XX.

1846/47.

Kompositionen.

(Koncert-Reisen 1840–1847.)

Petrarca-Sonetten. Ihre Aufnahme seitens der Zeitgenossen. Leipziger fortschrittliche Kritiker. Ave Maria und Pater noster. Gebetsstimmung. Übertragungen. Tarantelle (nach Auber). Capriccio alla turca. Kritik.


Während seiner Streifereien durch Ungarn und seines Wiener Aufenthaltes 1846 cirkulirten inzwischen in Deutschland die verschiedenartigsten Gerüchte. Theils wußte man ihn mit einer Oper beschäftigt1, theils wähnte man ihn bereits auf dem Weg nach Konstantinopel. Und wieder Andere behaupteten: einer ernsten Herzensangelegenheit unterlegen sei er im Begriff, sich mit einer schönen Ungarin zu vermählen. Auch mit der durch Donizetti's Erkrankung2 frei gewordenen Hof-Kapellmeisterstelle in Paris brachte man ihn in Beziehung. Obwohl eine Stellung, bei der sich eine breite und zugleich Reformbestrebungen im großen Styl ermöglichende Thätigkeit entfalten ließ, seinen Wünschen entsprochen haben würde, so wußte er zu wohl, daß, würde er sich melden, doch eine zu stark verzweigte Gegenströmung seiner Ernennung im Wege stehen und er nur die Lachlust seiner Gegner herausfordern würde. So gehörte er positiv nicht zu den Bewerbern, obgleich damals das Gegentheil behauptet wurde.

Unter diesen Gerüchten tauchte auch die Notiz auf: er komponire Sonetten von Petrarca, was auch der Fall war. Die alten Musiker in Deutschland lachten über diese Nachricht. »Da kommt sehr Altes mit sehr Neuem zusammen« spottete brieflich [279] Moritz Hauptmann, welcher ebenfalls Petrarca'sche Sonetten für seine Braut in Kassel komponirte, gegen seinen Freund Fr. Hauser in München3. Und er hatte Recht, wenn auch in anderem als seinem Sinn. Altes und Neues einte sich hier nicht in widerspruchsvoller Weise, vielmehr im Sinne eines einheitsvollen Ganzen. Daß Petrarca fünfhundert Jahre früher gelebt, als Liszt, kann sich nicht auf »alt und neu« beziehen: denn jener lyrische Hauch der Empfindung und jene nicht nur durchgeistigten, sondern ganz besonders vergeistigten Farbentöne, wie sie über den Sonetten dieses Dichters schweben, waren der im Vergleich mit der Dichtkunst viel jüngeren Tonkunst selbst noch im vorigen Jahrhundert unmöglich zu erreichen. Empfindungen, dem Äther gleich in Tönen auszuhauchen war der Musik erst nach Ausgestaltung der Enharmonik4 vorbehalten. Und diese, wesentlich von Liszt entwickelt5, gehört unserm Jahrhundert an.

Die Petrarca-Sonetten komponirte Liszt auf Grund seiner italienischen Skizzen6. Unter dem Titel:


Tre Sonette di Petrarca per la voce7

con Accompagnimento di Pianoforte


erschienen sie mit italienischem Text8 – zugleich in einer Ausgabe per il Clavicembalo – noch im Sommer 1846, jede von eigenartigster, charakteristischer Schönheit, alle drei von großem künstlerischem Werth, ein unicum musikalischer Sonetten-Dichtung. Sie verschmelzen sich nicht allein mit dem dichterischen[280] Inhalt: sie wahren auch die italienische Färbung. Während zwei derselben – »Benedetto sia'l giorno« und »Jo vidi in terra angelici costumi« – getränkt sind von jenem Hauch und Zauber überirdischer Stimmungslaute, der sich über die meisten Sonette des italienischen Dichters breitet, wurzelt die dritte – »Pace non trovo« – in dem zweispaltigen, zwischen Himmel und Erde schwebenden Unnennbaren, das Seligkeit und Unseligkeit in schneidender Schärfe nebeneinander hält. Letztere dürfte darum, neben die andern gehalten, welche lyrischen Seufzern voll Duft und Poesie gleichen, von der dunkeln und leidenschafterregten Seite seines Stimmungslebens erzählen. – Eine der Sonetten trug er zum ersten Mal in seinem III. Koncert in Wien 1846 öffentlich vor.

