe.

Nachdem wir im Vorhergehenden mit den Verhältnissen vertraut geworden sind, unter denen unser kleiner Held bestimmt war, seine musikalischen Studien fortzusetzen, können wir uns nun um so eingehender mit Haydn selbst, dem Sängerknaben befassen. Welcher Contrast, wenn er zurückdachte an die Schulstube in Hainburg, an seinen öden und reizlosen Geburtsort! Von den Fenstern der Dachkammer, die ihm und seinen fünf[58] Kameraden als Wohn- und Schlafstelle angewiesen war, sah er herab auf den mit Kreuzen und steinernen Denkmälern bedeckten Friedhof. Zur Rechten schloß sich die schmucke, alterthümliche und vielwinklige Magdalenen-Kapelle mit ihren Rundfenstern und Spitzbögen und Vorbauten unmittelbar an die Cantorei an und überragte sie mit ihrem viereckigen Thürmchen. Weiterhin zur Rechten erhob sich das seiner Vollendung nahende Chor- und Curhaus, das in seiner Ausdehnung von funfzehn Fenstern in der Front und drei Stockwerken (das vierte wurde erst später aufgesetzt) dem an solche Verhältnisse nicht gewöhnten Auge als ein Riesengebäude erscheinen mußte. Vom Kapellhause aus gerade gegenüber konnte der Blick längs der Südseite des Domes hingleiten und dem wahrhaft majestätisch sich erhebenden, mit zahllosen Statuen, Thiergestalten und wunderlichen Arabesken-Verschlingungen gezierten Thurme seiner ganzen Höhe nach folgen. Und wenn nun des Abends der Mond sein volles Licht über das hohe, in bunten Farben glänzende Kirchendach ergoß und die über den Friedhof sich senkende Ruhe etwa nur unterbrochen wurde vom Glöckchen am Thore, für einen Sterbenden den letzten Trost erbittend: welches Gemüth konnte solchen Eindrücken gegenüber unempfänglich bleiben! Auf dem ganzen Lebenswege Haydn's wurde ihm ein ähnliches Bild nicht mehr zu Theil. Daß aber hier im Herzen des vom Elternhause getrennten, unter fremden Menschen alleinstehenden Knaben etwas haften blieb, dafür sprechen so manche ernste Instrumental-Sätze des gereiften Mannes, die mit ihrem andächtigen, getragenen Gesange gar wohl sich mit solchen stimmungsvollen Augenblicken verwandt zeigen.

An die Zeit in Hainburg erinnerte den Knaben das sogenannte Primglöckchen, mit dem bei bevorstehendem Gewitter die übrigen Kirchen zum Wetterläuten, und die Stadtbewohner überhaupt zum Gebet ermahnt wurden. Auch der majestätische Klang der großen Josephinischen Domglocke mußte die Gedanken nach Hainburg locken; war sie doch aus dem Erz der von den Türken eroberten Kanonen verfertigt – jener Horden, die auf ihrem Raubzuge gegen Wien in Hainburg so fürchterlich gehaust hatten. Bei besondern Gelegenheiten, z.B. am Charsamstag beim Feste der Auferstehung, oder wenn nach vollzogener Neuwahl die Universität und der Stadtrath zum Dankamt[59] nach dem Dom sich begaben, konnte der Knabe der Musik lauschen, die vom Thurnermeister und seinen Gesellen (drei Posaunisten, zwei Zinkenbläsern und einem Fagottisten, dem Thurnermeister selbst) bei den Fenstern des Thurmes abgehalten wurde. – Folgen wir nun dem Knaben auf einem Rundgange im Innern des ehrwürdigen Domes. Da gab es viel zu sehen: Neununddreißig Altäre waren in dem gewaltigen Raume vertheilt und zu den früher schon bestandenen Grabdenkmälern war eben jetzt jenes des Feldherrn Prinzen Eugen von Savoyen hinzugekommen. Die damals noch vom Kirchengewölbe herabhängende türkische Blutfahne, vom Herzog Karl von Lothringen bei Hamzsabég im Jahre 1684 erbeutet (jetzt im Waffenmuseum der Stadt Wien) gab abermals der Erinnerung an die, diesem Jahre vorangegangene Blutthat Raum. Was aber das Interesse des musiklustigen Knaben besonders in Anspruch nehmen mußte, waren die Orgeln.

Zu den im Jahre 1548 von Schmeltzl besungenen »zwei Orgeln groß und klein« waren seitdem zwei neue hinzugekommen. Da war vor Allem über dem Haupteingange beim Riesenthore die kaum erst vollendete größte Orgel, die aber schon damals nur selten, bei Ankunft und Weggang des kaiserlichen Hofes und jährlich am Todestage ihres Stifters benutzt wurde.1

Die noch heutzutage beim täglichen Gottesdienst benutzte Orgel, gegenüber dem im Jahre 1647 errichteten kais. Oratorium, war im Jahre 1701 von dem kais. Hoforgelbauer Ferdinand Römer (gest. 1723) erbaut. Dem Hauptaltare näher gerückt, ersetzte sie eine dritte, die von Schmeltzl erwähnte »große« Orgel, die sich beim südlichen Eingange der Kirche auf dem Chor über[60] der untern Sacristei befand. Als noch der Frohnleichnams- oder Markus-Altar außerhalb dem eisernen Gitter im mittlern Schiff des Domes stand, wurde hauptsächlich diese Orgel zum Gottesdienst benutzt und auch noch zu Haydn's Zeit bei feierlichen Gelegenheiten, an Sonn- und Donnerstagen, bei den gewöhnlichen Processionen und an Frautagen Abends beim Liede »geschlagen«. Diese Orgel war es, auf der sich die weltberühmten Organisten Paul Hofhaimer, Johann Jakob Froberger, Jakob Häsler, Johann Kaspar Kerl und Gottlieb Muffat vor dem kaiserlichen Hofe hören ließen.2 Da dieser Chor nur wenige Personen faßte, postirte sich die gesammte Musik bei großen Festen, bei solenner Gegenwart des Hofes an die rechte Seite des Hauptaltars neben den Stühlen der Universität. – Noch beschränkter im Raum war die vierte, die »kleine« Orgel, die älteste des Domes. Sie befand sich, gerade gegenüber der Vorgenannten, beim nördlichen Eingange auf dem nun leer stehenden Chorfuße, unter dem sich der Erbauer desselben, Anton Pilgram, im Jahre 1313 in eigener Figur verewigt hat. Der Chor faßte nur fünf Sänger und wurde von denselben an den Frautagen Abends nach der Complete das Salve Regina und die Litanei gesungen.3

