21.

Das Miserere.

[203] Wolfgang Amadeus hatte in der kurzen Zeit, die ihm und dem Vater zur Erholung gegönnt war – denn sie mußten eilen, um in der Sixtinischen Kapelle Platz zu bekommen – fast nichts genossen. Der Knabe war heute aufgeregter, als bisher jemals in seinem Leben. Stand doch die Stunde vor ihm, nach der er sich schon seit zwei Jahren gesehnt, – gesehnt mit aller Kraft seiner Seele, – gesehnt, seitdem er die großen alten Meister der Kirchenmusik kennen gelernt.

Mit Palestrina war ihm eigentlich erst bewußt geworden, was Musik heißt!

O wie schön, wie erhaben, wie göttlich waren die einfachen Tonstücke dieses großen Meisters, die er als Missa Papae Marcelli einst dem heiligen Vater überreicht, und die im Santa Maria maggiore die gesammte Kirchenmusik vom Untergange retteten. »Ja!« – hatte schon damals, als er dieser Tonschöpfungen ansichtig wurde, der Knabe Amadeus gerufen: – »Ja! diese Musik stammt nicht von der Erde: sie ist dem Himmel entnommen!« Und heute, heute! sollte er die große mysteriöse Schöpfung Allegri's, das große Meisterwerk dieser alt-ehrwürdigen Musik hören – jener Musiker, deren feierliche Klänge in gleichen Intervallen wie Gottes Stimme tönen!

Da sind keine – oder fast keine – jener verbindenden Accorde, um vermittelst derselben eine Causalität und eine Abhängigkeit zwischen den großen Offenbarungen des Absoluten zu Wege zu bringen; keine jener üppigen oder pathetischen Dissonanzen – das Bild unserer Glückseligkeit eines Augenblickes, unserer vorübergehenden, weichen oder aufgeregten Stimmung; kein Rhythmus, der dem Fluge der Zeit folgt, nach den Pulsationen eines sterblichen Herzens gemessen; mit einem Worte, nichts, was einen weltlichen Gedanken erweckte und die Sprache fleischlicher Leidenschaften spräche. Das ist eine Kirchenmusik, wie nie Jemand eine wahrhafte componirte. Sie enthält durchaus keine profane Beimischung, sie ist von einer ewigen Schönheit, weil sie auf etwas Unwandelbarem,[204] so zu sagen auf der elementaren Verwendung des Accordes ruht; sie ist antique, und das ist einer ihrer kostbarsten Vorzüge, weil ihre Antiquität kein Alter kennt,83 und sie so – in ihrer ungeheuren Einfachheit und imponirenden Größe – mächtig zu der Verehrung beiträgt, die in jeder edlen Seele für das Heilige glüht!

Nur ein Mensch, der ganz und gar in der Musik lebt, .... der ganz und gar Musik ist: in seinem Leben und Weben, Dichten und Trachten, Denken und Fühlen, Wollen und Sehnen, wie Mozart – in jenem kindlichen Alter zum Theil noch unbewußt, in späteren Jahren mit dem vollen Bewußtsein unerreichter Genialität – nur ein solcher ganz eigen organisirter Mensch konnte einer Stimmung fähig sein, wie diejenige war, in der sich Amadeus jetzt befand. Sie ist daher so exceptionell, daß sie nicht beschrieben, sondern nur geahnt werden kann: ähnlich der Stimmung des Kindes vor der noch verschlossenen Thüre, hinter welcher sich die Herrlichkeit des Weihnachtsbaumes birgt; – ähnlich der Stimmung der aufkeimenden Rose, über die in schwüler Sommernacht der erste Hauch eines Gewitters fährt; – ähnlich der Stimmung, die – unaussprechlich selig und doch süß beklemmend – der Geliebten Herz durchzittert, wenn der Geliebte den ersten Kuß als Gatte in der Brautnacht auf ihre Lippen drückt.

Wohl war der alte practische Capellmeister, der doch gewiß als ein begeisterter Freund der Musik gelten konnte, auch auf das höchste gespannt, jenes wundervolle, von dem päpstlichen Stuhle so argwöhnisch geheimgehaltene Miserere zu hören; wohl war auch er durch diese Erwartung und alles, was er heute gesehen, gehört und erlebt, aufgeregt .... aber dennoch theilte er die fieberhafte Stimmung Wolfgangs nicht.

Indessen wagte er doch nicht, den Knaben darüber zu besprechen oder zu tadeln, .... der Vater ahnte ja bereits instinktmäßig die in seinem Sohne schlummernde Größe. Auch verkündete ihm Wolfgangs auffallende und ganz ungewöhnliche Schweigsamkeit, daß etwas Ungewöhnliches in seinem Innern vorgehe. Auf Großes gefaßt, ließ er daher, als kluger Mann, dem inneren Brüten und Schaffen des jungen Genies völlig freien Spielraum.[205]

So traten sie in die Sixtinische Capelle. Aber! .... welch' ein Anblick! Die Welt hat ihn nur einmal! .... Siebenhundertfünfunddreißig brennende Wachslichter erhellten den ungeheuren, mit Menschen schon angefüllten Raum; – dreihundert und neunundvierzig flammten allein auf und an dem Hochaltare .... fünfzehn armsdicke gelbe Kerzen leuchteten, wie Sterne erster Größe, von dem riesigen Kandelaber mit fünfzehn Armen, der mitten im hohen Chore wie ein Riese aus Erz stand.

Und welche schönen, imponirenden Verhältnisse des Baues! Die gewölbte Decke, die sich wie die Kuppel des Himmels über den ungeheuren Raum spannt. Die Wände von alten Florentinern in Fresco gemalt. Dem Eingange gegenüber, an der hintern Wand: Michel Angelo's weltberühmtes jüngstes Gericht.

Wolfgang Amadeus, leise zitternd vor Erregung, stand erschüttert: Sein ächtes Künstlergemüth, seine weiche empfängliche Seele, seine – der katholischen Kirche angehörige – Religionsanschauung, seine glühende Phantasie .... alles, alles dies erfaßte die furchtbar große meisterhafte Darstellung des furchtbar großen Gedankens mit unwiderstehlicher Gewalt.

Jeder Heilige stand, riesig und groß, wie ein Titane, vor seinen Blicken: das Entsetzen aber, die Qual und die Verzweiflung der Verdammten erfüllte seine Seele mit beklemmender Furcht. – – Er schaute und schaute – und die Farben wurden Töne – – furchtbar-gewaltige Töne; Jubelhymnen und Schmerzensschreie; – ein Aufjauchzen der Erwählten und ein Mark und Bein zerreißendes Wehegeheul der Verdammten.

Plötzlich sah der Vater seinen Wolfgang erblassen. Erschrocken bog er sich zu ihm nieder und frug, was ihm fehle; aber Amadeus schüttelte den Kopf und wandte sich von dem entsetzlich erhabenen Gemälde ab.

Da mit einem Male trat die Geistlichkeit ein und fast in demselben Momente erlöschten – wie durch Zauber – alle die zahllosen Lichter .... bis auf jene fünfzehn riesige Kerzen auf den fünfzehn Armen des Kandelabers ... die ganze sixtinische Kapelle lag in fast gespenstischem Dunkel. Und nun begann, von 32 Sängern – unter welchen sich der berühmte Christofori befand – mit vollendeter Kunst ohne[206] Begleitung von Instrumenten vorgetragen, das Matutino delle tenebre. Es besteht diese großartige Schöpfung aus 15 Psalmen und einigen Gebeten und beschließt mit dem Miserere.

Todtenstille herrschte ringsumher. Und wie nach jedem vollendeten Psalme eines der fünfzehn Lichter auf dem fünfzehnarmigen Leuchter erlosch, und die Kirche immer dunkler und dunkler, und der Gesang immer inniger und tiefer und schmerzlicher wurde, da war es, als ob die Klagen einer zum Tode verwundeten Nachtigall zum Himmel emporstiegen; – da war es, als ob diese Töne auf ihren unsichtbaren Schwingen den Schmerz der ganzen Menschheit über das Leiden des größten und edelsten ihrer Söhne hinauftrügen vor den Thron des ewigen Allgeistes!

Und heiße Thränen lösten sich bei diesen Klängen von den Herzen der Hörer und sie vergaßen, daß sie Staubgeborne seien, in einer staubgebornen Welt.

Und als nun der fünfzehnte Psalm vollendet und das fünfzehnte und letzte Licht erloschen war, und über der ganzen weiten sixtinischen Kapelle Grabesfinsterniß ruhte, da hob das Miserere an.

Der Eindruck war unbeschreiblich. Wolfgang Amadeus sah nichts mehr, er fühlte nichts mehr körperlich, er athmete fast nicht mehr ... er war nur Ohr, sein Dasein nur ein geistiges!

