II.

Woronince.

[16] Liszt am Eingang seiner neuen Lebens- und großen Schaffensperiode. Kompositionspläne und Kompositionen –: die Beziehung der Musik zum Dante-Epos; L.'s ideeller Entwurf zu seiner Dante-Symphonie. Das Diorama – seine Verbindung mit der Musik. Verwandte Ideen Wagner's. Entwurf der Berg-Symphonie. – Klavier-Kompositionen: Invocation; Bénédiction de Dieu dans la Solitude; Cantique d'Amour; Glanes (Woronince).


In Woronince entfaltete sich ein Leben, reich und voll an geistigem Austausch und künstlerischem Aufschwung. Die Fürstin folgte dem hohen Ideenflug des Künstlers, und lockte ihn mitfliegend in noch höhere Weiten. Ihre Gespräche blieben nicht im Rahmen geistvoller und blitzender Unterhaltung. Es trieb Beide sie vorzuführen zu fertigen Ideen und Principien bis dahin, wo der Gedankentausch genetisch sich zum Resultate rundet, wobei – charakteristisch genug – ihnen derselbe zur gemeinschaftlichen geistigen und literarischen Arbeit ward, die später ihre Fortsetzung fand und bleibende Früchte trug. Die Fürstin sammelte das so Gewonnene und trug es meist in kurz formulirten Sätzen, auch gefaßt zu poetischem Bilde, in ein eigens hiezu von ihr bestimmtes. Buch ein,15 von wo aus manches in Liszt's schriftstellerische Arbeiten der Weimarperiode übergegangen ist.16

Die Fürstin verstand es, den Mißmuth zu besiegen, der sich Liszt's bemächtigt hatte, verstand es, seinen gesunkenen Glauben an sich selbst wieder emporzuheben, und seine Phantasie zu großen[16] Entwürfen zu entflammen. Ihre, wenn auch oft phantastischen aber immer idealgetränkten Gedanken über die Instrumentalmusik wirkten wesentlich hierbei mit; insbesondere da, wo sie wie eine religiöse Naturgewalt den Punkt im Wesen Liszt's trafen, der, zurückgehaltene Glut, nur wahlverwandter Berührung bedurfte, um sich zum Kunstwerk zu entzünden. Diesen Punkt bot die Lektüre, deren übersinnliche Mysterien Beide mit geheimnisvoller Macht gepackt hielt: Dante's hohe Dichtung von der göttlichen Komödie.

Hier tritt der Moment ein, welcher die Woronince-Episode zu einer der bedeutsamsten in der Lebensgeschichte des großen Künstlers erhebt, indem sie speciell seine symphonische Schaffensperiode einleitet und an ihren Eingang Entwürfe stellt, die ihre Eigenart vorausspiegeln, sie aber auch, nebst einigen Klavierstücken, nach künstlerischer sowie nach menschlicher Seite dermaßen charakterisiren, daß sie, obwohl ihre musikalische Durchführung erst in Weimar erfolgte, doch schon jetzt in ihrer ideellen Vorarbeit zu berühren sind.

Dante's »Göttliche Komödie« war ein Stoff, der des Künstlers individuelles Wesen in Verbindung mit seiner specifischen Kunstrichtung seit Jahren in Athem gehalten hatte. Länger als ein Jahrzehnt war das Epos sein steter Begleiter,17 ohne daß er, gehindert von seiner Virtuosenbestimmung und unter ihrem Druck, die Grundgedanken desselben so, wie sie in ihm lebten, zur Umsetzung in Musik hätte bringen können. Jetzt sollte ihm eine theilweise Befreiung, auch die innere Erhebung über jenen Druck, in der Planentfaltung seiner Dante-Symphonie erwachsen. In der »Göttlichen Komödie« fluthete seiner Kunstanschauung ein dichterischer Stoff zu, der ihr entgegen kam, ja mit ihr zusammenfloß. Sie hatte sich jener Richtung zugewendet, die von H. Berlioz zum Princip erhoben, die Vereinigung der Instrumental-Musik mit der Poesie erstrebt.18 Liszt's bisherige Kompositionsthätigkeit drängte in allen ihren Hauptzügen zur Programm-Musik hin, wie es die Klavierstücke des I. Bandes seiner »Années de Pélerinage« (Suisse),19 seine[17] Lied-Übertragungen,20 und endlich seine Phantasien über Opernmelodien21 hinreichend dokumentiren: die ersteren durch Überschriften, die zweiten durch ein Entkörpern des Wortes, ohne es aufzulösen oder in der Vorstellung aufzuheben, und die dritten desgleichen die Melodie vorführen bis zur dramatischen Scene. Bei sämmtlichen Gattungen waltet das stimmungsreiche Bild, das poetische Wort und die bildgesättigte poetische Stimmung als zeugender Faktor vor.

Jetzt bestimmte derselbe Faktor die formellen Grundzüge der Dante-Symphonie, wobei noch zwei Dinge auf Liszt's Phantasie derartig einwirkten, daß sie mitbestimmend für sie wurden. Einerseits waren es die von Genelli soeben vollendeten Zeichnungen zur »Göttlichen Komödie«, und anderseits war es das von Gropius in Berlin kurz vordem zur künstlerischen Höhe vervollkommnete Diorama, welches Liszt, wie die Fürstin, noch ehe sie einander begegneten, gesehen, solchermaßen beeindruckt hatte, daß der Gedanke bei ihr, wie bei ihm, auftauchte: in der Verbindung des Diorama mit Musik müsse der letzteren eine noch ungeahnte Wirkung erstehen.

Die Malerei war überhaupt bei einer Stoffumsetzung der »Commedia« der Musik vorausgeeilt. Hervorragendste ihrer Repräsentanten hatten Scenen und Ideen aus ihr zu Motiven benutzt und in Einzelbildern und Bildcyklen veranschaulicht. Die Instrumentalmusik dagegen hatte sich ihrer noch nicht bemächtigt. Ihr mußte Dante's Dichtung ein Problem bleiben, das auch nur theilweise zu lösen erst dann möglich ward, als die symphonische Darstellungskunst – die Tonmalerei – jene Höhe der charakteristischen Ausdrucksfähigkeit erreicht hatte, die sie als Mitberufene in die Reihe der Kunstgattungen stellen konnte, welche die Befruchtung ihrer Phantasie dem Gedanken, der poetischen, der philosophischen Idee zu danken haben. Doch mit dem Blick des Genies erkannte Liszt, daß, um musikalisch sich dieses Stoffes zu bemächtigen, die Tonmalerei als solche nicht ausreiche, daß ein Theil seines Gedankengehaltes für alle Zeiten dem sprachlichen Gebiet ausschließlich verbleiben werde und keine der andern Künste, weder die Malerei noch die Musik, dem Gange des Dichters in allen[18] Einzelheiten zu folgen die Mission in sich trage. Ebenso deutlich empfand er, daß dieselben trotzdem berechtigt seien ihren Theil an der großen Verdammungs- und Erlösungstragödie der christlichen Menschheit, die von dem Wege der letzten Scholle bis zur Ewigkeit sich abspielt, in Anspruch zu nehmen; ja, daß gerade ihnen die Aufgabe zufalle, den Dichter zu ergänzen, zu bekräftigen und das von ihm Gewollte bei solchen Momenten voll und ganz zum Ausdruck zu bringen, wo er gewissermaßen das Gebiet der Malerei und der Musik selbst berührt und in beide hineingegriffen hat – in jenes durch Schilderung von Scenen und Bildern, in dieses durch Ausdrücken von Gefühlen und Leidenschaften –, ohne diese Momente voll und ganz je nach ihrem Wesen und Gehalt durch ein außerhalb seiner dichterischen Aufgabe liegendes Verweilen zur Erscheinung zu rufen.

Nicht als Beschauer, wie der Maler, nicht als Philosoph, wie der Dichter, sondern als Musiker, dessen besondere Aufgabe darin besteht die Leiden und Qualen der Seele zu durchwandern, um nach anderer Seite in ihre Licht- und Sonnenfluthen sich zu tauchen, erfaßte Liszt die »Göttliche Komödie«. Nicht in Einzelmomenten, aber in ihrer Idee, speciell in ihrer religiösen Idee. Sie – die letztere – ist der Ausgangs- und Endpunkt der Dichtung; ihr innerster Schauplatz die Seele: die Seele, die im Gefühlsleben nach dem Höchsten trachtet. Inferno – Purgatorium – Magnificat sind Gefühlsakte und Gefühlsprocesse, deren höhere Führung der Gedanke übernommen, die aber in ihrer Unmittelbarkeit darzustellen oder darzulegen vorzugsweise der Musik als dem Kunstorgan des Gefühls, vorbehalten bleibt.

In diesen Grundzügen, welche dem seelischen Proceß der dichterischen Idee Dante's folgen, erstrebte der Komponist ihre symphonische Verkörperung, wobei die »Hölle«, wie das »Fegefeuer«, jene mit der Qual, dem Verzweiflungsschrei und der Trostlosigkeit der Verdammnis, dieses mit der Ahnung, Hoffnung, Sehnsucht und endlich der Gewißheit der Seligkeit, den von der Kunst geforderten Kontrast, als auch den psychologischen Aufbau der Idee, bildet. Nach dieser gestaltete sich die Symphonie als eine dreisätzige, wobei der dritte Theil (das Magnificat) aus einem Schlußchor besteht. Allein die Gefühle des Inferno oder die Gefühle des Purgatorio würden, so wie die Phantasie sie uns vorspiegelt und mittels der realen menschlichen Gefühle erfaßt, musikalisch zum[19] Ausdruck gebracht, doch immer, selbst dann, wenn sie in der stärksten Potenz der Charakteristik wiedergegeben wären, ausschließlich zum menschlichen Gefühl als solchen sprechen und den Zusammenhang mit der Dichtung selbst nicht bloslegen können, ohne eine Andeutung mittels des Wortes. Und selbst das Wort, sei es als Überschrift der Sätze, wie schon bei Beethoven, sei es als Programm, wie bei Berlioz, schien dem Komponisten nicht auszureichen, um jene engste und innigste Verschmelzung der Dichtung mit der Musik, wie seine Phantasie sie ihm vorführte, zur Erscheinung zu bringen.

Bei Liszt's erstem Entwurf seiner Dante-Symphonie schwebte ihm eine Art Vereinigung aller Künste zu Gunsten der Symphonie vor, wie sie ungefähr zur selben Zeit in Richard Wagner zu Gunsten der Oper lebendig ward. Während jedoch Wagner's Idee ihre vollständige praktische Entwickelung erfuhr, wartet Liszt's Gedanke bezüglich der Dante-Symphonie noch heute seiner ersten praktischen Lösung.

Diese Vereinigung der Künste gedachte Liszt der Symphonie durch Hinzuziehung der Malerei und des gesungenen Wortes zu erreichen. Die Malerei sollte in Bildern dioramaartig die Symphonie begleiten, und der Gesang – ein Chor am Schluß des Werkes – die Krönung der Leiden in der errungenen Seligkeit in dem mystischen Magnificat verkünden. Die Bilder sollten im engsten Anschluß an die Dichtung gleichzeitig mit der Symphonie den Inferno und dasPurgatorium mit seinem immer höher steigenden, reiner und verklärter werdenden Zug der Seelen nach den himmlischen Sphären bis zu dem mystischen Abglanz der Wonnen in Gott darstellen, so daß diese überweltlichen Theile der Dichtung des großen Poeten nicht ausschließlich und allein mittels der geistigen Vorstellung von dieser aufgenommen werden sollten, sondern wie eine Wirklichkeit durch Ohr und Auge in sie hineindringen. Zur Ausführung der Bilder war beabsichtigt den hochbedeutenden, Dante inspirirten Genelli zu gewinnen.

Eine große Idee, die aufzugeben Liszt nur durch Verhältnisse gezwungen wurde. Die Dante-Sympho nie war im Auftrag der Fürstin entworfen. Liszt sollte, nachdem der ideelle Entwurf festgesetzt war, die Symphonie schaffen, alles übrige zu besorgen übernahm die fürstliche Frau, die ein nicht unbeträchtliches Kapital zur[20] Durchführung des Ganzen bestimmte.22 Allein mit der Wendung ihres Geschickes, die sie von einer der reichsten Frauen zu einer nahezu mittellosen machte, mußte die Lebendigmachung jener Idee aus Mangel an den nöthigen Geldmitteln fallen.

