XX.

Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform (Schluß).

Messen und Psalmen.

Die Richtungen der Kirchenmusik Liszt's. Missa quatuor vocum ad aequales. Die Missa choralis. Die Ungar. Krönungs-Messe. Requiem. – Der 13., 137., 23., 18., 116. und 119. Psalm, und deren erste Aufführungen. Charakteristik der Psalmen. – »Die Seeligkeiten«.


Von dem Zeitpunkt der Graner Festmesse an wandte sich Liszt's Genius mehr und mehr der religiösen Tonkunst zu, in welcher – wie das vorige Kapitel es erwähnt – die großen und vielseitigen Aufgaben seiner künstlerischen Thätigkeit gipfeln und ihr Endziel finden sollten. Der Schwerpunkt seines kirchenmusikalischen Schaffens scheint allerdings der Romperiode des Meisters anzugehören, die Wurzeln dieses Schaffens aber liegen alle in Weimar.

Abgesehen davon, daß die Missa solemnis hier entstanden, auch abgesehen davon, daß Plan und Anfang der beiden Oratorien »Christus« und »H. Elisabeth« hier ihren Ursprung gefunden, so zeigen auch seine Kirchenkompositionen des Weimaraner Zeitabschnittes ganz entschieden die Richtungen an, in welche sein künftiges kirchenmusikalisches Schaffen sich getheilt: die eine, gleichsam in Form und Geist durch die römisch-katholische Liturgie normirt, fand ausschließlich im kirchlichen Kult ihren Zweck; die andere, dem religiösen Gefühl als solchem, ohne andere künstlerische Rücksicht als die im Stoff begründete, entsprungen, trägt ihren Zweck in sich selbst und gestaltet sich dem entsprechend. Dort liegt eine kirchliche Bindung vor, hier das dichterische Walten des religiösen Geistes – dieser bindet oder auch begrenzt hier. Die eine wurzelt im Kultus, die andere gipfelt im Oratorium. Es dürfte darum[398] nicht inkonsequent sein, diese ganze zweite Gattung als »oratorische« zu bezeichnen.

Jene erstere Richtung findet in allen Einzelfasern ihrer Ausbreitung den Koncentrationspunkt in der Festmesse. Nimmt man Liszt's gesammte Kultuswerke und durchforscht sie mit den musikalischen und ästhetischen Faktoren der »Graner«, so wollen sie uns fast wie einzeln zu Neugebilden der Kunst verkörperte Ausstrahlungen dieser bedünken. Sie stehen alle unter ihrem Princip –: die Missa choralis, die Krönungs-, die Todtenmesse, der XVIII. Psalm, die Sieben Sakramente; desgleichen die kleineren in den Dienst der Kirche gestellten Chorgesänge. Bei mehreren seiner Orgelstücke: der Orgelmesse, dem Orgel- Requiem u.a., trifft das Gesagte ebenfalls zu.

Im Verlauf ihres Entstehens ziehen die Kultuswerke Liszt's ihrem Charakter der Kirchlichkeit immer festere, ja strenge Linien der Objektivität. Hiebei nähern sie das Akkordprincip mehr und mehr der kirchlichen Forderung einerseits, und anderseits leiten sie die kirchliche Diatonik mehr und mehr in das Wesen der Innerlichkeit des modernen Harmoniesystems, derartig, daß eine Vereinigung beider zur Einheit entsteht, in welcher das Princip des Fortschrittes gleichsam objektiv geworden erscheint.

In den gesammten Messen ist das kirchlich-dramatische Princip festgehalten.

Liszt hat fünf Messen komponirt: die Missa quatuor vocum ad aequales (2 T.-T. und 2 B.-B.) concinente organo, – die Graner Festmesse, – dieMissa choralis quatuor vocum concinente organo, – die Ungarische Krönungsmesse, – das Requiem für Männerstimmen (Soli und Chor) und Orgelbegleitung. Man sprach mehrfach von einer sechsten Messe, einem Requiem auf den Tod Maximilians I. von Mexiko, was jedoch eine Verwechslung mit dem Marche funèbre en memoire de Max. I., einem Klavierstück des III. Bds. der Années de Pélerinage, ist.

Die älteste der Messen ist die Missa quatuor vocum ad aequales1. Ihr Entstehungsjahr läßt sich nicht mit Sicherheit festsetzen2, doch dürfte sie um die Zeit des Besuches Liszt's bei dem Pater Albach in Eisenstadt (1848, S. 31), dem[399] er außer seinem Pater noster und Ave Maria auch ursprünglich die Messe gewidmet,3 komponirt sein. Der Meister unterzog sie mehrmals seiner Revision, als auch einer stellenweisen Neugestaltung mit manchen Zusätzen (1852, 1858, 186?). Eng an den Text (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus nebst Post elevationem – dem Benedictus – und Agnus Dei) hingegeben, ist die männerstimmige Messe äußerst knapp und einfach, voll Kraft und Schwung – ein durch und durch kirchliches Werk, dessen scharf gezeichnete Grundzüge den Typus der reformatorischen Ideen Liszt's tragen. Gelegentlich einer von Joh. Herbeck in Wien beabsichtigten Aufführung derselben – sie fand am 23. Okt. 1859 in der Augustinerkirche vom Männergesang-Verein ausgeführt, statt –,4 schrieb ihm der Meister in Bezug auf eine solche (Januar 1857):


»– und dann über Alles religiöses Vertiefen, Versenken, Auf gehen, Verklären, Umschatten, Beleuchten, Beschwingen, – mit einem Worte katholische Andacht und Begeisterung. DasCredo muß felsenfest wie das Dogma erklingen; dasSanctus geheimnisvoll und wonnig schwimmen; dasAgnus Dei (wie das Miserere im Gloria) sanft und tief elegisch accentuirt werden, mit dem innigsten Mitgefühl der Passion Christi; und das Dona nobis ruhig, versöhnend und glaubensvoll dahinschweben wie duftender Weinrauch. Der kirchliche Komponist ist auch Prediger und Priester, und wo das Wort für die Empfindung nicht mehr ausreicht, beflügelt und verklärt es der Ton.«5


