II.

[394] Der Mißkredit der Virtuosenkompositionen. Die Fantasie über Melodien zur Zeit der Virtuosenepoche. Liszt's Umgestaltung dieser Fantasie. Gewinnt ihr künstlerischen Werth. Ein neues Ideal. Seine Fantasien opus 5, 7, 8, 9, 13. Valse opus 6. Duo für Klavier und Violine. Widmungen.


Das Schweizer-Album Liszt's bildet nur den einen Theil seiner in die Genf-Periode fallenden Kompositionen; ein anderer, nicht minder viel versprechender, liegt in seinen Übertragungen und Fantasien für Klavier. Diese, obwohl ein Reflex seiner Naturstimmungen auch in sie hineinfällt, stehen mit Ausnahme seines opus 13 außerhalb des Zusammenhanges mit bestimmten Natureindrücken. In ihrem Hintergrund steht der Salon und der Koncertsaal. Hatten die Schweizerstücke keinen andern Zweck als die Stimmungen und Ideen des Komponisten frei von irgend einer Rücksicht auszudrücken, so treten zu diesen als mitbestimmendes Element die Aufgaben, welche aus seinen Beziehungen zum Salon und Koncertsaal dem Virtuosen entstehen, – Beziehungen, welche die verschiedensten Auffassungen und damit auch die verschiedenartigsten Beurtheilungen erfahren haben.

Es hat eine Zeit gegeben, wo man jeden Virtuosen in der Musik so halb und halb in die Klasse der Jongleurs warf, wo man ihn applaudirte und schätzte nach den Überraschungen, welche seine kunstfertigen Hände dem Auge oder dem Ohre bereiteten, – wo er als Sohn des Staates mit allen gegenseitigen Verpflichtungen nicht höher rangirte als der Jahrmarktsmann mit seinen Kunststücken. Seinem Ruhm, seinem oft thatsächlich künstlerischen Verdienst erwuchs aus diesen Auffassungen ein ebenso zweifelhafter Glanz, wie dem Virtuosen selbst eine zweifelhafte Stellung unter den Künstlern, welche sich beide in die Beurtheilung des künstlerischen Werthes seiner Leistungen hineintrugen. Man trennte den Virtuosen vom Künstler und abstrahirte bei seinen dem schaffenden Gebiet zufallenden Leistungen von jedem absoluten Kunstwerth derselben, man gewöhnte sich sogar – in keiner Weise mehr an einen solchen zu denken.

Die Kritik schuf für sie eine besondere Rubrik, welche sie mit dem Wort »Virtuosenarbeit« belegte. Jedem kunstverständigen Musiker und Musikfreund, ja sogar dem Laien, verrieth dieses Wort sofort, daß die ihr zuertheilte Komposition wohl technischen Glanz besitzen,[395] auch Erfindung haben könne, daß man aber bezüglich ihres echten Kunstwerthes schweigen müsse. »Virtuosenarbeit!« – wie ein Bannstrahl fiel dieses Wort auf die schöpferischen Leistungen der armen Autoren und hob sogar das Zweifelhafte ihrer künstlerischen Stellung gegenüber den Werken der echten Parnaß-Bibliothek auf – man wußte, daß ihr Werth nur in der Fähigkeit momentan unterhalten zu können liege.

Es kann darum gar nicht wundern, wenn in Folge dieser Anschauung insbesondere solche musikalische Formen, welche dem Virtuosen für seine Kompositionsaufgaben am nächsten lagen, mit dem künstlerischen Bann seitens der Kritik belegt wurden. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts seufzte unter dem Druck desselben ganz besonders die Gattung von Kompositionen, welche nicht Sonate, nicht Fuge, nicht Suite war und doch die musikliebenden und musiktreibenden Menschenkinder fesselte und erfreute: die Fantasie über Opernmelodien.

Sie war den gelehrten Herren ein Greuel und ein fortgesetztes Ärgernis, wobei sich nicht genau unterscheiden ließ, ob diese Herren jemals darüber nachgesonnen, ob diese Gattung wirklich eine so durchaus künstlerisch unfruchtbare sei und ob es wirklich von Anfang an in ihrem inneren Wesen geschrieben stehe nie zum Kunstwerk und Kunstwerth vordringen zu können. Sie beharrten nur bei der einen Anschauung, daß sie Modeprodukt des Tages und der Zeit sei. Das war die Ansicht, welche auch Liszt's sich auf diesem Gebiet bewegenden Kompositionen entgegen trat und sie seitens Vieler ebenfalls den Modeprodukten des Tages und der Zeit einreihen ließ. Aber – die Ungethüme! – sie ließen sich nicht einreihen.

Liszt hat viele Fantasien über Opernmelodien komponirt, von denen die ersten in seine Genf-Periode fallen. Fortgesetzt jedoch waren sie der Gegenstand des Tadels kunststrenger, namentlich derjenigen Kritik, welche mit puritanischem Ernst die berechtigte Vielseitigkeit des Lebens in der Kunst nicht gelten lassen will und hier dem variantenlosen Gewohnheitsernst die Krone reicht. Zur Zeit der Virtuosenepoche allerdings, wo der allgemeine Geschmack sich daran genügen ließ ausschließlich im brillanten Stil verarbeitete Opernmelodien von Virtuosen vortragen zu hören, hatte eine solche Einseitigkeit der Kritik ihre volle Berechtigung und Pfeile, wie sie beispielsweise in den dreißiger Jahren der gesinnungstüchtige[396] heidelberger Professor Thibaut mit seinem berühmten Schriftchen: »Über Reinheit der Tonkunst« auch gegen sie abschoß, waren kunsthistorische Thaten. Hier war der Puritanismus Vertreter eines Princips gegenüber einer Principlosigkeit. Seine Pfeile galten dem leeren Spiel mit der Kunst. Was aber die Gattung selbst betrifft, so wird sie immer ihre volle Berechtigung, ihre historische Bedeutung und sogar keinen kleinen Kunstwerth haben, trotzdem letzterer ihr so viel streitig gemacht worden ist.

Es wird natürlich niemandem von gebildetem Geschmack und einigermaßen über Musik korrektem Urtheil in den Sinn kommen die landläufigen »Fantasien« über landläufige Melodien, welche den Musikalienmarkt unser ganzes Jahrhundert hindurch überschwemmt haben, als die würdigen Repräsentanten derselben zu nehmen. Mittelmäßige Arbeit und Phantasielosigkeit sagt noch nicht, daß die Gattung selbst werthlos sei. Und dann: jedes Jahrhundert hat der musikalischen Unterhaltung im Salon, sowie der Bravour der Virtuosen ihre Form geschaffen: warum sollte das neunzehnte Jahrhundert nicht das gleiche Recht beanspruchen dürfen? Im siebzehnten waren es die »kolorirten Stücklein« und »Klangstücke«, im achtzehnten die »Variation« und die »Suite« und in unserem Jahrhundert ist es die größere Freiheit der Bewegung gestattende »Fantasie über Opernmelodien«, welche Unterhaltung, Mode und virtuose Technik vertreten, dabei aber Werke von unvergänglicher Bedeutung der Tonkunst geliefert haben.