Als einen Hauptanziehungspunkt des Friedhofes bot sich unserm Sängerknaben der früher erwähnte, an das Bahrausleihamt angebaute kleine Laden des Buchhändlers Binz. Der Eigenthümer verkaufte nach damaliger Sitte auch Musikalien, denn Handlungen, die sich ausschließlich mit solchen befaßten, kamen in Wien erst später in Gebrauch.4 Die Auswahl mochte[61] wohl bescheiden genug sein; von theoretischen Werken etwa der Fux'sche Gradus ad Parnassum, damals das Buch der Bücher für Musiker, die bis dahin bekannten Werke von Mattheson, namentlich dessen vollkommener Kapellmeister; von praktischen Werken die früher erschienenen und sauber gestochenen Clavierstücke von Georg und Gottlieb Muffat und eben jetzt (1742) die in Nürnberg veröffentlichte erste Sonatensammlung von C.P. Emanuel Bach. Vorzugsweise aber konnten hier nur Musikalien in Abschrift zu finden gewesen sein, wie solche noch Jahrzehnte später im Verkehr gebräuchlich waren. Derselbe Binz kündigte in den 90er Jahren in der Wiener Zeitung die »neuesten Werke des berühmten Meisters Haydn« an, wie solche »mit größtem Beifall bei dessen Besuch in London aufgeführt wurden« – von demselben Haydn, der im Augenblick als simpler Schulknabe die in den Fenstern dieses kleinen Paradieses ausgelegten kleinen Schätze mit sehnsüchtigem Blicke musterte. –5

Wir wenden uns dem Unterricht im Kapellhause zu. Für den Knaben Haydn war dieses Haus in seinem Sinne allerdings, wie Fröhlich sagt6, »eine hohe Schule der Musik«, und wenn es auch nicht, wie zugleich versichert wird, »die größten Lehrer ihrer Zeit« waren, die ihn im Gesang und Instrumentenspiel unterrichteten und ihm namentlich in der Tonsetzkunst die nöthige Anleitung fehlte: so gestand Haydn doch selbst (Beil. II). daß er dort »nebst dem Studiren die singkunst, das Clavier und die Violine von sehr guten Meistern erlehrnte«, wobei er namentlich noch hervorhob, daß er »sowohl bei St. Stephan als bei Hof mit großem Beifall« gesungen habe. Unter dem »Studiren« ist der nach damaliger Art nothdürftige Unterricht in Latein, Religion, Rechnen und Schreiben zu verstehen. Einen regelmäßigen systematischen Unterricht hat Haydn nie empfangen; er war sich, gleich seinem Bruder Michael, hierin selbst überlassen und blieb zumeist sein eigener Lehrmeister. Rochlitz7 läßt[62] Haydn hierüber beiläufig sagen: »Eigentliche Lehrer habe ich nicht gehabt. Mein Anfang war überall gleich mit dem Praktischen – erst im Singen und Instrumentenspiel, hernach auch in der Composition. In dieser habe ich Andere mehr gehört als studirt: ich habe aber auch das Schönste und Beste in allen Gattungen gehört, was es in meiner Zeit zu hören gab. Und dessen war damals in Wien viel! o wie viel! Da merkte ich nun auf und suchte mir zu Nutze zu machen, was auf mich besonders gewirkt hatte und was mir als vorzüglich erschien. Nur daß ich es nirgends blos nachmachte! So ist nach und nach, was ich wußte und konnte, gewachsen.«

Wie viel Haydn auf diese praktischen Uebungen hielt, haben wir schon früher gesehen; er empfahl sie jedem Tonsetzer; hatte er doch hierin bereits eine tüchtige Vorschule durchgemacht. »Ich war auf keinem Instrument ein Hexenmeister«, sagte er zu Griesinger (S. 119), »aber ich kannte die Kraft und Wirkung aller; ich war kein schlechter Klavierspieler und Sänger, und konnte auch ein Konzert auf der Violine vortragen.« Auf das Studium des Gesanges, worin er ja bei Porpora die beste Schule durchmachte, legte Haydn besonders großen Werth und tadelte es stets, daß so viele Tonmeister componirten, die nicht singen gelernt hatten, »das Singen sei beinahe unter die verlorenen Künste zu rechnen und anstatt des Gesanges lasse man die Instrumente dominiren«.8

Von seinen Lehrern sprach Haydn immer mit dankerfüllter Verehrung und, was Reutter betrifft, mit äußerster Behutsamkeit und nachsichtsvoller Achtung, so daß die Fragenden nähere Umstände errathen mußten und dabei, in selbst nachweisbaren Thatsachen, meistens fehlgingen. Als Haydn's Meister im Gesang werden Gegenbauer und Finsterbusch genannt; Ersterer dürfte ihn wohl auch auf der Violine unterrichtet haben. Beide Männer werden von Dies und Carpani gar nicht, von Griesinger (S. 9) im Vorübergehen doch wenigstens dem Namen nach erwähnt.

Der schon früher genannte (Joh.) Adam Gegenbauer9,[63] gebürtig von Altensteig (Allendsteig) in Nieder-Oesterreich, wurde bei St. Stephan im Jahre 1731 als untergeordneter Violinist angestellt. Im Jahre 1738 wurde er Subcantor an Stelle des abgetretenen Ferdinand Bindel10 und rückte 1745 als erster Violinist-Accessist vor; in den Kirchen-Rechnungen erscheint er auch als Copist. Bei der Hofkapelle wird er im Jahre 1752 als Concert-Dispensator (Verwalter) und ebenfalls als Copist genannt. Sein jährlicher Gehalt betrug anfangs nur 100 Fl., aber sie dünkten ihm verlockend genug, die Jungfrau Maria Clara Muth als Gattin heimzuführen. Stets kränklich, mußte er endlich die Subcantor-Stelle im Jahre 1753 aufgeben und starb bald darauf, am 4. April 1754, im 51. Lebensjahre. Er hatte in Noth begonnen und endete in Noth; seine Witwe und der zehnjährige Sohn Johann Georg standen am Sarge und wußten nicht, womit sie die Leichenunkosten bestreiten sollten – es fehlte an Allem.