Die Missa choralis quatuor vocum concinente organo6 entstand (1859) gleichfalls in Weimar,7 fand aber ihre Ausführung in Rom. Sie ging ebenfalls aus den rituellen Aufgaben hervor und hält sich eng an das Stoffliche ohne musikalische Umschweife und Nebenwege. Im hohen Grad eigenartig, tief empfunden, in ihrer Stimmführung kühn, in ihren Harmonien streng, markirt[400] diese Schöpfung die Stellung, welche Liszt's Kirchenmusik zum gregorianischen Choral einnimmt, und erstrebt zugleich eine Vereinigung der Strenge des altrömischen Styls mit den von ihm gegebenen Principien. Ein überaus kühnes Beginnen! – aber ein Werk voll Tiefe und Größe des Ausdrucks, so einheitlich in sich, so einfach und durchsichtig in der Form, so ganz aus einem Guß, daß vorübergehendes Hören die immense, hier gelöste Aufgabe kaum ahnen läßt, um so deutlicher aber spricht die Partitur und tieferes Eingehen in den Geist derselben. Nur die Herbe des Klanges, die da und dort als Folge der unerbittlichen harmonischen Logik des Meisters das Ohr wie die Linienstrenge der alten Maler das Auge, befremdet, läßt auch dem flüchtigen Hörer die Vermuthung aufsteigen, daß es sich hier noch um anderes handele als um Musik zum Hochamt. Auch die schwierige Intonation, die ein Gelingen dieser Messe ungeschulten Chören schwer erreichen läßt,8 ist eine Folge des idealen Standpunktes ihres Schöpfers.

Die oben erwähnte Vereinigung legt voll und deutlich schon


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das »Kyrie« dar. Sein Hauptthema ist ein gregorianischer Choral, der auf den Calvarienberg hindeutet und dessen Worte: »Wir erleiden gerechte Strafe«9 der Kreuzesscene entnommen sind. Auf dieses Thema baut sich das Kyrie eleison des Kyriesatzes in einer Fuge auf; zugleich zeigt es den Zustand der Seele der Gott Suchenden an. Eine bedrückte Stimmung liegt über diesem Satz und vermengt sich mit der Strenge der Linien der dramatisch gestalteten Fuge, deren flehende Beterrufe sich zu Christus flüchten. Die Fuge weicht nicht von der altkirchlichen Tonart (D-dorisch) des Themas, dessen harmonische Konsequenzen schneidend-herb den Urtext desselben gleichsam zur Gegenwart umschaffen. Nach ihr legt sich das homophon in F dur erklingende Christe eleison trotz inbrünstiger Bitte um Erbarmung wie Himmelsthau aufs


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[401] Herz. Mit gesteigerter Innigkeit wiederholt sich dieselbe einigemale, aber die Seele wird nicht frei: stockenden Athems folgen die Oberstimmen dem eleison des Basses (vordem die Tenorstimme des 57. Taktes):


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die Orgel tritt bei und stützt die Stimmen, welche nun im fugischen Nacheinander in das vom Baß wieder aufgenommene Christethema (55. Takt) eintreten, um alsdann in die Wiederholung des Kyrie eleison zu münden. Responsorisch erklingen die Rufe, an denen die Orgel theil nimmt. Takt 93 vereinen


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sich die Stimmen abermals polyphonisch, jetzt zu einer mächtigen[402] Steigerung, deren Schrei nach Erbarmen der inneren Erschütterung und Hülfsnoth Ausdruck giebt. Wieder tritt das Zagen ein (Takt 71 u.f.), aber es hat einen zuversichtlicheren Klang. Der Schluß (D dur) erfüllt uns bereits mit der Ahnung des jauchzenden Gloria.

Gleich dem Kyrie gleicht jeder folgende Satz derMissa choralis einem Gestalt gewordenen Princip, welches reformatorisch der zukünftigen Kirchenmusik ein lebensfähiges Reis eingepflanzt hat.

Dasselbe ist auch von der Ungarischen Krönungs-Messe10 (komponirt in Rom 1866/67) auszusagen. Sie reiht sich nicht allein vom Standpunkt der ungar.-nationalen Musik den bahnbrechenden Werken ein, wie unser ihr gewidmetes Kapitel es dargelegt hat –: vom rein kirchenmusikalischen Standpunkt aus enthält sie dieselben neugestaltenden Principien wie die übrigen Messen des Meisters, und steht an Werth und Bedeutung keiner nach.

Man ist allerdings ungarischer-, wie deutscherseits geneigt, sie als ein »Gelegenheitswerk«, nicht im Göthe'schen: im vulgären Sinn, aufzufassen. Das ist entschieden ein Irrthum. Was »Gelegenheit« an ihr ist, fällt dem Königsmantel zu, aber der ist echt in seinem Glanz. Muß man auch zugestehen, daß die Ung. Krönungs-Messe als Kultuswerk sich auf keinen andern Landesboden verpflanzen läßt, so ändert das nichts am Wesentlichen der hier gelösten Doppel-, ja Tripelaufgabe, welche einen specifisch nationalen Charakter mit dem Kultus- und Kunstwerk zu einem Organismus vorführt, der in der ihm gegebenen Gestalt in jedem seiner Glieder kraft- und lebensvoll ist.

Ebenso läßt sich nicht verkennen, daß sie, abgesehen von der Gluth ihres nationalen Temperaments und ihrer heroischen und ritterlichen Eigenschaften, für die germanische Nation manches Befremdliche in sich birgt, namentlich bei Gestaltungen und Weisen, die unserem Ohr als »weltlich« aus den Rhapsodien des Meisters geläufig sind oder auch an sie anklingen. Doch nur für den ersten Moment. Schon der nächste hebt uns zur Andachtsstimmung empor durch den feierlichen Ernst, die religiöse Inbrunst und die fromme Einfalt des Herzens, mit der sie beten. Als Beleg diene das schmerzlichfromm bewegte Thema des Qui tollis – Lento assai –, welches auch das Hauptthema des Agnus Dei ist:


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[403] Dasselbe ist, nebenbei bemerkt, ein Haupthema der XIII. ungarischen Rhapsodie. Noch zwei derartige Beispiele seien hier angeführt: das feierlichen Ausdrucks volle Thema des Violin-Solos des Offertoriums – Lento assai e solenne –:


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und das fromm athmende Thema des Benedictus:


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Beide letztere Beispiele sind kirchliche Umschmelzungen der Rácóczy nòta. Bei diesem, dem Anscheine nach »weltlich und kirchlich« mischendem, Verfahren tritt uns unwillkürlich ein anderes Beispiel ins Gedächtnis, das ihm verwandt, bedingungsweise ihm auch analog ist und – in dem aus dem Volkslied entsprungenen Choral der Reformationszeit vorliegt. Diese Volksweisen, deren meiste dem Herzen des deutschen Volkes entsprossen, wurden ebenfalls beschnitten und kirchlich getränkt, so daß sie dem kirchlichen Kultus wie dem deutsch-religiösen Gefühlsleben organisch fest verwachsen sind. Von solchem Augenblick an sind sie nicht mehr weltliche Momente in Heiligkeit getaucht, sondern religiöse Weisen, gereinigt am Altar, geheiligt durch die Zeiten. So verschieden auch die Nationen in Temperament, Gewohnheit und Bedürfnissen sein mögen, so sehr auch die christlichen Konfessionen auseinandergehen –: die christlich-kirchliche Tonkunst Aller trifft dem ohngeachtet in einem Punkt zusammen:[404]

Dieser eine Punkt liegt in den altkirchlichen liturgischen Wendungen, die im gregorianischen Choral wurzeln.

Durch sie vollzog und vollzieht sich der Umschmelzungsproceß vom Weltlichen zum Kirchlichen.

Die Kirchenmusik der Völker läßt sich auf diese Einheit prüfen. Die Ungarische Krönungs-Messe bietet ungarischerseits hinreichend Material.

Das gregorianische Element spielt aber noch tiefer in letztere hinein als in liturgischen Wendungen. Das ganze Credo der Ungar. Messe besteht aus einem gregorianischen Choral,11 der dem Meister in Rom zugängig ward. Seine Wiedergabe desselben hält selbst den ältesten Typus fest. Der Choral steht wie das »Kyrie« der Missa choralis in dorischer Tonart. Der Chor hält nebst der Orgel das unisono fest und weicht nur bei einigen Stellen, die in Terzen, nur zweimal in Dreiklängen gesetzt sind, hiervon ab. Eine geweihte Ascetik spricht aus diesem Glaubensbekenntnis. Inmitten des Glanzes der Messe aber und eingedenk des feierlichen Landesaktes, mit dem sie verknüpft ist, gewinnt dieser Hinweis auf die Väter und das Festhalten im Glauben noch besondere Bedeutung. –

Die letzte der von Liszt komponirten Messen (Rom, 1867/68) ist das Requiem für Männerstimmen (Soli u. Chor) mit Orgel.12 Bei einigen Takten des Dies irae und des Sanctus treten noch Posaunen und Pauken hinzu. Der Text der Allerseelentags-Messe weicht seiner Bestimmung gemäß von den übrigen Meßtexten ab. Sein Zweck und Inhalt besteht aus Fürbitten für die Verstorbenen und aus Gebet um die ewige Ruhe. Das Kyrie ist dem ersten Satz, dem Introitus »Requiem aeternam dona eis« im Mittelsatz einverleibt. An Stelle des Gloria und des Credo, steht die Sequenz »Dies irae, dies illa« und das Offertorium; ihnen folgen das Sanctus und Agnus Dei. Das Libera me, das nicht unbedingt zum Meßtext gehört, ist hier die letzte Nummer.13

Mit seinem Requiem wendet sich der Meister zu der soeben[405] genannten ursprünglichen und ältesten Aufgabe des Seelenamtes, zur Fürbitte und zum Gebet, zurück – zwei Momente, welche alle Theile der Messe durchdringen. Mit Entschiedenheit hält er diese Grundbestimmungen fest, und weist mit gleicher Entschiedenheit alles zurück, was seitens der Kunst im prunkenden Widerspruch mit dem Ernst und der keuschen Heiligkeit der Feier und des Schmerzes steht.

Kirchlich und menschlich genommen ist das Werk ganz Kultus. Noch dichter als bei den übrigen Messen geht der Meister mit dem Liturgen, dem beim Kyrie die kirchliche Vorschrift nur einen dreimaligen Anruf der Gottheit gebietet.14 Ohne Verweilen, und doch künstlerisch vollendet in jedem Satze, verschmäht er eine textliche Ausbeute zu Gunsten musikalischer Exegese, wie die Traditionen sie gezeitigt, und selbst das farb- und bildreiche Dies irae, dessen Anfang merkwürdig in C- ungarisch-moll notirt ist:


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hält die Strenge des Ernstes fest, die ihn unerschütterlich, heiliger Pflicht gleich, an den Lauf der Worte und des Seelenamtes bannt.

Um so mehr sprechen die Harmonie- und Melodiebildungen, die beide, wie im Dies irae, ihren Ausdruck gleichsam unter den Schatten des Todes stellen. Die Harmonien sind kühn (in dem genannten Satz zeigen sie sich als Konsequenz der Mischung dreier Tongeschlechter: Moll, ungarisch-Moll und Dur), nicht nur ernst: stellenweise auch herb und fremdartig – »gesucht« bezeichnet sie der Alltagsmund. Anderen aber betreten sie Schmerzenregionen, die aus dem Kreuz und dem »Herr, wie Du willst« hervorquellen, und von dem Hauch der Verklärung umspielt sind. Der melodische Gesammtcharakter (Soli und Chor) ist einheitlich, liturgisch gehalten. Die Orgel erhebt sich nur bei einzelnen Partien zur vollen Kraft und größeren Selbständigkeit, dann aber auch in ergreifendster Weise. Die Blasinstrumente und Pauke treten nur bei einigen Momenten, diese hervorhebend, wie z.B. bei der Stelle »Tuba mirum spargens sonum« hinzu. In elementarster Form notirt, wirken sie erschütternd.[406]

Das Requiem steht der Missa choralis am nächsten. Je tiefer man in dasselbe eindringt, um so mehr will es als eine volle Verwirklichung der am Eingang dieses Kapitels ausgesprochenen kultusmusikalischen Grundideen Liszt's erscheinen –: die innerlichsten menschlichen Gefühle legen sich dar als kirchlich objektivirt ohne Einbuße ihrer subjektiven Wahrheit und Gewalt, die gegenüber der Heiligkeit des Ortes, der Heiligkeit des Schmerzes, zu Erhabenheit und Größe werden. Aber auch milde, verklärende Momente durchziehen das Werk. In seiner Trauer erhaben, innig in seiner Fürbitte, demüthig im Gebet, bleibt das Streben ersichtlich, der Herbigkeit und Schrecknis, die der Text des Todtenamtes birgt, den milderen Ausdruck abzugewinnen. Über den letzteren Punkt äußerte sich der Meister gegen die Verfasserin:


»Seit meinen Jugendjahren halte ich das Sterben für viel einfacher als das Leben. Wenn auch öfters furchtbare, langwierige Schmerzen dem Tode vorangehen, bleibt er immerhin die Erlösung unseres unfreiwilligen Jochs der Existenz.

Die Religion mildert dieses Joch, doch blutet darunter beständig unser Herz! –


Sursum corda!


In meinem »Requiem« (für Männerstimmen) versuchte ich der milden, erlösenden Stimmung des Todes Ausdruck zu verleihen. Sie zeigt sich selbst im »Dies irae«, wo die Schreckensherrschaft nicht zu vermeiden war: auf der dreitheiligen Strophe


»Qui Mariam absolvisti,

Et latronem exaudisti,

Mihi autem spem dedisti«15


liegt der innig sanftmüthige Accent, der von gewöhnlichen Sängern nicht leicht getroffen wird ... Auch erschweren den Vortrag die zwei halben Töne, aufsteigend im ersten Tenor, niedersteigend im zweiten Tenor und ersten Baß. Dergleichen Stimmführungen sind zwar nicht neu, doch leisten selten die Sänger die erforderliche krystallreine Intonation, ohne welche der armselige Komponist unterliegt.«


Der eigentliche Schluß des Werkes liegt – wie auch beim Todtenamt selbst – auf dem Agnus Dei, welches Liszt nebst einen Theil des Sanctus (das Benedictus) vorwiegend für vierstimmigen Chor und Soloquartett, also achtstimmig, gesetzt hat, und mit »Amen« abschließt. Er fügte jedoch demselben noch die[407] letzte einfache Ceremonie der kirchlichen Exequien bei, die unter Weihwasserbesprengung und Weihrauch an der Tumba das Gebet: Libera me, Domine, de morte aeterna – »Errette mich, o Herr, von dem ewigen Tode« responsorisch verrichtet. – Das Libera steht in keinem tonalen Verhältnis zum Werke, streift aber thematisch das Requiem aeternam in dem Festhalten liturgischen Tones.

Das Requiem sang der Meister seinen eigenen lieben Todten: seinem Sohn Daniel, der ein hochbegabter, viel versprechender Jüngling, ihm im Dezember des Jahres 1859 entrissen wurde, seiner Tochter Blandine, die glückliche Gattin des bekannten französischen Juristen Emile Ollivier, welche er im September 1862 verloren, und endlich seiner im Januar 1866 heimgegangenen, von ihm so sehr geliebten Mutter.

Bis jetzt fand das Werk nur geringe Beachtung. Die erste Aufführung16 desselben fand in der Universitätskirche zu Jena am 29. Juni 1871 unter des Meisters persönlicher Leitung als Erinnerungsfeier für die im Kriege 1870 gefallenen Commilitonen seitens des akademischen Gesangvereins statt, – die letzte in der Paulinerkirche zu Leipzig am 9. September 1886 als Erinnerungsfeier für den Meister selbst seitens des Leipziger Liszt-Vereins. –


Außer den ersten drei Messen komponirte der Meister in Weimar den 13., 137., 23. und 18. Psalm, denen in Rom der 116. und 129. Psalm nachfolgte. Ebenfalls noch in Weimar: die »Seligpreisungen«17 (Nr. 6 des Orat. »Christus«) und das 1. und 2. Bild der »Legende von der hl. Elisabeth.«

Die zweite der oben dargelegten Richtungen der Kirchenmusik Liszt's, die ich als oratorische bezeichnet habe, findet ihren Ausgangspunkt in der Komposition des 13. Psalms. Ohne die Kultusmomente im engeren Sinn auszuschließen, trägt sie dem religiösen Gefühl als solchem, und der speciell dichterischen Seite der Texte, Rechnung. Die religiöse Lyrik entfaltet hier ihre poetisch-dramatischen Schwingen, dort aber – bei den Kultuswerken – steht die religiöse Epik in kirchlich-dramatischer Bewegung im Vordergrund.[408]

Die Komposition des 13. Psalm:


    • 2) »Herr, wie lange willst Du meiner so gar vergessen? Wie lange verbirgst Du Dein Antlitz vor mir?

    • 3) Wie lange solle ich sorgen in meiner Seele und mich ängstigen in meinem Herzen täglich? wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?

    • 4) Schaue doch und erhöre mich, Herr, mein Gott. Erleuchte mein Aug', daß ich nicht im Tod entschlafe.

    • 5) Daß nicht mein Feind rühme, er sei meiner mächtig geworden, und meine Widersacher sich nicht freuen, so ich niederliege.

    • 6) Ich hoffe aber darauf, daß Du so gnädig bist; mein Herz freuet sich, daß Du so gern hilfest. Ich will dem Herrn singen, daß er so wohl an mir gethan hat. –«


für Tenor-Solo, Chor und Orchester (Peter Cornelius gewidmet),18 entstand nach der Graner Festmesse und der Dante-Symphonie im Augustmonat 1855.

Dieser Psalm Liszt's ist gegenüber seinen andern Psalmen der musikalisch ausgedehnteste. Der große Stimmungswechsel der Dichtung gebot einen musikalisch breiten Raum. Die Kunstform als solche steht entschieden im Vordergrund, stellt sich aber nicht außerhalb des kirchlichen Kultus. Von einheitlicher Stimmung mit dem Text, treten Solo, Chor und Orchester, dramatisch belebt, im psychologischen Fluß, bald individualisirt, bald ineinander oder zugleich und, je nachdem der Zweck und der Charakter des Moments es erheischt, in homophoner oder in polyphoner Gestaltung zusammen. Das Ganze gleicht einem dramatisch-lyrischen Gebetsakt, bei welchem das Gemüth die Wandlungen, die zwischen dem Hülferuf und der siegreichen Hoffnung in Gott liegen, durchlebt.

Mit einer kurzen Instrumentaleinleitung (Str., Klar., Fag., Hörner, Pauke) beginnt der Psalm. Sie enthält die thematischen


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Grundzüge des Werkes. Der ausgeprägte Charakter dieser wenigen Takte – ein mächtiges Aufstöhnen aus tiefer Qual – versetzt[409] uns in die Stimmung der ersten Worte dieses Klagepsalms, worauf flehenden Ausdrucks, getragen von Harmonien, die so ganz den Zustand der Seele bezeichnen, der Solo-Tenor mit dem gleichen Thema anhebt:


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Die Stimmung des zweiten und dritten Verses entwickelt eine Scene des Klagens und Flehens. Zwischen den Tenorstrophen seufzen gedämpften Lautes die Chorstimmen: »Wie lange?«, jene aber fährt dringender fort: »wie lange soll ich mich ängstigen in meinem Herzen täglich?« – letzterer Ausruf eine freie Kadenz ohne jede Begleitung. Im mächtigen Fortissimo, in Oktaven, nehmen nun die Männerstimmen, begleitet von Hörnern, Posaunen und dem Streichchor, die erste Frage mit dem Hauptthema wieder auf; ihnen folgen zaghaft, von Flöten-, Oboen-, Klarinett-, Fagottklängen umhaucht, mit derselben Strophe, aber vierstimmig harmonisirt, die Frauen, worauf im bewegteren Tempo Blech- und Streichinstrumente, letztere tremolirend, wieder eintreten und wie aus dem Vibrato der Seele heraus, leidenschaftlich und erregt die Tenorstimme von neuem fragt: »Wie lange soll sich mein Feind wieder mich erheben?« Dazwischen der Chor: »Wie lange?« »Wie lange?«

Die ganze bisherige Partie ist gleichsam eine Exposition, ein dramatischer Introitus. Nun ziehen sich die Themen zusammen zu strammer und intensiver Entwicklung. Ein frei fugirter Satz – 6/4-Takt, Andante con moto quasi Allegretto – im Wesentlichen dem Instrumentalkörper übergeben, hebt mit folgendem die innere Unruhe verrathenden Thema an:


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– ein Thema, dessen ausdrucksvoll rhythmisches Gepräge den Nationalcharakter (ungarisch)[410] des Komponisten trägt. Angeführt von den Bratschen und Violoncellen nehmen nach einander die Violine, das Fagott u.s.w. das sich breiter und breiter entfaltende Thema auf. Der einstimmige Ruf der Chor-Tenore, dann des Solo-Tenors: »Wie lange?« ertönt einige male, um endlich unter Betheiligung aller Stimmen mit dem Ausruf:


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zur musikalischen und psychologischen Spitze dieses Satztheiles zu führen. Die Synkopen, das Aufwärtssteigen des kurzathmigen Motivs in Oktaven mit Terzen, in seinem Charakter drängende Unruhe – »Beängstetsein« nach dem Text – ist von großer Wirkung; ebenso die nach einigen Zwischenpartien kommende Stelle: »Wie lange soll mein Feind sich über mich erheben?« Instrumente und Chor fassen sich hier mit voller Wucht und edler Kraft zusammen, um dann gebeugten Hauptes demuthsvoll zu klagen:[411]

Einige geheimnisvoll klingende Akkorde – und in innigster Gläubigkeit, mit einer Wonne, die wohl nur das christliche Gemüth mit seiner Hingabe an die religiösen Mysterien zeitigen und zur


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künstlerischen Schaffensreife vorführen konnte, ertönt ergreifend das kunstvoll gearbeitete und doch so einfach- natürlich klingende: »Schaue doch« (Andante mosso, 6/4-Takt):


20. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform (Schluß)

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Der Chor tritt hinzu, immer inniger und seliger von längeren Violinarpeggien umwogt, bis die Seele erbebt in dem Gedanken: »daß ich nicht im Tod entschlafe« – eine Stelle, bei welcher dumpfe Klänge gestopfter Hörner in gleimäßigen Stößen die Schauer des Todesgedankens ausdrücken. »Daß nicht mein Feind rühme« fährt der Beter fort:[412]


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Dieser Satztheil ist mit der früheren Stelle: »Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben« verwandten Charakters. Obwohl gehalten durch die Situation, steht hier die Manneskraft im Vordergrund, welche zum Streiter für eine gerechte Sache erkoren, in ihrem innersten Nerv erzittert, wenn sie des Feindes und seinesmöglichen Sieges gedenkt. Der Chor tritt wieder hinzu und vermengt sein Flehen mit dem der Solostimme, wobei das Streichquartett von dem abgerissenen Tremolo der Anfangstakte zu einer fliegend vibrirenden Figuration übergeht. Dieser ganze Theil gleicht dem Bild einer Heldenschaar von Männern und Frauen, die Hände flehend empor gehoben. Durchdrungen vom menschlichsten Gefühl, steht er dem weltlichen doch fern. Die Stimmen treten zurück und die tiefe Erregung verklingt instrumental in einem Septimenakkord. Nach einer 20. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform (Schluß) intonirt das Streichquartett piano und pizz. das erste Fragemotiv, die Tonart wechselt, das Tempo wird ruhig, dolce tritt das Holzblasquartett (Solo) mit demselben Motiv ein und die Solostimme betet von neuem:


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Von hier an weicht die innere Unruhe der festen Zuversicht auf Gott.

Während die bisherige Gestaltung und Bearbeitung der Themen[413] – mit Ausnahme des »Schaue doch« – einen drängenden unruhigen und nach innerer Befreiung ringenden Charakter getragen, ist dieselbe nun bis zum Schluß immer mehr der Ausfluß innigster Hoffnung, kindlicher Hingabe und vollster Zuversicht: Seelenzustände, denen das Frohlocken entsteigt. Das selig betende »Schaue doch«, das im Psalmentext nicht zwei Mal enthalten ist, erklingt hier nochmals, jetzt in A dur, vordem in As dur. Der Meister legte es in dieser zweiten Hälfte des Psalms, wie bei der ersten, in die Mitte – jedenfalls nicht nur aus musikalischen Gründen, sondern ebenso sehr aus psychologischer Nothwendigkeit. Denn in der inneren religiösen Koncentration und Hingabe liegt das Centrum, dem die Heilsströmungen entquellen. Stellen, gleich dieser, bringen musikalische Gefühlsmomente alttestamentarischen Gebets, welche die Vorläufer neutestamentarischer Gefühle und gleichsam ihre Keime sind, zu ihrem seelischen Blühen in christlich-kindlicher Hingabe.

Die frohlockenden Schlußworte: »Ich will dem Herrn singen« drückt der Meister durch eine Fuge aus, deren Thema, eingeleitet von den Celli, die Hauptthemen koncentrirt enthält:


20. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform (Schluß)

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Chor, Solo und Orchester nehmen an der Ausführung der Fuge Theil, die immer siegreicher in breiteren Schwingen bis zum Triumph (bei der thematischen Umkehrung S. 80) »daß Du so wohl an mir gethan« sich steigert. Sie mündet in ein Andante maestoso, dessen Instrumentalbässe das Thema nochmals in verdichtetster Form, in höchster Kraft und strahlendem Glanze bringen und das Werk zum Schlusse führen. Sanft betet es nochmals (instrumental) »Schaue doch«. Diese Klänge vermischen sich mit einem letzten, heiligem Gelöbnis gleichenden Frohlocken des Chors, Solos und Orchesters mit Posaunen und Pauken: »Ich will dem Herrn singen, daß er so wohl an mir gethan.«

Von diesem Psalm äußerte der Meister brieflich gegen [414] Fr. Brendel, daß manche seiner Stellen mit »Blutthränen« geschrieben seien, und ein andermal schreibt er: »Der Tenorpart ist sehr wichtig; – ich habe mich dabei selbst singen lassen und das Gebahren des Königs David in Fleisch und Blut mir eingegossen! –«, Bemerkungen, die ebenso auf die Identifikation seitens des Tondichters mit der Wehklage des Psalmisten und die Unmittelbarkeit in der textlichen Erfassung hinweisen, wie das bezüglich der Graner Festmesse gegen W. Wagner gefallene Wort. In diesem Moment der Unmittelbarkeit religiöser Hingabe treffen sich beide Werke.

Die erste Aufführung des 13. Psalms war in Berlin am 6. Dezember im Jahre seiner Entstehung. Der Meister selbst dirigirte,19 Theodor Formes sang die Tenorpartie. Auf das günstigste seitens der Zuhörerschaft aufgenommen, verkritisirte ihn eine bereits gegen den in Weimar vertretenen musikalischen Fortschritt erbitterte Afterweisheit der Kritik. Aber der Psalm brach ihren Bann und zählt zur Zeit zu den wenigen Werken des großen Meisters, die in Fachkreisen und im allgemeinen Urtheil den ihm gebührenden Rang einnehmen.

Der 137. und 23. Psalm sind nicht von der breiten Anlage wie der vorige. Sie gehen in ihrer äußeren Dimension wenig über die Lieder des Meisters hinaus, die – wie die »Loreley« und »Mignon« – sich von der Lyrik zur dramatischen Situation hinbewegen.20 Den 137. Psalm »An den Wassern zu Babylon saßen wir und weineten, wenn wir an Zion gedachten« (nach dem Bibeltext) für eine Singstimme mit Frauenchor mit Begleitung von Violine, Harfe, Pianoforte und Orgel (oder Harmonium21) skizzirte Liszt 1857. Bendemann's »Jeremias« gab ihm den ersten Anstoß. Seine Ausarbeitung fällt ins Jahr 1859, seine nochmalige[415] Bearbeitung ins Jahr 1859, nochmalige Bearbeitung ins Jahr 1862. Die Stimmung dieses Psalms zeigt sich – obgleich ein »düster-mystisches« Element, nach des Meisters eigener Bezeichnung, sein Grundzug ist – der Stimmung des 13. Psalms verwandt. Beide tragen Klänge tiefster Klage und tiefster Trostbedürftigkeit, des Aufschreies und des unerschütterten Vertrauens zu Gott in sich; beide sind Ausdruck der unmittelbaren persönlichen Beziehung zu ihm. Während aber bei jenem – dem 13. Psalm – die kindliche Hingabe an Gott den Trost bringt und aus ihm die hellen Flammen der Gottbegeisterung emporschlagen, dringt bei diesem – dem 137. Psalm – aus der Trostlosigkeit Verbannter düster-flammende Sehnsucht hervor. Dieses letztere Moment in seiner Mischung von düster-trostlosem Schmerz und verzehrender Glut ertönt zum ersten Mal in der musikalischen Psalmenliteratur. Sein Ausdrucksmittel fand der Meister in der ungarischen Skala (C-ungarisch:)


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und ihren Dreiklangskonsequenzen, die sich auf das charakteristischeste mit dem instrumentalen Kolorit einer Zusammenwirkung von Soloinstrumenten verbindet, deren Wirkung bald Sprache, bald Stimmung und Farbe umschließt. Die Mittelpartie des Psalms, mit dem sehnenden Blick nach Jerusalem, streift kirchlich-liturgische Wendungen. –

Der 137. Psalm kam zum ersten Mal am 30. Oktober 1859 in einem zum Besten der Aufstellung eines Grabsteins von Lukas Cranach in der Stadtkirche zu Weimar abgehaltenen Koncert zur Aufführung, das Gesangsolo ausgeführt von der als Liszt'sche Liedersängerin damals sehr geschätzten und von dem Meister als solche anerkannten, Emilie Genast, die Harfenpartie von Johanna Pohl-Eith, die Violine von Singer, die Orgel von Töpfer.

Der 23. Psalm: »Mein Gott der ist mein Hirt« (nach Herder) für eine Singstimme (Tenor oder Sopran) mit Begleitung von Harfe (oder Pianoforte) und Orgel (oder Harmonium,22) bewegt sich enger im liedartigen Satz wie der 137. Psalm. Er ist Sologesang. Seine Komposition fällt in das Jahr 1859; desgleichen seine erste Aufführung (2. Oktober) in der Stadtkirche zu Weimar mit Emilie Genast und den vorgenannten Künstlern. Eine Revision und abermalige Bearbeitung dieses, als auch des[416] 137. Psalms, fällt in den Anfang der römischen Periode Liszt's. Von dithyrambischem Schwunge, in seiner Form ganz dichterischer Erguß, Fluß, Gegenwart, athmet der 23. Psalm begeisterte Zuversicht zu Gott, die sich seiner Güte voll und ganz hingiebt und, in ungebrochener Einheit mit der Natur, pastoral, auch ihre irdischen Wohlthaten besingt bis zur Wonnetrunkenheit – ein freier Erguß des Individuums, an keine Stätte gebunden. – Die Harfenpartie mit ihrem Wohlklang, Fluß und lebendigen Pulsiren, zählt zu den schönsten aller Harfenbegleitungen; nicht minder ist die Zusammenstellung von Harfe und Orgel, das erste derartige Beispiel, von eben so dichterischer wie kirchlicher Wirkung.