Es liegt im geschichtlichen Schönheitstrieb des Geistes, daß er jedes Blatt am Baume seines Lebens zum vollkommenen Ausdruck seines lebendigen Zusammenhanges mit ihm ausarbeite, ebenso gehört es zur geschichtlichen Ökonomie des Geistes, daß nichts verloren gehe und jeder Keim seines Organismus sich zum Zweig gestaltet, dem neue Zweigessprößlinge entkeimen. Die die geistige Geschmacksrichtung der Zeiten vertretende Kunstformen sind sämmtlich Zweige geworden, aus welchen neue Zweige herausgetrieben haben, – bei allen aber war der schaffende Spieltrieb des Virtuosen ein wesentlicher Mitarbeiter. Die kolorirten Stücklein und die Variationen – die ersten Modeprodukte aufkeimender Virtuosität – hängen ebenso organisch eng zusammen, wie die einstigen Klangstücke und Suiten mit der klassischen Sonate, ebenso wie die barbarischen Potpourris und die Divertissements mit der Fantasie[397] über bereits vorhandene Melodien. Diese Thatsachen werfen auf die oft so schnöde behandelten »Virtuosenarbeiten« noch ein anderes Licht als das, was absoluter Puritanerernst und kritische Afterweisheit ihnen zuwirft. Die »Fantasie über« etc. hat trotz ihres Modeantheils und des virtuosen Spieltriebs, der in unserm Jahrhundert hier seine wesentlichen Triumphe feierte, ihre kunsthistorische Bedeutung und Aufgabe, wobei noch gar nicht untersucht und festgestellt ist, weder: ob sie sich nicht schon zum reinen Kunstausdruck krystallisirt hat, wie sich seiner Zeit Klangstück und Suite zur reinen Kunstform in der Sonate krystallisirt haben, noch: ob sie auf die symphonischen Formen unserer Zeit nicht ähnlich so einwirkend bereits gewesen ist, wie seiner Zeit die Sonate auf Quartett und Symphonie.

Ganz besonderen den Werth der Fantasie über Melodien degradirenden Anstoß hat man daran genommen, daß ihr Thema kein »Originalthema« sei, – für Viele ein untrüglicher Beweis ihres unselbständigen künstlerischen Werthes, dabei auch ein sprechendes Armuthszeugnis für die Schöpfergabe des Komponisten von Fantasien. Als ob bezüglich der letzteren Ansicht der Antor z.B., welcher einen individuellen Gedanken über eine Sache breitet, auch zugleich die Sache noch erfinden müsse, über welche er spricht! als ob es nicht eben so werthvoll wäre den Punkt zu finden, aus dem sich neue Anschauungen, Erklärungen und Ideen entwickeln lassen! Es fällt gewiß niemandem ein, einem lyrischen Poeten, welcher die Liebe besingt, darum keine Palme reichen zu wollen, weil die Liebe nicht sein Originalthema ist, einem Dramatiker darum die Krone der gestaltenden Phantasie zu verweigern, weil ein anderer die Intrigue erfunden hat: warum soll der Musiker, welcher komponirend mit Tönen spielt oder dichtet, weniger schöpferisch begabt sein, wenn er eine bekannte oder unbekannte, eine beliebte oder unbeliebte aber bereits gestaltete Melodie nimmt und sie in die Tiefe seiner Subjektivität oder auch in das Licht seines Geistes oder in das Leben seines Temperamentes, in das Spiel seiner Phantasie hineinzieht und ihr von hier aus neue Schatten, neues Licht, neues Leben, neue mit ihnen zusammenhängende Gewänder giebt? Nur das Wie? macht die Sache.

Wie das Thema, aus dem der Geist eines Autors Neues heraussieht, hiedurch gleichsam zu einem neuen Thema wird und wie der Geist, welcher aus ihm Neues erschaut, ein[398] schöpferischer ebenso gut wie der ist, welcher ein Thema erfindet: ebenso wird die Melodie, sobald ihrer Seele neue Klänge entlockt und neue Reize entwickelt werden, zu einer neuen und ebenso ist die Phantasie des Komponisten, welche Neues aus der Melodie herausfühlt, eine schöpferische so gut wie die, welche ein Thema selbst producirt.

Es zeugt von einem argen Mißverständnis über die inneren geistigen Vorgänge und ihren Werth, wenn man eine musikalische Komposition danach taxiren will, ob ihr Thema ein Original- oder ein bereits vorhandenes war. Es ist auch meistens nur die »Opernmelodie«, der man so gram ist. Variationen über beispielsweise ein Thema aus einem Oratorium Händel's genießen ein ganz anderes Ansehen als eine Fantasie über eine Melodie aus selbst der hervorragendsten Oper. In den Gedanken Vieler ist unter allen Umständen ein Oratorium ein höheres, geistigeres Produkt als eine Oper; und doch – wer möchte sagen, daß der Werth des »Fidelio« unter dem des »Messias« stehe? Der hohe ethische Gehalt dieser beiden Werke stellt sie in ihrem Werth, trotzdem das eine auf weltlichem, das andere auf kirchlichem Boden steht, ganz gleich. In letzter Instanz wird es überall auf das Was? und Wie? ankommen. Ob ein Thema zu einer Fantasie von Händel, von Beethoven, von Rossini oder von Meyerbeer ist, wird sich im Grunde genommen bezüglich des künstlerischen Werthes der Fantasie gleich bleiben. Das eine wird mehr zur seriösen, das andere mehr zur eleganten, dieses zur dramatischen, jenes zur lyrischen, das hier zur formellen, das dort zur phantastischen Richtung in der Bearbeitung sich eignen. Was der Komponist aus ihm heraussieht und fühlt, wie er sein Sehen und Fühlen formt, das erhebt die Arbeit zum Werth des Kunstwerkes.

Nach dieser Seite hin hat allerdings die Virtuosenepoche mit ihren Fantasien über Opernmelodien kein glänzendes Beispiel gegeben und den Grund zu dem Mißkredit gelegt, welcher noch heutigentags diese Form umnebelt. Es lag aber auch nicht weder in dem geistigen Charakter dieser Kunstperiode noch in ihrer historischen Stellung, ein solches Beispiel werden zu können. Jener – ihr Charakter – gehörte dem amusement an, diese – ihre Stellung – bestimmte sie zu einer künstlerischen Vorstufe, welche technische Mittel und Fertigkeiten dem geistigen Ausdruck wohl entwickelt,[399] doch dabei von höheren Kunstausgaben absieht; die Fantasie über Opernmelodien war eben ganz und gar bestimmt durch die geistige und materielle Existenz des Virtuosen. Seine geistige Existenz wurzelte in dem Talent seiner technischen Fertigkeit, seine materielle in seiner Rattenfängernatur, deren Lockpfeife in seinen Fantasien über beliebte Melodien lag, welche seine zum Kunststück gewordene Fertigkeit in die glänzendste. Beleuchtung setzten. Seine Kompositionen waren Mittel zum Zweck – Selbstzweck des Virtuosen.

Daß gerade die Opernmelodie eine wichtige Rolle dabei spielte lag gewissermaßen in der Natur der Sache. Der Hörer wollte im Koncertsaal Unterhaltung haben, wobei meist die Musik als Musik und als eine höhere Kunstform ihm sehr nebensächlich war. Melodie! war der allgemeine Ruf, doch hatte man bei ihm in erster Linie die Melodie der italienischen Oper im Sinn; denn diese war die musikalische Sonne der Zeit. Dem Opernkomponisten gehörte unter seinen musikalischen Brüdern die Welt, ähnlich wie dem Romanschriftsteller unter den seinen und es ist nur zu wahr: die Bretter und der Roman sind die Gebiete, auf welchen dem Künstler der Lorbeerkranz der Popularität am ehesten zu theil wird. Wollte der komponirende Virtuos beim Publikum durchdringen, so mußte er wohl oder übel, um sich nicht den Weg zu seiner äußeren Existenz und zum Tagesruhm zu verkümmern, dort anknüpfen, wo er sicher war die Aufmerksamkeit und die Herzen seiner Hörer zu gewinnen. Er holte sich darum von der Bühne die Melodien und behängte sie mit seinem klingenden Schmuck. War er Genie – schaffendes Genie, dann allerdings entwuchsen den Melodien Flügel. Ihren Tönen entstieg eine Seele und die Form der Fantasie ward Kunstwerk. Denn die Genialität und Originalität, die Bildung und die geistigen Ziele des Virtuosen und Komponisten bestimmen die Bearbeitung der Melodien zu höheren Formen und zu bleibendem Werth oder zu jenen Machwerken, welche nur im Dienste der Unterhaltung und Mode die Melodie mit gehaltlosem, dem Ohr des Halbgebildeten schmeichelndem Firlefanz behängen, um als Eintagsfliegen ihre Lebensbestimmung zu finden. Und so sind unter den Unmassen von Fantasien, Divertissements etc. etc. über beliebte als Thema verarbeitete Opernmelodien nicht nur musikalisch kolorirte Modebilder zu finden, sondern auch, um im Bilde zu bleiben, werthvolle Kupferstiche, Aquarellen und[400] Ölgemälde. Unter ihnen sind Werke, welche trotz der theilweise mit Bann belegten Kompositionsgattung einen bleibenden Werth beanspruchen, ähnlich wie Beethoven's Variationen über einen Diabelli'schen Walzer oder über ein Thema seiner »Ruinen von Athen«, welche dieser Gattung ebenfalls beizuzählen sind.

Die puritanische Kritik hat wohl diese ganze Gattung als nicht kourfähig auf echtem Kunstgebiet in den Salon verwiesen, doch sind gerade hier auf dem Gebiet der Salonmusik die poesievollsten und edelsten Tonblüthen unseres Jahrhunderts mit erwachsen und haben der Musik als solcher – nicht nur der Klavier-, sondern der gesammten Musik – so viel Anregung gegeben, daß das sie beschränken wollende Urtheil für die Praxis kein positives Gewicht und keine positive Geltung mehr hat. Es kommt auch bei der Salonmusik darauf an, welche Atmosphäre in ihrem Hintergrund steht. Der Ton im Salon des Emporkömmlings wird immer ein anderer sein als der Ton im Salon der Gesellschaft, wo die Verfeinerung des Geistes und der Form durch Generationen hindurch den Grundton angegeben hat.

Liszt's Bearbeitungen von Melodien, vor allem seine Fantasien über solche sind – obwohl im Zusammenhang mit dem Salon und dem Koncertsaal, auch mit den Bedürfnissen des Tages und des Momentes stehend – darum doch weder Tages- noch Modeprodukte. Wie zum Beispiel der Komponist Chopin den Rhythmen des Walzers und den Accenten der Mazurek ein unveräußerliches Kunstrecht erworben hat, so sind jene Arbeiten Liszt's eine form- und inhalterweiternde Macht auf dem Gebiet zunächst der Klaviermusik geworden. Der Salon, welcher hier bei Liszt wie bei Chopin im Hintergrund steht, ist der Salon der hervorragendsten, an der Spitze der Gesellschaft und der Zeit stehenden Geister.

Liszt's Fantasien über Opernmotive, welche mit der Zeit auf die Klaviermusik so eingreifend wirken sollten, fanden ihre ersten Anfänge in dem seiner Genfperiode angehörenden zweiten Theil seiner Klavierkompositionen – meistens Virtuosenstücke. Hatten sie auch nach kompositorischer Richtung hin in seinen früheren Kompositionen insbesondere durch eine geistige Vertiefung der Ornamentik und Passage (XIII. Kapitel) ihre künstlerischen Vorstufen hinter sich, so war doch das, was sein erstes großes Virtuosenstück – die »Glöckchen-Fantasie« nach Paganini – Neues in sich trug, noch keineswegs entwickelt und gab noch kaum eine[401] Ahnung von dem, was die Virtuosenstücke, speciell die Fantasie über Opernmelodien, in seinem Geiste noch werden sollten. Jetzt zeigt sich das frühere Princip: Ornamentik und Passage dem Tonstück organisch einzubilden nicht nur ausgeprägter – es zeigt sich auch im umfassendsten und eingehendsten Sinn den melodischen Motiven und den Einzeltheilen ihrer Bearbeitung übertragen und das, was Liszt vor seiner Genfperiode mehr nur vorgeschwebt und er mehr nur in Umrissen gegeben hatte, tritt uns nun ausgebildet zur Blüthe entgegen, neben welcher jedoch schon wieder neue Sprößlinge mit dem unverkennbar schöpferischen Streben den Virtuosenstücken ein künstlerisches Ideal zu erringen emportreiben.