Ein kaum erfreulicheres Bild, was die ärmlichen Verhältnisse betrifft, bietet Haydn's zweitgenannter Lehrer Ignaz Finsterbusch – »ein eleganter Tenorist«, wie ihn Griesinger nach Haydn's Aussage nennt. Und dieses Prädicat bezeichnet treffend, wie er in seinem Aeußern und seinen nobeln Passionen dem Meister in Erinnerung geblieben ist. Finsterbusch trat im Jahre 1724 als unbesoldeter Tenorist in die Hofkapelle und wurde im Mai 1730 mit 300 Fl. Gehalt angestellt. Obwohl ihm nach elf Jahren 100 Fl. zugelegt wurden, hatte er noch immer den geringsten Gehalt neben den gleichzeitig angestellten Tenoristen, von denen Gaetano Borghi jährlich 1800 Fl. bezog. Bei St. Stephan scheint Finsterbusch nur als Lehrer fungirt zu haben. Fux sagt, daß er beim Eintritt in die Hofkapelle eine ziemlich schwache Stimme und Brust gehabt habe, »obwohlen sonst die arth zu singen bey ihm gut ist«. Trotz seiner Schwächlichkeit heirathete er frühzeitig und fand bei rasch sich vermehrender Familie sein Auskommen nicht. Nach dem Tode seiner ersten Frau im November 1740 führte er schon[64] nach drei Monaten Maria Susanna, die Tochter des Violoncellisten der Hofkapelle, Johann Crammer, als zweite Frau heim. Er starb am 29. April 1753 als kais. Hof- und Kammermusikus im 49. Lebensjahre. Die Kaiserin unterstützte seine Witwe, die er fast mittellos hinterließ, durch Vergütung der Kranken- und Leichen-Unkosten und setzte ihr nebst dem eine Pension von 100 Fl. aus. Den einzigen Sohn übernahm ein Kloster in Ungarn. Unter den Kreisen, in denen Finsterbusch unterrichtete, wird auch das noch jetzt bekannte Haus Managetta genannt. Was die obige Bezeichnung »elegant« besagen will, verräth uns das Inventar seines Nachlasses: »Röcke und Westen« mit massiv silbernen Knöpfen, Jagdanzüge, Stutzen, Hirschfänger, Flinten, Terzerole, türkische Pistolen, Weidmannstaschen und alles Nöthige zum Wachtelfang; ferner eine Sammlung Gemälde, bestehend aus Landschaften, Blumenstücken, vielen Porträts, darunter Kaiser Joseph I. und Prinz Eugen – also Jagdfreund und Kunstliebhaber und wohl auch selbst ausübender Maler. –

Wie wir früher schon erfuhren, wurde im Kapellhause kein Unterricht in der Compositionslehre ertheilt. Griesinger sagt (S. 10), daß sich Haydn erinnerte, in der theoretischen Musik nur zwei Lectionen von dem »braven« Reutter erhalten zu haben. Dies (S. 22) geht der Frage vorsichtig aus dem Wege, muß aber doch die vernachlässigten Studien eingestehen und läßt Reutter dabei so glimpflich wie möglich durchschlüpfen. »Sobald Joseph (sagt Dies) in seinem neu angetretenen Stande so viel Unterricht empfangen hatte, als nöthig war, die Pflichten eines Chorknaben zu erfüllen, erfolgte im Unterricht ein großer Stillstand, woran vielleicht die zu sehr überhäuften Geschäfte des Kapellmeisters Schuld waren.« Beide Gewährsmänner aber, Dies und Griesinger, stimmen darin überein, daß es den Knaben gar bald mächtig antrieb, selbst zu schaffen. Auf jedem Blatt Papier, dessen er habhaft werden konnte, wurden mühsam fünflinige Netze gezogen und Notenköpfe neben- und übereinander aufgestapelt, denn Haydn glaubte damals, »es sei schon recht, wenn nur das Papier hübsch voll sei«. So ertappte ihn Reutter einmal auch bei einem, sich mit zwölf und mehr Stimmen brüstendenSalve regina, lachte herzlich über die Figuren, die keine Kehle und kein Instrument hätte ausführen können, wie auch über die Einfalt des Knaben, so viele Stimmen bewältigen[65] zu wollen, ehe er noch im Stande sei, auch nur mit Zweien fertig werden zu können. »O du dummes Büberl« (schalt er ihn aus), »sind dir denn zwei Stimmen nicht genug?« Statt ihm aber diese zwei Stimmen führen zu lehren, gab er ihm den mühelosern Rath, die Vespern und Motetten, die in der Kirche aufgeführt wurden, zu variiren, welche Arbeiten dann der vielbeschäftigte Mann gelegentlich mag durchgesehen haben. »Das Talent lag freilich in mir« (sagte Haydn): »dadurch und durch vielen Fleiß schritt ich vorwärts.«11 Trotzdem ist nicht anzunehmen, daß die Entstehung von Haydn's erster Messe,F-dur, obwohl sogar, genauer bezeichnet, das Jahr 1742 angegeben wird, schon in diese Zeit fallen sollte; vielmehr wird dieselbe naturgemäßer in die 50er Jahre zu setzen sein. –

Einer Mitwirkung Haydn's bei etwaigen theatralischen Vorstellungen im Kapellhause wird nirgends Erwähnung gethan. Daß zwei seiner Mitschüler, Typer und Wittmann, zu einer ähnlichen außer Haus stattgefundenen Gelegenheit beigezogen wurden, haben wir früher bestätigt gesehen. Diesen Beiden können wir als Mitschüler Haydn's noch einen Dritten, den nachmaligen Altisten Vincenz Kneer anreihen. Er war nach Dlabacz's12 Angabe im Jahre 1738 zu Klosterneuburg geboren, kam zuerst in die Singschule des Franz Witzig, Musikers im dortigen Stift der regulirten Chorherren und wurde (etwa im Jahre 1746) von Reutter als Sängerknabe aufgenommen. Neben Joseph und Michael Haydn sang er in der Charwoche vor Maria Theresia und ihrem Gemahl Franz I. die Lamentationen. Er wurde später ein vortrefflicher Baß-Sänger im Orden der barmherzigen Brüder und starb im Jahre 1808. (Privat-Mittheilungen bezeichnen auch einen Ignaz Gegenbauer, in den 60er Jahren Schullehrer in Tulln in Nieder-Oesterreich, als Mitschüler Haydn's. Es kann dieser jedoch kein Sohn des vorgenannten Gegenbauer gewesen sein, da dessen hinterlassener einziger Sohn, Johann Georg, beim Tode des Vaters, wie erwähnt, erst 10 Jahre zählte.) –

Die Masse Musik, die Haydn beim täglichen Kirchendienste[66] im Verlauf eines Decenniums in sich aufnahm, konnte nicht spurlos an einem obendrein so empfänglichen Gemüthe vorübergehen. Seine Domäne wurde allerdings vorzugsweise Symphonie und Quartett, in denen er seinen eigenen Weg ging, wogegen er in der größeren ersten Hälfte seiner Gesangswerke und selbst in seinen späteren besten Kirchenwerken sich nie ganz frei zu machen wußte von traditionellen Ueberlieferungen und nothgedrungenen Concessionen an den herrschenden Geschmack. Nichtsdestoweniger haben die meisten dieser Werke, einen Theil der kleineren so gut wie verschollenen ersten Kirchenstücke ausgenommen, ihre Lebenskraft bis auf den heutigen Tag bewährt und verdanken diese besonders ihrer klaren, abgerundeten Anlage, der sangbaren und wirkungsvollen Behandlung der Singstimmen und dem ungesuchten, frischen und kernigen Zuge, der sie durchströmt. Bemerkenswerth sind besonders so manche Chornummern, in denen der Einfluß der ernsten, gediegenen Werke eines Palotta, Tuma, Fux und Caldara (aus seiner früheren Zeit) unverkennbar hervortritt, nur daß sie der Meister gleichsam verjüngt wiederzugeben wußte.

