I.

[132] »Un instinct secret me tourmente.«

(»Réné.«)


In dieser Periode begann Liszt einer vielseitigen Lektüre sich zuzuwenden. Die Bücher, welche seinen Tisch bedeckten, waren, entsprechend seinem geistigen Zustand, religiösen Inhalts. Unter ihnen befanden sich jedoch auch solche, welche Religion und Weltleben in romanhafter Form verbanden. Zu diesen zählten vor allen anderen die Schriften des französischen Poeten, der am Anfang unseres Jahrhunderts in Frankreich als Kämpe für den Katholicismus gegen den »Hochmuth der Philosophen« und die Glaubenslosigkeit der feinen Welt, gegen Voltaire und die Weltleute der Voltaire'schen Schule, sich erhoben hatte: die Schriften Chateaubriand's.

Obwohl ein Vierteljahrhundert über das epochemachende Werk Chateanbriand's »Génie du Cristianisme« (1802) dahingerauscht war und andere Bedürfnisse als religiöse sich geltend gemacht hatten, war sein Einfluß noch keineswegs vorbei. Wirkte es auch nicht mehr so allgemein und so unmittelbar wie in jener traurigen, mit ihm im Kontrast stehenden und gerade hierdurch ihm besonderen Glanz gebenden Zeit seiner Erscheinung, wo es wie ein Meteor über die vom Atheismus geschlossenen Kirchen aufleuchtete, so zehrte es doch nicht allein an den Folgen der damals ausgeübten[132] Macht: es war noch eine solche, auch gegenüber der jüngeren Generation. Der Chateaubriand-Kultus, welcher sich während der Restaurationsepoche entwickelt hatte und dessen Hohepriesterin die weltberühmte Schönheit Madame Récamier war, stand noch in Blüthe und übte noch immer seinen Einfluß auf das heranwachsende Geschlecht.

Insbesondere war es die berühmte zweite Episode des »Génie du Christianisme«, der Roman »Réné«, welcher eine bedeutende Rolle in der Bildungsgeschichte Frankreichs spielte, deren Charakter sich in dem Beinamen abspiegelt, welchen die Franzosen ihm gaben. Ihn dem »Werther« Goethe's zur Seite stellend, nannten sie ihn den »französischen Werther«, eine Bezeichnung, die jedoch nicht auf die gleiche Werthhöhe der beiden zwei verschiedenen Nationen angehörenden und auf sie zurückwirkenden Werke Bezug haben kann. »Réné« ist das vollendetste Epos des Weltschmerzes. Hier, auf der Seite der Stimmung, sowie in der verwandten, von beiden Werken, auf ihre Zeitgenossen ausgeübten äußeren Wirkung, liegt ihre Ähnlichkeit.

Wie »Werther's Leiden« in Deutschland, so hatte »Réné« in Frankreich die Dissonanzen des von der Zeit allmählich zur Modekrankheit kreirten Weltschmerzes heraufbeschworen und durch die poetische Verherrlichung desselben ein Giftkraut anstatt eines gesunden Lebensreises nicht nur in die Litteratur, sondern auch in die jugendlichen Geister gepflanzt. Chateaubriand's Ausruf: »Wäre es mir möglich Réné zu zerstören, ich würde es thun!« kam zu spät. Die Zeitverhältnisse, welche der Überschwänglichkeit phantastischen Gefühls und zugleich dem haltlosen Urtheil jugendlichen Dünkels einen Freipaß gegeben, entwickelten die gefährliche Pflanze zu einem Baum, unter welchem die Jugend, insbesondere Künstler und Poeten, sich lagerten und Siesta hielten. Die im »Réné« herrschende Pracht der Sprache, die Neuheit der Bilder und Situationen, der schwermüthig leidenschaftliche Timbre der Gefühlsergüsse, die in poetische Gluth getauchte schwärmerische Glaubensrichtung, selbst die in die Farben der Poesie gehüllten dogmatischen Sophismen, welche sententiös das Buch durchzogen, hatten allen Einwendungen der Logik und Vernunft gespottet. Sein Geist – gegen die dreißiger Jahre hin – lebte noch fort; es selbst war das Brevier romantischer Jugend, die an seinen vom Mysticismus der Liebe und Religion gefüllten Essenzen sich[133] berauschte, ohne zu ahnen, daß sie für die Gesundheit ihres Geistes Gift einsog.