Die erste musikalische Skizze Liszt's fällt in die Zeit seines Aufenthalts in Woronince. Nach einigen Jahren arbeitete er sie in Weimar aus und vollendete hier die Symphonie, unterzog sie jedoch bis 1856 mehreren Umarbeitungen. Inwieweit das fertige Werk (Partitur-Ausgabe 1858) sich von dem ersten Entwurf entfernt hat oder ihn festhält, wird sich erst durch einen Vergleich der Manuskripte feststellen lassen, von denen noch unbekannt ist, in wessen Händen sie sich befinden. – Als die Unmöglichkeit, die Symphonie ihrem ursprünglichen Plane gemäß zur Aufführung zu bringen, Gewißheit geworden war und sie in die Öffentlichkeit treten sollte, übergab die Fürstin in der ihr eigenen und dem Stoff angemessenen schwungvollen Sprache ihre Grundidee, nebst Angabe derjenigen Gesänge und Stellen der Dichtung, denen der Komponist sich angeschlossen, dem damals in Weimar lebenden Schriftsteller und Mitstreiter für die Wagner-Liszt-Richtung, Richard Pohl, zu dem Programm, das der Partitur vorgedruckt ist. Mit dem ursprünglichen Plan aber hielt sie zurück, »um seinem Urheber« – wie sie der Verfasserin dieses Buches äußerte – »das Erstlingsrecht auf diesen Gedanken, der einen neuen musikalischen Kunstzweig nothwendig zur Folge haben müsse, nicht durch ein Bekanntgeben desselben weder zu rauben, noch zu schmälern.« Auch Liszt bewahrte Schweigen. Nur einmal brach er es gegen Richard Wagner,23 als dieser 1849 kurze Rast in Weimar fand. Sei es, daß Liszt's Gedanke in ihm haften geblieben, sei es, daß er aus Kunstnothwendigkeit ihn neu aus sich erzeugte: wir begegnen ihm bei R. Wagner, aber seiner Aufgabe dienstbar gemacht, auf dem Gebiet des musikalischen Dramas da und dort in den »Nibelungen«, am vollendetsten jedoch im »Parsifal«. Als Symphonie indeß harrt er noch seiner Durchführung. Doch steht zu hoffen, daß, wenn auch verspätet, Liszt's »Dante-Symphonie« doch noch von der Zukunft in der von ihm gedachten Gestalt eine Aufführung finden wird, wobei allerdings vorauszusetzen bleibt, daß ein dem[21] Symphoniker geistverwandter Maler sich desselben Stoffes bemächtige und sich seiner Symphonie anschließe.

Was aber den Gedanken selbst betrifft, so will es scheinen, als liege er gleichsam vorgezeichnet von der Idee, welche als ein mächtigster Impuls, ja als Princip das neunzehnte Jahrhundert bewegt und die »Internationalität« zu ihrem Inbegriff hat. Denn die Übertragung dieses Begriffes auf das Kunstgebiet, dürfte sich in der »Idee der Einheit und Verschmelzung der Künste« decken, die im Verlaufe unseres Jahrhunderts auf dem Felde der Kunstphilosophie und des Kunstschaffens von eingreifendster Bedeutung geworden ist. Jede der Künste hat dieses Streben in kleineren und größeren Zügen nach verschiedener Seite hin bethätigt – die Malerei, die Dichtkunst, die Musik: die symphonische Musik im Bunde mit der Malerei und der Poesie zum ersten Male in dem Lisztschen Entwurf zur Dante-Symphonie. Ob derartige Versuche Einzelerscheinungen bleiben, ob sie von Tragweite zu künstlerischen Durchgangspunkten werden, ob sie neue Zweige am Kunstbaum schaffen –: das zu entscheiden muß der Zukunft vorbehalten bleiben. Es genügt oftmals im Leben des Einzelnen neue Gegenden, neue Wege den Kunstgenossen angedeutet oder auch gezeigt zu haben. Gelingt auch deren Urbarmachung nicht in der Ahnung oder in dem Sinne des Finders, so wird doch immer der Gewinn bleiben, welchen eine Erfahrung und ein Wissen in sich birgt, auch dann, wenn diese sich in ihren Endergebnissen als negativ erweisen sollten.

Aber abgesehen von der musikhistorischen Stellung, welche der Entwurf der Dante-Symphonie in dem Ringe der Entwickelung und Verwirklichung jener Einheitsidee einnimmt, erscheint derselbe auch biographisch bedeutungsvoll. Hier weist er, wir möchten sagen, auf den Stand der geistigen Sonnenuhr des Komponisten hin, deren Zeiger in der That nach den Höhepunkten hinweist, die seit Jahrtausenden Intellekt und Phantasie der Denkbeflissenen beschäftigt haben, zu denen aber eine Leiter zu bauen nur der kirchlichen Dogmatik gelingen wollte. Wie der Dichter des vierzehnten, stand der Symphoniker des neunzehnten Jahrhunderts auf ihr, Beide tiefreligiösen Herzens und Glaubens, den Geist gefüllt mit den psychologischen Geheimnissen der Religion. Liszt's religiöse Richtung schuf sich in der Dante-Symphonie ihren ersten großen Ausdruck, dabei in einer Sprache, deren seelische Dialektik der freien Form unseres Jahrhunderts entspricht. –[22]

Noch eine zweite große musikalische Konception fällt in jene Periode tiefster Erregung. Fast gleichzeitig mit der Dante-, entsprang die Berg-Symphonie, letztere nach dem Gedicht »Ce qu'on entend sur la montagne« von Victor Hugo, das ihn bereits in seinen Jünglingsjahren tief ergriffen hatte und jetzt in seiner musikalischen Konception den ideellen Gegensatz zum Entwurf der Dante-Symphonie bildet. Diese, dem Jenseits zugewandt, knüpft an die Erlösungsidee in ihrem Reinigungsprocesse nach dem Tode. Die Berg-Symphonie dagegen wurzelt im Diesseits und deutet auf den Widerstreit von Geist und Materie, symbolisirt in Natur und Menschheit, hin, dessen Lösung Liszt in der Religion erblickte.

Mit den Stoffen dieser beiden symphonischen Werke – auf die ein späteres Kapitel noch einmal zurückkommen wird – wendet sich Liszt den Problemen der Zeiten zu, die in dem Weltengang der Ideen als »ewige« dahinziehen. Wenn Heine das Jünglingswesen Liszt's mit einem »Lechzen nach Licht und Gottheit« charakterisirt, so bekundet sich jetzt der männlich gereifte Geist, der bewußt und sicher das Gestade der höchsten Kunstaufgaben betritt, indem er seine christlich-ideale Kunstanschauung24 bethätigt.

Menschlich schön aber will es scheinen, daß in dem Augenblick, da ein weibliches Wesen verständnisvoll und geistverwandt seiner Natur sich neigt, religiös gesättigte Stoffe zwingend sein Schaffen bestimmen. In den persönlichen Beziehungen Beider bildet der ideelle Entwurf der Dante-Symphonie gleichsam den geistigen Vermählungsring.

In der kurzen aber inhaltsreichen Woronince-Episode blieben die genannten Entwürfe nicht die einzigen musikalisch-biographischen Denkschriften; es gruppiren sich um sie noch einige andere, die, wenn auch kleiner, doch nicht weniger vielsagend sind. Voran stehen zwei Klavierkompositionen, die mit jenen zusammen die Stimmung kennzeichnen, welche den Seelenbund des Künstlers besiegelt und ihn am Eingang seiner Schaffensperiode beherrscht hat. Schon die ihnen vorangestellten Verse lassen sie, abgesehen von der lebendigen Sprache der Musik, als geistliche Klaviergedichte subjektivester Bewegung erkennen: das eine ein mächtiger Anruf an Gott, das andere ein Lied geistiger Wiedergeburt. Die Worte des ersteren lauten:


[23] Invocation:25


Élevez-vous, voix, de mon âme

Avec l'aurore, avec la nuit!

Élancez-vous comme la flamme,

Répandez-vous comme le bruit!

Flottez sur l'aile des nuages,

Mêlez-vous aux vents, aux orages,

Au tonnerre, au fracas des flots


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


Élevez-vous dans le silence,

A l'heure où dans l'ombre du soir

La lampe des nuits se balance

Quand le prêtre éteint l'encensoir!