Den Einladungen zu bürgerlichen Festlichkeiten, wobei die Sängerknaben passende Gesänge vortrugen, von den Festgebern bewirthet wurden und mitunter sogar Tafeldienste versahen, kamen die im Kapellhause knapp gehaltenen Schüler mit Leidenschaft entgegen. Auch Haydn, nachdem er einmal die Vortheile dieser Ausflüge kennen gelernt hatte, gewann eine erstaunliche Zuneigung zu ihnen und verdoppelte seinen Fleiß, als geschickter Sänger möglichst bekannt zu werden. Denn mit dem Wachsthum seiner kleinen Figur hielt auch sein Hunger gleichen Schritt, und um diesen zu stillen, stopfte er sich (wie er noch als Greis den Gebrüdern Prinster, seinen braven Waldhornisten, gestand) gar oft beim Aufwarten die Taschen voll Nudeln und ähnlichen Leckerbissen.

An Fleiß und Strebsamkeit von Haus aus gewöhnt, kam unserm Sängerknaben kein Opfer zu schwer an, wenn es galt in seinen Musikstudien Fortschritte zu machen. Obwohl bei Schelmstücken nicht der Letzte, verließ er doch seine Kameraden, die sich auf dem Friedhofe herumtummelten, um seine Aufgabe zu vollenden; oder er schlich sich in den Dom, sobald er die Orgel vernahm, deren Behandlung er nach Jahren, wie es[67] scheint, ohne jede weitere Anleitung selbst erlernte. Und wie er durch hübsche Stimme und guten Vortrag schon in seinem Geburtsorte und dann in Hainburg die Aufmerksamkeit auf sich zog, so fand er auch hier bei Hoch und Niedrig immer mehr Beifall. Einiges aus dieser Zeit erfahren wir von ihm selbst, müssen aber dazu in seinem Lebensgange weit vorgreifen. Die Esterházy'sche Kapelle war im Jahre 1808, ein Jahr vor Haydn's Tode, nach Wien gekommen, um bei einer Kirchenfeierlichkeit mitzuwirken. Bei dieser Gelegenheit machte sie, von Concertmeister Hummel und Anton Polzelli, Haydn's Lieblingsschüler, geführt, dem 76jährigen Greis in kleinen Abtheilungen ihre Aufwartung, wobei Haydn nicht unterließ, die fürstlichen Sängerknaben zu Fleiß und Frömmigkeit aufzumuntern. »Ich war auch 'mal so ein Sängerknab'« (redete er sie an), »der Reutter hat mich von Hainburg nach Wien mitgenommen zu St. Stephan. Ich war fleißig. Wenn meine Kameraden spielten, nahm ich mein Clavierl unterm Arm und ging damit auf den Boden, um ungestörter mich auf selbem üben zu können. Wenn ich Solo sang, bekam ich immer vom Bäcken dort neben der Stephanskirche ein Kipfel13 zum Geschenk. Seid nur recht brav und fleißig und vergeßt nie auf Gott.«

Noch nicht lange eingetreten ins Kapellhaus, hatte Haydn die Function beim Leichenbegängnisse des kais. Hofkapellmeisters Johann Joseph Fux mitzubegehen. Fux war am 13. Febr. 1741 im 81. Lebensjahre verschieden und wurde zu St. Stephan in einer Gruft bei seiner ihm zehn Jahre vorausgegangenen Gattin beigesetzt. Haydn betrachtete dessen Würde wohl als die Höchste im Staat. Die Wiege dieses Hofkapellmeisters war eine Bauernhütte gewesen, und nun sang ebenfalls ein Bauernjunge am Sarge dieses Mannes das Libera, ihn vielleicht beneidend um die im Leben eingenommene hohe Rangstufe und nicht ahnend, daß er selber bahnbrechend einst zu weitstrahlendem, unvergänglichem Ruhme gelangen sollte. Für Haydn aber war dieser Todesfall insofern von Bedeutung, als die daraus folgende Erweiterung der Amtsbefugnisse Reutter's auch rückwirkend auf die häufige Verwendung Haydn's bei der Hofkapelle wurde. –[68]

Dieser Trauerceremonie folgte in wenig Wochen ein von Stadt und Land mitempfundenes frohes Ereigniß, das dem Knaben zum erstenmale den Anblick einer festlich beleuchteten Stadt bot. Es war dies am 13. März 1741, an welchem Tage in den Straßen Wiens eine freudig erregte Volksmenge wogte und die Burg ringsum von Jubelruf ertönte, denn die Monarchin hatte nach dem rasch sich folgenden Verlust zweier Töchter den ersten Sohn und Thronerben, den nachmaligen Kaiser Joseph II., geboren. In noch größerem Maßstabe wiederholte sich die Beleuchtung am 23. und 24. April, als die in jugendlicher Anmuth prangende Herrscherin zum erstenmale nach ihrer Entbindung und nach feierlicher Vorsegnung durch den päbstlichen Nuntius Paolucci, begleitet von den Erzherzoginnen Maria Anna und Maria Magdalena, im offenen Wagen ausfuhr, um unter den herzlichsten Vivatrufen ihres Volkes die ihr zu Ehren errichtete Triumphpforte am Hof und die glänzende Beleuchtung der öffentlichen und Privatgebäude in Augenschein zu nehmen. Auch die Geburt des zweiten Erzherzogs, Karl Joseph (1. Febr. 1745) wurde am 14. März in ähnlicher Weise gefeiert und eine noch größere Festlichkeit fand statt am 28. Oct. desselben Jahres bei der Rückkunft der Majestäten von Frankfurt a./M., wo Franz von Lothringen, Gemahl und Mitregent Maria Theresia's, am 13. Sept. als deutscher Kaiser gekrönt worden war. Auf 32 Schiffen war der Hof sammt Gefolge auf der Donau herabgelangt und hielt in Wien, die verschiedenen in den Hauptstraßen errichteten Triumphbögen passirend, seinen Einzug. Bei der allgemeinen Stadt-Illumination zeichnete sich diesmal namentlich das Rathhaus aus durch viele Hunderte farbiger Lampions und eine Reihe großer Transparent-Pyramiden. Diese Feste wurden natürlich auch im Dome durch Hochamt und Te Deum verherrlicht. In Haydn aber legten solche Scenen gleichsam den ersten Keim zu jener, von ihm bis zum letzten Athemzug bewahrten unverbrüchlichen Anhänglichkeit an das Kaiserhaus, der er ja in dem tief empfundenen Kaiserliede so beredten Ausdruck zu geben wußte.