Bezüglich des Verhaltens der Kritik gegen diese musikalisch vorher noch nicht zum Ausdruck gekommenen Stimmungen, ist die Fühlung bemerkenswerth, welche die »Neue Zeitschrift für Musik« ohngefähr von diesem Zeitpunkt an mit den Kompositionen Franz Liszt's zu gewinnen suchte, wenn auch nicht immer fand. Unter ihren Mitarbeitern, die über die Zunftgrenzen hinaus dem Neuen einen offenen Sinn entgegenbrachten, sind der Liederkomponist Emanuel Klitzsch, sowie der musikalisch nach verschiedenen Seiten hin verdienstvolle Alfred Dörffel zu nennen, wobei zu erwähnen bleibt, daß es sich in diesem Jahrzehnt bei Besprechung der kompositorischen Arbeiten Liszt's seitens der Zeitschrift noch nicht um ein vertretenes Prinzip und eine dem Fortschritt durchzutragende Polemik handeln konnte, aber im Hinblick auf Späteres um den Charakter eines Fachorgans, das vor allen andern erlesen war, die große neueste Epoche der Tonkunst in ihren Ideen und Idealen zu erkämpfen, und das diese zeitgeschichtliche Berufung, die sich in dem Namen Franz Brendel zusammenfaßte, gewissermaßen damals einleitete.

Es konnte sich allerdings neben vorurtheilsfreien Besprechungen der »N.Z.f.M.« ereignen, daß sie ein vollständiges, um nicht zu sagen: fanatisches Fehlgehen im Urtheil laut werden ließ, wie angesichts zweier Kompositionen des Künstlers, die ebenfalls dem Jahre 1846 angehören und in ausgeprägter Schrift den dereinstigen Kirchenfürsten der Tonkunst verkündeten. Die eine für zwei Soprane, Tenor und Baß:


[281] Ave Maria9

quattuor vocum concinente organo,


die andere für vier Männerstimmen:


Pater noster10

quattuor vocum ad aequales concinente organo,


enthalten sie beide in dem Charakter einer unmittelbaren tiefsten Andacht und inbrünstigen Flehens im Gebet zwei Momente religiöser Stimmung, die in Liszt's Wiedergabe von doxologischen und Gebettexten zu Grundzügen geworden sind – und sich ebensowohl zur tiefsten Zerknirschung, wie zur gluthvollen Bitte als auch zu freiester Erhebung über beide hinwenden. Wie sehr die religiöse Devotion in seiner Individualität lag, wird durch nichts mehr illustrirt als durch seine weltvergessende Theilnahme bei gottesdienstlicher Feier. So erzählt ein Augenzeuge11 aus dem Jahre 1846, daß, wenn er an Kapellen oder Kirchen vorbeikam, er häufig eintrat und selbst bei Regenwetter des schmutzigen Bodens nicht achtend, sich auf die Knie warf, um inbrünstig zu beten.

Das Pater-noster-Motiv:


20. Kompositionen. 1846-47.

ward zum Typus desselben Gebetes in seinem Oratorium »Christus.« – Seine erste Aufführung fand obiges »Vater unser« in Kiew, im Februar 1847.

Die Gluth der Empfindung, mit welcher Liszt die beiden Texte erfaßt hatte und in individueller Unmittelbarkeit tonlich umsetzte, lag sowohl außerhalb objektiver und kirchenmusikalischer Tradition, als auch außerhalb germanischer Gefühlsgewohnheit.[282]

So konnte ein Kritiker obengenannter Musikzeitung angesichts des Ave Maria seinen Spruch also formuliren:


»Nur der Ungläubige, nur der Strafe fürchtende Sünder bittet so zur Mutter um Gnade.«12


Die vorliegende Zeit seiner Virtuosenperiode – die Jahre 1846 und 1847 – brachten noch mehrere Kompositionen Liszt's, die theils dem Koncertsaal angehörten und die Bravour im höchsten Sinn, technisch und geistig, vertraten, theils Übertragungen für Klavier, auf Anregung und im Auftrag seiner Verlegerfreunde entstanden. Zu letzteren zählen außer den schon früher genannten Übertragungen Schubert'scher Lieder und Märsche13 für Diabelli: »Müllerlieder«, »Märsche Nr. 1–3« für zwei Hände; für Schlesinger: »Six Poësies de Schubert, traduit«14 etc. in seinen Wiener Koncerten 1846 gespielt, und die ebenfalls für Schlesinger dem Klavier übergebenen Partituren der:


Freischütz- und Jubel-Ouvertüre Weber's15,

Klavier-Partitur;


die aus Weber-Körner's »Schwertlied« und »Lützow's wilde Jagd« gewobene:


Héroïde pour Piano

Leyer und Schwert16,


ein noch wenig gekanntes Heldengedicht; ferner ein durch Doppelgriffe excellirendes Bravourstück:


La célèbre Zigeuner-Polka de Conradi17,


drei Liedübertragungen:


Dessauer's Lieder Nr. 1–318,[283]


die durch Liszt's Transskription vielleicht der Vergessenheit entrissen werden, und endlich das für Schott's Söhne in Mainz in ein Klavierstück umgeformte:


Verdi's Salve Marie de Jerusalem19,

Mme. Marie Kalergé gewidmet.


Der Koncert-Bravourstücke waren es zwei. Die Mme. Camille Pleyel gewidmete:


Tarantelle di Bravura20,

(Nach Auber's Tarantelle in der »Stummen«),


ein Glanzstück von blitzender Genialität und südlichem Kolorit, dem die in Spanien in lebendigster Anschauung erlebten Tarantellen-Tänze die Farben geliehen hatten und das von ihm in seinem X. Koncert zu Wien 1846 vorgetragen wurde; das zweite Koncertstück:


Capriccio alla turca21

sur des motifs des Ruines d'Athènes de Beethoven,


von ihm für die Konstantinopolitaner Reise bestimmt, schließt sich an Originalität, wenn auch in anderer Weise, jenem an. Muslemische Farben möchten wir ihm vindiciren. Das behandelte Thema ist dasselbe, welches die Grundlage zu Beethoven's Variationen bildet. Es empfiehlt sich, diese beiden Werke der beiden großen Meister vergleichend neben einander zu stellen. A. Dörffel urtheilte 184722 über das von Liszt: »Das Capriccio würde selbst dem Meister, dessen Thema Liszt genommen, Beifall abgewinnen; es waltet in ihm ein Humor, eine Frische des Geistes, eine liebenswürdige Keckheit« etc. Heute läßt sich sagen: der Jüngere hat seinen Vorgänger übertroffen. – Liszt unterzog sein Capriccio während seiner Weimarepoche einer neuen Bearbeitung für Klavier und Orchester23, wodurch es sich der Gattung der Klavier-Koncerte nähert.

Fußnoten

1 Kapitel XII.


2 Donizetti erlag bald hierauf (1847) einer Gehirnerweichung.


3 Briefe von M. Hauptmann an Fr. Hauser. Herausgegeben von Prof. Schöne. I. Bd., S. 49.


4 Siehe I. Bd., S. 206 u. f (Ordre omnitonique).


5 Diese neuen harmonischen Kombinationen veranlaßten einen Referenten der Sonetten zu der Bemerkung: sie enthielten »Klangwirkungen, die für den Theoretiker nicht geschrieben, die noch nie in einer Harmonielehre aufgestellt worden sind.« (»Neue Z.f.M.« 1846.)


6 I. Bd., S. 538.


7 1846/47: Haslinger in Wien.


8 Mit deutschem Text, die Sonetten in Rom 1880(?) revidirt, erschienen sie 1882 bei Schott's Söhne in Mainz. – Eine vorzügliche Harfen-Übertragung derselben, von dem Harfenvirtuosen W. Posse, von diesem in Gegenwart und unter rückhaltslosem Beifall des Meisters zur Tonkünstler-Ver sammlung in Weimar 1884 vorgetragen, dürfte besonderer Beachtung werth sein.


9 Edirt 1846: Haslinger in Wien.


10 Edirt 1846: Haslinger in Wien.

Beide Kompos. gingen an die Firma Breitkopf & Härtel, Leipzig, über.


11 Siehe I.N. Dunkl »Aus den Erinnerungen eines Musikers«.


12 »N.Z.f.M.« 1847, XXVII. Bd., S. 4.


13 I. Bd., XXVI. Kapitel.


14 Diese sechs Liederübertragungen sind die einzigen derartigen Arbeiten Liszt's, welche bestätigen, das auch das Genie Momente der Ermüdung kennt. Überladen im Klang, hin und wieder fast Unausführbares bietend, bestätigen sie eine Äußerung Liszt's gegen die Verfasserin, welche dahin lautete: »Die Verleger drängten: Lieder von Schubert! ich wußte nicht mehr, wie zu befriedigen.« –


15 Edirt 1846: Freischütz-Ouvertüre; 1854: Jubel-Ouvertüre. Schlesinger, Berlin.


16 Edirt 1848: Schlesinger, Berlin.


17 Edirt 1849: Schlesinger, Berlin.


18 Edirt 1847: Schlesinger, Berlin.


19 Edirt 1848: Schott's Söhne, Mainz.


20 Edirt 1847: Diabelli, Wien.


21 Edirt 1847: Mechetti in Wien.


22 »N.Z.f.M.« 1847, XXVII. Bd., S. 25.


23 Edirt 1863 (?): C.F. Siegel in Leipzig.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1887.
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