Der vierte der in Weimar konceptirten (1860) Psalmen, der 18. Psalm23 (vulgata): »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes« – »Coeli narrant gloriam Dei« für Männerchor mit Orchester und Orgelbegleitung24 ist dem kirchlichen Kultus gewidmet und dem entsprechend von größter Einfachheit und Durchsichtigkeit in seiner Anlage und Durchführung. In reinster sprachlicher Deklamation, voll Schwung und Kraft, ohne musikalisch-formelle Einschiebsel und ohne den großen hymnischen Flug hemmende Wortwiederholungen, folgt Liszt dem gewaltigen Höhenzug des Textes ohne Unterbrechung von Anfang bis zu Ende. Das Wort und sein melodisch-harmonischer Körper, Männer- und Orchesterchor umschließend, verschmelzen sich zum Hymnus. Seine Form bildet sich aus dem Strophenbau des Psalms. Sie erhebt sich auf der harmonischen Grundlage reiner Dreiklänge, deren mehrdeutige und eigenartige Bildung – in Sext- und Quartsextakkorden, der erstere ohne Terz, der zweite ohne Sext –, vom Meister bei mehreren Stellen dieses Psalms angewandt, ihm den Charakter des erhabenebeschwingten verleiht. In aufsteigender Linie moduliren die Dreiklänge von Strophe zu Strophe und tragen die kirchliche Ruhe des Gesanges in immer höher schwellende Wogen des Gott preisenden Gemüths. Das Orchester ist hierbei in Melodie, Rhythmik und Harmonie ihr Träger, ihr Pulsschlag, die Atmosphäre, die sie ein- und ausathmet.

Die erste Aufführung des 18. Psalms war zum Kirchenkoncert[417] des »Thüringer Männergesangfestes« am 25. Juni 1861 zu Weimar.

Noch zwei Psalmen komponirte der Meister, aber in Rom. Der eine, der 116. Psalm25 – ein Jubelpsalm –, bildet das Graduale der Ungar. Krönungsmesse, der andere, der 129. Psalm – ein Bußpsalm26 –, ist ein Bruchstück des unvollendet gebliebenen Oratoriums »Stanislaus«. Jener für Männer-, auch für gemischten Chor mit Orchester, gehört dem Kultus an, dieser für Baß- oder Altsolo mit Orgel oder auch Klavier, ist zu subjektiv geprägt, um ihn bedingungslos demselben zuweisen zu können.

Der 116. Psalm nimmt in der gesammten musikalischen Psalmenliteratur einen Platz für sich ein. Als Theil der Ungar. Krönungsmesse, trägt er, wie sie, thematisch, rhythmisch, harmonisch den ungar. Charakter, verschmolzen mit kirchlich-liturgischen Wendungen. Die Vereinigung dieser beiden Momente zu einem ist geradezu erstaunlich. Aus ungar. volksthümlichen Weisen erhebt sich hier in Einfalt, Frömmigkeit und flammender Inbrunst die Lobpreisung Gottes.

Der 129. Psalm steht ebenfalls allein, obwohl in anderer Weise. Er fällt in das letzte Lebens-Jahrzehnt des Meisters (1882?). Eine früher gemachte und sich auf die Schaffensrichtung desselben beziehende Äußerung27 gilt mit ihren Konsequenzen auch hier. Nur wenige Noten, einfach-schmucklose, diatonisch sich bewegende Linien, begleitet von nur einigen Akkorden der Orgel, läßt sich von diesem Psalm kaum von einer Tondichtung im gleichen Sinne wie von den früheren Psalmen sprechen: aber von einer Sprache tiefsten Erlebthabens, die in unmittelbarer Naturwahrheit dem menschlichen Gefühl als Ausdrucksmittel dient, wie – um ein Beispiel zu geben – das den Psalm einleitende qualvolle Aufstöhnen:


20. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform (Schluß)

20. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform (Schluß)

[418] Die hier gebrauchte schneidende Dissonanz gemahnt gewissermaßen an das Prometheusmotiv28, mit dem sie an der äußersten Grenze des Ausdrucks der Qual steht, zeigt aber auch neben demselben den verschärften und dabei weniger pulsirenden Ausdruck gegen früher. – Die kunstlos erscheinende Naturwahrheit der im 129. Psalm niedergelegten Accente enthalten nichts desto weniger ein A und O der höchsten Kunstresultate.

Liszt's sämmtliche Psalmenkompositionen betreten ebenfalls andere Wege als die gebräuchlichen. Mit Entschiedenheit erfaßte er den Charakter der Psalmendichtungen in seiner Ursprünglichkeit: in der unmittelbar persönlichen Beziehung zu Gott. Die wenigsten der David'schen Psalmen sind Tempelgesänge für Chor, die meisten sind ein unmittelbarer Ausfluß des an Gott sich wendenden Seelengesprächs des Einzelnen und weisen auf den Einzelgesang mit Harfe hin. Die Tonkunst der christlichen Kirche hatte in dem Bestreben, die hebräischen Gotteshymnen dem allgemeinen kirchlichen Kultus dienstbar zu machen, gerade diese ihre Eigenart übersprungen und behandelte sie nach den Principien des üblichen Kirchenstyls. Die subjektivesten aller Gotteshymnen wurden durch die objektivesten Musikformen ausgedrückt – Massengesänge kontrapunktischen Styls, die von dem Persönlichen sich abgelöst29.

Liszt war es vorbehalten, auf dem von ihm betretenen Kompositionswege den oben genannten Ton der Ursprünglichkeit seinen Psalmendichtungen einzuhauchen und die hebräischen Gottespoesien aus der Innerlichkeit des christlichen Gemüths neu erstehen zu lassen.

Noch sei in der Kürze der »Seeligkeiten« (Ev. Matthäi V, Vers 3–10) für Chor-Gesang, Bari ton-Solo und Orgelbegleitung (ad lib.)30 gedacht. Von ihnen bekannte der Meister, daß[419] er weniges geschrieben, das ihm so aus der innersten Seele gequollen. Sie entstanden 1856 und markiren einen ergreifenden Moment seines persönlichen Lebens31.

Die »Seeligkeiten« gehören zu den Kultuswerken, die sich mit dem Inhalt der Textworte identificiren. Ihre Form knüpft an die der Antiphonien ältester Zeit. Liszt hat diese in ihren Grundlagen festgehalten, aber sie künstlerisch unendlich höher gestellt und vertieft. Der Wechselgesang besteht zwischen Bariton-Solo und Chor. Die Begleitung der Orgel ist nicht durchweg, und dann mehr die Harmonien des Chores stützend als selbständig. Der Chor legt sich auf akkordlicher Grundlage mehrfach bis zu sieben Stimmen auseinander. Er ist der volltönende Widerhall der Solopartien, die in tiefster Herzensergriffenheit Christi Worte des Heils verkünden. Vollendet schön ist dabei die Einfachheit und ruhige Größe des Gefühls bei subjektiv innigster Durchwärmung. Ganz außerordentlich ist die Wiedergabe der letzten der Seligpreisungen, welche heißt:


»Selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen, denn ihnen ist das Himmelreich!«


Hier tritt der Chor lebendig eingreifend zum Solo. Solo und Chor – d.i. Priester und Gemeinde –, ergriffen von einem Gedanken, vereinigen sich in diesem Schlußsatz, dessen erdentrückte Stimmung die Erfüllung der verheißenden Worte: »ipsorum regnum coelorum« – »ihrer ist das Himmelreich« gleichsam vorempfinden läßt.

Den »Seligpreisungen« widerfuhr unter Liszt's Kompositionen das Merkwürdige – – daß die Kritik keinen Einwand gegen sie erhob. Ihre erstmalige Aufführung fällt in die Zeit bald nach ihrem Entstehen und gehört Weimar an, wo sie in der Schloßkapelle und Stadtkirche, die Soli gesungen von Teodor Milde, wiederholt wurden. Nebenbei bemerkt, zählten sie zu den Kompositionen Liszt's, welche die deutsche Kaiserin Augusta mit Vorliebe hörte. –

Die der Kirchenmusik Liszt's gewidmeten letzten beiden Kapitel beschließen die Gruppen, unter welchen wir die verschiedenen historischen Aufgaben und die Kompositionsthätigkeit des großen Meisters während der Weimarperiode zusammengefaßt haben.

Fußnoten

1 Edirt 1848 (?) –: T. Haslinger in Wien.

Edirt 1853 –: Breitkopf & Härtel.

Edirt 1871 –: Breitkopf & Härtel.


2 R. Pohl nennt das Jahr 1840.


3 Siehe: »Franz Liszt's Briefe« II. Bd. Nr. 362.


4 Es sei hier darauf hingewiesen, daß Joh. Herbeck, damals nach der Orgelstimme die Messe instrumentirt, d.i. mit Blasinstrumenten, zu vollster Zufriedenheit Liszt's, eingerichtet hat, und sie sich in Folge dessen sowohl zu größeren wie kleineren Aufführungen eignet. Diese Bearbeitung ist noch unedirt – hoffen wir, daß sie der Öffentlichkeit nicht zu lange entzogen bleibt.


5 »Johann Herbeck. Ein Lebensbild von seinem Sohne Ludwig.« Wien, Gutmann 1855.


6 Edirt 1869 –: C.F. Kahnt.


7 Es ist dieselbe, welche R. Pohl mit der Bezeichnung »im Gregorianischen Styl« anführt.


8 Treffliche praktische Winke zum Einstudiren derMissa choralis für Chorleiter giebt aus seiner eigenen Dirigentenpraxis W. Widmann, »N.Z.f. Musik« 1890 Nr. 14–17, auf welchen Aufsatz ich nachdrücklich hinweisen möchte.


9 Nach W. Widmann. Ebendaselbst.


10 Siehe Kapitel XIII.


11 Nach W. Widmann, in wörtlicher Übereinstimmung mit der »Messe royale« deH. Dumont (Office de l'Eglise – d'après le Gradual et l'Antiphonaire de la Commission de Reims et de Cambrai, Paris 1876, S. 172).


12 Edirt 1870 –: C.F. Kahnt.


13 Dasselbe befindet sich auch in der Sammlung: Neun Kirchen-Chor-Gesänge. etc., der es als Nr. 9 einverleibt ist.


14 Drei Mal »Kyrie eleison«, drei Mal »Christe eleison« und drei Mal wieder »Kyrie eleison.«


15 »Der Du einst vergabst Marien

Und dem Schächer hast verziehen,

Hast auch Hoffnung mir verliehen.«


16 Ob vor dieser eine solche außerhalb Deutschlands voranging, blieb mir unbekannt.


17 Edirt 1861 –: C.F. Kahnt.


18 Edirt 1865 –: C.F. Kahnt.


19 In der Geschichte der Aufführung der Werke Liszt's und der gegnerischen Kritik, wurde dieses Koncert bedeutungsvoll. Es bildet die Einleitung zu dem Sturm und Kampf, der um Liszt den Komponisten losbrach, als seine neun Partituren symphonischer Dichtung bald darauf im Stich vorlagen. Vom Stern'schen Orchester-Verein eingeladen, brachte es unter Liszt's Leitung ausschließlich Kompositionen von diesem, alle noch im Manuskript (Die Präludien, Ave Maria, XIII. Psalm, Es dur-Koncert [H.v. Bülow], Tasso). Das Koncert war ein glänzendes, der ganze Hof, die vornehmste Künstler- und Gelehrtenwelt, unter ihnen der greise Alexander v. Humboldt, der gekommen war, die »nouva musica« zu hören, das glänzendste Publikum Berlin's war zugegen.


20 II/1. Bd. S. 130.


21 Edirt 1864 –: C.F. Kahnt.


22 Edirt 1864 –: C.F. Kahnt.


23 Nach der Lutherbibel der 19. Psalm, V. 2–10.


24 Edirt 1874 –: J. Schuberth & Co.


25 In der Ungar. Krönungsmesse.


26 Edirt 1883 –: C.F. Kahnt.


27 Seite 205.


28 X. Kapitel –:


20. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform (Schluß)

29 Siehe: Franz Liszt als Psalmensänger und die früheren Meister. Ein Beitrag »zur musik. Psalmenkunde«, von L. Ramann (Breitkopf & H. 1886.)


30 Edirt 1861 –: C.F. Kahnt.


31 Siehe nächstes Kapitel.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.2, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1892.
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