Die in die 40er Jahre fallende Neugestaltung des kaiserlichen Lustschlosses Schönbrunn bei Wien gab Veranlassung zu einer ergötzlichen Begebenheit in Haydn's Sängerzeit, denn es wurde ihm hier von Seite seiner Kaiserin eine Auszeichnung zu[69] Theil, die ihm unvergeßlich blieb und für die er noch nach Jahren als Kapellmeister und bereits berühmter Mann bei der hohen Frau sich zu bedanken nicht unterließ. Aus den Trümmern eines durch die Türken im Jahre 1683 zerstörten Jagdschlosses hatte Kaiser Leopold I. für seinen Sohn und Nachfolger Joseph I. einen Landsitz erbauen lassen, der aber erst unter Maria Theresia seine jetzige Gestalt erhielt. Die Ausführung dieses neuen Schloßbaues geschah eben jetzt nach dem Plane des kaiserlichen Hofarchitekten Freiherrn von Pacassi. Das Wiener Diarium spricht auch schon im Januar 1743 von der Auszierung des Schlosses und gleichzeitigen Anlegung der großen Allee von hier nach dem früher von Kaiser Karl VI. bevorzugten Laxenburg. Schönbrunn14 wurde nun der Lieblingsaufenthalt der jugendlichen, kaum zur Regierung gelangten Maria Theresia, wo sie häufig, von allen Seiten bedrängt, in der nahe dabei gelegenen Marianischen Gnadenkirche zu Hietzing für das Wohl ihres Reiches betete und Trost und Stärkung im Gebete suchte.

In den Pfingstfeiertagen des Jahres 1745 war der kaiserliche Hof wieder in Schönbrunn und wurde die Musik beim Gottesdienst durch Mitglieder der Hofkapelle und des Chores bei St. Stephan ausgeführt. Die Sängerknaben, ihrer Amtspflicht enthoben, nutzten die Gelegenheit, sich freier bewegen zu können, weidlich aus, durchstreiften den jungen Park und kletterten auf den noch aufgestellten Baugerüsten jubelnd und lärmend von Stock zu Stock. Einer aber unter ihnen trieb es am ärgsten: Allen voran, eiferte er seine Kameraden durch sein Beispiel immer wieder von Neuem an. Wiederholt, aber immer vergebens, hatte die Kaiserin, von ihren Fenstern aus das waghalsige Treiben bemerkend, Befehl gegeben, den Jungen das Herumklettern zu untersagen. Endlich wurde ihr die Sache zu arg; als die Wildfänge sich abermals blicken ließen und gerade im besten Zug waren, wurde Hofkapellmeister Reutter herbei befohlen und die Kaiserin bezeichnete ihm voll Eifer namentlich[70] einen blonden Dickkopf als den eigentlichen Rädelsführer. »Das ist der Sepperl«! rief der Kapellmeister, dem Buben mit dem Finger drohend. ›Nun, so laß Er ihm einen recenten Schilling aufmessen‹, befahl die Kaiserin, und Reutter sorgte dafür, daß diese allergnädigste Auszeichnung gewissenhaft befolgt wurde.

Nichtsdestoweniger war Reutter mit Sepperl's Leistungen im Singen so zufrieden, daß er dem Vater, der sich bei ihm nach der Aufführung seines Sohnes erkundigte, geradezu erklärte: wenn er auch zwölf Söhne hätte, wolle er doch für Alle sorgen. Dieser Ausspruch und wohl auch die Anregung theilnehmender Freunde mögen den Vater bestimmt haben, auch seinen zweitältesten Sohn, Johann Michael, für den Musikerstand zu bestimmen. Angenommen, daß er ebenfalls nach üblichem Brauch das achte Lebensjahr erreicht haben mußte, wird es etwa im Herbst 1745 gewesen sein, daß Joseph die Freude erlebte, seinen Bruder Michael, den er überhaupt noch gar nicht persönlich kannte, als Sängerknaben im Kapellhause aufgenommen zu sehen. Er hatte nun Jemand, mit dem er von der Heimath, von Vater und Mutter reden konnte, und, was ihm besondere Genugthuung gewährte, der Bruder wurde ihm bald in einzelnen Lehrgegenständen zur Nachhülfe anvertraut. Ohne die nöthigen Vorkenntnisse konnte Michael ins Kapellhaus nicht eingetreten sein, doch fehlen darüber positive Anhaltspunkte. Nicht einmal die mit vieler Wärme von Michael's Verehrern geschriebene Broschüre15, welcher nachfolgend zum Theil das Nöthige entnommen ist, giebt genügenden Aufschluß. Das Einzige und nicht Unwahrscheinliche, was sich über Michael's musikalische Vorbereitung vermuthen läßt, wurde S. 24, in der Anmerkung No. 6, mitgetheilt.

Michael mußte Reutter um so willkommner gewesen sein,[71] als er eine wohlklingende, drei Octaven (von f bis zum dreigestrichenen f) umfassende Sopranstimme besaß und der ältere Bruder ohnedies sich den Jahren näherte, in denen er der Zeit durch mutiren seinen Tribut zahlen mußte. Auch Michael hatte Reutter's heftiges Temperament oft zu fühlen und er erinnerte sich der empfangenen Züchtigungen noch sehr wohl, als er zu Ende der 90er Jahre Wien besuchte. Scherzend sagte er zu den ihn begleitenden Freunden, indem er im Vorübergehen auf das Kapellhaus deutete: »In dem lieben Hause habe ich manches Jahr hindurch wöchentlich einen Schilling bekommen.« Den Salzburger Nachrichten zufolge (die dabei aber wohl der Zeit etwas vorauseilen) suchte sich Michael frühzeitig eine weit vielseitigere Bildung anzueignen, als sein älterer Bruder; er wurde der lateinischen und italienischen Sprache vollkommen inne, war in der klassischen und vaterländischen Literatur zu Hause, studirte eifrig Geschichte und las mit Vorliebe Reisebeschreibungen. Einen gewissen Hang zur Bequemlichkeit, von dem noch Mozart zu erzählen wußte, ersetzte er später durch verdoppelten Fleiß. Composition betrieb er schon im Kapellhause eifrig, obwohl auch er darin sich selbst überlassen war. Aber auch anregend auf die Mitschüler wußte Michael zu wirken, indem er, nach Originalität trachtend, unter ihnen ein eigenes Kunstgericht einsetzte, durch welches jedes Plagiat entdeckt und verdammt werden sollte. Auf der Orgel konnte er bald den Organisten bei St. Stephan substituiren, wofür er allemal einen Groschen Entgeld erhielt, bald aber, im Gefühl seiner zunehmenden Fähigkeit, voll Stolz erklärte, fortan sich nur für sieben Kreuzer dieser Mühewaltung zu unterziehen, welche Summe ihm dann auch willig zugestanden wurde.

Als ausübender Sängerknabe wird Michael ausdrücklich erwähnt beim Leopoldsfeste, das, wie alljährlich, auch im Jahre 1748 in dem an der Donau, nahe bei Wien gelegenen regulirten Chorherrnstift Klosterneuburg gefeiert wurde und wohin sich, ihrer Gewohnheit gemäß, die Kaiserin von Schönbrunn aus Donnerstag den 14. November hinbegab, begleitet von ihrem hohen Gemahl Franz I., Herzog Karl und Prinzessin Charlotte von Lothringen und dem benöthigten Hofstaate. Sie hörte an diesem Tage die Vor-Vesper, nahm im landesfürstlichen Stiftsgebäude das Abendessen und übernachtete daselbst in den[72] prachtvoll hergerichteten Kaiserzimmern. Am funfzehnten, dem eigentlichen Festtage des Schutzpatrons von Nieder-Oesterreich, verrichtete Maria Theresia ihre Andacht beim Grabe des heil. Leopold, wohnte dem feierlichen Hochamte bei, speiste Mittags im Stiftsgebäude an öffentlicher Tafel unter einem Baldachin unter Aufwartung des Prälaten und aller Stiftsgeistlichen und des hohen Adels, besuchte Nachmittags die Schatzkammer, die Kunst- und Naturalien-Sammlungen, die reiche Bibliothek und Bildergalerie und fuhr nach beigewohnter Vesper wieder nach Schönbrunn zurück. Die Kirchenmusik wurde bei dieser Gelegenheit durch die kaiserliche Hofkapelle unter Reutter's Direction besorgt, und die Kaiserin, die gleich ihren Vorfahren selbst musikalisch gebildet war und namentlich im Gesange so Vorzügliches leistete, daß sie einst den berühmten Sänger Senesino durch ihren seelenvollen Vortrag zu Thränen gerührt hatte, widmete der musikalischen Aufführung diesmal besondere Aufmerksamkeit. Namentlich fesselte sie das schön ausgeführte Solo eines Sängerknaben um so mehr, als es ihr in letzter Zeit nicht unbemerkt geblieben war, daß es mit der von ihr oft gerühmten Stimme des bisherigen Solisten, unsers Joseph, bereits abwärts ging, denn er begann zu mutiren und zwar so auffallend, daß Reutter von der Kaiserin den scherzhaften Vorwurf hören mußte, der Gesang des jungen Haydn sei eher ein Krähen zu nennen. Reutter hatte den Wink verstanden und ließ die Solistenstelle durch den jüngern Bruder Michael einnehmen, der nun ein Salve Regina mit solchem Zauber sang, daß er vor beiden Majestäten erscheinen mußte, die ihn belobten, sich nach seiner Herkunft erkundigten und ihm vierundzwanzig Ducaten einhändigen ließen. Von Reutter befragt, was er mit so vielem Gelde anfangen wolle, antwortete der Knabe ohne langes Besinnen: »Unserm Vater, dem vor kurzem ein Thier gefallen, will ich die Hälfte schicken; die andere Hälfte aber bitte ich Sie, mir aufzubewahren, bis sich auch meine Stimme bricht.« Reutter nahm das Geld, vergaß aber, es je wieder zurückzugeben.16[73]

Joseph sah sich also durch seinen jüngern Bruder zurückgesetzt. Die Besorgniß, daß ihm seine Stimme, die bereits wie auf einer Kante in Doppeltönen hin und her wankte, bald gänzlich den Dienst versagen werde, mußte ihn mit Angst und Trauer erfüllen. In dieser Trübsal soll ihm von Reutter bedeutet worden sein, daß es ja ein Mittel gäbe, seine Stimme nicht nur wieder herzustellen, sondern ihren Werth an Umfang, Biegsamkeit und Wohllaut sogar zu erhöhen. Reutter durfte ja nur auf die Hofkapelle hinweisen, die im Augenblick noch nahezu ein Dutzend Castraten (Sopranisten und Contraltisten) zählte. Mochte nun der Vater durch Joseph selbst oder durch Reutter darüber verständigt und um seine Ansicht und etwaige Einwilligung befragt worden sein, oder kam ihm von anderer Seite die Sache als eine etwa schon geschehene zu Gehör – genug: er machte sich schleunigst auf den Weg nach Wien und betrat das Zimmer des Sohnes, in größter Besorgniß, etwa schon zu spät zu kommen, mit der naiven Frage herauspolternd: »Sepperl! thut dir was weh? Kannst du noch gehen?« Hocherfreut, noch zu rechter Zeit das Messer von ihm abgewendet zu haben, protestirte er gegen jedes weitere Ansinnen dieser Art, worin ihm auch ein zufällig anwesender Castrat vollkommen beistimmte. Ohne diese kräftige Einsprache des Vaters wären wir demnach nahe daran gewesen, die zweifelhafte Bereicherung um einen weitern primo uomo oder Musico (wie ihn die italienische Umgangssprache in zarter Weise bezeichnet) mit dem Verluste eines Begründers unserer neueren Instrumentalmusik theuer genug erkauft zu haben.17[74]

Das am 22. des Weinmonats 1749 abgehaltene Priester-Jubiläum des Cardinal-Erzbischofs Kollonicz18 mag wohl das letzte Fest gewesen sein, dem der nun im Jünglingsalter stehende Haydn als ausübender Sänger beigewohnt haben dürfte. Es ist nicht unwichtig, sich die Eindrücke, welche die andächtige Gemeinde bei Gelegenheit großer kirchlicher Feste empfängt, zu vergegenwärtigen, diese reiche, die Sinne wahrhaft berauschende Entfaltung des vollen Glanzes der kirchlichen Macht, zu deren Verherrlichung Haydn selbst fast ein halbes Jahrhundert später durch seine großen Messen so wesentlich beitrug. Haben wir früher nur summarisch von ähnlichen Festen Notiz genommen, folgen wir für diesmal, wo wir zugleich vom Dome Abschied nehmen, etwas eingehender den einzelnen Momenten der seltenen Feier einer Secundiz.19

