XI.

1842.

Ein großes Jahr.

(Schluß.)

Königsberg. St. Petersburg. Weimar (II).

(Koncert-Reisen 1839/40–1847. Fortsetzung.)

Die Universität zu Königsberg ernennt Liszt zum Doktor der Musik honoris causa. Das Diplom. Dr. Jacobi's Rede. Liszt's Brief an die Universität. – Petersburg. Koncerte. Kaiser und Künstler. Henselt. Liszt's »Der Rhein soll deutsch verbleiben« in Paris. Das Grétry-Festival in Lüttich. Brüssel. »Vergiftet sind meine Lieder.« Nonnenwerth. Weimar (II). Ernennung zum »Hof-Kapellmeister in außerordentlichem Dienst«.


Von Berlin aus erfolgte die Fortsetzung der Reise Franz Liszt's nach Petersburg. Königsberg bildete eine Mittelstation. Hier fanden die öffentlichen Anerkennungen des großen Kunstgenies ihre Krönung.

Unterm 19. März ist in Varnhagen's Tagebuch zu lesen:1


»Liszt ist nun in Königsberg zum Doktor der Musik gemacht worden. Eine Ohrfeige für die Berliner Fakultät, die es in ihrem dummen Bettelstolz versagte.«


Der letzteren Bemerkung läßt sich entnehmen, daß die dem Künstler gewordene Auszeichnung bereits bei der Berliner Universität angeregt, von ihr diskutirt und abgelehnt worden war. Erscheint auch Varnhagen's Ausfall sehr scharf, so legt die Ablehnung doch dar, daß die damalige Berliner philosophische Fakultät die phänomenale Erscheinung Liszt's weder in ihrer Bedeutung[181] als solche, noch in ihrer Tragweite erkannt hat. Das über vierzig Jahre nach dem Königsberger Vorgang in den »Wissenschaftlichen Monatsblättern«2 von K. Lehrs ausgesprochene Wort, daß hiemit die Universität zu Königsberg »einen Schritt gethan, dessen sie sich als Beweis für die vorurtheilsfrei über der Zunft schwebende Schätzung des Genies zu rühmen hat und als Beweis für die ideale Richtung, welche bei der Mehrzahl ihrer Mitglieder vorherrschte,« wird unumstößlich bleiben.

Die dermalige philosophische Fakultät der Königsberger Universität bestand aus folgenden Mitgliedern: Dekan Drumann, Regierungsrath C.H. Hagen, die Geh. Regierungsräthe Lobeck und Voigt, die Professoren Schubert, Meyer, Jacobi, Dulk, E.A. Hagen, Neumann, Rosenkranz, Moser, der Prof. designatus Bessel.

Das Doktor-Diplom lautete:


Ab Ordine Philosophorum

Virum Celeberrimum

Franciscum Liszt

Hungarum


equitem ligionis Honorariae Academiae regiae artium Berolinensis sodalem propter consummatam artis musicae doctrinam usumque admirabilem orbis terrarum plausibus comprobatum


Artis musicae doctorem

honoris causa

creatum esse


hoc diplomate sigillo ordinis munito publice testatur

Carolus Guilielmus Drumann

hist. P.P.E. facult. philos. h.t. Decanus

in Acad. Albertina a d. XIV. Martii MDCCCXLII.


Die Professoren Karl Rosenkranz und der bekannte Mathematiker Jacobi waren mit Überreichung obigen Diploms beauftragt. [182] Jacobi war der Sprecher. Die von ihm verfaßte und an Liszt gerichtete Anrede ist noch vorhanden3 und lautete:


»Die philosophische Fakultät der Albertus-Universität hat uns aufgetragen, Ihnen das Diplom eines Doktors der Musik zu überreichen. Es ist dies eine Auszeichnung, welche einst der unsterbliche Haydn genoß.« (bei Nennung dieses Namens verbeugte sich der Künstler tief; der Sprecher fuhr fort:) »welche deshalb vielleicht auch Sie nicht verschmähen werden. Die Universitäten Deutschlands und Englands haben dieselbe nur selten ertheilt; aber alles, was dazu berechtigen kann, findet sich in Ihrem Genius auf das vollkommenste vereinigt. Die Wunder der Technik sind Ihnen nur ein Moment, nur ein Mittel und Organ für den Ausdruck höherer Seelenzustände. Der wahre Meister giebt uns: eine neue Kunstoffenbarung: er tritt damit in die Gemeinschaft und den Kreis der freien Geister, welche berufen sind ihre Zeit zu repräsentiren.

Und so begrüßen auch wir Sie als ein ächtes Kind unserer Zeit, berufen ihre Gefühle und Gedanken in der Weise der Tonkunst auszusprechen. In den Reihen, welche Ihre Töne durchbebten, werden wir noch lange das Wehen Ihrer Geister zu vernehmen glauben. So war die liebliche Sage, daß der Stein, an welchen beim Thebaischen Mauerbau Amphion seine Leyer lehnte, noch nach Jahrhunderten klang.

Die philosophische Fakultät hat Sie zum Doktor kreirt wegen Ihrer vollendeten musikalischen Wissenschaft und der bewunderungswürdigen Ausführung, welche den Beifallssturm einer ganzen Welt erworben. Aber sie hat auch nicht Ihre schöne menschliche Seite vergessen und die Liberalität, womit Sie den Jünglingen unserer Hochschule diese wahrhaft veredelnden Genüsse gewähren.

Nehmen Sie unsern Dank auch hiefür, nehmen Sie unsern Dank dafür, daß Sie uns reicher gemacht. Nehmen Sie den Ausdruck unserer Bewunderung und Liebe – und dieses Zeichen derselben in Güte hin.«


Der also Geehrte sprach hierauf aus dem Stegreif. K. Rosenkranz gedachte stets mit Vergnügen der obwohl in abgebrochenen Sätzen sich äußernden, doch dabei so eigenthümlichen und graciösen Art des Künstlers. Der Inhalt seiner Antwort entsprach dem officiellen Schreiben, das er an die Fakultät richtete. Da er unmittelbar nach der Überreichung des Diploms abreiste, kam derselbe einige Tage später – datirt »Mitau den 18. März« – an. Er lautet, genau auch nach der damaligen Orthographie:


[183] Hochwürdige, hochgelehrte Herren!


Ich würde vergeblich versuchen Ihnen die tiefe und herzliche Bewegung auszudrücken, in die Sie mich durch Ihre seltene Ehrenbezeugung versetzt haben.

Die Doktor-Würde aus der Verleihung einer Fakultät, in der sich wie in der ihrigen, Männer von Europäischer Bedeutung versammeln, macht mich glücklich und würde mich stoltz machen, wenn ich nicht auch des Sinnes gewiß wäre, in dem sie mir verliehen worden.

Ich wiederhole, daß ich mit dem ehrenvollen Namen eines Lehrer der Musik (und um es hier zu bemer ken, kann ich das Wort Musik nur in ihrer großen, vollen antiken Bedeutung gelten lassen), dessen Sie, hochverehrte Herren, mich würdigen, die Verpflichtung unablässigen Lernens, und unermüdlicher Arbeit übernommen zu haben mir wohl bewußt bin.

In der steten Erfüllung dieser Pflicht: die Doktor-Würde auf eine richtige und würdige Weise zu behaupten – den schwachen Theil Wissenschaft und Technik, den ich mir anzueignen im Stande bin, als Form und Mittel des Wahren4 und Göttlichen mit That und Wort zu verbreiten;

– In der steten Erfüllung dieser Pflicht und jedem Erfolg, der mir etwa gegönnt ist, wird sich auch die Erinnerung an Ihr Wohlwollen lebendig erhalten, und an die rührende Weise, in der ein berühmtes Mitglied Ihrer Fakultät mich davon unterrichtet hat.

Genehmigen Sie, hochwürdige Herren, den Ausdruck meiner dankbarsten Hochachtung und vollendetsten Verehrung.

F. Liszt.

Mittau, 18. März 1842.


Dieser Brief befindet sich noch unter den Akten der philosophischen Fakultät der Königsberger Hochschule. Er gehört zu den beredtesten Zeugnissen von der edeln Einfachheit und hohen Denkweise des in seiner Art einzigen Künstlers. Gewissermaßen ergänzt derselbe dessen früheren Paganini-Aufsatz.5 In diesem deutet er in der Großschrift humaner Idealität auf den Künstler als Priester des Geistes hin, in dem Antwortschreiben zeichnet er in wenigen Linien die ethischen und Glaubenspfeiler des Künstlerpriesters als Lehrer. Beide athmen das unablässige Ringen nach eigener Vervollkommnung.

Der Künstler hatte in Königsberg nur zwei Koncerte gegeben, von denen eines in der Universitätsaula für die Studirenden bestimmt[184] war. Alsdann ließ er sich in Mitau, Riga und andern Städten öffentlich hören und traf am 15. April in St. Petersburg ein, wo er im Grand Hôtel am Michaelsquare wohnte. Hier war bereits alles Spannung und Erwartung. Als er am folgenden Tag zur Zeit der öffentlichen Audienzstunde im Audienzsaal nebst Andern des Kaisers harrte und dieser erschien, wandte er sich gegen alle Rangordnung, Militär- und Staatsbeamte überspringend, an den Künstler mit dem Zuruf:

»Herr Liszt, ich freue mich Sie in Petersburg zu sehen!« – worauf sich eine kurze Unterhaltung entspann, die beiden Theilen eine angenehme Genugthuung zu gewähren schien. Diesem außerordentlichen Empfang entsprach die Aufmerksamkeit, mit welcher er seitens der Kavaliere und des Hofpersonals überschüttet wurde.

Am 20. April gab er sein erstes Koncert im großen Saale des Adels-Vereinshauses am Michaelsquare, der über 3000 Menschen faßt und bis auf den letzten Platz besetzt war. Die Kaiserin und andere Mitglieder des kaiserl. Hofes waren anwesend – eine Auszeichnung, die noch keinem andern Künstler zu Theil geworden war. Am 23. April erfolgte das zweite Koncert und hierauf viele andere – alle vom größten künstlerischen Erfolg getragen. Derselbe stand hinter keinem in den europäischen Hauptstädten, in denen Liszt aufgetreten war, zurück.

Die von ihm vorgeführten Kompositionen bestanden, außer vielen von Beethoven, Weber u.A., aus seinen Opernfantasien und Übertragungen, von denen insbesondere seine Lucia-Fantasie und der »Erlkönig«6 unvergeßlich blieben.

Die Presse jauchzte ihm zu, wie das musikalische Publikum und die höheren Gesellschaftsregionen. Die Hofkreise umdrängten ihn und selbst ein kleiner hinter den Koulissen sich abspielender Mißton zwischen dem Kaiser und dem Künstler konnte keine Minderung[185] des Enthusiasmus nach sich ziehen. Es sollte nämlich ein Koncert zum Besten der Invaliden und bedürftigen Veteranen aus der Schlacht von Borodino, die für das napoleonische Heer trotz seines vermeintlichen Sieges so verhängnisvoll wurde, gegeben werden. Angesichts der Opferwilligkeit des Künstlers, die sich in Petersburg bereits glänzend erwiesen, – als die Nachricht von dem Brand Hamburgs verlautete, sandte er sogleich eine ganze Koncerteinnahme7 dahin – erschien nichts natürlicher, als seine Mitwirkung bei demselben gewinnen zu wollen, wobei man einfließen ließ, der Kaiser selbst habe diesen Wunsch geäußert. Er aber antwortete in seiner raschen Weise:

»Je dois à la France mon éducation et ma célébrité. Il m'est donc impossible de faire chorus avec ses vainqueurs.«

Den Kaiser verdroß diese Rede des kühnen Pianisten, aber er ignorirte sie; doch unter der Hand ließ er ihn wissen, »ihm gefielen weder seine langen Haare noch seine politischen Meinungen,« worauf Liszt stolz lächelnd entgegnete:

»J'ai fait croître mes cheveux à Paris et ne les couperai qu'à Paris – quant à mes opinions politiques je n'en ai ni n'en aurai tant que je ne pourrai mettre 300,000 bajonettes à leur service.«

Über des Künstlers Ungnade bei dem Czaren kursirten allerlei Gerüchte. Keines traf zu. Die Wahrheit ist, daß Liszt's Neider ihn bei dem Kaiser Nikolaus wegen seiner Sympathien für die Polen, die er zu jeder Zeit offen bekundete, zu verdächtigen suchten. Dazumal gelang es ihnen noch nicht. Sie konnten nichts politisch gravirendes gegen ihn aufbringen. Nie, daß er einer politischen Partei angehört hätte.8 Seine Theilnahme an dem Schicksal der Polen entsprang jenem ächt menschlichen Impuls, der die Freiheitsdichter und -Helden der umschwingenden Zeiten alle beseelt hat und dessen Bethätigung seinerseits darin bestand, daß er den Exilirten Koncerteinnahmen übersandte, jetzt den Polen wie 1835 den politischen Flüchtlingen Italiens, wie 1834 den durch den Aufstand Kalergis in Athen bedrängten Bayern.[186]

In gleicher Weise handelte er gegenüber politisch Unglücklichen anderer Nationen, ohne Rücksicht auf Politik und Nationalität. Er sympathisirte mit den Unterdrückten, wie er mit allem sympathisirte, was um Freiheit litt und stritt. Erst als er zum zweiten Male (1843) nach Rußland kam, gelang es seinen Feinden namentlich durch polizeiliche Berichte von Warschau aus, die in sehr übertriebener und falscher Weise seine Polensympathien darlegten, ihn um die Gunst des Czaren zu bringen. Diese Ungnade war jedoch weder mit einer Landesverweisung noch mit andern Behelligungen seiner Person – worüber viel gefabelt wurde – verbunden.9

Seine Aufnahme in Petersburg war ebenso begeistert als glanzvoll. Es reihte sich Fest an Fest. Nach seinen Koncerten pflegten die Damen der höchsten Gesellschaft ihn an der Treppe seines Hôtels mit Blumenguirlanden zu empfangen und, als er Rußland verließ, hatte der Adel ein Dampfboot mit Musikchören in Bereitschaft gesetzt, um ihn bis nach Kronstadt und weiter bis auf die Rhede des finnländischen Golfes, auf der er sich nach Travemünde einschiffte, zu geleiten.10

Vornehmlich verkehrte er im Palais des Grafen Michaïl Wielhorsky, eines der wärmsten und musikgelehrtesten Mäcenaten der Residenz, dem die russischen Komponisten und Musiker in den vierziger Jahren sammt und sonders alle viel zu verdanken hatten; sodann bei dem Polizeichef Graf v. Benkendorf, bei Graf Woronzow-Duschkow, Fürst Yousoupoff, der Fürstin Pielosulska und andern. Von dem Grafen Wielhorsky stammt das damals über Liszt und Henselt, der im ersten Glanz seines pianistischen Ruhmes in Petersburg stand, verbreitete kritische Wort: »Wenn man Henselt einmal hört, hat man ihn für allemal gehört – Liszt aber hört man nie, weil er stets ein anderer ist.« – Jenen Tagen entstammen die Beziehungen aufrichtigster Bewunderung zwischen den beiden großen Virtuosen, denen Liszt später durch die Widmung seines »Koncert-Solos« noch besonderen Ausdruck verlieh.[187]

W.v. Lenz erzählt,11 daß, als Liszt, begleitet von ihm und den beiden Grafen Wielhorsky, den großen Pianisten und Weber-Interpreten zum ersten Male besucht und dieser auf Liszt's Bitte dieEdur-Polacca von Weber in seiner (Henselt's) Lesart vorgetragen habe, in Liszt's Zügen der Ausdruck des Erstaunens zu lesen war. Dann aber sei ihm die Äußerung entfallen: »J'aurais pu me donner ces pattes de velours, si j'aurais voulu!«, was nicht ganz glaublich scheint, da diese Redeweise der Art Liszt's widerspricht. Er betonte sich nie; dagegen aber freute er sich, wo er ächtes Gold sah und stellte es in den Vordergrund. Anders ist es mit folgendem Ausspruch, der bei seinem zweiten Petersburgbesuch gegen v. Lenz fiel; nachdem dieser über Henselt bemerkt hatte: Henselt a fait des grands progrès, erwiderte ihm Liszt:

»Apprenez, qu'un artiste, comme Henselt, ne fait pas des progrès.«

Den Komponisten Henselt hielt Liszt ebenfalls hoch. Der Wohlklang, sowie die sinnige, vornehm gespannte Individualität seiner Kompositionen berührte ihn sympathisch. Henselt's Klavierkoncert pries er als ein unicum dieser Gattung. Wie sehr anderseits Henselt feinfühlig für jene Saite Liszt's war, in die seine eigene Natur hineinschwingen konnte, ist aus seiner »Interpretation« der Lucia-Fantasie12 ersichtlich. Wie sorgsam abgewägt, Liszt's kompositorischer Reifeperiode abgelauscht ist jeder von ihm hinzugefügte Ton! Als Henselt sein Manuskript beendet hatte, übersandte er es Liszt »zur Korrektur«, worauf dieser entgegnete:


»Hochverehrter Freund!


Die Originalwerke Adolph Henselt's sind edelste Kunstjuwelen. Man verlangt nach Vermehrung derselben ...

Nebenbei, wenn sich Henselt anläßt andere Kompositionen zu bearbeiten, ›interpretiren‹, ›effektuiren‹, gelingt es Ihm so vorzüglich, daß Publikum, Pianisten und die betreffenden Kompositionen damit bereichert und begünstigt werden. Selbst meine geringe Lucia-Transkription hat sehr gewonnen durch Deine ›Interpretirung‹, Verehrter Freund. Herzlichen Dank für diese Reminiscenz unserer Petersburger Vertraulichkeit.

Das Korrekturexemplar schickte ich Dir einfach zurück, unverändert und ungestrichen, weil alle Varianten vortrefflich passen; und überlasse[188] ferner Deinem Belieben über die Herausgabe zu bestimmen. (In Rußland gilt wohl das deutsche Eigenthumsrecht Hofmeister's nicht? ...)

Morgen gehe ich nach Paris und werde dort Deiner Empfehlung der russischen Instrumente Folge leisten.

Viele Deiner Verehrer erzählen mir oftmalen von Dir: zunächst Zschocher und Töpfer. Ab und zu kommst Du nach Dresden und Leipzig. Warum nicht bis Weimar? ... Beantworte persönlich hier diese bescheidene Anfrage bei Deinem alten,


verehrungsvoll ergebensten

F. Liszt

5ten Juni, 78 – Weimar.«


Und Henselt antwortete persönlich. Während zweier Julitage (19. und 20.) des folgenden Jahres war die Hofgärtnerei zu Weimar nur für einige besonders Bevorzugte offen und ihr Sommerbewohner schrieb an eine abwesende Freundin:13


»– – – – – hier et avant-hier, mon ancien et illustre ami Henselt me tient bonne compagnie. Nous avons joué ensemble, non pas de piano, mais bien demi douzaine de parties de Whist, dont j'ai heureusement perdu au moins cinque.«


Ein Erinnerungsblatt aus Liszt's erstem Petersburger Aufenthalt besitzen wir in einer kleinen Walzerskizze, die er in eines der vielen Albums der Kaiserin geschrieben hat und die durch irgend eine Indiskretion – doch ohne Widmung – bald darauf ohne sein Wissen in die Öffentlichkeit kolportirt wurde unter dem ihr vom Verleger gegebenen Titel:


Petite Valse favorite.14


Im Jahre 1852 trat diese Skizze, vom Komponisten bearbeitet, als:


Valse-Impromptu15


in den Koncertsaal, wohl das anmuthigste scherzando, das in Walzersprache musikalisch geredet ward.

Ebenfalls in diese Zeit fällt die erste Nummer seiner:


[189] Deux Mélodies Russes16

Arabesque pour le Piano.

No. 1. Le Rossignol.17 No. 2. Chanson bohémienne.


Beide Nummern sind werthvolle Bearbeitungen. Die erstere – Le Rossignol de A. Alabieff – ist ein überaus reizendes Stück, in welchem der Nachtigallenschlag, der Natur abgelauscht, seine Verewigung findet. Allerdings, wer ihn nicht von dem Meister selbst gehört hat, in dessen Fingerspitzen alle Poesie der Natur innerhalb und außerhalb des Menschenherzen hineingeheimnist war, wird sich kaum einen Begriff von den dreimaligen Ansätzen des Nachtigallenschlags der Einleitung, wie die Noten sie anzudeuten versuchen, machen können:


11. Ein großes Jahr. 1842.

Das »Böhmische Lied«, nicht ganz so abgerundet wie das erstere, birgt eine Fülle harmonischer Neuheiten, die, obwohl nicht immer abgeklärt, doch dem großen Wendepunkt der Harmonie angehören, der durch Liszt und seine Zeitgenossen noch inmitten seiner Vollziehung stand. –

Die musikalische Saison war bereits beendet, als der Virtuos wieder in Paris eintraf, wo er, wie das»Journal des Débats« erzählt, mit einem österreichischen Reisepaß ankam, dessen Signalement buchstäblich lautete: »Celebritate sua sat notus«. (Hinreichend durch seine Berühmtheit bekannt.) Von da wollte er nach London, um die Direktion der »deutschen Oper« zu übernehmen. Diese war das Projekt einer englischen Gesellschaft, die schon seit geraumer Zeit der Zusage Liszt's für die Direktion einer deutschen Oper auf englischem Boden sich versichert hatte.[190]

Als nun das Unternehmen zum Abschluß kommen sollte, scheiterte es, und die Choristen – meistens Deutsche vom Rhein –, die bereits bis Paris gereist waren, sahen sich zum großen Theil mittellos in fremdem Land, unvermögend ihre Rückreise anzutreten. Für diesen bedauernswerthen Theil der Operntruppe bildete sich ein Hülfskomitée. Unter der Anregung und Förderung der Damen Baronin Rothschild, G. Salvandi, G. Plaisance, G. Rasumowsky, B. Thorn-Jannecy, B. Stockhausen, Lady H. d'Orsay, B. Pierrer veranstaltete Liszt zu Gunsten jener Armen am 30. Juni eine musikalische Matinée im Salon des Amerikaners Obrist Thorn, der durch sein großes Vermögen und seine verwandtschaftlichen Beziehungen zur Gesellschaft des Faubourg St. Germain eine hervorragende Rolle spielte. Nach Mittheilungen des Komitées der deutschen Operngesellschaft war es hierauf möglich, jedem Mitglied circa Fr. 300 einzuhändigen, wodurch ihnen die Heimreise ermöglicht war.

Diese Matinée hat in Paris seitens der Presse die lebhaftesten Demonstrationen und Proteste hervorgerufen und verlangt zur Charakteristik des Künstlers, der unbeschreiblichen Kühnheit und Energie, mit der er Gewolltes durchsetzte, besondere Erwähnung. Trug ihr Programm auch kein politisches anti-französisches Element in sich, wie man ihm vindiciren wollte, so war es doch von einer Freisinnigkeit getragen, die in Paris durchzuführen seit 1870 zu den Unmöglichkeiten zählt. Liszt's Programm bestand aus seinen Klavierkompositionen und Übertragungen: Don Juan-Fantasie, Ave Maria und Erlkönig, Robert-Fantasie und aus seinen Chören: das kecke, herausfordernde Rheinweinlied von Herwegh und dessen Reiterlied, das die tolle verwegene Jagd Lützow's widerspiegelt. Diese Chöre sollten von deutschen Sängern ausgeführt werden. Schon mehrere Tage vor dem Koncert zeigte die Presse – über die Wahl der beiden letzteren nicht mit Unrecht gereizt – ihre Mißbilligung. Drohend eiferte sie gegen den »Fremdling«, der es wage »im Herzen Frankreichs, in Paris« angesichts der Elite der Gesellschaft solche anti-französische Weisen ertönen zu lassen. Einige Journale brachten eine französische Übersetzung des Gedichtes und wiesen entrüstet und scharf auf die den Franzosen so verhaßten Worte hin: »Der Rhein soll deutsch verbleiben.« Mit Gewalt sei solchem Thun zu wehren.

Dieses Vorspiel zu seiner Matinée vermochte den Künstler nicht[191] einzuschüchtern. Am bestimmten Tage schwang er an der Spitze seines Sängerchors den Taktstock und beide Chöre erklangen vor dem musikalisch und literarisch gebildetsten Auditorium der Seinestadt. Es herrschte eine Schwüle im Saale – allein das Unglaublichste sollte sich ereignen: die schwungvollen Rhythmen, der Strom der Harmonie, die Kraft der Accente waren so zwingend, daß die Franzosen, des Rheines und der Politik vergessend, sich bei den Klängen des ihnen widerstrebenden deutsch-patriotischen Gesanges in lauten Jubelsturm ergossen! Deutscherseits nannte man diesen künstlerischen Triumph einen der größten Liszt's. Und doch – gedenken wir des französischen Auditoriums, das dem Künstler die Ehre gab und über den nationalen Groll hinweg sich in das freie Gebiet der Musik erhob, so scheint hier ein nicht minder großer Triumph vorzuliegen. Allerdings gehört derselbe einer Zeit an, da l'Alsace jenseits des Rheins keine Beunruhigung veranlaßte.

Hatte der Künstler auch solcher Gestalt den Parisern seine musikalische Souveränität von neuem dokumentirt und war diesem Sieg auch mancher andere daselbst vorausgegangen, so blieb ihre Anerkennung doch auf der früheren Grenze stehen. Die Thalbergianer hatten sich an einigen Koncerten, die der österreichische Künstler während des Winters gegeben, von neuem gekräftigt. Sie negirten Liszt's Stellung, die ihm seine europäischen Triumphzüge als einer Geistesmacht geschaffen, und waren hartnäckiger als je. Ja, Louis Philippe, als wolle er den vom Faubourg St. Germain aufgestellten Gegenfürsten des großen Künstlers besonders auszeichnen, dekorirte Thalberg mit der Légion d'honneur.

Von Paris aus machte Liszt mehrere Ausflüge. Nach dem nahe gelegenen Neuilly, wohin der Maire dieser Stadt ihn eingeladen hatte, um durch ein Koncert dem Nothstand der Armen Abhülfe bringen zu helfen. Immer hilfbereit deckte er hier mit einer erheblichen Koncerteinnahme ein Deficit der Armenkasse. Wie in Deutschland, wob sich auch in Frankreich in den Herzen der unteren Klassen der Nimbus eines Volkswohlthäters um seine Person. Drüben in Frankreich dankten ihm namentlich die Fabrikarbeiter unzählige Wohlthaten. Bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit trat er für sie ein, und nicht nur für ihr Brod! So hatte er – um ein Beispiel zu geben – im Jahr 1844 in Toulouse eine seiner Koncerteinnahmen den Arbeitern bestimmt. Als er im Begriff war, abzureisen, erschien eine Deputation derselben, die im Namen[192] der Arbeiter ihm dankte. Einer der Blusenmänner äußerte hiebei: seine Musik hätten sie gerne gehört, aber ihr Einkommen ließe solchen Genuß nicht zu. »Ihr sollt mich hören – ich gebe Euch Bestes – braucht Euch auch Eurer Blusen nicht zu geniren!« entgegnete er ihm. Sogleich verschob er seine Abreise und sandte den Arbeitern 600 Freikarten zu einem Koncert für sie. –

Nach Lüttich und Brüssel reiste er in Folge einer Einladung beider Städte – dort zu dem Grétry-Festival, hier zu einem von Fétis geleiteten Festkoncert. In Lüttich wurde am 18. Juli das Denkmal des 1741 daselbst geborenen und in Paris 1813 gestorbenen Opernkomponisten André Ernest Modeste Grétry unter großen Feierlichkeiten enthüllt18 –, wie damalige Berichte aussprachen, das erste Musikermonument, das seitens einer Stadt in Verbindung mit einem Volksfest dem Gefeierten gesetzt worden ist. In dem am 20. Juli im Stadttheater gegebenen Hauptkoncert bildeten Liszt's Vorträge den Glanzpunkt. Er spielte mit seinem Freunde Massart das Andante con variazioni der Kreutzer-Sonate von Beethoven, den ersten Satz von dessen Es dur-Koncert, seine Don Juan-Fantasie und improvisirte noch über zwei ihm aufgegebene Themen (»Que le sultan Saladin« und »une fièvre brûlante«) aus »Richard Löwenherz« von Grétry. – Dem Brüsseler Festkoncert am 23. Juli verlieh er ebenfalls durch den Vortrag der Don Juan-Fantasie und seine Begleitung der Sologesänge erhöhten Glanz. In beiden Städten geizte er nicht mit Privatvorträgen. Ein Abend, an dem er bei seinem Musikverleger Schott in Brüssel die Norma-Fantasie spielte und viele Pariser Künstler, unter ihnen Mme. Camilla Pleyel, anwesend waren, veranlaßte die bereits erwähnte Edition und Widmung der Fantasie.19 In Lüttich wie in Brüssel wurden ihm die ehrendsten Auszeichnungen zu Theil. Unter Fackelschein und Serenaden ertönte Hoch! seinem Namen. Der König Leopold I. verlieh ihm durch seinen Festvertreter in ersterer Stadt den belgischen Leopoldorden.[193]

Hierauf begab er sich in Begleitung der Gräfin d'Agoult und der Kinder an den Rhein und nahm seine Villegiatur wieder auf der Insel Nonnenwerth. Er hatte in Paris bei seiner Mutter gewohnt, jetzt Rue Blanche. Und hier hatte er das Asyl gefunden, wo sein Gemüth momentan ausruhte von den Bitterkeiten, die seine Privatverhältnisse hervorriefen. Freundlich heitere Stimmungen, wie sie das von ihm komponirte Gedicht von Emil de Girardin


Il m'aimait tant20


ausdrückt, Stimmungen, von denen auch W.v. Lenz, der damals nach Liszt's erster russischen Reise fast täglich mit ihm in Paris verkehrte, erzählt, gehören mehr den das Genie umspielenden Grazien an als den Zuständen, die in der Seele Grund wühlen. Letzteren entsproß das in jenen Tagen komponirte Baritonlied, Gedicht von Heine:


Vergiftet sind meine Lieder –

Wie könnt' es anders sein?

Du hast mir ja Gift gegossen

Ins blühende Leben hinein.


Vergiftet sind meine Lieder –

Wie könnt' es anders sein?

Ich trage im Herzen viel Schlangen

Und Dich, Geliebte mein!


Scharf ausgeprägte Dissonanzen: die Schlangenbisse im Herzen; scharf ausgeprägte Rhythmik: der leidenschaftliche Schmerz – beide unmittelbarer Ausdruck individueller Erregung. So sehr aber Heine's Gedicht in diesem Moment seiner Stimmung entsprechen mochte, so klingt doch aus Liszt's Musik ein anderer Ton als namentlich aus der von dem Dichter ihm gegebenen Schlußwendung, deren zersetzende Ironie die eigenen Gefühle mit Hohn bedeckt. Bei Liszt streift der Schmerz den innern Adel nicht ab. Ohne ironische Selbstbeschauung ist er voll kräftig gesunden Zornes, dem am Schluß des Liedes – ein Hauch von Trauer sich beimischt:21


11. Ein großes Jahr. 1842.

[194] In Nonnenwerth beherrschten ihn andere Stimmungen und traten beruhigend zu den leidenschaftlich erregten in Paris. Er komponirte die schon erwähnten Männerchöre: »Über allen Gipfeln ist Ruh'«, »Gottes ist der Orient« u.a. – Besuche kamen und gingen, kurze Ausflüge wurden seinerseits unternommen, Ende September folgte er einer Einladung Fr. Wilhelm's IV. zu einer Soirée im Brühler Hoflager – so eilten die Sommermonate dahin.

Ein zweiter Besuch Weimars stand bevor, wie aus folgendem Brief Liszt's an den dortigen Hofmarschall Freiherrn v. Spiegel zu ersehen ist:


Monsieur le Baron.


Il est bien difficile de répondre à une lettre aussi gracieusement flatteuse que celle que Votre Excellence a bien voulu m'écrire.[195] Je tiens cependant à vous dire que je voudrais de tout cœur et de toutes façons pouvoir y répondre. – Vers la Mi-Octobre j'arriverai avec armes et bagages à Weimar, et si je parviens à communiquer à d'autres un peu de la satisfaction, que grâces aux hautes bontés de Leurs Altesses, et au bienvaillant empressement de Votre Excellence, je ne saurai manque d'y trouver, j'en serai vraiment heureux.

En attendant, veuillez bien agréer, Monsieur le Baron, l'expression de mes sentiments les plus respectueux et les plus dévoués.

F. Liszt.

12. Septembre 1842 Cologne.


Im Oktober, nachdem die Gräfin nach Frankreich zurückgekehrt war, reiste Liszt, begleitet von dem Sänger Rubini, mit dem er eine Kunstreise für die folgenden Monate längs des Rheins und nach den Niederlanden, dann nach dem Norden Deutschlands und abermals nach Rußland projektirt hatte, nach Weimar, wohin beide auf Veranlassung der kunstsinnigen Großherzogin Marie Paulowna zu großen musikalischen Festlichkeiten berufen waren, die zur Vermählungsfeier des Erbgroßherzogs Karl Alexander mit der Prinzessin Sophie der Niederlande stattfinden sollten.