Élevez-vous aux bords des ondes

Dans les solitudes profondes,

Où Dieu se revêle à la foi!


Wie ein Ausbruch aus den Tiefen der Mannesbrust erhebt sich die anrufende Stimme. Mächtiger und gewaltiger wird ihr Ruf, der in seiner gigantischen Kraft das Dröhnen der Wogen, das Rauschen der Winde übertönt. Kein Wanken in der festgeschlossenen Haltung.


2. Woronince

[24] Nur ein Zwischensatz taucht wie eine Vision auf:


2. Woronince

2. Woronince

und verschwindet gleich einer solchen.

Dem zweiten Klavierstück steht folgendes Gedicht voran:


Bénédiction de Dieu dans la Solitude.26


D'où me vient, ô mon Dieu, cette paix qui m'inonde?

D'où me vient cette foi dont mon coeur surabonde,

A moi qui tout à l'heure, incertain, agité,

Et sur les flots du doute à tout vent balloté,

Cherchais le bien, le vrai, dans les rêves des sages,

Et la paix dans les coeurs retentissant d'orages?

A peine sur mon front quelques jours ont glissé,

Et me semble qu'un siècle et qu'un monde ont passé,

Et que, séparé d'eux par un abîme immense,

Un nouvel homme en moi renaît et recommence.


In großem schwellendem Melodienzug, den gleichsam religiös gestimmte Harfen und flüsternde Lüfte umspielen:


2. Woronince

2. Woronince

hebt das Tongedicht in vollendetem Wohlklang an, und drückt in liedartigem Strophenaufbau den hohen Seelenzustand aus,[25] den das Wortgedicht angedeutet. Das Ganze ist zweitheilig. Dem ersten in sich abgeschlossenen Theil folgt auf ruhigem Untergrund ein episodisches Andante mit dem geheimnisvollen Tonwort:


2. Woronince

2. Woronince

Nach dem folgenden Theil, welcher ein Wiederholung des ersten in erhöhter Stimmung ist und, innerstem Befreitsein gleich, breitgespannt, den Himmelsäther der Segnungen der Einsamkeit durchkreist, ertönt dasselbe abermals in dem Schluß-Andante semplice espressivo, wo es hochgestimmt und sanft verklingt.

Diesen beiden religiösen Ergüssen schließt sich – auch bezüglich der Entstehungszeit – das »Hohe Lied der Liebe«


Cantique d'amour27


auf das engste an. Die irdische Beseligung von ungemein zartem Charakter:


2. Woronince

2. Woronince

[26] schwillt allmählich zu gewaltigem Hymnus an, dessen Pathos sich zum Erhabenen steigert und, am Schluß himmelan strebend, wie mit Posaunenton und Engelsharfen in hoher Seligkeit sich ergeht. – Das »hohe Lied« gehört zu dem Schönsten der modernen Klavierliteratur, auch zählt es zu den Stücken, die der Meister bis an sein Lebensende bevorzugt hat, während die Fürstin eine Vorliebe für die »Bénédiction« behielt.

Diesen drei Stücken reihen sich noch Erinnerungsblätter an Woronince in der Bearbeitung ukrainer und polnischer Volksmelodien für Klavier, unter dem Titel »Nachlese« an.


Glanes28

(Woronince)


1) Ballade Ukraine (Dumka), 2) Mélodies Polonaises,

3) Complaintes (Dumka) –


Die Notirung der ukrainer Melodien steht mit einem Liszt zu Ehren veranstalteten ländlichen Fest in Podolien29 im Zusammenhang. Es galt der Feier seines 36. Geburtstags, welche ihm seine fürstliche Freundin bereitete. Zigeunermusiker aus ihrem Landkreis waren hiezu entboten. Sie sollten seiner Forschung über die Musik der Zigeuner, auch von diesem Landstrich aus, Material bringen. – Bei dieser Gelegenheit überreichte ihm die Fürstin einen kunstvoll gearbeiteten Taktirstab.

Die »Glanes« schließen die bedeutungsreiche Woronince-Episode ab.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.2, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1892, S. 16-27.
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