Die mächtigen Klänge der großen Domglocke, die den Morgen am 22. October begrüßten, ermahnten alle zum Feste befohlenen Ordensgeistliche und Pfarrer, sich in der erzbischöflichen Residenz einzufinden, wohin sich auch die höheren geistlichen Würdenträger und der Stadt-Magistrat begaben. Die hier Versammelten zogen hierauf um 9 Uhr in Procession unter dem[75] Glockengeläute sämmtlicher Kirchen Wiens in folgender Ordnung in den Dom: Die Bewohner des Armenhauses und einige Bruderschaften; die Geistlichkeit der Stadt- und Vorstadt-Pfarreien nach ihrer Rangordnung; die Dienerschaft und die Hausbeamten Sr. hochfürstlichen Eminenz; die Consistorialräthe; zwei Chöre Trompeter und Pauker; dem Pfarr-Kreuze folgend: die sämmtlichen Mitglieder des unter dem Ehrengreis erbauten großen Cur- und Chorhauses (die Cur-Kapläne, Beneficiaten und Curaten unter ihrem Chormeister, ConsistorialrathDr. Joh. Baptist Dembser); dem erzbischöflichen Kreuze folgend: das Metropolitan-Capitel (12 theologische Doctoren und infulirte Prälaten) mit der Cappa magna angekleidet; die als Assistentes honorarii fungirenden Ordens-Prälaten von Klein-Mariazell, St. Dorothee, Klosterneuburg, Heiligenkreuz, Göttweig und Melk; sieben Bischöfe: Graf Esterházy (von Neutra), Graf Salm (von Tourna), Baron Klobusizky (von Agram), Graf Halleweil (von Neustadt), Graf Zichij (von Raab), Graf Engel (von Belgrad), Franc. Ant. Marxer (von Chrysopolis); der Erzbischof von Colosca Graf Esacky, und der Erzbischof und Bischof von Waizen Graf Althann, Beide mit Mantelet, Rochet und Mozzet angethan; der Cardinal-Erzbischof selbst in vollem Ornate; der Bürgermeister von Wien, Andreas Ludwig Leutgeb; Stadtrichter Jos. Koffler; der gesammte Stadtrath und das k.k. Stadt- und Landgericht. – In der oberen Sacristei angelangt, wurden die Erzbischöfe, Bischöfe und Prälaten mit den Pluvialen angekleidet und mit der Insul bedeckt und begaben sich sodann, sämmtlich versehen mit am Arme getragenen, reich geschmückten Kränzen (der Cardinal mit einem von der Kaiserin verehrten Kranz aus purem Golde) zum Kirchenthor beim Prim-Glöckchen und empfingen daselbst mit dem üblichen Asperges und darauffolgendem Veni sancte Spiritus beide Majestäten, den 8jährigen Erzherzog Joseph, Erzherzogin Maria Anna (Schwester der Kaiserin) und Prinzessin Charlotte (Schwester des Kaisers Franz). Der Hochaltar funkelte in hundertfältigem Kerzenglanze und den ganzen Dom erhellte das Lichtmeer zahlreicher krystallener Kronleuchter, und alle Altäre prankten im Schmucke auserlesener Blumen und Sträucher. Beim Hochamte assistirte die sämmtliche genannte hohe Geistlichkeit nach ihrer Rangordnung und jeder Bischof und Prälat hatte seinen besonderen Geistlichen zur Bedienung.[76] Der Kelch, dessen sich der Cardinal bediente, war mit einem aus purem Silber getriebenen Kranze geschmückt, ein Geschenk der Königin von Portugal. Nach vollendetem Hochamte, dessen musikalischen Theil die Hofkapelle besorgte, intonirte Se. Eminenz das Te Deum und verfügte sich sodann mit der hohen Geistlichkeit in das kaiserliche Oratorium, daselbst den allerhöchsten Herrschaften den Segen ertheilend, worauf dann der junge Erzherzog in die kaiserliche Burg zurückkehrte. Nachdem der Cardinal-Erzbischof in der unteren Sacristei die Pontificalien abgelegt hatte, empfing er die Majestäten und deren hohes Gefolge beim Ausgang des Oratoriums und ging mit ihnen zu Fuß in die erzbischöfliche Residenz, wo sie nun seine Gäste waren. An der Tafel saßen ferner noch die Minister und einige Hof- und bürgerliche Damen, im Ganzen 41 Personen. Noch vor der Tafel überbrachte der Obristkämmerer Graf Khevenhüller im Namen beider Majestäten dem Jubilar ein mit Smaragden und Brillanten besetztes Pontifical-Kreuz und einen gleich kostbaren Ring. Die Tafel (versichert das gewissenhafte Wiener Diarium) war ungemein prächtig, absonderlich aber das Desert. Nach etwa vierstündigem Aufenthalte kehrte der kaiserliche Hof nach dem Lustschlosse Schönbrunn zurück. Am folgenden Tage gab der Cardinal noch den versammelten Bischöfen, Prälaten, dem Domcapitel und einigen Cavalieren eine glänzende Tafel. –


Haydn's Tage im Kapellhause waren gezählt. Die absprechende Aeußerung seiner Kaiserin hatte ihm gewissermaßen den Gnadenstoß gegeben. Er stand nun im achtzehnten Lebensjahre; mit seiner gebrochenen Stimme war er ganz unfähig, als Chorsänger weiter zu dienen; ihn etwa als Violinspieler zu verwenden, scheint Niemandem, auch Reutter nicht, eingefallen zu sein. Jedenfalls konnte dieser sein Gewissen damit beschwichtigen, daß er ja, trotz der dem Vater gegebenen Versprechungen, seiner Instruction nach eigentlich nicht verpflichtet war, zu Haydn's weiterem Fortkommen behülflich zu sein. Der arme Mensch wurde ihm nachgerade lästig und er wartete nur eine passende Gelegenheit ab, seiner ohne Umschweife los zu werden. Diese Gelegenheit bot sich unerwartet schnell und Haydn selbst[77] gab die nächste Veranlassung dazu. Obwohl längst über die Kinderjahre hinaus, aber voll lebhaften Temperaments, erging er sich noch immer gerne in Neckereien und muthwilligen Streichen. Da spielte ihm sein böser Dämon zu rechter Zeit das Werkzeug in die Hand, seinem Schicksale eine entscheidende Wendung zu geben. Eine neue Scheere hatte den Hausrath der Schule vermehrt und ihre Tauglichkeit mußte natürlich an allen nächstliegenden Gegenständen erprobt werden; auch der Zopf eines im Schulzimmer in der Vorderbank sitzenden Mitschülers schien Haydn ein passendes Object. Der Zopf fiel und der Thäter wurde bei Reutter verklagt und dieser verurtheilte ihn augenblicklich zu Stockschlägen auf die flache Hand Vergebens flehte Haydn um Nachsicht und Abänderung dieser entehrenden Strafe; aufs äußerste getrieben, erklärte er endlich schamerfüllt, lieber gleich aus dem Kapellhause austreten zu wollen. »Da hilft nichts« (herrschte der rauhe Vorgesetzte) »du wirst zuerst geprügelt und dann – Marsch!«20

Fußnoten

1 Der früher genannte ehemalige Küster von St. Stephan und nachmalige bürgl. Branntweinbrenner und Mitglied des ä.R., Georg Neuhauser, (gest. 1724 und unter dem Chor des Domes begraben) ließ diese Orgel auf seine Kosten erbauen, doch entsprach das Werk den Erwartungen nicht; es wurde bald schadhaft und blieb es bis auf den heutigen Tag. Im Jahre 1787 (meldet des »Neue Wienerblättchen«) wollte man die Orgel herstellen lassen, der Orgelbauer verlangte 9000 Fl. und nebstdem die kleinere (d.h. die ehemals größte) Orgel zur Verwendung. Zu einem Fond zur Erbauung einer neuen großartigen Orgel wurde in unsern Tagen einstweilen der Grund gelegt durch Vorsorge des gegenwärtigen Domkapellmeisters Preyer.