Im Vergleich und im Gegensatz zu der nur äußerlich aufgeputzten und geistig wie formell zusammenhangslosen, ja meist sinnlosen Art der Melodienverarbeitungen, wie sie im allgemeinen während der ersten drei Decennien unseres Jahrhunderts herrschten, tritt bei Liszt das bewußte Ringen nach künstlerischem Gehalt, nach künstlerisch gestalteter Form, endlich nach organischer Einheit beider in den Vordergrund. Das Sinnlose des melodischen Aufputzes, wie es während der genannten Zeit gang und gäbe war, und jede Melodie, die ernste wie die heitere, unterschiedslos mit buntem Flimmer und nichtssagendem, unmotivirtem Passagenwerk umgab, überwand er und aus jeder seiner Kompositionen leuchtet das Princip heraus die Bearbeitung der melodischen Motive mit dem Charakter derselben auf das innigste zu vereinigen, eigentlich die Bearbeitung aus ihnen hervorgehen zu lassen – ein Princip, das seine volle Anwendung und Würdigung erst durch ein anderes sich auf die Behandlung der Melodie beziehendes fand.

Zur Zeit der Virtuosenepoche wurde die Melodie meist variirt, aber nur zum Zweck der Brillanz – eine rein formelle und technische Arbeit. Liszt variirte die Melodie ebenfalls haüfig, ging jedoch dabei von einem ganz andern Gesichtspunkt aus. Die geistige Leere der nur formellen und nur brillanten Arbeit widerte ihn an. Ihm war die Melodie ein festgehaltener Ausdruck einer Grundstimmung, der Typus eines Charakters, der vor allen Dingen gewahrt sein muß. Wie aber beispielsweise eine Landschaft, welche ebenfalls eine festgehaltene Form ist, dennoch, je nachdem die Sonne über ihr steht, die Wetter über ihr dahin ziehen, die Tages- und Jahreszeiten auf sie einwirken, unter verschiedenem, sogar entgegengesetztem Stimmungsausdruck erscheinen kann, ohne[402] daß hiedurch die Grundform – die Landschaft – aufgehoben ist, so war ihm ein und dieselbe Melodie, in das Prisma des Geistes gestellt, der verschiedenartigsten Beleuchtung und des reichsten Stimmungsspieles fähig. Die Variation war ihm ein aufgefangener Strahl dieses Prisma. Melancholisch, glänzend, schmeichelnd, phantastisch, stürmisch, leidenschaftlich, religiös, wie eben die Farbe des Strahles war, welcher auf die Melodie fiel, – immer war sie Leben, wirkliches Leben, nie nur Form, nie nur leeres Spiel.

Diese geistige Vielfarbigkeit führte Liszt auch hier auf dem Gebiet der Fantasie zu dem oft erwähnten Reichthum nicht allein der wohlklingenden und neuen Harmonien, sondern zu dem Reichthum der charakteristischen Harmonien und Modulationen, wie er nur dem schöpferischen Quell des Genies entspringen kann. Diese, aus der Melodie herausgefühlt und herausgeschaut, wurde die Grundlage seines Passagenwerks und seiner Ornamentik. Nun gab es kein flaches Passagenspiel mehr: es war gleichsam theils auf melodisch-modulatorischem Tonstrom ciselirt theils aus ihm herausgeflossen, wobei die jedesmalige Art des geistigen Farben- und Stimmungsspiels seine Charakteristik bestimmte. Die Passage war nicht mehr der Passage wegen da sondern als Mittel zur charakteristischen Darstellung. Melodie und Bearbeitung waren nicht mehr Zwei sondern Eins. Hiemit war ein wesentlicher Schritt zur künstlerischen Gestaltung und zum künstlerischen Inhalt der Fantasie über Melodien gewonnen.

In der Variation fand Liszt zugleich den günstigen Boden, den an den Virtuosen gestellten Aufgaben bezüglich seiner technischen Fertigkeit, Rechnung tragen und sie zu höchstem Glanz und größter Bravour steigern zu können. Kam sie durch die von ihr bedingten thematischen Wiederholungen dem Princip, die Melodie in die Peripherie des geistigen Lebens – in das subjektive Gefühl, in die Beleuchtung des Gedankens, in das Spiel der Phantasie, in das Wogen des Temperamentes – zu stellen, formell entgegen, so gab sie ihm andererseits die Grundlage zu der vom Virtuosen so unzertrennlichen technischen Glanz- und Prachtentfaltung, zu welcher allerdings die knappe Variationform sich nicht zu eignen scheint und sich auch nicht eignen kann, was mit dem erstgesagten gewissermaßen im Widerspruch steht. Darum sei hier gleich bemerkt, daß Liszt die Variation als eine in sich abgeschlossene Form zur Basis seiner Idee wohl nahm, das [403] Abgeschlossene derselben aber aufhob, Anfang und Ende durch Passage und Zwischenwerk miteinander verwob, ihre enge Periodisirung in eine freiere Form verwandelte und hiedurch auf der einen Seite den von seinem Gedanken verlangten Fluß der Form und nach anderer Seite die größeren formellen Dimensionen schuf, ohne welche eine technische Prachtentfaltung zu den Unmöglichkeiten gehört. Liszt löste die Variationform theils in die Form der Fantasie auf theils stellte er sie die Melodie variirend in diese Form. Die Variation als eine Specialform ward hiemit Bestandtheil einer anderen und größeren Form und dieser unter- und beigeordnet, sie ward Mittel zum Zweck, während sie vor dem – vom Standpunkt der Form aus – sich selbst Zweck war.

Diese weitere, größere und freiere Form war für Liszt der Boden zur Prachtentfaltung des Ausdrucks und der Technik, für die er hiemit ein wesentliches Mittel zur Steigerung der Bewegung und der Kraft schuf, wie sie unter allen schaffenden Tonkünstlern außer ihm kaum ein zweiter besessen hat. Sie ist das mächtige Crescendo, das bei Besprechung seiner von der Alpenwelt empfangenen Eindrücke bereits Erwähnung fand, und das vielleicht bei nur einem anderen Künstler, welcher jedoch auf einem der Musik entgegengesetzten Boden steht, zu finden ist: bei Michel Angelo. Bei den Marmorbildern dieses Meisters sind die Steigerungen der Bewegung und der Kraft bis zu einer Höhe getrieben, von welcher sein Biograph Hermann Grimm sagt, daß sie »die Bewegung einer Gestalt bis zur losplatzenden Heftigkeit steigere«.

Liszt's Steigerungen, jede als ein Crescendo gedacht, dehnen sich nicht auf eine gewisse Zahl von Takten, auf eine Passage aus: nein, gleichzeitig eine Steigerung der Ideen erstrecken sie sich auf ganze Reihenfolgen von Sätzen und Passagenketten, sich entwickelnd, ohngefähr so, wie die Berge als Hügel im Thal beginnen und nach und nach anschwellen zur Höhe und in die Breite und sich mehren und gruppiren zum Höhenzug des Gebirges. In diesen Steigerungen, welche in den Fantasien Liszt's oft bis zu unbeschreiblich großartigem Tonstrom, ja bis zur Überströmung anschwellen und allen Glanz und alle Vielseitigkeit der technischen Mittel und Erfindung bis zu ihrer äußersten Höhe entfalten, ohne sie vom geistigen Inhalt zu trennen, liegen die dem Virtuosen dienenden Elemente und zugleich seine neuen Errungenschaften. Sie stellten nicht nur die höchsten Anforderungen an seine [404] Technik, sondern setzten bei ihm auch die größte Vielseitigkeit des Geistes und ein lebendiges Spiel der Phantasie zu ihrer Exekutirung voraus.

Diese Technik und Idee im Hintergrund habenden Steigerungen Liszt's wirkten noch nach anderer Seite auf Wesen und Form der hier in Rede stehenden Gattung von Klavierstücken ein. So neu und hinreißend sie auch in ihrer Wirkung, in ihrer Gestaltung und als Stimmungserguß waren, entsprachen sie doch nicht so ganz der höheren künstlerischen Idee, welche für derartige Steigerungen und für größere formelle Dimensionen Satz und Gegensatz des Inhalts verlangt. Auch hier fand er den Weg.

Die komponirenden Virtuosen der vor-dreißiger Jahre hatten bei ihren Fantasien meist mehrere Melodien einer oder auch verschiedener Opern zur Grundlage genommen. Bei ihrer Zusammenstellung schien jedoch nur ihre Popularität den Ausschlag zu geben und kein künstlerisches Princip ihre Auswahl zu leiten. Sie waren nicht mit Rücksicht darauf gewählt, ob ihr Charakter sich wie Satz und Gegensatz zu einander verhalte und durch einen solchen Kontrast sich ein Stimmungsgemälde entfalten lasse, das nach künstlerischen Bedingungen entworfen sei: sie gingen nur dem Gedanken nach, beliebte Melodien in eine klingende Reihe zu bringen. An diesen unkünstlerischen Gestaltungen erkannte Liszt den neuen Pfad, den er einzuschlagen hatte, um als Virtuose den Künstler in keiner Weise preisgeben zu müssen. Er faßte die Idee: die Melodien so zu wählen, daß sie durch ihren Kontrast und doch durch eine gewisse Zusammengehörigkeit zu einem dramatischen. Bild, zu einer Scene sich entfalten ließen; dabei sollte der allgemeine Charakter der Oper, welcher die Motive entnommen waren, gleichsam als allgemeine Tonfarbe der Stimmung im Hintergrund der Fantasie schweben, so, daß eine geistige Verbindung zwischen beiden, zwischen der Oper und dem Klavierstück fühlbar bliebe.

Dieser Gedanke vollendete das Ideal, welches Liszt der Fantasie über Opernmelodien errang. Die dem Virtuosen dienenden technischen Mittel waren durch denselben bis in ihre letzte Spitze hinein ideedurchdrungen, der letzte Rest war getilgt, den ein den Selbstzweck verfolgendes Virtuosenthum ihr übrig gelassen und der Geistesstempel echter Kunst ihr gewonnen.[405]

Mit seiner neuen Idee griff Liszt hinein in die Partituren der Weltopern und holte sich aus ihnen die für sie brauchbaren Melodien, über welche er mit sprühender Schöpferkraft den unbeschreiblichen Zauber seiner Ornamentik, seiner neuen technischen Ausdrucksmittel, der sinnigsten, poesievollsten und geistreichsten Kombinationen in einer Fülle ergoß, die an den Frühling gemahnt, welcher alle Lebenstöne ebenso verschwenderisch wie berauschend zum Erklingen bringt. So entstanden allmählich alle jene großen Schöpfungen für den Koncertsaal, welche die höchste Virtuosität mit dem höchsten Künstlergeist zu verschmelzen suchten. Es entstanden seine »Sonnambula-«, seine »Robert-« seine »Don Juan-Fantasie«, seine »Propheten-Illustrationen« und andere, denen sich viele seiner Paraphrasen, unter ihnen die »Rigoletto-« und »Ernani-Paraphrasen«, mit gleichem Streben anreihten – alles »Virtuosenarbeiten« die sich jedoch zweifellos den Klavierwerken einreihen, welchen der Vorzug eingeboren ist Generationen zu überdauern.

Die Fantasien und Bearbeitungen von Melodien, welche die Vorgänger der soeben erwähnten Schöpfungen wurden, sind, wie schon gesagt, die seiner Genfperiode und stellen sich folgendermaßen zusammen:


Grande Fantaisie7 opus 5 No. 1


Sur la cavatine de l'opera Niobé de Paccini

I tuoi frequenti palpiti.


Fantaisie romantique opus 5 No. 2

Sur deux mélodies Suisses8


Rondo fantastique opus 5 No. 3

sur un thême Espagnol: El Contrabandista.9


Grande Fantaisie opus 7,

Réminiscenes de Puritains.10


[406] Grande Fantaisie opus 8 No.1

sur »La Serenata e L'orgia« de Rossini.


2me Fantaisie opus 8 No. 2

sur »La Pastorella dell' Alpi e Li Marinari« de Rossini.11


Grande Fantaisie brillante opus 9,

Réminiscences de La Juive12


Faintaisie dramatique opus 13,

Réminiscences de Lucia de Lammermoor.13


Liszt machte ebenfalls in Genf seinen ersten Walzerversuch mit seinem:


Grande Valse di Bravura opus 6,


eine Komposition voll Anmuth und poetischer Reize.

Den Beschluß dieser Arbeiten endlich bildet ein sehr brillantes, durch gemeinschaftliches Musiciren mit dem hochgefeierten Geiger Charles Philippe Lafont angeregtes Duo für Klavier und Violine, ein blitzendes Virtuosenstück für den Koncertsaal:


Grand Duo concertant

sur la Romance: »Le Marin« de Lafont

pour Piano et Violon.


Dieses so eben genannte Duo blieb der einzige Versuch Liszt's nach dieser Richtung hin. Einige spätere Duo's von ihm sind Übertragungen aus seinen symphonischen und chorischen Werken.

Mit diesen Kompositionen hat Liszt sein Streben sich mit den Bearbeitungen von Melodien auf künstlerischen Boden zu stellen und das vorhin besprochene Princip durchzuführen, nach allen Seiten hin dargelegt. Schon an den Bezeichnungen der Fantasien ist ersichtlich, wie sehr er ihnen Vielseitigkeit des Charakters zu gewinnen trachtete. Nach dem Charakter der jemaligen Motive bearbeitete und bezeichnete er den der einen Fantasie[407] mit »romantisch«, den der anderen mit »grande«, den der dritten, der vierten und fünften mit »phantastisch«, »brillant« und »dramatisch« – eine ganze Reihenfolge specifischer Aufgaben für diese Gattung der Klaviermusik.

Die »Fantaisie romantique« über zwei damals am genfer See beliebte Schweizermelodien, von denen die eine Sehnsucht, die andere Heimweh(la nostalgie) ausdrückt und denen gegenüber heitere Motive des Kuhreigens und des Hirtenlebens stehen, ist ein freies Stimmungsbild aus den Alpen. Die heiteren Motive und die Melancholie sind die gegensätzlichen Stimmungsmotive, aus welchen dieses Bild sich entfaltet. Letztere, die Melancholie, ist von reizenden Pastoralsätzen umgeben, als sollte die Heiterkeit Sehnsucht und Trauer verscheuchen. Und in der That, sie siegt. Die heiteren Motive entwickeln sich in einem rondoartigen Satz vor dem Finale zu einem köstlichen Aufschwung von Lebensmuth und jugendlichem Stürmen. Klingen auch ernstere Töne dazwischen, sie müssen dem sprühenden Leben weichen. In diese' Fantasie klingen Liszt's Alpenwanderungen stoffgebend hinein. Sie imitirt den Ranz des vaches, spielt mit dem Echo in den Bergen und möchte die Sonnenstrahlen aus den Lüften holen.

Die Fantasie opus 8 No. 2 ist ebenfalls ein Schweizerstück, das jedoch nicht die Natur sondern den Salon zu seinem Hintergrund hat. Wie die »romantische Fantasie«, ebenso erstrebt sie und die andere zu opus 8 gehörende Fantasie, obwohl die Übertragung der Salonarien von Rossini ihr Mittelpunkt und wesentlicher Theil, insbesondere aber die »Niobe–« die »Puritaner–«, und die »Jüdin-Fantasie« durch den Kontrast ihrer Motive eine ideelle und künstlerische Grundlage im Sinne des besprochenen Princips. Sie bewegen sich auf breiten Dimensionen und stehen formell im Anschluß an die Variation und die klassische Fantasieform, sind jedoch dabei in ihren Einzelsätzen nicht abgeschlossen in sich wie die Variation und die Sätze der Fantasie, sondern zeigen das Bestreben dieselben miteinander in Fluß zu bringen, ähnlich wie das moderne Princip der Oper die abgeschlossenen Formen der Arien und Duetten in den dramatischen Fluß eines Aktes aufgelöst hat. Mit einem Wort: sie sind auf dem Gebiet der Fantasie über Opernmotive die Hinwendung der Form zur Idee, speciell zu dem Liszt vorschwebenden Gedanken die sogenannten[408] Virtuosenstücke in der angegebenen Weise zum Kunstwerk zu erheben.

Die »Lucia-Fantasie« vom Komponisten mit »dramatisch« bezeichnet, ist weniger breit ausgesponnen als die letztgenannten drei Kompositionen. Sie ist mehr eine sinnig gedachte und brillante Paraphrase des Sextetts: »Hah! was läßt den Ruf der Rache« als eine dramatische Fantasie, zu welcher auch hier die gegensätzliche Melodie fehlt; denn die dramatische Form verlangt vor allem Satz und Gegensatz. Das »dramatisch« bezieht sich bei ihr auf den Charakter der Lucia als Heldin der Oper und des Sextetts überhaupt.

Im Ganzen genommen und im Rückblick auf frühere hierher gehörige Arbeiten setzt auch dieser Theil der der Genfperiode angehörigen Kompositionen die »schöpferischen Keime« (XIII. Kapitel) theils Blüthen treibend theils weiter sprossend fort.

Liszt's »Niobe«–, seine »Jüdin«- und »Puritaner-Fantasie«, vonn denen er die ersteren beiden im Winter 1835 auf 1836, die letztere im Herbst 1836 komponirt hat, zählen zu seinen brillantesten und effektreichsten Koncertstücken jener Zeit, die aber auch nur er zu exekutiren verstand. Erst in den vierziger Jahren wagten sich die zeitgenössischen Virtuosen an ihren Vortrag. Unter ihnen gehört die jugendliche Klara Wieck (die spätere Frau Schumann) zu den ersten, welche muth- und geistvoll genug waren, Koncertstücke Liszt's öffentlich interpretiren zu können. Zu ihren Lieblingspiècen, mit denen sie vielfache Erfolge sich errang, gehörte die »Niobe«- und »Lucia-Fantasie«

Auch dieser Theil der Klavierkompositionen Liszt's trägt größtentheils Widmungen – die Spuren seiner vielen persönlichen Beziehungen:


Die »Niobe-Fantasie« opus 5 No. 1 à Madame la Comtessede Miramont;

die »Fantaisie romantique« opus 5 No. 2 à Mademoiselle Valérie Boissier;14

das Rondo »El Contrabandista« opus 3 à Mad. George Sand;[409]

die »Puritaner-Fantasie« opus 7 à Mad. la Princesse Belgiojoso

die »(Rossini-) Fantasie« opus 8 No. 1 à Mad. Montgolfier;15

die »(Rossini-) Fantasie« opus 8 No. 2 à Mademoiselle Hermine de Musset;16

die »Jüdin-Fantasie« opus 9 à Mademoiselle Clemence Kautz;17

die »Lucia-Fantasie« opus 13 (ohne Widmung);

der »Bravour-Walzer« opus 6 à Mr. Peter Wolf.18

das »Grand Duo« (ohne Widmung).


Trotz dieser reichen Produktivität, welche Liszt in Genf entwickelte, aber angesichts dessen, daß sie dem Klavier sich widmete und weder zur Oper noch zur Symphonie sich wandte, blieb das Mißtrauen gegen sein höheres Kompositionstalent. Das Thema: »Er kann nicht komponiren« – spann sich fort. Nur Berlioz, das bahnbrechende Genie, erkannte den echten Götterfunken. Nur er rief in jener Zeit aus, als er von Liszt zum ersten Mal die »Jüdin-Fantasie« spielen hörte: On a aujourd'hui le droit de tout attendre de Liszt comme compositeur!«

Seine Freunde drängten ihn von allen Seiten der Welt den Beweis seines Könnens zu geben und dem Orchester sich zuzuwenden, aber er schüttelte den Kopf und blieb bei dem Klavier. Er hatte das Gefühl hier noch neue Mienen erschließen zu können, die nur er zu finden berufen sei. Ohne Anmaßung, ohne Eitelkeit, aber voll Liebe und Glauben hielt er an diesem Gefühl fest. In diesem Sinne schrieb er im Herbst 1837 an A. Pictet durch die Gazette musicale:


[410] »Ich vergesse vor allem, daß Sie als guter und treuer Freund mit Sorge dem ziemlich langsamen und bis jetzt auch ziemlich hinkenden Gang meiner musikalischen Arbeit folgen, daß Sie mir Rechenschaft über meine Arbeitsstunden abfordern und daß Sie erstaunt sind – Sie auch! – mich ausschließlich mit dem Klavier beschäftigt zu sehen und mich nicht besonders eilig finden das weitere Feld der dramatischen und symphonischen Komposition zu betreten.

Sie ahnen kaum, daß Sie damit einen mir empfindli chen Punkt berührt haben. Sie wissen nicht, daß mir vom Verlassen des Klavieres sprechen so viel ist, als mir einen Tag der Trauer zeigen, mir das Licht rauben, das einen ganzen ersten Theil meines Lebens erhellt hat und untrennbar mit ihm verwachsen ist. Denn sehen Sie: mein Klavier ist für mich, was dem Seemann seiner Fregatte, dem Araber sein Pferd – mehr noch! es war ja bis jetzt mein Ich, meine Sprache, mein Leben! Es ist der Bewahrer alles dessen, was mein Innerstes in den heißen Tagen meiner Jugend bewegt hat ihm hinterlasse ich alle meine Wünsche, meine Träume, meine Freuden und Leiden. Seine Saiten erbebten unter meinen Leidenschaften und seine gefügigen Tasten haben jeder Laune gehorcht!

Können Sie nun wollen, daß ich es verlasse, um nach den glanzvolleren und klingenderen Erfolgen des Theaters oder des Orchesters zu jagen? O nein! Selbst angenommen, daß ich für derartige Harmonien schon reif genug wäre – was Sie ohne Zweifel zu früh voraussetzen –: selbst dann bleibt es mein fester Entschluß das Studium und die Entwickelung des Klavierspiels erst aufzugeben, wenn ich alles gethan haben werde, was nur irgend möglich, was mir heutigentags zu erreichen möglich ist.

Vielleicht täuscht mich der geheimnisvolle Zug, der mich so sehr an dasselbe fesselt, aber ich halte das Klavier für sehr wichtig. Es nimmt meiner Ansicht nach die erste Stelle in der Hierarchie der Instrumente ein: es wird am häufigsten gepflegt und ist am weitesten verbreitet. Diese Wichtigkeit und Popularität verdankt es der harmonischen Macht, welche es fast ausschließlich besitzt und in Folge deren es auch die Fähigkeit hat die ganze Tonkunst in sich zusammenzufassen und zu koncentriren. Im Umfang seiner sieben Oktaven umschließt es den ganzen Umfang eines Orchesters und die zehn Finger eines Menschen genügen, um die Harmonien wiederzugeben, welche durch den Verein von Hunderten von Musicirenden[411] hervorgebracht werden. Durch seine Vermittelung wird es möglich Werke zu verbreiten, die sonst von den Meisten wegen der Schwierigkeit ein Orchester zu versammeln ungekannt bleiben würden. Es ist sonach der Orchesterkomposition das, was der Stahlstich der Malerei ist, welche er vervielfältigt und vermittelt; und entbehrt er auch der Farbe, so ist er doch im Stande Licht und Schatten wiederzugeben.

Durch die bereits gemachten Fortschritte und die anhaltende Arbeit der Klavierspieler erweitert sich die Aneignungsfähigkeit desselben von Tag zu Tag. Wir machen gebrochene Akkorde wie die Harfe, lang ausgehaltene Töne wie die Blasinstrumente, staccati und tausenderlei Passagen, welche vormals nur aus diesem oder jenem Instrument hervorzubringen möglich schienen. Durch die voraussichtlichen Verbesserungen im Baue des Klaviers bekommen wir jedenfalls einmal die Mannichfaltigkeit der Klänge, welche uns bis jetzt noch fehlt. Die Klaviere mit Baßpedal, das Polyplektron, die Klavierharfe und noch andere unvollkommene Versuche sind ein Beweis des allgemein sich fühlbar machenden Bedürfnisses nach Erweiterung desselben. Die ausdrucksfähigere Klaviatur der Orgel wird den natürlichen Weg zu der Erfindung von Klavieren mit zwei bis drei Klaviaturen zeigen und so den friedlichen Sieg vollenden.

Obwohl wir noch immer sehr nothwendiger Bedingungen, nämlich die Verschiedenheit der Klangfarbe entbehren, so ist es doch schon gelungen befriedigende symphonische Wirkungen hervorzubringen, von denen unsere Vorfahren noch keinen Begriff hatten; denn die Arrangements, welche bis daher von großen Instrumental- und Vokalkompositionen gemacht wurden, beweisen durch ihre Armuth und eintönige Leere nur zu sehr das geringe Vertrauen zu den Hilfsmitteln dieses Instrumentes.

Mit den schüchternen Begleitungen, den schlecht vertheilten gesanglichen Theilen, den mageren Akkorden wurde eher ein Verrath an der Idee Mozart's oder Beethoven's begangen, als daß sie übersetzt worden wäre.

Wenn ich nicht irre, habe ich zuerst die Veranlassung zu einem anderen Verfahren durch die Partitur der Symphonie fantastique gegeben. Ich habe mich gewissenhaft bestrebt, als ob es sich um die Wiedergabe eines heiligen Textes handelte, nicht nur das musikalische Gerüst sondern auch alle Einzelwirkungen, sowie[412] die vielfachen harmonischen und rhythmischen Zusammensetzungen dem Klavier zu übertragen. Die Schwierigkeit hat mich nicht abgeschreckt. Meine Liebe zur Kunst verdoppelte meinen Muth. Obgleich ich mir nicht schmeichle, daß dieser erste Versuch ein vollständig gelungener sei, so wird er doch den Vortheil haben, daß er den künftig zu gehenden Weg vorzeichnet und es in Zukunft nicht mehr erlaubt sein wird die Werke der Meister so zu arrangiren, wie man es bis zur gegenwärtigen Stunde gethan hat. Ich habe meiner Arbeit den Titel Klavierpartitur gegeben um meine Absicht dem Orchester Schritt für Schritt zu folgen und demselben nur den Vorzug der Massenwirkung und Mannichfaltigkeit der Töne zu überlassen recht deutlich zu erkennen zu geben.

Was ich für die Symphonie von Berlioz unternommen, setze ich jetzt mit den Symphonien Beethoven's fort. Das ernste Studium der Werke dieses Meisters, die tiefe Empfindung ihrer fast unendlichen Schönheiten, andererseits die Hilfsmittel, mit denen mich ein beständiges Studium des Klavierspiels vertraut gemacht hat, machen mich vielleicht weniger unfähig die schwierige Aufgabe eher als mancher Andere zu bewältigen.

Schon sind die vier ersten Symphonien Beethoven's übertragen, die anderen folgen binnen kurzem nach. Dann lege ich diese Arbeiten bei Seite, denn es ist ja nur nöthig, daß jemand gewissenhaft vorangegangen ist. Andere werden sie zukünftig sicherlich gerade so gut, ja viel besser als ich fortsetzen.

Die bisher gebräuchlichen Arrangements sind dann unmöglich gemacht: man möchte sie viel lieber Derangements nennen, eine Bezeichnung, die ebensowohl für die endlosen Capriccios und Phantasien, mit denen man uns überfluthet und die aus Motiven jeder Art und jeder Gattung wohl oder übel zusammengeflickt worden, passen würde. Wenn ich derartige Kompositionen betrachte, die pomphaft mit dem Namen ihres Autors versehen kaum einen andern Werth besitzen als den, welchen die größere oder geringere Beliebtheit der Oper, der ihre Motive entnommen, ihnen gegeben, fallen mir immer Pascal's Worte ein: »Gewisse Schriftsteller sagen stets, wenn sie von ihren Werken sprechen: mein Buch, mein Kommentar, meine Geschichte' etc. Sie gleichen dem Bürger, der Grundeigenthümer ist und das »bei mir« beständig auf der Zunge hat. Es wäre besser: sie sagten in Anbetracht[413] dessen, daß oft weit mehr fremdes als eigenes Gut darin ist: unser Buch, ›unser Buch Kommentar, unsere Geschichte‹ etc. etc,.«

Das Klavier hat also einerseits die Fähigkeit der Aneignung, die Fähigkeit das Leben Aller in sich aufzunehmen, andererseits hat es sein eigenes Leben, sein eigenes Wachsthum, seine individuelle Entwickelung. Es ist, um uns eines Wortes aus dem Alterthum zu bedienen, Mikrokosmus und Mikrodeus – kleine Welt und kleiner Gott. Von dem Standpunkt individuellen Fortschritts aus sichern ihm Werth und Zahl der für dasselbe geschriebenen Kompositionen den Vorrang. Historische Forschungen würden ergeben, daß von seinem Ursprung an eine ununterbrochene Reihe ausgezeichneter Spieler, aber auch vorzüglicher Komponisten sich mit Vorliebe mit ihm beschäftigt hat. Die Klaviermusik Mozart's, Beethoven's, Weber's ist nicht die geringste Urkunde des Ruhmes dieser Meister: sie bildet sogar einen wesentlichen Theil der Erbschaft, die sie uns übermacht haben. Auch sie waren zu ihrer Zeit bedeutende. Klavierspieler und haben nie aufgehört für ihr Lieblingsinstrument zu schreiben. Ich möchte behaupten, daß in gewissen Klavierstücken von Weber ebensoviel Leidenschaft liegt wie in der. »Euryanthe« und im »Freischütz« ebensoviel Wissen, Tiefe und Poesie in Beethoven's Sonaten wie in seinen Symphonien.

Wundern Sie sich demnach nicht, daß ich, ihr de müthiger Jünger, danach strebe – wenn auch nur aus der Ferne! – ihnen zu folgen, daß mein erster Wunsch, mein größter Ehrgeiz darin besteht, den Klavierspielern nach mir einige nützliche Unterweisungen, die Spur einiger errungener Fortschritte, ein Werk zu hinterlassen, das einstmals in würdiger Weise von der Arbeit und dem Studium meiner Jugend Zeugnis ablegt.

Schließlich muß ich Ihnen noch bekennen, daß ich mich der Zeit, in der man mir des guten Lafontaine's Fabeln zum Auswendiglernen gab, noch nicht ganz entrückt fühle und ich mich noch recht gut des allzugierigen Hundes erinnere, der den saftigen. Knochen aus der Schnauze fallen ließ, um nach dessen Schatten zu haschen. Lassen Sie mich denn friedlich an meinem Knochen nagen. Die Stunde kommt vielleicht nur zu früh, in der ich mich selbst verliere, indem ich einem ungeheuren unfaßbaren Schattenbild nachjage.«

Fußnoten

1 Tobias Haslinger in Wien (1842).


2 Die drei Bände sind seiner Zeit von Haslinger auch einzeln unter den Separat-Titeln ausgegeben worden.


3 Diese drei Stücke erschienen bereits 1836 in einer Sammlung von Klavierstücken verschiedener beliebter Komponisten jener Tage, welche die Firma E. Knop in Basel unter dem Titel »L'Écho des Alpes Suisses« herausgegeben hatte. In dieser Sammlung waren sie No. 2, 6, 9. Als Separatausgaben erschienen sie ebendaselbst unter dem Titel: »Trois Airs Suisses«


4 I. Band seiner Schriften, Seite 31.


5 Erschienen 1853 bei Schott's Söhnen in Mainz.


6 Der Knop'sche Verlag in Basel ging 1856 an diese Firma über.


7 Die älteren deutschen Ausgaben: 1837 Hofmeister in Leipzig und 1839 Haslinger in Wien, tragen den Titel: »Divertissement«; eine spätere: 1843 Schlesinger in Berlin, hat den obigen.


8 Deutsche Ausgabe: 1839 Haslinger.


9 Deutsche Ausgaben: 1837 Hofmeister; 1839 Haslinger; 1841 Schuberth & Co. –


10 Deutsche Ausgabe. 1837 Les fils de B. Schott.


11 Deutsche Ausgabe beider Fantasien: 1837 Les fils de B. Schott.


12 Deutsche Ausgaben: 1836 Hofmeister; 1838 Schlesinger.


13 Deutsche Ausgabe: 1840 Hofmeister.


14 Mlle. Boissier war eine genfer Schülerin Liszt's, die sich unter ihrem späteren Namen Madame de Gasparin als Schriftstellerin protestantisch-pietistischer, doch edler Richtung in weiteren Kreisen bekannt gemacht hat.


15 Mme. Montgolfier gehörte ebenfalls zu seinen genfer Schülerinnen und war später in Lyon als Lehrerin des Klavierspiels thätig.


16 Mlle. Herm. de Musset, die Schwester des Dichters Alfred de Musset, gehörte ebenfalls zu seinem Schülerkreis.


17 Mlle. Clemence Kautz, eine Genferin, war desgleichen eine Schülerin Liszt's. Sie wurde eine Schwiegertochter Konrad Kreutzer's.


18 Mr. Peter Wolf zählte zu den ersten Schülern des siebzehnjährigen Liszt in Paris. Zur Zeit Liszt's in Genf war er als Lehrer daselbst thätig. Später war er, nebenbei gesagt, der Lehrer der als Wagner-Propagandistin in musikalischen Kreisen viel genannten Madame Moukhanoff, geborenen Gräfin Nesselrode, † 1874.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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