Das konnten ja keine menschlichen Stimmen sein, die da sangen; .... das waren Chöre der Seligen, ... Melodien, deren unendliche Einfachheit und Reinheit dem Himmel entflammten. Das war Musik im Strahlenkranze heiliger Unsterblichkeit!84

Und wie Wolfgang hörte und hörte, da überlief es ihn heiß mit Entzücken und fröstelte ihn wieder bis in die Tiefe seiner Seele, wenn die musikalischen Zahlenverhältnisse und die mystischen Regeln des Contrapunktes wie ein Zucken des Blitzes seinem Geiste sich einprägten. Das in Tönen offenbarte Geheimniß der Ewigkeit und Unendlichkeit lag vor ihm aufgedeckt – – aber es erfüllte ihn mit geheimnißvollen Schauern, mit innerem Grausen!

Das Miserere war längst verstummt, .... – Amadeus stand unbeweglich .... Ein ungeheures Kreuz, von Hunderten von Lichtern erhellt, war plötzlich von der Kuppel der[207] Kirche herabgeschwebt und hatte die Finsterniß des Grabes mit einem Lichtmeer überwältigt .... Es war ein zauberhafter Effect. Amadeus bemerkte es nicht, ... er stand unbeweglich. Die ungeheure Menschenmenge hatte sich verlaufen, nur wenige Nachzügler gingen bedächtig den Ausgängen zu .... Amadeus bemerkte es nicht .... er stand noch immer unbeweglich.

Da neigte sich der Vater, der in der That anfing, besorgt zu werden, liebevoll zu dem Sohne, und flüsterte ihm zu:

»Wolfgang! es ist Zeit, daß wir gehen!«

Wolfgang fuhr zusammen. Er war wie aus einem Traume erwacht – und starrte den Vater groß an. Dann fuhr er sich mit der Hand über Stirne und Augen, sah sich um .... als wolle er sich erinnern, wo er sei und was sich hier zugetragen, .... nickte und folgte dem Vater schweigend.

Kein Wort kam auf dem ganzen Wege über seine Zunge; auch der Vater schwieg beklommen und war froh, als Amadeus zu Hause in das gemeinsame Bett stieg. Kaum aber war der Alte an Wolfgang's Seite entschlafen, als der Sohn leise aufstand, die Lampe anzündete und Notenpapier zurechtlegte. Dann ging er und öffnete eines der Fenster.

Da lag es zu seinen Füßen, das ewige Rom, – das ungeheure Grabmal vieler Jahrtausende, das Mausoleum einer halben Weltgeschichte, und eine göttlich schöne Nacht breitete das Leichentuch des Mondlichtes über es aus.

In mäßiger Entfernung aber erhoben sich die Triumphbogen des Septimius Severus, des Titus und des Konstantin, geschmückt mit den stolzen Inschriften, die diese siegreichen Kaiser zu Göttern erheben. »Die gefangenen Sclaven, die schmerzdurchwühlten, schweigend – duldenden Barbarenkönige, die unglücklichen vertriebenen Juden, die Zierrathen ihres zu Jerusalem zerstörten Tempels, den siebenarmigen Leuchter und den Tisch der Schaubrode tragend, sie Alle blickten noch von diesen Denkmalen hernieder in jener Demüthigung, in der die Hand des Künstlers sie festbannte zu ewigem Bestehen.«

Und – – wie dort – – weiter hinaus – die Säulen des Concordientempels, die schönen Trümmer der Kaiserpaläste in ernster Majestät emporragen. Sie standen schweigend in der schweigenden Nacht, und doch forderten sie, die den Stürmen von Jahrtausenden trotzend, Kunde gaben von dem starken Wollen der Vergangenheit – mit gewaltiger[208] Beredtsamkeit auf: gleichfalls Großes, gleichfalls Gewaltiges zu leisten!

Amadeus durchzuckte es wie mit Flammen. Noch einen Blick warf er auf die Zeichen ewiger Größe, noch einmal schaute er nach dem prachtvollen Nachthimmel empor, dann schloß er rasch das Fenster und ging an den Tisch mit dem Notenpapier.

Als die Sonne des kommenden Tages die Erde begrüßte, warf sie ihre ersten Strahlen über einen Knaben, der aus Müdigkeit und Erschöpfung entschlummert war. Aber ... sie vergoldete auch beschriebene Notenblätter, die neben dem jungen Schläfer lagen, und auf diesen Notenblättern stand .... das Miserere von Allegri!

Der vierzehnjährige Wolfgang Amadeus Mozart hatte das Ungeheure, das Unbegreifliche, das Unglaubliche geleistet ..... er hatte jenes, so eifersüchtig bei Strafe der Excommunication geheimgehaltene Meisterwerk – – er hatte das gestern zum erstenmale gehörte Miserere von Allegri aus der Erinnerung fehlerfrei nachgeschrieben.

Quelle:
Heribert Rau: Mozart. Ein Künstlerleben. Berlin 4[o.J.], S. 203-209.
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