Während dieser Tage faßte der Großherzog, den Wünschen seiner Gemahlin nachkommend, den Entschluß, den Künstler für den Hof zu gewinnen. Verschiedene Motive mögen hiebei zusammengewirkt haben; denn die Musikliebe als solche konnte kaum den Ausschlag geben. Marie Paulowna pflegte nach der Beschreibung von Personen, die sie noch persönlich kannten, die Musik in nur sehr dilettantischer Weise. Sie war ihr wenig mehr als ein Luxus, der, den Anschauungen einer früheren Zeit gemäß, zum nothwendigen Glanz der Höfe gehörte. Man hatte vor Jahren Hummel, der eine Berühmtheit war, nach Weimar berufen. Seine specifische Aufgabe bestand darin, an bestimmten Tagen und Stunden in den Appartements der Großfürstin zu erscheinen und eine Lektion zu ertheilen, dazwischen ein Hofkoncert zu arrangiren und da zu spielen. Hiefür erhielt er ein anständiges, aber nur für kleine bürgerliche Verhältnisse berechnetes Salair – und hiemit war der Musikpflege genug gethan. Nach Hummel's Tod strebte man nicht weiter, aber man erstrebte einen würdigen Ersatz. Mendelssohn's Ruhm tauchte auf. Auf ihn lenkten sich die Blicke Marie Paulowna's. Ihre dem[196] Künstler gemachten Propositionen, die für Hummel angemessen waren, konnten einem Mendelssohn nicht genügen, und so zerschlug sich diese Angelegenheit. Als aber Ruf und Bedeutung dieses Künstlers immer höher stieg, mochte, nachdem Franz Liszt an ihrem Hofe gespielt (1841) und sein Genie einen großen Eindruck auf sie gemacht hatte, bei der Großfürstin der Wunsch aufsteigen ihrem Hof einen neuen Glanz zu gewinnen, indem sie ein Genie von europäischer Berühmtheit an ihn fesselte.

Es begannen die Vorunterhandlungen.

Das hierher bezügliche Memorandum über die mit dem Künstler gepflogene Besprechung – es befindet sich auf dem Hofmarschallamt zu Weimar – besagt hierüber:


Liszt


vient passer chaque année trois mois ici, les mois de Septembre et d'Octobre ou d'Octobre et de Novembre et enfin le mois de Février.

I. Il désire avoir pour les Concerts qu'il arrangera le commandement de la chapelle, sans faire tort par cela à Monsieur Chelard, qui dirigera la chapelle dans toutes les autres occasions.

II. Monsieur Liszt veut rester pour sa vie Monsieur Liszt, sans accepter aucun titre.

III. Pour la partie financielle Mr. Liszt sera content de chaque somme qu'on jugera convenable de lui donner pour ses services pendant ces trois mois.


Écrit après ma conversation avec Mr. Liszt. – le 30. Oct. 42.


Le 31. Octobre 42.


Monsieur Liszt m'a déclaré aujourd'hui qu'il accepterait avec reconnaissance et plaisir le titre de Maître de Chapelle en services extraordinaires.


Somit waren die Vorunterhandlungen beendet und es ließ sich ein Modus schaffen, welcher ohne den Hof-Kapellmeister Chelard, Hummel's Nachfolger, in seinen Rechten zu schmälern, Franz Liszt dem Hof gewann. Nach Paragraph II des Memorandums zu schließen, hatte dieser anfangs – und jedenfalls aus Gründen der Feinfühligkeit für Chelard – einen Titel abgelehnt. Das aber war gegen den Sinn des Hofes. Der folgende Tag löste diese Frage durch die Bezeichnung »Großherzogl. Kapellmeister[197] im außerordentlichen Dienst«, mit welcher Liszt sich einverstanden erklärte.

Er verließ hierauf Weimar und die neuen Beziehungen wurden dekretirt. Die diesbezüglichen Akten lauten:


ACTA.


Die Ernennung des Klaviervirtuosen Dr. Franz Liszt zum Großherzogl. Kapellmeister im außerordentlichen Dienst betreffend.


Carl Friedrich von Gottes Gnaden

Großherzog zu Sachsen etc.


Wir haben die gnädigste Entschließung gefaßt, den dermalen hier anwesenden Klaviervirtuosen Dr. Franz Liszt zu Unserem Kapellmeister im außerordentlichen Dienste zu ernennen, dergestalt jedoch, daß hierdurch die Verhältnisse des Kapellmeisters Chelard unberührt bleiben und der Kapellmeister Liszt nur bei seiner Anwesenheit hier die Kapelle zu seinen Leistungen aufzufordern und zu benutzen hat.

Wir setzen unser Hofmarschallamt hiervon zu seiner Nachachtung in Kenntnis und sind demselben in Gnaden gewogen.

Weimar, 2. Novbr. 1842.

Carl Friedrich.

v. Fritsch, v. Gersdorff.


Wir Carl Friedrich etc.


urkunden hiermit. Nachdem Wir die gnädigste Entschließung gefaßt haben, den Virtuosen Dr. Franz Liszt in Anerkennung seiner Uns zu besondrem Wohlgefallen gereichenden Kunstleistungen zu Unserm Kapellmeister zu ernennen; als ist demselben zu seiner Beglaubigung Gegenwärtiges, von Uns höchst eigenhändig unterzeichnetes, mit Unserm Namenssiegel versehenes Dekret ausgefertigt und zugestellt worden.

(L.S.) Weimar, 2. November 1842.

Carl Friedrich.

E. W. Fr. v. Fritsch.


Dekret für den Großherzogl. Kapellmeister Dr. Frz. Liszt.


Hiemit war der Künstler einem Jugendtraum, wenn auch in sehr beschränkter Weise, näher gerückt. Sein Amt übte er zum ersten Mal zu Anfang 1844. Der Honorarpunkt ordnete sich so, daß nach dieser Bethätigung der Hof ihm 1000 Thaler mit der üblichen Frage übersandte, ob er mit dieser Summe einverstanden sei; worauf er entgegnete: »Vollkommen.« Und so verblieb es all die Jahre seines Lebens hindurch, auch in der Periode,[198] da er der dortigen Musikpflege seine Zeit und Kraft im ausgedehntesten Maße widmete, ja sie auf einen Höhepunkt stellte, auf dem der musikalische Ruf Weimars ein europäischer wurde – eine Glanzepoche in der Geschichte dieser Stadt.

Nach den Vermählungsfeierlichkeiten des Erb-Großherzogs in der ersten Hälfte des Oktober unternahm Liszt mit Rubini eine kleine Koncerttour durch thüringische Städte, Jena, Erfurt, Coburg u.a. In Jena, wo man zur Erinnerung der Vermählung Karl Alexander's eine Kleinkinder-Bewahranstalt zu stiften gedachte, überwies er seine ganze Einnahme diesem Zweck. Ebenso war es in Erfurt. Hier unterstützte er ähnliche Institute, auch wieder den Sänger Pantaleoni. In Coburg wurden beide Künstler vom Herzog mit dem ernestinischen Hausorden beehrt. Dann koncertirten sie am Rhein, traten in Frankfurt am Main, Köln, Aachen, Amsterdam, Haag, Leyden und andern Städten auf.

Mit Beginn des Jahres 1843 befanden sich beide in Berlin. Mit 1842 aber schloß sich für Liszt das glanzvollste und bedeutungsvollste Jahr seiner Virtuosenepoche: es hat ihm die europäische Anerkennung seines Genies und eine Stellung im allgemeinen, namentlich im deutschen Kulturleben gebracht, die seinen künstlerischen Einfluß allmählich zu einer geistigen Großmacht erhob. Zugleich fand dieses Jahr ihm die Stätte, auf der diese Großmacht sich entfalten sollte. Allein nicht nur für Liszt, auch musikgeschichtlich ward das Jahr 1842 bedeutungsreich, indem die große Umgestaltung der Tonkunst, die nach 1848 anfing ihre Parole mit Frakturschrift auszugeben, auf deutschem Boden ihre Vorarbeiten begann: Liszt gewann die dereinstige erste Pflegestätte für Wagner's Genius, das Asyl für seinen eigenen schaffenden Geist, – Richard Wagner ward Kapellmeister in Dresden und bereitete seinen »fliegenden Holländer«, der am 2. Januar 1843 seine erste Aufführung an der dortigen Hofbühne erleben sollte, zum Eintritt in die Welt vor – und Hector Berlioz hatte seinen ersten symphonischen Feldzug durch Deutschland beschlossen, womit seine Ideen ihre erste eingehende Diskussion auf deutschem Boden erfuhren: Vorarbeiten, die sämmtlich in Liszt ihren Vertreter und Vorkämpfer finden sollten.

Fußnoten

1 II. Band, S. 41.


2 IV. Jahrg. 1876, Nr. 12, S. 175. Herausgegeben von Oskar Schade zu Königsberg.


3 Im Besitz K. Lehrs'.


4 Le beau c'est la splendeur du vrai,L'art c'est le rayonnement de la pensée.


5 Vergl. I. Band dieses Werkes, S. 171.


6 Ein Zeuge jener Koncerte (der russische Musik-Theoretiker und Komponist Prof. Yourij v. Arnold) erinnerte sich noch als 75jähriger Greis mit Entzücken des »packenden« Eindruckes des »Erlkönigs«. Brieflich erzählte er der Verfasserin:

»– – – Ich sage ›packte‹; denn in der That kam ich mehr denn blos ergriffen nach Hause: mein ganzes Wesen war von diesem Musik-Orkan, wie ich solchen nie geahnt, selbst zerflossen. Kaum meines Pelzes entledigt, warf ich mich über's Kanapee hin und weinte lange, lange die bittersten, die süßesten Thränen!«


7 Diese Koncerteinnahmen waren sehr groß; die seines zweiten Casino-Koncerts z.B. soll nach deutschen Berichten 12–15,000 Thaler, nach französischen 55,000 Francs betragen haben. – Außer jener Sendung an die Hamburger überwies er große Summen für andere edle Zwecke, darunter auch eine für die »nothleidenden Deutschen« in Petersburg.


8 Vergl. I. Bd. d.W. XI. Kapitel.


9 G. Schilling spricht in seiner Biographie: Franz Liszt (A. Stepani, Stuttgart 1844) von »Konflikten, die zwischen den Kunstanschauungen des Petersburger Adels und denen des Künstlers« stattgefunden hätten, was auf einem Irrthum beruht; auch das Jahr seines Besuchs in Petersburg ist daselbst irrig auf 1840 verlegt.


10 Vergl.: W.v. Lenz »Die großen Pianoforte-Virtuosen«.


11 »Die großen Pianoforte-Virtuosen unserer Zeit« S. 104.


12 Leipzig, Friedr. Hofmeister.


13 An die Stiftsdame Fräul. Adelhaid v. Schorn aus Weimar.


14 Edirt 1843: J. Schuberth & Co. in Hamburg.


15 Edirt 1852: J. Schuberth & Co. in Hamburg u. Leipzig.


16 Edirt Nr. 1 1842: A. Cranz in Hamburg. Nr. 2 (?) A. Cranz in Hamburg.


17 Eine zweite Ausgabe »revue par l'auteur« gehört dem Jahr 1853 an. Die russische Ausgabe differirt von dieser. Eine Bearbeitung des Liszt'schen »Rossignol« nach derselben für den Koncertgebrauch hat Ad. Henselt herausgegeben. (St. Petersburg, bei M. Bernard.)


18 Heftige Streitigkeiten waren diesem Denkmal vorausgegangen. Grétry hatte seiner Vaterstadt Lüttich testamentarisch sein Herz vermacht. Die Verwandten und Erben des Komponisten protestirten und so entspann sich ein kostspieliger Prozeß zwischen beiden Parteien. Die Stadt siegte und das Herz wurde in einem kleinen Gewölbe des Sockels im Denkmal eingeschlossen. – Eine erste Gesammtausgabe der Werke A.E.M. Grétry's erschien im Auftrag der belgischen Regierung bei der Firma Breitkopf & Härtel in Leipzig 1883.


19 Kap. IX, S. 143.


20 Edirt Januar 1843: Schott's Söhne in Mainz. Desgl. die Klavierübertragung.


21 Erste Ausgabe: 1843 (»Sechs Lieder für eine Singstimme« Nr. 3). Zweite Ausgabe: 1862 (Gesammelte Lieder. III. Heft).

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1887.
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