Auch Liszt gab sich ganz dem phantastischen Zauber dieses Buches hin. Es soll Monate hindurch seine ausschließliche Lektüre gewesen sein. Man erzählte sich, er habe es so oft gelesen, daß er es auswendig wußte. Diese große Vorliebe für »Réné« deutet auf die Tiefe der sympathischen Klänge hin, die das Buch ihm erweckte. Namentlich mochte der Ausgang der Novelle, welcher die Überwindung der Leidenschaften durch die Religion zum Inhalt hat, ihn in der Erinnerung an seine eigene jüngst erlebte Liebesgeschichte tief berühren. Auch er hatte im kirchlichen Glauben die Kraft gesucht, welche die Schmerzen der Entsagung heilt. Daß die Heldin des Buches, Amélie, den Schleier nimmt und in Andachtsübungen und christlichen Liebesthaten ihr Leben beschließt, mag ebenfalls nicht spurlos an ihm vorübergegangen sein. Ihre die Segnungen des Klosterlebens schildernden Worte, daß »die Religion an Stelle der leidenschaftlichen Liebe eine Art glühender Keuschheit setze und die Seufzer reinige«, waren Wahrheiten, die er glauben konnte in sich erlebt zu haben.

Mehr noch als die Novelle des Buches zogen dessen Gedanken, die Meditationen über die Hinfälligkeit der Menschen und Geschlechter, ihn an. Sein für die Leiden der Menschen so empfängliches Gemüth fühlte sich wohl in den Dissonanzen, welche »Réné's« rastloses Grübeln aufthürmte. Dabei versenkte er sich in die vielfachen Widersprüche des leidenschaftlichen und heroischen Wesens des Helden, in sein Begehren und Weltverachten, in sein Suchen nach den Idealen des Daseins und in seine Täuschungen – Widersprüche, die seine erregte Phantasie begehrlich in sich aufnahm und selbst reproducirte. Er konnte in jener Periode sich für die Entzückungen der heiligen Theresia begeistern und zugleich den Selbstmord als eine große heroische That bewundern.

Hierin liegt der wesentliche Einfluß, welchen »Réné« auf den jungen Liszt ausübte. Er öffnete ihm die Thore zum Weltschmerz. War auch seine Natur eine zu gesunde, um ihm zu erliegen, so waren doch die Einflüsse der an ihm krankenden Zeit zu groß, als daß er als ideal und lyrisch angelegte Natur sich ihnen ganz hätte entziehen können. Auch kam sein Gesundheitszustand, welcher noch unter den Nachwehen der überstandenen Krankheit litt, dem Weltschmerz auf halbem Weg entgegen.[134] »Un instinct secret me tourmente« – dieses Wort »Réné's«, halb Weltschmerz und halb Offenbarung des mystischen Zustandes, in welchem insbesondere der Lyriker wandelt, ward ihm zur Sphinx, die sein eigenes Räthsel ihm aufgab. Es bohrte sich in seine Phantasie und in sein Denken, es verfolgte ihn unablässig. »Un instinct secret me tourmente« wurde ihm die Devise für das eigene noch unverstandene Innere, aber auch das Losungswort für Widersprüche, Weltschmerz und religiöse Zweifel.

Letztere tauchten in ihm auf, kaum wußte er wie. War es »Réné«, welcher so wenig wie das ganze Werk, von dem er eine Episode bildete, des Verfassers eigenen Skepticismus, trotz seiner poetischen Hüllen, verbergen konnte? war es das Erwachen selbständigen Denkens? waren es seine Freunde, die ihn seinen Grübeleien und seiner Einsamkeit zu entreißen suchten und seinem Glaubenseifer und seiner Gläubigkeit die Aussprüche der Philosophen entgegen hielten? war es die Rückkehr seiner physischen Gesundheit, was gegen seine schwärmerischen und thatenlosen Stimmungen reagirte? – Zweifel stiegen in ihm auf, Weltstimmungen erwachten!

Bis jetzt war in das Herz des Jünglings und in seine Hingabe an die Religion noch kein Tropfen jenes lebentreibenden und doch zerstörenden Giftes, des Zweifels, gefallen. Kindlich gläubig hatte er die kirchlichen Satzungen in sich aufgenommen und ihren Formen sich unterzogen. Der poetisch-mystische Kultus des Katholicismus war seiner Natur zu einer Sprache geworden, die gleichsam mit den Lauten seiner Musik zusammengeflossen war, ohne Scheide- und ohne Grenzlinie – kein Schatten eines Skepticismus hatte ihn bis jetzt gestört. Und nun brach auf einmal ein Sturm in ihm herauf, der dem dithyrambischen Charakter seines bisherigen Gotteskultus sehr entgegengesetzt sich zeigte und ihm die Zweispaltigkeit des menschlichen Geistes, – von unserem Dichter »zwei Seelen in einer Brust« genannt – fühlbar machte. Aber nur momentan konnten die Zweifel in ihm aufsteigen. Seine Natur war keine faustische. Unter seinen Zweifeln barg sich die erwachende Vernunft, welche sich nicht vom Glauben ablöst, sondern nach seinen Gründen fragt, aber hier in dem ersten Sturm ihrer Äußerung sich von den Encyklopädisten leiten ließ. Seine Zweifel waren eine momentane blinde Reaktion gegen seine blinde Gläubigkeit, eine gesunde Opposition gegen das Übermaß seines[135] religiösen Gefühls. Der Kern seines Inneren blieb unberührt von ihnen.

Allein in jenem Moment durchstürmten ihn nicht nur im Widerspruch miteinander stehende religiöse Gefühle, auch andere ungekannte stürzten über ihn herein, ein Heer ihm bisher fremder Gedanken nach sich ziehend. Demokratische von den Fragen jener Zeit erfüllte Freunde nannten seine Trennung von Karoline einen Raub, vollzogen von aristokratischem, einer ganzen Gesellschaftskaste angehörendem Hochmuth – Ansichten, denen er willig sich hingab und welche ihn für die demokratischen und socialistischen Ideen der bereits über die Schulter jener Tage hereinblickenden Julirevolution stimmten. Begeisterung für neuzuschaffende Zustände überkam ihn, wobei sich auch die Gefühle des Gegenübers der Standesstellungen in ihm ausprägten und sein Selbstbewußtsein als Künstler und Mensch steigerten. Sein Ich füllte sich mit edlem Stolz. Konnte er sich auch der Aristokratie gegenüber von dem gereizten Gefühl einer erlittenen Kränkung noch nicht frei machen, so erhob ihn dieser Stolz über dieselbe und verband sich mit seinem Streben nach innerer Vervollkommnung.

Mit der Begeisterung für neue Zustände brach sich ein heftiger Wissensdurst Bahn und was bis jetzt in Folge seiner exklusiven künstlerischen Erziehung brach gelegen, erhob auf einmal seinen Ruf nach Geltung. Er wollte wissen – alles wissen. Da ihm aber nach dieser Seite hin jede Vorschule abging und der Durst nach Wissen wie eine Explosion ausbrach, konnte sich nichts regelmäßig entwickeln. Er wechselte mit seiner Lektüre und griff planlos nach den widerspruchvollsten Dingen. Das gab manche Konfusion. Dieser Zeit gehört die häufig erzählte Anekdote an, nach welcher er in einer Gesellschaft, in der sich der soeben nach Paris übergesiedelte und in der Zeitgeschichte Frankreichs viel genannte Advokat Crémieux befand, zu diesem mit dem Ausruf hinstürzte:

»Monsieur Crémieux, apprenez moi toute la literature française!« worauf dieser entgegnete:

»»Une grande confusion semble régner dans la tête de ce jeune homme.««

Wissensdrang, Zweifel, erwachende Lebensfreude führten ihn in einer Lektüre, bei welcher, wie schon angedeutet, die Extreme sich berührten. Weltliche und religiöse Schriften, die gehaltvollsten[136] und frivolsten fanden ein Echo in ihm. In chaotischer Verwirrung lagen die skeptischen Schriften Montaigne's neben den Vertheidigungen des Katholicismus von Lamennais, die Werke von Voltaire neben denen von Lamartine, dazu Schriften von St. Beuve, Ballanche, Rousseau, Chateaubriand und vielen anderen Schriftstellern, von welchen die meisten von tiefgehender Bedeutung für die Zeit- und Kulturgeschichte, für Religion und die poetische Litteratur Frankreichs waren. Wo nur immer er ein Licht zu finden glaubte, dahin wandte er sich. Ihm war beständig, als müsse sich ihm ein großes Neues offenbaren. Seine Seele war voll Ahnungen. Halbe Nächte saß er oft und las und suchte, hin und her geworfen von den verschiedensten Eindrücken, ohne zur Ruhe zu kommen. Das »un instinct secret me tourmente« blieb noch ohne Lösung.

Unter dem hin und her solcher Eindrücke konnte es nicht anders sein, als daß sie auf seine Stimmungen und Gewohnheiten zurückwirkten. Erstere wurden wechselvoller – kühn empor und tief hinab, ungestüm aufbrausend und still sanft, aber darunter wie brennendes Feuer, darüber eine mächtig ziehende und doch unenthüllte Geisteswelt.

Dieser Stimmungswechsel übertrug sich auf seine Gewohnheiten. Waren sie vor seiner Erkrankung ungeregelt aus Mangel einer leitenden Hand, so waren sie es jetzt aus einer Übermacht der Stimmung: sie herrschte. Sein Inneres zeigte sich umgestimmt, und wie als Mensch, war er als Künstler offen für profane Eindrücke. Er besuchte nicht mehr ausschließlich die Kirche. Ebenso leidenschaftlich wie kurz vordem sie, besuchte er jetzt das Theater. Bezeichnend für die sich in ihm Bahn brechende Geistesrichtung war sein Lieblingsstück: Victor Hugo's »Marion Delorme«, das Stück, welches von einem Litterarhistoriker1 »die durch edle Empfindung geadelte Ahnfrau der Boulevard-Magdalenen« genannt worden ist. Eine Zeit lang sah man ihn häufig im Parterre des Theaters an Porte Saint Martin, wo es aufgeführt wurde.

Auch zum Opernhaus zog es ihn. Durch den künstlerisch sympathischen Verkehr mit einer geistvollen Dilettantin, einer Madame Goussard, welche der italienischen Musik mit großer Vorliebe zugethan war, öffnete sich sein Sinn für sie. Als diesen[137] Winter – 1829 auf 1830 – Rossini's »Wilhelm Tell« seine ersten Aufführungen fand, konnte er sich in seinem Enthusiasmus für dieses Werk kaum genug thun. Aber nicht allein die in der Sphäre schöner Sinnlichkeit sich bewegende Musik übte ihre bestrickende Wirkung auf ihn aus, ebenso riß ihn das Sujet der Oper: Wilhelm Tell, der Held und Befreier der Unterdrückten, zur Bewunderung hin.

Die ausschließliche Herrschaft seiner weltlich aufgeregten Stimmung währte jedoch nur eine kurze Zeit. Schnell kommend, schnell vergehend war sie seinen überreizten träumerischen Gefühlen ein Gegenschlag, welcher sie zu größerem Gleichgewicht wieder zurückrief. Es zog ihn bald wieder zu Ernsterem und Gehaltvollerem. Das religiöse Gefühl war in ihm zu mächtig und zu sehr Theil seiner innersten Natur, als daß es sich so leicht von Zweifel und Weltlichkeit hätte verdrängen lassen können. Stürmisch trat es wieder in den Vordergrund. Seine gottinnige Sehnsucht, sein Bestreben nach innerem Adel setzten ihren Flug und ihre Arbeit fort, aber sie isolirten sich nicht mehr vom Leben wie kurze Zeit zuvor – sie schlugen eine Richtung ein, welche die Attribute des Zeitgeistes trug und mit Weltlichkeit versetzt war.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880, S. 132-138.
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