2 Burchard Tischlinger erbaute diese Orgel im Jahre 1507. Sie wurde 1544 von Jacob Kunigschwerd, Stiftsgeistlicher von Zwettl, erneuert und erweitert und 1730 beinahe ganz neu hergestellt von Gottfried Sonnholzer.


3 Diese Orgel wurde 1675 von Christoph Vogel erneuert und war noch 1779 vorhanden, obwohl bereits in unbrauchbarem Zustande. Die Beschränktheit des Raumes läßt auf eine Orgel primitivster Art schließen, wie solche schon im 13. Jahrh. auch in England (Canterbury, Winchester) bestanden. Wegen ihrer geringen Schwere waren sie leicht transportabel und konnten daher leicht auch gelegentlich ausgeliehen werden, wie dies in York im Jahre 1485 geschah. (Vergl. The early English Organ builders, by Edw. F. Rimbault. LLD. London.)


4 Ausführlicheres darüber später in der Chronik.


5 J.G. Binz, den Sohn, werden wir im Jahre 1809 als Schätzmeister des Haydn'schen Nachlasses fungiren sehen.


6 Allgem. Encyclopädie d. Wissenschaften u. Künste, herausg. von J.S. Ersch und J.G. Gruber. 1828. Section II. 3. Thl. S. 243 fg.


7 Für Freunde der Tonkunst, 1832, Bd. IV, S. 274.


8 W.A. Mozart u. Jos. Haydn. Versuch einer Parallele. S. 104.


9 Nicht zu verwechseln mit dem zu Kirchberg im Jahre 1764 geborenen Franz Xaver Gegenbauer, der 1771 als Sängerknabe in die Cantorei von St. Stephan aufgenommen wurde.


10 F. Bindel starb als Regens-Chori der Pfarrkirche St. Leopold in der Leopoldstadt am 12. Oct. 1745, alt 58 Jahre.


11 Griesinger, Biogr. Notizen, S. 10.


12 Hist. Künstler-Lexicon für Böhmen. Prag 1815. II. S. 77.


13 Bäcken – Provincialismus für Bäcker; Kipfel – ein Mundgebäck.


14 Beschreibung des kais. Lustschlosses Schönbrunn. Wien 1805. Metastasio, der gern daselbst verweilte, besang es in der Ode »La delicioza imperial Residenza di Schonbrunn«. Vienna 4to Pubblicata colle Stampe del Ghelen nel 1776. Siehe auch Opere del Sig. Abate Pietro Metastasio. Nizza 1783. Tomo X. p. 376 seq.


15 Biogr. Skizze von Michael Haydn (von Schinn und Otter). Salzburg 1808. Dies (S. 24) läßt auch den Bruder Johann ins Kapellhaus wandern und von Joseph unterrichten. Das ist ein Irrthum. Johann wurde erst im Jahre 1743 geboren, hätte also erst in einer Zeit eintreten können, in welcher Joseph längst schon das Kapellhaus verlassen hatte. Thatsächlich aber kam Johann, soweit die Nachrichten lauten, erst ums Jahr 1800 vorübergehend nach Wien. Griesinger erwähnt der Aufnahme Michael's gar nicht. Andere lassen Michael ins Jesuiten-Seminarium eintreten.


16 Vergl. Dies, S. 27. Die biogr. Skizze von Michael Haydn sagt (S. 6) dagegen nur, daß Michael aus den Händen des kais. Paares 24 Ducaten erhielt, mit der Aufforderung, sich sogleich eine Gnade auszubitten, worauf Michael blos um die Erlaubniß bat, die Hälfte seinem armen, guten Vater schicken zu dürfen.


17 Die Wahrheit dieser Anekdote wird ebenso oft verneint wie beglaubigt. Carpani (p. 280) hält sie für unwahrscheinlich. Le Breton und Framery stützen sich auf Pleyel's Aussage. Die Allg. Mus. Ztg. (1811, S. 149) widerlegt Le Breton und bestreitet gleich Carpani die Möglichkeit der dabei nothwendigen Operation auf deutschem Boden und in Wien, gleichsam unter den Augen einer sittlich strengen Regentin (was allerdings nicht ausschlösse, daß man ja Haydn hätte ganz einfach nach Italien schicken können). Griesinger wiederum (S. 11) erzählt den Vorfall, führt den Vater sogar selbstredend ein und sagt zum Schlusse: »Die Wahrheit dieser Anekdote wurde mir durch Personen verbürgt, denen sie Haydn öfters erzählt hatte.« Daß sich Haydn, wie ebenfalls behauptet wird, bei guter Laune einen Scherz erlaubt habe, ist undenkbar. Was Pleyel betrifft, vergesse man nicht, daß er längere Zeit mit Haydn unter einem Dache wohnte und in der Wärme des täglichen Umganges Manches aus des Meisters Mund vernahm, was diesem eben nur in unabsichtlicher Weise Aug' gegen Auge entschlüpfte.


18 Sigismund Graf von Kollonicz wurde 1699 zum Priester geweiht und hielt in Wien sein erstes Meßopfer bei den Karmelitern zu St. Joseph. Der Reihe nach Domherr zu Gran, Titular-Bischof zu Skutari, wirklicher Bischof zu Waizen, wurde er 1716 von Kaiser Karl VI. als Bischof nach Wien berufen, wo er im folgenden Jahre am 13. Mai den Taufact bei der nachmaligen Kaiserin Maria Theresia verrichtete. Im Jahre 1723 begrüßte Wien in ihm den ersten Erzbischof, und 1727 ernannte ihn Pabst Benedikt XIII. zum Cardinal. Er starb, der letzte aus seiner Familie, am 12. April 1751 im 75. Lebensjahre »reich für die Armen und arm für sich, wiewohl er reich war«. Sein Leichnam ruht im Dome, wo ihm ein prächtiges Grabmal in Alabaster und Marmor, Brustbild vom Bildhauer Raphael Donner, in der großen Fraukapelle errichtet wurde. (Siehe Beschreibung der Metropolitan-Kirche zu St. Stephan in Wien. 1779. (von Ogesser.) S. 246.


19 Die ausführliche Beschreibung giebt das Wiener Diarium 1749, Nr. 86 und 87.


20 Auch diese Anekdote wird mehrfach bestritten. Griesinger erwähnt derselben gar nicht und widerspricht (ohne sich zu nennen) Le Breton in der Allg. Mus. Ztg. (1811, Nr. 8), dagegen Letzterer behauptet, Neukomm habe die Anekdote von Haydn selbst erzählen hören. Dies ebenfalls erzählt sie ausführlich S. 28.

Quelle:
Pohl, Carl Ferdinand / Botstiber, Hugo: Joseph Haydn. Band 1, Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1878.
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