Charakter der Handschriften

[6] Hermann Kretzschmar hat in seinem Vorwort zu Bachs Handschrift den Satz geschrieben: »Den künstlerischen und menschlichen Charakter Bachs festzustellen, bedarf es der Mitwirkung seiner Handschrift nicht. Er kommt groß und deutlich in den gedruckten Werken zur Anschauung.« Dieser Satz gilt auch für Mozart. Auch bei ihm führen die Werke selbst sowie seine verhältnismäßig zahlreich erhaltenen Briefe zu den Quellen seines Wesens. Aber auch bei ihm verraten doch auch die Handschriften an sich Züge, die das Gesamtbild seiner menschlichen und künstlerischen Persönlichkeit zu ergänzen und zu vervollständigen vermögen.

Im Gegensatz zu Beethoven und anderen Meistern hielt Mozart Einfall und Ergebnis der Konzeption, die Entwicklung embryonaler Bildungen meist nicht schriftlich fest, sondern übertrug vielmehr die Aufgabe, die bei zahlreichen Künstlern dem Skizzenbuche zufällt, seinem Gedächtnis. Wenn er eine musikalische Skizze zu Papier bringt, so zeigt sie bereits einen hohen Stand der Entwicklung und Reife und bedarf, von Stücken der frühen Jugendjahre abgesehen, meist nicht mehr wesentlicher, tiefgreifender Wandlungen und Änderungen. Die Gestaltung spielte sich in sei nem Innern, in seinem Kopfe ab und benötigte im Festhalten einzelner Stadien nicht äußere Hilfsmittel. Erst wenn das innerlich Geschaute zur möglichsten Deutlichkeit und Klarheit gediehen war, setzte er sich hin und machte schriftliche Aufzeichnungen. Seine Notenblätter sind bereits eine Art von Reinschriften. Wir können bei ihm den Prozeß, der sich während der inneren Gestaltung im Einzelnen abwickelte, meist nicht wie in den Skizzenbüchern anderer Künstler genauer verfolgen. Und diese Tatsache ließ die lange verbreitete, irrige Auffassung aufkommen, Mozart habe seine Schöpfungen gleichsam aus dem Ärmel geschüttelt, das harte Erarbeiten sei ihm nahezu völlig erspart geblieben. Die Niederschrift eines Stücks bedeutete für Mozart meist nicht viel mehr als die mechanische Wiedergabe eines mit vollendeter Sicherheit innerlich festgehaltenen, unaufhörlich geformten Bildes. Diese innerlichen Vorgänge vollzogen sich in ihm nicht wie etwa bei Gluck in bewußter Denkoperation, sondern vielmehr in gefühlsmäßiger Erfassung, die von »Spekulationen«, wie sie Mozart nannte, nicht unberührt blieb.

Diese Art von Mozarts Schaffenstätigkeit schloß nicht aus, daß einzelne Handschriftstellen Korrekturen erfuhren, einzelne niedergeschriebene Teile gekürzt, erweitert oder verschiedentlich auch größeren Veränderungen unterworfen wurden. Aber das Gesamtbild wurde dadurch doch nicht im Wesentlichen beeinflußt. Zuweilen vermögen solche Veränderungen vielleicht einen Begriff von der Entwicklung zu geben, die einzelnen Stücken bis zu ihrer Endfassung und damit vor ihrer ersten Niederschrift beschieden war. Wir beobachten in Mozarts Handschrift, nachdem sie einmal über die frühen Jugendjahre hinaus eine bestimmte Gestalt angenommen hatte, keinen auffallenden Wechsel. Sie läßt nach den ungelenken und größeren Zeichen der frühen Jugendjahre ziemlich kleine, zierliche und doch deutliche Formen ersehen, mit Haken und Strichen, welche teilweise den angespitzten Spulen der Geflügelfedern zuzuschreiben sind, und mit einer orthographischen und grammatikalischen Sorglosigkeit des sprachlichen Ausdrucks, die seinen Briefen insgesamt eigen ist. Verschiedentlich bekunden die Handschriften auch Eile und Hast, die durch den inneren Drang nach rascher Fixierung und durch Zeitmangel veranlaßt worden sein dürften. In den Notenblättern herrscht fast durchweg Ordnung, und genaue Vorschriften und Bezeichnungen nehmen Rücksicht auf Kopisten, Sänger und Spieler. Die außerordentliche Klarheit des Geistes, die keine genialische Gebärde kennt, spiegelt sich wieder, ebenso Grazie und Leichtigkeit, die den einen Teil seines Wesens enthüllen. In den letzten Lebenswochen schleicht sich gelegentlich ein zitterndes Zeichen ein.

Wir betrachten die frühen Versuche des genialen Knaben, blättern in den Seiten der Entwicklungs- und Meisterjahre und schlagen nach den Fragmenten des Requiems erschüttert die Mappe zu.

Quelle:
W.A. Mozarts Handschrift. Herausgegeben von Ludwig Schiedermair, Bückeburg, Leipzig 1919, S. 6-7.
Lizenz:
Kategorien: