Kritische Ausführungen.

[787] 1. (S. 8.) Die Genealogie erzählt hier mancherlei Unrichtiges: der Stadtpfeifer habe auf dem Thurme des Schlosses Grimmenstein gewohnt, Hans Bach sei bei ihm geblieben bis zur Zerstörung des Schlosses, dann sei er, da auch mittlerweile sein Vater gestorben, nach Wechmar zurückgegangen. Der Grimmenstein wurde aber schon 1567 in den Grumbachschen Händeln zerstört, als Hans Bach sicherlich noch garnicht geboren war. Dann besaß Gotha bis zur Erbauung des jetzigen Friedensteins (1646) gar kein Schloß. Das Rathhaus war aber so geräumig und stattlich, daß es 1640 für Herzog Ernst den Frommen zur einstweiligen Wohnung eingerichtet werden konnte (Beck, Geschichte der Stadt Gotha, S. 422). – Veit Bach lebte noch als sein Sohn längst in Wechmar wieder ansässig war.

2. (S. 10.) Dies ergiebt sich aus Folgendem. Johann Bach, der sich laut Copulations-Register 1635 verheirathete, wird dort »senior« genannt. Am 7. Juni des vorigen Jahres hatte sich unser Hans Nr. 3 verehelicht, das »senior« ist offenbar zur Unterscheidung von diesem zugesetzt. Wären sie nur Vettern gewesen, so gab es, falls man überhaupt daran dachte sie zu unterscheiden, hierzu andre Merkmale genug. Durchaus natürlich aber ist es bei Brüdern, zumal wenn sie so bald hinter einander heiratheten. Ich würde auf diese Sache kein Gewicht legen, geschähe es nicht um des Vaters willen.

3. (S. 11.) Daß sie den Vater einen Teppichmacher sein läßt, ist eine offenbare Verwechslung mit Hans Bach, und wenn auch hier sich drei musikalische Söhne finden, so verdächtigt dies die Glaubwürdigkeit des Berichts überhaupt und giebt ihm den Schein einer spätern Erfindung. – Was die Genealogie darnach über die weitere Verzweigung dieser Linie mittheilt, bezeichnet sie selbst größtentheils als Vermuthungen, denen um so weniger Werth beizulegen ist, als der Verfasser von der weit über Veit hinausreichenden thüringischen Existenz des Bachschen Stammes nichts wußte. Der Umstand, daß in der Bindersleber Linie noch jetzt die Tradition lebt, ihre Vorfahren seien aus Böhmen oder Ungarn eingewandert, ohne daß sie von einer Verwandtschaft mit Sebast. Bach etwas weiß, könnte einen Augenblick geneigt machen, diese Familie mit dem zweiten Sohne Veits in [787] Verbindung zu bringen. Allein schon dadurch, daß sie ihren Ahnherrn gleich nach Molsdorf ziehen läßt, kennzeichnet sich der spätere und künstliche Ursprung einer Tradition, die ursprünglich sicher in dem Bestreben wurzelt, die Molsdorf-Bindersleber Linie mit Seb. Bach in Zusammenhang zu setzen, und zwar um so mehr, wenn man bedenkt, wie auch für Sebastians Vorfahren jene Tradition nur bedingt richtig ist.

4. (S. 11.) Diesen Angaben liegt zunächst ein von Veit Bach beginnender Stammbaum dieser Linie zu Grunde, welcher im Besitz von Jakob Bachs Urenkel, Johann Philipp Bach in Meiningen, war und abschriftlich in die Hände von Frl. Emmert in Schweinfurt kam. Was die Genealogie mit ihren Zusätzen hierauf Bezügliches bietet, stimmt mit dem Stammbaum überein, nur ist aus Versehen das Geburtsjahr des Jakob Bach als sein Todesjahr bezeichnet. Gelbkes Kirchen- und Schulenverfassung des Herzogthums Gotha, Th. II, Bd. 1, S. 669 giebt 1654 als Geburtsjahr an. Die Pfarr-Register in Wolfsbehringen stellen nur Wendel Bachs Todes-Datum fest. – In Brückners Kirchen- und Schulenstaat, Th. I, St. 2, S. 172 findet sich noch die Notiz, Jakob Bach sei 1631 in Thal bei Ruhla als Schuldiener angestellt und nach den Visitations-Acten von 1642 zum Schulmeister in Ruhla bestimmt gewesen. Die Zahlen passen nicht, doch könnten allenfalls Druckfehler vorliegen.

5. (S. 13.) Daß er ein Bruder des Meininger Bach war, ist nicht ausdrücklich gesagt, ich habe es aber ohne weiteres angenommen, da das Alter stimmt, in Ruhla außer Jakob Bach sicher kein anderer des Geschlechts existirte und beide, Johann Ludwig und Nikolaus Ephraim, im Dienste fürstlicher Personen aus dem meiningenschen Hause standen, endlich auch Nikolaus bei einer Tochter Johann Ludwigs als Pathe figurirt.

6. (S. 82.) Das einzige mir bekannte Manuscript derselben wird auf der königl. Bibliothek in Berlin aufbewahrt. Es ist offenbar aus Stimmen zusammengeschrieben und recht fehlerhaft. Von Takt 116 an ist im zweiten Chor ein völliger Unsinn entstanden, da der Schreiber ein Wiederholungszeichen im Alt übersah, welcher T. 109–116 zu repetiren und dann erst mit den in der Partitur sofort anschließenden Gängen fortzufahren hatte; der Anfang zu einer ähnlichen Verwirrung findet sich an derselben Stelle auch im Basse. T. 131 hat der Schreiber wieder im Alt zwei Takte Pausen übersehen, die Takte 125, 126, 127 aber fälschlich zweimal gesetzt (128, 129, 130). Die Verbesserung einzelner andrer Schreibfehler ist leichter zu finden; den Schlußtakten fehlt der Text. Veröffentlicht ist diese Motette noch nicht.

7. (S. 139.) An letzter Stelle hat sich ein sinnentstellender Satzfehler eingeschlichen. Es heißt nämlich: »Das einzige daselbst lebende musikalische Genie war ein betrunkener Organist, denn nüchtern leistete er so wenig, als seine Mitbürger aus der Familie der Bache. « Die letzten fünf Worte sind an einen falschen Platz gerathen. Denn offenbar hat Gerber sagen wollen: – – – »ein betrunkener Organist aus der Familie der Bache; [788] denn nüchtern« u.s.w. Wenn weiterhin steht, daß die Schüler genöthigt gewesen wären, in eine andre Kirche zu gehen, als wo Bach spielte, so braucht man dies nicht so aufzufassen, als ob sie des schlechten Beispiels wegen die Blasius-Kirche nicht hätten besuchen dürfen. Vermuthlich hatten sie in der Marienkirche ihre angewiesenen Plätze.

8. (S. 171.) Es gab in jener Zeit, wie man aus den »Verrechten« vom Jahre 1666 sehen kann, welche das Erfurter Raths-Archiv aufbewahrt, nicht weniger als drei Valentin Lämmerhirts in der Stadt, welche sämmtlich auch Töchter des Namens »Elisabeth« hatten. Daß es grade die obengenannte war, welche sich Ambrosius gewählt hatte, folgt aus den später noch zu erwähnenden Lämmerhirtschen Erbschafts-Acten, durch die wir den Namen ihres Bruders, Tobias, erfahren. An diesem Faden ist es möglich, sich in den Irrgängen der Pfarr-Register zurecht zu finden. Zwei von den drei Lämmerhirts waren Kürschner und wohnten neben einander auf dem Junkersande, der eine im Haus »zu den drey Rosen«, der andre im Haus »zur Jungfrawen« (jetzt Nr. 1284). Da jedoch Tobias Lämmerhirt späterhin ein Haus in der Breitenstraße ebenfalls mit dem Namen »zum dreyen Rosen« besaß, und es Brauch der Hausbesitzer war, bei Wohnungsveränderungen den Namen ihres Hauses mitzunehmen, so wird die genannte jetzige Nr. 1285 die Stätte sein, wo Sebastian Bachs Mutter geboren wurde. – Die Genealogie nennt Ambrosius Bachs Schwiegervater und auch den Vater der erwähnten Hedwig Lämmerhirt »Raths-Verwandte« (so nannten sich die Verwandten einer Familie, aus welcher einmal ein Rathsherr hervorgegangen war), allein dies ist wohl eine ungerechtfertigte Vorausnahme. Erst unter den Rathsherren von 1658 und 1663 findet sich ein Valentin Lämmerhirt, ein jüngerer Verwandter des uns hier interessirenden.

9. (S. 218.) Eine chronologische Schwierigkeit ergab sich hier, da die Genealogie und der Mizlersche Nekrolog und nach dessen Vorgange fast alle späteren Biographen die Uebersiedlung nach Arnstadt in das Jahr 1704 verlegen, die Anstellungsacten von dort aber das Jahr 1703 tragen, und zwar in wiederholten Datirungen, welche jede Annahme eines Schreibfehlers ausschließen. Der Irrthum steckt also in den erstgenannten Quellen, und hier konnte es zweifelhaft sein, ob nicht der Lüneburger Aufenthalt zu kürzen und Bachs Abschied von dort in das Jahr 1702 zu setzen wäre, da ein Gedächtnißfehler natürlicher erscheint, der zwei mit drei Jahren verwechselt, als der wenige Monate zu fünf Vierteljahren ausdehnt. Allein es gelang im großherzoglichen Haus-Archive zu Weimar ein Verzeichniß des gesammten Capell-Bestandes aus dem Jahre 1702 aufzufinden, und dieses weist den Namen Bach nicht auf. Nun verließ Sebastian Lüneburg sicherlich um Ostern, weil für das Sommerhalbjahr die Erwerbsquelle aus dem Umsingen des Schülerchores ihm nicht floß. Das Verzeichniß würde also nur in dem Falle beweisunkräftig sein, wenn es, was an sich unwahrscheinlich, vor Ostern des Jahres angefertigt wäre, ohne freilich dadurch die entgegengesetzte Möglichkeit zu bewahrheiten. Außerdem ist zu beachten, [789] daß dann sein Aufenthalt in Weimar unverhältnißmäßig lang erscheint. Da ihn sein ganzer Bildungsgang nicht auf eine solche Stelle hinleitete, mußte er möglichst bald in einen entsprechenderen Wirkungskreis zu kommen suchen, und man sollte meinen, daß er die arnstädtische Organistenstelle, die doch damals schon von dem wenig genügenden Börner bekleidet wurde, 1702 kaum weniger leicht erhalten konnte als 1703. Deshalb, und weil die biographischen Notizen der Genealogie über Sebastian Bach nicht nach dessen Angaben direct niedergeschrieben sind, auch noch ein andres kleines Versehen enthalten, und überhaupt der größte Theil der ganzen Genealogie garnicht unter seinen Augen abgefaßt wurde, halte ich trotz der sonstigen Wichtigkeit dieser ältesten Quelle die Angabe des Jahres 1704 als Antrittstermin in Arnstadt für den gesuchten Fehler. Da der Nekrolog dasselbe sagt, so werden die Federn, welche jenen verfaßten, wenigstens die eine derselben, auch hier thätig gewesen sein. Im Jahre 1703 fiel Ostern auf den 8. April; Bach verweilte also in keinem Falle länger als vier Monate in Weimar.

10. (S. 223.) Den zu Arnstadt im Jahre 1705 gedruckten Text, wovon ein Exemplar auf der Ministerial-Bibliothek zu Sondershausen, hat zum größten Theil erneuert K. Th. Pabst im Arnstädter Gymnasial-Programm von 1846. Daß der Rector Treiber wenigstens die dichterische Arbeit hier besorgt hat, läßt sich mit Sicherheit schließen, weil die Operette von arnstädtischen Schülern aufgeführt wurde und die Namen der auftretenden Personen nur von einem der lateinischen und griechischen Sprache kundigen Manne so geschickt gebildet werden konnten (so heißen zwei Bier-»Angießer«: Modulius und Cantharinus, ein Böttichergeselle: Doliopulsantius, eine Brauherrn-Frau: Eulalia, eine Bierzapferin: Bibisempria). Die dazu gehörige Musik wird der Sohn gemacht haben, günstigsten Falles arbeiteten beide zusammen. In Arnstadt hat sich die Sage gebildet, Bach sei der Componist gewesen, soweit ich sehe aus keiner andern Veranlassung, als weil er zu jener Zeit dort Organist war. Hätte man bedacht, wie musikalisch beide Treiber waren und daß der Sohn grade damals in Arnstadt weilte, so wäre eine solche Annahme, die im Verlauf sogar in einen Roman von E. Marlitt verwebt wurde, wohl garnicht möglich gewesen. Bach hatte, wie alle seines Geschlechts, gelegentlich den Zug zum Derben und Possenhaften, aber an einer so sterilen, jedes Lebens und jeder Laune baaren Poesie hätte er sich sicherlich nie vergriffen. Zudem stand er mit den Schülern des Lyceums keineswegs immer im besten Einvernehmen.

11. (S. 227.) Die autographe Partitur, welche mit den autographen Stimmen zusammen (beides auf der königl. Bibl. zu Berlin) ihre Entstehung während Bachs Leipziger Zeit durch Schrift und Papier unwidersprechlich darthut, zeigt auch durch die sichersten Merkmale, daß sie nach einer ganz vollendeten Vorlage gefertigt ist. Es fehlen sowohl fast alle Aenderungen und Correcturen, an denen Bachs Cantaten-Handschriften sonst so reich sind, als auch am Schlusse das S.D.G., was der Meister bei einer ersten [790] Partitur hinzuzusetzen nie unterläßt, wohl aber, wie auch das anfängliche J.J. (Jova oder Jesu Juva), bei Abschriften und wenig durchgreifenden Umarbeitungen. Für die Zusammenarbeitung aus zwei verschiedenen Werken spricht noch, daß die Partitur ununterbrochen fortläuft und die Zweitheiligkeit noch nicht aufweist. In der jetzt vorliegenden Gestalt war sie für eine Aufführung in einem Zug unter allen Verhältnissen zu lang, und wäre es die ursprüngliche Fassung, so hätte Bach schon damals die Theilung vornehmen müssen. Dann aber wäre wieder nicht zu begreifen, warum sie in der jetzigen Partitur fehlt.

12. (S. 227.) Im Jahre 1748 verfertigte der damalige Cantor an der Haupt-Kirche zu Weimar, Johann Sebastian Brunner, Text und Musik zu einem Jahrgange von Cantaten, in dem er theilweise die geistlichen Dichtungen älterer weimarischer Poeten in wunderlicher Weise verarbeitete, in den einzelnen Theilen durch einander warf, verdrehte und die so entstandenen Reimereien als seine Erzeugnisse drucken ließ. (Die großherzogl. Bibl. in Weimar besitzt ein Exemplar davon.) So wurde ein Cantaten-Text von Salomo Franck aus dem Jahre 1716, den Sebastian Bach, seiner herrlichen Cantate »Wachet, betet, seid bereit« zu Grunde legte, durch ihn in dieser Weise mißhandelt, worüber man die Mittheilungen an der betreffenden Stelle nachsehen wolle. Ein gleiches Schicksal traf die in der Oster-Cantate gebrauchten Dichtungen. Die zweite Strophe des erwähnten Liedes lautet im Original:


Wo bleibet dein Rasen, du höllischer Hund,

Wer hat dir gestopfet den reißenden Schlund? u.s.w.


Brunner in der Cantate auf Mariä Verkündigung läßt den Eingangschor anheben:


Heut zittert und bebet der höllische Hund

Vor Gabriels schallenden Englischen Mund.

Heut wird ihm auf ewig versperret sein Schlund, u.s.w.


Die darauf folgende Cantate zum ersten Ostertage legt dem ersten Recitativ diese Worte unter:


Auf Seele! freue dich, du bist nunmehr getröst,

Erlöst

Und aus der Macht der Finsterniß gerissen, u.s.w.


wozu man die S. 226 angeführte erste Strophe vergleichen möge. Späterhin heißt es:


Ihr Feinde, die ihr mich annoch bisher verhönt,

Auf! weicht, begebt euch auf die Flucht;

Es ist umsonst, was ihr versucht;

Denn Christus, der sich zeigt vor seiner Grabes Thür,

Lebt jetzt in mir.


Dagegen in der vierten Strophe der Bachschen Cantate:


Seid böse, ihr Feinde, und gebet die Flucht,

Es ist doch vergebens, was ihr hier gesucht.

Der Löwe von Juda tritt prächtig hervor,

Ihn hindert kein Riegel, noch höllisches Thor.


[791] Endlich lauten die Worte des Duetts. das uns einer andern Cantate entnommen schien:


Weichet, weichet Furcht und Schrecken

Ob der schwarzen Todesnacht;

Christus wird mich auferwecken,

Der sie hat zum Licht gemacht, u.s.w.


Bei Brunner schließt sich an das zuletzt mitgetheilte Recitativ die Arie:


Nun bringt mir des Todes Nacht

Weder Angst noch Schrecken,

Christus, der mich frei gemacht,

Wird mich auch erwecken, u.s.w.


Muß man nun unbedingt annehmen, daß Brunner nur weimarische Vorlagen benutzt hat, denn einerseits lebte und producirte einer der besten geistlichen Dichter der Zeit, Salomo Franck, in Weimar, andrerseits war die Hervorbringung von Cantaten-Poesien damals überall eine massenhafte, und Brunner durchaus nicht wählerisch, so folgt, daß der Text der Bachschen Ostercantate in Weimar gedichtet ist. Und zwar muß dies in den ersten 12 Jahren des 18. Jahrhunderts geschehen sein, denn seitdem befliß man sich dort der neuen Cantaten-Form. Die Vermuthung nun, daß Bach das fragliche Werk während seines zweiten Aufenthalts in Weimar, also von 1708 an, componirt habe, erweist sich sofort als hinfällig, wenn man die Mühlhäuser Rathswahl-Cantate und andre Werke vergleicht, welche jener Zeit angehören. Dort tritt uns schon ein Meister entgegen, hier nur ein reichbegabter Schüler. Es bleibt also nur übrig anzunehmen, daß Bach den Text bei seinem ersten Aufenthalte in Weimar kennen gelernt hat. Daß derartige poetische Versuche in jener Zeit dort gemacht wurden, beweist eine Sammlung von Cantaten-Dichtungen, welche Georg Theodor Reineccius, damals Stadtcantor des Orts, unter dem Titel: »Wohlklingendes Lob Gottes, aus denen ordentlichen Sonntags Evangelien, in der Pfarr-Kirche zu S. Petri und Pauli zu Weimar, vom 1. Sonntage nach Trinitatis anno 1700 mit lieblichenConcerten Gott zu Ehren, und der Gemeine zur Ermunterung, abgesungen« herausgab; die hierin herrschende Form stimmt ganz überein mit der des Liedes, welches Bachs Cantate größtentheils zu Grunde liegt. In Weimar selbst kann die Composition nicht erfolgt sein, da der Componist kein Osterfest dort verlebte, sie aber in die spätere Arnstädter Zeit zu versetzen, verbietet schon die urkundliche Nachricht, daß Bach sich mit seinem Chor überworfen hatte, sich nicht mehr um ihn kümmerte und also auch nichts von seinen Compositionen mit ihm aufführte. Dann ist auch an sich die Benutzung eines Textes aus einem fremden Orte wahrscheinlicher zu einer Zeit, wo die Erinnerung an jenen noch frisch war. Endlich verräth die Composition eine auffällige Einwirkung der nordischen Meister, deren Stil in Sebastian von Lüneburg her noch lebendig gewesen sein muß. – Wenn übrigens bei Brunner die Parodie des Duett-Textes den Nachahmungen aus dem siebenstrophigen Liede nachfolgt, während das Duett bei Bach diesem vorhergeht, so ist das ein neuer Beleg meiner Vermuthung, es habe ursprünglich einer Cantate zum 2. Ostertage [792] angehört. Beide Texte standen in derselben Sammlung, und Brunner nahm aus dem zweiten etwas für seinen ersten hinüber.

13. (S. 290.) Diese Handschrift in Hochfolio befindet sich auf der Lübecker Stadtbibliothek, enthält auf 87 Blättern zwanzig Kirchenmusiken in deutscher Tabulatur nebst Register, und ist mit bewunderungswerther Schönheit und Genauigkeit angelegt. An einzelnen Stellen zeigt sich eine andere, und zwar flüchtigere und mehr ausgeschriebene Hand, und man überzeugt sich bald, daß dies nur Buxtehudes eigne Züge sein können. Sein Name als Autor ist nur bei den Stücken 1, 3, 5, 7, 8, 9 und 12 genannt, trotzdem aber kaum zu bezweifeln, daß alle 20 von ihm herrühren. Ueberall nämlich, wo der Name des Componisten hinzugefügt ist, mit Ausnahme der zwölften Composition, ist es von jener zweiten Hand geschehen; diese selbe hat aber auch in 2, 4 und 6, welche keinen Componistennamen tragen, mehr oder weniger thätig eingegriffen, in Nr. 2 sogar mehr als zwei Folioseiten selbst geschrieben, und mit einer raschen Sicherheit, wie es nur der Componist selber konnte. Man frägt vergeblich, wie ein Dritter dazu gekommen sein sollte, einem ganz ausgezeichneten Copisten in den Arm zu fallen, und mitten in einer Cantate einen ganzen Abschnitt mit charakteristischen aber keineswegs schönen Zügen selbst herzustellen. Sehr leicht aber ist zu denken, daß Buxtehude mit dem Abschnitt, wie er zum Copiren vorlag, noch nicht zufrieden war und ihn in andrer Fassung in den Prachtfolianten aufgenommen wünschte, die er ihm am einfachsten sofort beim eignen Einschreiben geben konnte. Dazu kommt, daß die unbenannten Stücke in der Factur so ganz und gar mit den benannten übereinstimmen, daß Buxtehude, wäre er selbst der Autor nicht, einen Doppelgänger gehabt haben müßte, der die Sache genau so gut, ja besser als er verstand. Ich habe die ersten sieben Stücke in die jetzt gebräuchliche Notirungsweise umgeschrieben und Note für Note geprüft. Die NNr. 1–9 und Nr. 12 sind also zweifellos Buxtehudes Werke, ich glaube es auch von den andern aus innern, wie äußern Gründen. Der Prachtfoliant ist augenscheinlich auf die Sammlung der Werke eines hoch in Ehren stehenden Meisters angelegt; an der Herstellung des ersten Theiles hat sich Buxtehude selbst betheiligt, ist aber vielleicht darüber hin gestorben. Aber auch wo er sich betheiligte, geschah dies ganz unregelmäßig und willkürlich. Hierfür läßt sich als Beispiel eine Bemerkung seiner Hand vor dem fünften Satze der zweiten Cantate anführen, wo die Trompeten für D dur geschrieben sind, wie sie klingen. Er merkt dazu an: »NB: müssen aber in C. abgeschrieben werden.« Nun sind aber die Trompeten schon von Anfang in Thätigkeit und auch immer in D dur geschrieben gewesen; die Bemerkung hätte also an den Beginn der Cantate gehört. Hiernach wird man sich über das willkürliche Zusetzen und Weglassen des Namens nicht mehr wundern, am wenigsten dort, wo der Componist selbst bei der Abschrift thätig gewesen war. Man war damals noch nicht so ängstlich in Wahrung des eignen Autorrechts, wie jetzt. – Herrn Bibliothekar Professor Mantels bin ich für die Liberalität, mit welcher er mir den Codex [793] auf lange Zeit zum Studium und zur Umschreibung anvertraute, zu ganz besonderem Danke verpflichtet.

14. (S. 307.) Wir wissen aus Mollers Cimbria litterata, daß Buxtehude zum Tode seines Vaters eine Composition verfaßte: »Fried- und Freudenreiche Hinfahrt des alten Simeons.« Anzunehmen, daß es diese sei, hindert aber der Zusatz: »in zwey Contrapuncten musicalisch abgesungen«, der wohl nur eine zweifache Bearbeitung des Kirchenlieds »Mit Fried und Freud ich fahr dahin« bedeuten kann. Walther macht (Lexicon, unter »Buxtehude«) eine unklare auf jene Composition zielende Bemerkung, aus der man erkennt, daß er sie wahrscheinlich nicht selbst gesehen hat; oder er müßte sich sehr schlecht ausgedrückt haben, denn man erfährt unter allen Umständen nicht von ihm, welcher Art die Composition war.

15. (S. 322.) Wer die Bachsche Composition zu Gesicht bekommen sollte, wird durch beispielsweise Vergleichung von Nr. 4 aus Frobergers Diverse curiose e rarissime Partite (Moguntiae MDCXCV), welche in Commers Musica sacra Nr. 45 mitgetheilt ist, sich über das angedeutete Verhältniß näher unterrichten können. – Die königl. Bibl. zu Berlin bewahrt ein Manuscript-Bändchen mit Ciaconen und Canzonen, welches die Aufschrift trägt: Di J.S. Bach. Von Bachschem Stile ist allerdings keine Spur darin, dagegen tragen die Stücke nach allen Seiten ein Frobergersches Aussehen. Es wäre wohl möglich, daß dem Schreiber derselben eine Handschrift vorgelegen, welche den Namen Bachs als Besitzers trug, oder gar von ihm selbst gefertigt war, und daß sie, so irrthümlich für seine Compositionen angesehen wurden.

16. (S. 322.) Das Stück findet sich in verschiedenen älteren Handschriften mit sehr verschiedenen Titeln. Der von W. Rust ihm in der Ausgabe der Bachgesellschaft frei gegebene: Toccata hat wenigstens einige historische Berechtigung, wurde ja auch noch von Reinken bei einem gleichgestalteten Werke angewendet. Die Tonart ist bald C dur, bald E dur; mir scheint wegen einiger Pedalstellen im Anfangs- und Mittelsatze C dur die ursprüngliche zu sein. Die vollgriffigen tiefliegenden Accorde klangen bei der zuweilen sehr hohen Stimmung der damaligen Orgeln, welche sich um eine Terz über den Kammerton erheben konnte, nicht so dumpf, wie es jetzt wohl das Aussehen hat.

17. (S. 380.) Für die Ermittlung des Verhältnisses zwischen Chor- und Kammerton sind natürlich nur die Blasinstrumente entscheidend. In der autographen Partitur der 1715 zu Weimar componirten Cantate »Tritt auf die Glaubensbahn«, deren Tonart E moll ist, stehen Flöte und Oboe in G moll. Die Partitur der in die früheren Jahre des weimarischen Aufenthalts fallenden Cantate »Nach dir, Herr, verlanget mich« weist zur Tonart H moll das Fagott in D moll auf. Zu der im Jahre 1715 entstandenen Cantate »Barmherziges Herze der ewigen Liebe«, die in Fis moll gesetzt ist, liegt eine autographe Trompetenstimme in G moll vor; da die natürliche Stimmung der Trompeten schon um eine ganze Stufe über dem Kammertone [794] stand, so kommt hierdurch gleichfalls das Verhältnis der kleinen Terz heraus. Die ebenfalls 1715 geschriebene Ostercantate »Der Himmel lacht, die Erde jubiliret« steht in C dur, die Stimmen der Oboen und des Fagotts in Es dur. Die Advents-Cantate desselben Jahres »Bereitet die Wege« aus A dur, hat gegen Bachs sonstige Gewohnheit die Oboe im Sopranschlüssel; man braucht denselben nur mit dem Violinschlüssel zu vertauschen und die drei Kreuze zu streichen, so ist dasselbe Verhältniß da. Ich glaube, daß durch diese Beispiele die Sache ganz klar gelegt ist. Wenn in andern Partituren der weimarischen Zeit die Blasinstrumente in der wirklichen Tonart des Werkes aufgezeichnet sind, so wird dadurch nicht das Gegentheil bewiesen, da es zweifellos der bessern Uebersicht und der Einheitlichkeit wegen geschah. Vielmehr wird Bach die Blasinstrumente wohl nur dann in ihre zur Orgel stimmende Tonhöhe schon in der Partitur gesetzt haben, wenn er verhindert war, selbst die Stimmen auszuschreiben und das Geschäft der Transposition keinem andern überlassen wollte. Auch konnte er ja bei der Aufführung eine Transposition des Orgelparts extemporiren. Uebrigens wird durch diesen Nachweis für die genannte Oster-Cantate eine Anzahl von Auffälligkeiten (s. B.-G. VII, Vorwort zu Cantate XXXI) mühelos beseitigt, und für allgemeine chronologische Bestimmungen ein nicht zu verachtender neuer Stützpunkt gewonnen. Man könnte fragen, ob nicht die doppelte Lesart der großen Orgelcomposition in Buxtehudes Stile (P.S. V, C. 3, Nr. 7; B.-G. XV, S. 276), welche sich in C dur und E dur findet, so zu erklären sei, daß die Composition für die hoch stehende weimarische Orgel zuerst in C dur geschrieben worden und später für ein tiefer stimmendes Werk um eine große Terz aufwärts transponirt sei. Allein zunächst wissen wir nichts von der Stimmung der Arnstädter Orgel, ferner sprachen sehr gewichtige innere Gründe für eine frühere Entstehungszeit, und endlich würde es höchst auffällig sein, daß unter den zahlreichen übrigen weimarischen Orgelcompositionen sich keine andre in ähnlicher Transposition findet. Ich glaube auch viel eher, daß man mit der Versetzung nach E dur das Stück für eine ungewöhnlich tief stehende Orgel klanggerecht machen wollte, als es aus einer ungewöhnlich tiefen Setzart in eine angemessene Durchschnittshöhe bringen. – Die um das Jahr 1756 erbaute neue Schloßorgel wurde in den Kammerton gebracht (Adlung, Musica mechanica organoedi I, 282), was vielleicht nicht geschehen wäre, hätte man nicht so lange die Uebelstände einer Cornett-Stimmung empfinden müssen.

18. (S. 397, 520.) Eine wichtige Handhabe für die chronologische Ordnung Bachscher Orgel- und Claviercompositionen bietet das mehrfach erwähnte geschriebene Buch von Andreas Bach (vgl. zweites Buch, I, Anm. 32), welches außer Compositionen von Kuhnau, Polaroli, Reinken, Buxtehude, Böhm, Pachelbel, Buttstedt, Ritter, W.[itt], Pestel, Marchand, Telemann (Melante), Marais, J.C.F. Fischer, Küchenthal und Ungenannten auch vierzehn Stücke von Sebastian Bach enthält, nämlich: 1. Fuge in A dur (P.S. I, Cah. 13, 9). 2. Toccata in Fis moll (P.S. I, C. 4, 4). 3. Ouverture [795] u.s.w. in F dur (P.S. I, C. 13, 4). 4. Passacaglio in C moll (P.S. V, C. 1, 2). 5. Toccata in C moll (P.S. I, C. 4, 5). 6. Toccata in G dur (P.S. I, C. 13, 3). 7. Fuga in G moll (P.S. V, C. 4, 7). 8. Aria variata in A moll (P.S. I, C. 13, 2). 9. Fantasia in C dur (P.S. V, C. 8, 9). 10. Orgelchoral »Gott, durch deine Güte« (P.S. V, C. 6, 25). 11. Fuge über ein Thema von Legrenzi (P.S. V, C. 4, 6). 12. Fantasia in H moll (P.S. I, C. 13, 7). 13. Fantasie mit Fuge in A moll (P.S. I, C. 4, 2). 14. Praeludium in C moll (unveröffentlicht; im Manuscript Blatt 71b und 72a). Andreas Bach, geb. 1713, war der fünfte Sohn von Sebastians ältestem Bruder, aber bei einer etwas genaueren Untersuchung überzeugt man sich bald, daß er garnicht der ursprüngliche Besitzer des Buches gewesen sein kann und es folglich auch nicht geschrieben oder gesammelt hat. Sein Name mit der Jahreszahl 1754 steht nur unten auf der letzten Seite ganz undeutlich und offenbar nachträglich eingezeichnet; entscheidender noch ist, daß er weder je ein Schüler Sebastians, noch überhaupt vorwiegend Clavier- und Orgelspieler war; sein Leben hatte ihn ganz andre Wege geführt. Bis in sein zwanzigstes Jahr in Ohrdruf lebend, trat er 1733 als Hautboist ins Gothaische Dragoner-Regiment und machte einen Feldzug an den Rhein mit, war sodann beim Grafen von Gleichen 5 Jahre Tafeldecker und erhielt hiernach durch Protection zuerst den Organistendienst an der Trinitatiskirche in Ohrdruf, und 1744 nach dem Tode seines Bruders Bernhard den gleichen Posten an der Michaeliskirche. Dieser Bernhard dagegen, geb. 1700, hatte sich zum Orgelspieler und Kirchencomponisten ordentlich ausgebildet und zwar zwischen den Jahren 1715 und 1717 unter Leitung Sebastian Bachs in Weimar. Selbstverständlich that er in dieser Zeit, was alle Schüler thaten: er schrieb sich eine Anzahl der vorzüglichsten Stücke seines Lehrers und andrer von demselben empfohlener Meister zum eignen Gebrauche zusammen. Nichts liegt näher, als die Annahme, daß das Resultat davon eben jenes Buch war, welches zugleich mit dem Amte nach dem Tode Bernhard Bachs auf seinen Bruder überging. Dazu kommt, daß mit einer Ausnahme alle Compositionen Sebastians, und noch manche andre, dieselben gleichmäßigen Schriftzüge zeigen, zum Beweis, daß alles dies um dieselbe Zeit geschrieben wurde, und wiederum paßt die schöne und deutliche, aber etwas gezirkelte und unfreie Hand sehr wohl auf einen 16- bis 17jährigen Jüngling und einen Schüler, der den Compositionen durch kalligraphische Sorgfalt möglichst viel Ehre anthun wollte. Sind nun diese Schlüsse, wie ich nicht bezweifle, richtig, so ergiebt sich daraus, daß alle die genannten Compositionen Seb. Bachs spätestens in Weimar componirt sein müssen, was bei dem größten Theile derselben auch schon aus innern Gründen wahrscheinlich, bei einer von ihnen auf anderem Wege sicher gestellt war. Auf einer so breiten chronologischen Grundlage läßt sich leichter weiter bauen, und manche vereinzelte Anzeichen gewinnen nun erhöhte Sicherheit und Bedeutung. – Uebrigens finden sich die ersten, allerdings sehr oberflächlichen Notizen über das wichtige Buch in C.F. Michaelis' Zusätzen zu Busby's Geschichte der Musik (Leipzig, 1822), Bd. 2, S. 599 ff.

[796] 19. (S. 413.) Wenn letzteres Stück in einer Handschrift J.P. Kellners den Titel führt: »Concerto dell' illustrissimo Principe Giovanni Ernesto Duca di Sassonia appropriato all' Organo a 2 Clav. e Fedale da Giovanni Sebastiano Bach.«, so befindet sich dieser Gewährsmann hier mit sich selbst im Widerspruch, da er in einer andern Handschrift den Satz mit seinen zugehörigen beiden andern Sätzen als Vivaldisch überliefert. Um Auffindung der veröffentlichten Concerte Johann Ernsts habe ich mich, besonders auch dieser Controverse wegen, vielfach, doch vergeblich bemüht. Da jedoch Kellner in allen seinen Handschriften große Flüchtigkeit beweist, auch ein andres Vivaldisches Concert für ein Telemannsches ausgiebt, und das fragliche Concert eine ausgeprägt Vivaldische Physiognomie hat, so halte ich vorläufig die Autorschaft Johann Ernsts für eine Verwechslung. Daß aber eine solche möglich war, zeigt deutlicher wohl, als alles andre, in wie nahen Beziehungen der Prinz zur Uebertragung dieser Concerte gestanden haben muß.

20. (S. 427.) Dieses Praeludium, das in zwei Handschriften mit der Fuge zusammen vorkommt, hat man neuerdings dem Sohne Joh. Pachelbels, Wilhelm Hieronymus, zugeschrieben, und darum auch in der Petersschen Ausgabe der Bachschen Werke unterdrückt. Es wird aber doch wohl Bach als Verfasser zu restituiren sein, da auch in dem sogenannten Fischhoffschen Autograph des ersten Theils des wohltemperirten Claviers (auf der königl. Bibl. zu Berlin) nach der letzten Fuge die ersten 141/2 Takte des Praeludiums von derselben Hand auf die letzten vier Liniensysteme eingetragen und mit dem Titel versehen sind: »Praelude di J.S. Bach.« Selbst wenn das Fischhoffsche Autograph unecht wäre, eine Annahme, gegen die ich meine wohlbegründeten Bedenken hege, müßte man zu dem höchst sorgfaltigen Schreiber von 24 Bachschen Praeludien und Fugen das Zutrauen haben, daß er sich der Authenticität dessen, was er schrieb, versicherte.

21. (S. 481, 482, 495.) Die Texte mußten eine Weile vor Beginn des Kirchenjahres eingeliefert werden, damit der Componist Zeit hatte, sie in Musik zu setzen. Es kam also jedenfalls der dritte Jahrgang schon im Spätsommer oder Frühherbste 1711 nach Eisenach. Ganz unmöglich wäre es nicht, daß Bach schon in diesem Jahre die Dichtungen durch Telemann kennen gelernt und benutzt hätte. Aber jedenfalls hielt man die Erzeugnisse des berühmten Poeten für ein werthvolles Eigenthum, und es ist wenig wahrscheinlich, daß sie eher aus der Hand gegeben wurden, als bis sie für ihre ursprüngliche Bestimmung verwendet waren. Und fast verboten wird die Annahme einer gleichzeitigen Composition Bachs dadurch, daß in der Weihnachtscantate »Uns ist ein Kind geboren« der Bachsche Text von dem bei Tilgner gedruckten und von Telemann componirten abweicht: das 15zeilige Recitativ ist bei Bach auf 6 Zeilen zusammengezogen, der zweite Vers des Strophenliedes ausgelassen und am Schlusse statt der letzten Strophe des Chorals »Gelobet seist du, Jesu Christ« die gleiche Strophe von »Wir Christenleut hab'n jetzund Freud« eingesetzt. Im ersten Jahrgange von [797] Neumeisters »fortgesetzten fünffachen Kirchenandachten« (Hamburg, 1726) findet sich eine mit demselben Bibelspruche eingeleitete und fast ganz übereinstimmend gestaltete Cantate auf den ersten Weihnachtstag, welche gleichfalls mit der letztgenannten Choralstrophe schließt. Aus dieser Uebereinstimmung glaube ich ableiten zu dürfen, daß die von Bach componirte Fassung vom Dichter selber herrührt. Warum und bei welcher Gelegenheit die Veränderung stattgefunden hat, wissen wir nicht mehr, jedenfalls aber geschah sie doch nach dem Bekanntwerden der ersten Version. Daraus folgt wohl, daß Bach diese Cantate nicht vor Weihnachten 1712 componirt haben kann, und, da wir ihn zur Adventszeit 1714 schon mit dem vierten Jahrgange beschäftigt finden, daß er sie entweder hier oder zu derselben Zeit 1713 componirt haben muß. Die Entstehung der Musik zu Sexagesimae »Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt« ist demnach in das Frühjahr 1713 oder 1714 zu setzen, denn es ist anzunehmen, daß Bach, wenn er den Jahrgang einmal benutzte, der Reihe nach ging, und nicht etwa zuerst eine Cantate der vorösterlichen Zeit componirte und später zum Weihnachtsfeste zurückgriff. Für die Ostercantate »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt«, die aus dem ersten Jahrgange entnommen ist, wäre nun freilich der Hypothese ein viel größerer Spielraum gelassen, wenn es nicht so sehr nahe läge, daß Bach auch den ersten Jahrgang erst bei Gelegenheit des dritten kennen gelernt habe, und wenn nicht die Composition im Stile so sehr mit den übrigen zusammenstimmte, ja sogar an technischer Eingewöhnung, zumal im Recitativ, etwas vor ihnen voraus hätte. Aus diesem Grunde möchte ich sie nicht vor der Weihnachtscantate entstanden sein lassen, sondern annehmen, daß sie ebenfalls entweder 1713 oder 1714 für das Osterfest geschrieben ist.

22. (S. 487.) Die Flöten sind allerdings erst später in Leipzig zugesetzt. Sie stehen in A moll und im französischen Violinschlüssel und sind nicht autograph, sondern nur von Bach revidirt. Die Schreibart scheint mir ganz erklärlich: es brauchten so nur einfach die ersten beiden Violenstimmen copirt und einige Versetzungszeichen geändert zu werden. Die Orgel spielte dann G moll, das wie A moll des Kammertons klang, und in der That findet sich nur eine bezifferte Orgelstimme in G moll, nicht auch in F moll. Das Fagott blies ebenfalls A moll und es ist auch eine unbezifferte Bassstimme in dieser Tonart vorhanden. M. Hauptmanns Behauptung (im Vorwort zur Cantate), diese Flöten müßten um eine None tiefer erklingend, also mit den Violen in gleicher Tonhöhe gedacht werden, ist mir nicht verständlich. Hat er an Tenorflöten gedacht, so konnten diese doch weder im Violinschlüssel, noch in A moll aufgezeichnet werden.

23. (S. 505.) Außer dem Partitur und Stimmen umfassenden Autographe, welches die königl. Bibliothek zu Berlin bewahrt, findet sich ebenda eine alte Copie der Partitur, welche über dem Anfange rechts in der Ecke die Jahreszahl 1731 trägt. Hierdurch veranlaßt hat Zelter auch auf dem Umschlag der autographen Partitur die Bemerkung hinzugefügt: » di | J.S. Bach |. 1731 |.« In eine andre und, wie die Vergleichung des Stils auf den ersten [798] Blick erweist, um ein beträchtliches später componirte Cantate auf den ersten Pfingsttag hat Bach aus jener das Duett und die Bassarie hinüber genommen, das Duett mit seiner eigenthümlichen Meisterschaft zum Einleitungschor mit erweiterter Begleitung umgearbeitet, die Bassarie als Sopranarie nach F dur transponirt, die Violine mit einer Oboe da caccia vertauscht, einen andern Text untergelegt und das so entstandene Stück an den zweiten Platz gestellt; die übrigen sechs Nummern sind ganz neu (B.-G. XVIII, Nr. 74). Vergleicht man beide Cantaten mit einander vom Standpunkte der Thatsache aus, daß Bach den vierten Neumeisterschen Jahrgang gleich bei seinem Erscheinen benutzte, so drängt sich sofort die Ueberzeugung auf, daß die chronologische Notiz durch eine Verwechslung des Copisten auf das unrechte Manuscript gekommen, und nicht die ältere sondern die jüngere Pfingstmusik im Jahre 1731 componirt ist. Ein eigenthümlicher Umstand kommt hinzu, um hierüber volle Gewißheit zu bewirken; derselbe giebt zugleich eine neue Versicherung, daß die ältere Cantate in Weimar entstand, und verhilft endlich auch noch zu der Compositionszeit einer dritten Cantate. Auf den leeren Schlußzeilen der auf den Kopf gestellten autographen Partitur findet sich die flüchtige Andeutung des Anfangs vom Schlußchor einer Cantate auf den zweiten Pfingsttag (»Also hat Gott die Welt geliebt«, B.-G. XVI, Nr. 68). Man begegnet in den Bachschen Handschriften öfter der Erscheinung (so z.B. auch in der Cantate »Ach lieben Christen, seid getrost«), daß der Meister irgend ein Motiv, das ihm während des Componirens einfiel, auf eine beliebige freie Stelle, die ihm grade zur Hand war, rasch notirt hat. Die genannte Cantate ist nun dieselbe, in welcher sich die schöne Arie findet »Mein gläubiges Herze, frohlocke, sing, scherze«, die bekanntlich auf einer Umarbeitung einer Arie aus der weltlichen Cantate »Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd« beruht. Diese Cantate wurde aber, wie weiter unten nachgewiesen werden soll, im Jahre 1716 componirt. Der Vorgang ist nun klar. Bach mußte für die Pfingsttage des Jahres 1731 zwei Festmusiken haben. Da es ihm an Zeit oder Lust fehlte, zwei ganz neue zu componiren, griff er für den ersten Festtag zum Theil auf eine ältere Arbeit zurück. Während er mit der Umgestaltung derselben beschäftigt war, fiel ihm ein passendes Fugenthema für die Cantate zum zweiten Festtage ein, und er notirte es ohne weiteres auf die vor ihm liegende Partitur der älteren Musik. Durch die Beschäftigung mit dieser war aber die Erinnerung an jene Zeit und seine damaligen Künstlerthaten und Erlebnisse in ihm wach geworden, seine Gedanken geriethen auf die zum Geburtstage des Herzogs von Weißenfels im Jahre 1716 von ihm gesetzte Festmusik, und er fand, daß sich daraus etwas für die zweite Pfingstcantate benutzen lasse. Wenn die ältere Cantate »Wer mich liebet« aber in Weimar componirt ist, so kann sie nur für Pfingsten 1716 bestimmt gewesen sein, denn in den Jahren 1715 und 1717 lagen für die Pfingstmusiken andre, vom Herzog zur Composition bestimmte Texte vor. Hierüber ist Nr. 27 und 32 dieses Anhanges einzusehen. Uebrigens sind in der Copie, welche fälschlich die Jahreszahl 1731 trägt, noch mehre Abweichungen vom Original; statt des Soprans in Duett und Recitativ ist ein [799] Tenor gesetzt, und der Choral »Komm, heiliger Geist« ans Ende gerückt. Da wir den Schreiber schon auf einem bedeutenden Irrthume ertappt haben, wird man nicht eben gern glauben wollen, daß er zu diesen Aenderungen von Bach autorisirt war, zumal in den vom Componisten selbst geschriebenen Stimmen, die nach Tinte, Papier und Schrift aus einer späteren Zeit zu stammen scheinen, als die Partitur, sich keine Spur davon entdecken läßt. Eine Andeutung aber, daß Bach auch auf die Bassarie noch einen Choral folgen lassen wollte, enthalten in der Bassstimme die Worte: »Chorale Segue«. In der Partitur freilich weist kein Zeichen darauf hin, obwohl auf der letzten Seite noch sechs leere Notenzeilen übrig waren. Allein dies ist nicht der einzige Fall, daß Bach den Schlußchoral ausließ, auch in der Adventscantate von 1715 »Bereitet die Wege, bereitet die Bahn« fehlt er, und muß auf ein besonderes Blatt geschrieben gewesen sein. Wenn Bach die Trompeten und Pauken selbständig beschäftigen wollte, so dünkte ihm wohl der Raum von sechs Zeilen nicht genügend; er schrieb den Choral auf ein einzelnes Blatt, jede Stimme ebenfalls, so konnte alles leicht verloren gehen. Der Choral stand dann jedenfalls in A moll; daß Anfang und Schluß der Cantate nicht in der Tonart zusammenstimmen, wird nach der Adventscantate von 1714 Niemanden befremden. Bei Aufführungen ließe sich der Tonsatz aus der Cantate »Bleib bei uns, denn es will Abend werden« (B.-G. I, Nr. 6) verwenden.

24. (S. 507.) In der Amalien-Bibliothek des Joachimsthaler Gymnasiums zu Berlin, Bd. Nr. 43, letztes Stück, findet sich eine Handschrift folgenden Titels: »Cantata. | Herr Christ der einge u.s.w. | a | 2Violini | Viola | Soprano, Alto, | Tenore, Basso | e |Fondamento. | del Sign. J.S. Bach. |« Dieser Composition, die nicht mit jener großen Bachschen Cantate gleichen Anfangs auf den 18. Trinitatis-Sonntag, welche mit einem mächtigen Choralchore beginnt, zu verwechseln ist, liegt ein von Neumeister auf Mariae Verkündigung gedichteter Text des vierten Jahrganges zu Grunde. Aber trotzdem, daß die Handschrift ausdrücklich Bach als Autor nennt, bin ich durchaus überzeugt, daß nicht er, sondern Telemann die Cantate componirt hat. Bach hatte sie sich vielleicht abgeschrieben, wie die Cantate »Machet die Thore weit«, von der Bachs eigenhändige Copie noch auf der königl. Bibliothek zu Berlin bewahrt wird; oder der Freund hatte sie ihm geschenkt, und durch ein Versehen ging sie unter Bachs eignem Namen weiter. Daß die Bachsche Flagge Telemannsches Gut deckte, davon wäre dies nicht das einzige Beispiel. Im Kataloge über den Nachlaß Philipp Emanuel Bachs ist eine doppelchörige Motette aus C dur: »Jauchzet dem Herrn alle Welt« als Sebastians Arbeit bezeichnet, und wird auch jetzt noch als solche aufgeführt, die Telemann gehört und nur deshalb Bach zugeschrieben wurde, weil irgend wer den gewaltigen Choralchor aus des letzteren Cantate »Gottlob nun geht das Jahr zu Ende« (B.-G. V, 1, Nr. 28) in die Mitte hineingeschoben hatte. Richtig ist es noch, was Fischhoff in dem einst ihm gehörigen Manuscript bemerkt, daß auf einer Handschrift des WienerConservatoriums als Autoren Bach und Telemann angegeben seien. [800] Aber dafür, daß Bach die Cantate zu Mariae Verkündigung nicht componirt haben kann, wäre der Nachweis wiederholter Vorkommnisse dieser Art garnicht einmal nöthig. Niemals hat er z.B. eine Cantate mit einem einfach vierstimmigen Chorale begonnen, wie es hier geschieht, und niemals eine Vocalfuge über ein Thema geschrieben, wie es hier dem Schlußsatze dient:


Kritische Ausführungen

Auch die beiden Arien und das Recitativ sind kaum Bachisch zu nennen, jene haben eine zu flache Freundlichkeit, dieses ist zu ausschließlich declamatorisch. Wer aber sich mit Telemanns Compositionsweise etwas vertraut gemacht hat, wird seine Spuren überall leicht entdecken, besonders in dem angeführten Thema und in der Stimmführung des Chorals.

25. (S. 508.) Der einzige, welcher Bachs Reise nach Cassel erwähnt, ist Constantin Bellermann, einstmaliger Rector zu Minden, ein geborner Erfurter. Er veröffentlichte 1743 ein jetzt sehr selten gewordenes Programm, folgenden Titels: »Programma | in quo | Parnassus | Musarum | voce, fidibus, tibiisque resonans, | sive | musices, artis divi- | nae, laudes, diversae species, singulares effectus, atque primarii auctores succincte, | praestantissimique melopoetae cum | laude enarrantur; | simul et illustres civitatis Mundae proceres, | summique patroni, bonarum artium | fautores, atque amici | ad audiendas quasdam orationes scholasticas, | submisso animi cultu, | debitaque reverentia, et humanitate | in Lyceum Mundense invitantur | a | Constantino Bellermanno, |P.L.C. et Rectore ibidem CIƆDCCXXXXIII | cum censura. |« 4. 47 Seiten, wovon die königl. Bibliothek zu Berlin ein Exemplar aufbewahrt. Hier finden sich auf S. 39 folgende Bach betreffende Sätze: »BACHIUS Lips.1 profundae Musices auctor his modo commemoratis [Mattheson, Keiser, Telemann]non est inferior, qui, sicut HAENDELIUS apud ANGLOS, Lipsiae miraculum, quantum quidem ad Musicam attinet dici meretur, qui, si Viro placet, solo pedum ministerio, digitis aut nihil, aut aliud agentibus, tam mirificum, concitatum, celeremue in Organo ecclesiastico mouet vocum concentum, ut alii digitis hoc imitari deficere videantur. Princeps sane hereditarius Hassiae FRIDERICUS BACHIO tunc temporis, Organum, vt restitutum ad limam vocaret CASSELLAS Lipsia accersito eademue facilitate pedibus veluti alatis transtra haec, vocum gravitate reboantia, fulgurisque in morem aures praesentium terebrantia, percurrente, adeo Virum cum stupore est admiratus, [801] ut annulum gemma distinctum, digitoque suo detractum, finito hoc musico fragore ei dono daret. Quod munus, si pedum agilitas meruit, quid quaeso daturus fuisset Princeps (cui soli tunc hanc gratiam faciebat,) si et manus in subsidium vocasset.« Wie man sieht, soll nach dieser Erzählung Bach von Leipzig aus nach Cassel gegangen sein. Allein hier muß sich Bellermann notwendigerweise geirrt haben, denn es ist keine Zeit denkbar, wo dies geschehen sein könnte. Der Erbprinz Friedrich war seit dem Ende des Jahres 1714, wo er sich über Stralsund nach Stockholm begab, um dort im Jahre 1715 mit Ulrike Eleonore, der Schwester Karls XII. von Schweden, seine zweite Ehe zu schließen, von Deutschland abwesend bis zum Jahre 1731, wo er als Landgraf in Hessen einzog, nachdem sein Vater ein Jahr vorher gestorben war. Er kehrte aber alsbald in sein Königreich Schweden zurück und ließ Hessen durch seinen Bruder verwalten. Ob er späterhin noch einmal wieder nach Deutschland gekommen ist, was immer nur ganz vorübergehend gewesen sein könnte, darüber kann ich nichts angeben. Es ist aber auch ganz gleichgültig, da Bellermann, dem die Geschichte von den Erfurter Verwandten, vielleicht von Bach selbst, der zuweilen nach Erfurt kam, erzählt sein muß, den König und Landgrafen Friedrich mit dem Erbprinzen Friedrich keinesfalls verwechselt haben würde. Nur vor den letzten Monaten des Jahres 1714 also kann Bach in Cassel gewesen sein. Der Erbprinz war im spanischen Erbfolgekriege commandirender General und deshalb bis zum Utrechter Frieden 1713 meist außer Landes. Doch pflegte er zur Winterzeit sich in Hessen aufzuhalten, man kann also nicht mit Sicherheit schließen, daß Bachs Casseler Reise nur in die Jahre 1713–1714 gefallen sein könne. War es die Orgel der Hofkirche, welche renovirt worden, so ist auch nach dieser Seite für eine genauere Bestimmung kein Anhalt zu gewinnen, denn in den Acten des Staatsarchivs, auf die sich alle meine Mittheilungen stützen, war von einem solchen Ereigniß keine Spur mehr zu finden. Möglicherweise ist jedoch auch eine andre gemeint. Bellermanns Irrthum konnte leicht entstehen: man bedenke nur, daß Sebastian Bach in den späteren Decennien seines Lebens immer kurzweg der Leipziger Bach hieß; Fernerstehende konnten es leicht vergessen, daß er in jüngern Jahren auch in Weimar gewesen war, wenn sie es überhaupt gewußt hatten. Uebrigens wird Bellermanns Erzählung erwähnt von Adlung, Anleit. zur mus. Gel. S. 690, Anmerk. i.

26. (S. 516.) Bei der Untersuchung der Acten ist Chrysander ein folgenschwerer Irrthum begegnet; er hat die Orgeldisposition als eine von Bach eigenhändig geschriebene angesehen und daraus die zum Theil naheliegenden Schlüsse gezogen, Bach habe die Disposition selbst gemacht, sie stelle sein damaliges Ideal einer Orgel dar, er sei mit Cuncius nahe befreundet gewesen, von diesem zur Reise, nach Halle und zur Bewerbung um den Dienst veranlasst, auch durch dessen Vermittlung zur Orgelprüfung zugezogen. Bach schrieb aber die Disposition nicht; sie wird von irgend einem Copisten nach Cuncius' Entwurfe angefertigt sein, Cuncius unterzeichnete [802] sie. Schon die groben orthographischen Schnitzer darin, wie Sexquialtera, Tre Verss, Flöte douss, mußten stutzig machen bei einem Manne, der des Lateinischen recht wohl, und des Französischen wenigstens nothdürftig kundig war (man vergleiche seine Mühlhäuser Disposition). Der ganze Sachverhalt erscheint danach in einem falschen Lichte; auch sonst ist die Beleuchtung, in welche Chrysander Bach in dieser Angelegenheit zu bringen sucht, eine unbegründet ungünstige. – Ich benutze diesen Ort, um Herrn Musikalienhändler Karmrodt in Halle, der, als meine eigene Collation der Acten mir bei der Ausarbeitung nicht überall hinreichend erschien, diese nochmals der sorgfältigsten Prüfung unterworfen hat, meinen freundlichsten Dank zu sagen.

27. (S. 525, 548, 554.) Der erste selbständige Jahrgang Franckscher Cantatentexte, dessen völliger Titel vorn unter Anmerk. 16 mitgetheilt ist, trägt hier die Jahresangabe 1715 und unter der Zueignungsschrift an den Herzog das genauere Datum des 4. Juni 1715. Er beginnt mit dem ersten Advent und schließt mit dem 27. Trinitatis-Sonntage, ein Anhang enthält noch fünf Cantaten zu besondern Bestimmungen. Man könnte nun zweifelnd sein zwischen den Kirchenjahren 1714–1715 und 1715–1716. Aber wir besitzen zum 4. Advents- und 4. Trinitatis-Sonntage die autographen Bachschen Partituren, und beide tragen die Jahreszahl 1715. Es kann also unmöglich die Reihe der Aufführungen mit der Adventszeit begonnen haben. Es kann aber auch nicht später als mit dem Sonntage Cantate des Jahres 1715 der Anfang gemacht sein. Denn von diesem Sonntage an bis einschließlich Mariae Heimsuchung haben sich (jetzt auf der großherzoglichen Bibliothek zu Weimar) die Separatdrucke erhalten – jedesmal zwei schmale Octavblättchen, deren erste Seite dem Titel dient –, die mit aller nur wünschenswerthen Bestimmtheit das Datum der Aufführung angeben. Der Cantate-Text z.B. trägt folgende Bezeichnung: »CANTATA | Auf den Sonntag CANTA- | TE 1715. in der Fürstl. | Sächsischen Hof-Capelle zur | Wilhelms-Burg zu mu- | siciren. |« Zur weiteren Orientirung dient eine Notiz in den Gesammt-Kammerrechnungen von Michaelis 1714–1715, wo es unter dem Titel »Drucksachen« heißt: »13 fl. 15 ggr. vor 6 Ries Schreib und 12 Ries Druckpapier zu den Kirchen Cantaten. 9 Juli 1715.« Hierdurch wird bewiesen, daß nicht lange vorher, jedenfalls im zweiten Jahresquartal, der Buchdrucker Mumbach sich auf herzogliche Anweisung Papier von einem Händler liefern ließ, der darüber am 1. Juli Rechnung einreichte, welche am 9. durch die herzogliche Kasse ausgeglichen wurde. (Die Menge des Papiers erklärt sich aus der Anfertigung der Einzeldrucke, welche für jeden Sonntag unter die Kirchenbesucher zum Nachlesen vertheilt wurden.) Auch das Datum der Widmung weist in das zweite Jahresquartal, denn Franck konnte doch unmöglich seinem Herzog etwas dediciren, was schon lange in dessen Hofcapelle im Gebrauche gewesen war; dagegen ist es ganz begreiflich, daß der Gesammtdruck einige Wochen später fertig wurde, als die für das Bedürfniß der Gemeinde zunächst zu besorgenden Einzeldrucke. [803] Begann nun der Jahrgang factisch mit dem SonntageCantate? Ich glaube es nicht. Ostern fiel auf den 21. April, und es wäre allzu auffällig, wenn man nicht irgend einen Festtag gewählt hätte, die neue Einrichtung ins Leben treten zu lassen. So wird denn der Jahrgang von Ostern 1715 bis Ostern 1716 sich erstreckt haben. Hierdurch erklärt sich nun auch die sonst auffallende Thatsache, daß es für das Kirchenjahr 1715–1716 keinen Cantaten-Jahrgang giebt, während sie für 1716 bis 1717 und 1717–1718 wieder vorhanden sind. In die Zwischenzeit fiel dann die Pfingstcantate »Wer mich liebet« nach Neumeisters Text, und auch sonst wird man sich beholfen und in der festlosen Zeit überhaupt wohl nicht regelmäßig Musik gemacht haben. Die Frage, ob Franck schon vorher, etwa für 1714 auf 1715 einen Jahrgang Cantaten in Neumeisters Weise für die Hofkirche geschrieben habe, muß man mit Hinblick auf die dem »Evangelischen Andachts-Opffer« vorgedruckte Zueignung an Wilhelm Ernst verneinen. Schon daß er überhaupt dies Werk dem Fürsten dedicirte, was er bei den folgenden beiden Jahrgängen unterließ, deutet auf ein erstes in seiner Art. Er hätte freilich ein früheres, etwa verloren gegangenes ihm auch gewidmet haben können. Aber dann konnte er es kaum umgehen sich darauf zu beziehen und nicht wie jetzt ganz einfach schreiben: »Eu. Hoch-Fürstl. Durchl. geruhen diesemnach gnädigst zu erlauben, daß gegenwärtige zu GOttes Ehre und Ermunterung heiliger Andacht auf Dero Christ-Fürstliche gnädigste Verordnung in Christlicher Einfallt von meiner Wenigkeit verfertigte Evangelische Cantaten Deroselben in tieffster Submission dedicire und zuschreibe.« Auch daß in den Kammerrechnungen der vorhergehenden Jahre keine Spur ähnlicher Ausgaben für Druck- und Schreibpapier zu finden ist, verdient Beachtung. Das jedoch ersieht man ebenfalls aus der Zueignungsschrift, daß der Herzog schon vorher sich lebhaft für die Beschaffenheit der Musik in der Schloßkirche interessirt hatte. Unmittelbar vorher sagt nämlich Franck, nach dem er die vielen Verdienste Wilhelm Ernsts gepriesen hat: »Unter denen in Dero Fürstlichen Hof-Kirche angerichteten schönen GOttes-Diensten des HErrn ist auch die devote und Hertz-erquickende Music, als ein Vorschmack der himmlischen Freude, eines unsterblichen Lobes würdig.« Der Haupttheil dieses Lobes gebührt wohl Bach; bei Francks poetischer Gabe aber wäre es merkwürdig, wenn er sich nicht auch früher schon auf Wunsch des Herzogs mit dem Tonmeister zu gemeinsamer Arbeit vereinigt hätte. Wir werden uns an den Gedanken gewöhnen müssen, daß hier manche Verluste zu beklagen sind. So ging z.B. am 6. Nov. 1713 die Einweihung der neu erbauten Jakobskirche zu Weimar mit großartiger Feierlichkeit vor sich. Ein ausführliches Programm in Folio wurde dazu gedruckt, es befindet sich noch im Archiv zu Weimar und enthält auch den vollständigen Text der eigens zu diesem Zwecke componirten Cantate. Der Text, beginnend mit einem Chor:


»Hilff, laß alles wohl gelingen,

Hilff! Herr GOtt wir loben dich,« u.s.w.


und in der vorn beschriebenen mittleren Cantaten-Form gehalten, muß [804] schon aus diesem Grunde Francks Werk sein, verräth sich als solches aber auch durch die jenem eigenthümlichen Wendungen. Wie wahrscheinlich ist es unter den damaligen Verhältnissen, daß Bach die Musik dazu setzte!

Aber zwei werthvolle Cantaten aus der Zeit vor dem 21. April 1715 sind uns erhalten: »Ich hatte viel Bekümmerniß« auf den dritten Trinitatis-Sonntag, und »Himmelskönig, sei willkommen« auf Palmarum. Nur die erstere trägt die Jahreszahl 1714, nichtsdestoweniger ist nachzuweisen, daß auch die zweite um jene Zeit componirt wurde. Die Texte finden sich in keiner der Franckschen Gedichtsammlungen, aber von Franck sind sie dennoch. Schon die Versmaße beweisen das. Er liebt kurze Reimzeilen und eine auffällige Verbindung derselben mit längeren, wie in der Trinitatis-Cantate:


Seufzer, Thränen,

Kummer, Noth,

Aengstlichs Sehnen,

Furcht und Tod u.s.w.


oder später:


Komm, mein Jesu, und erquicke

Und erfreu mit deinem Blicek

Diese Seele,

Die soll sterben,

Und in ihrer Unglückshöhle

Ganz verderben.


Oder in der Dichtung auf Palmarum:


Himmelskönig, sei willkommen,

Laß auch uns dein Zion sein!

Komm herein,

Du hast uns das Herz genommen,

Himmelskönig, sei willkommen.


Parallelstellen dazu bieten besonders die Cantaten des 2. Theils der »Geistund weltlichen Poesieen« in großer Menge. Ich führe nur zwei an:


Bleib! denn es will Abend werden!

Höchstes Licht!

Laß uns nicht!

Weyde doch die kleine Heerden!

Bleib! denn es will Abend werden! (S. 153.)


und:


Komm! mein Liebster! laß dich küssen!

Komm! mein auserwehltes Licht,

Säume nicht!

Komm! mein Leyden zu versüssen! (S. 154.)


Auch Strophen aus je vier tribrachyschen Tetrapodien, deren erste zwei einen weiblichen und deren letzte beide einen männlichen Ausgang haben, wie solche der letzten Arie in »Ich hatte viel Bekümmerniß« zu Grunde liegen:


Erfreue dich Seele, erfreue dich Herze,

Entweiche nun Kummer, verschwinde du Schmerze,

Verwandle dich Weinen in lauteren Wein,

Es wird nun mein Aechzen ein Jauchzen nur sein.


[805] wendet Franck gern an z.B. Geist- und weltl. Poesien II, 138. Die künstlichen Reimverschlingungen des ersten Recitativs derselben Cantate:


Kritische Ausführungen

und sodann


Kritische Ausführungen

finden sich ebenfalls besonders in den Geist- und weltlichen Poesien, während in dem »Evangelischen Andachts-Opffer« diese für die Musik ganz überflüssige Spielerei verständigerweise beschränkt ist. Eine vornehmliche Neigung hat Franck für Duette zwischen der Seele und Jesus, es stehen solche Geist- und weltl. P. II, 146. 151 ff. Evang. And. 21. 192. 204. 207, Evangelische Sonn- und Festtags-Andachten 5 f. Auf Seite 152 der ersten Sammlung ist auch die metrische Anordnung ganz dieselbe, wie in dem Zwiegesang der Trinitatis-Cantate. In einzelnen Ausdrücken herrscht gleichfalls große Uebereinstimmung. Franck gebraucht ungemein häufig den Ausdruck: Gnadenblicke, der in dem erwähnten Duette Jesu in den Mund gelegt ist; singt daselbst die Seele:


Ich muß stets in Kummer schweben


so lesen wir Geist- und weltl. P. II, 135:


Hertz und Seele, Geist und Sinn

Sollen stets bey JEsu schweben!


ebenda S. 155:


Muß ich noch im Fleische leben,

Soll mein Hertz doch um dich schweben.


In der oben angeführten tetrapodischen Strophe bemerkt man eine antithetische Spielerei zwischen »Weinen« und »Wein«, zugleich mit einer Anspielung auf Christi Wunder bei der Hochzeit zu Cana, wo er Wasser in Wein verwandelt. Man vergleiche dazu Geist- und weltl. P. I, 116:


Liebste Seele, dencke nicht,

Als ob GOtt von dir geschieden,

Wenn der Freuden-Wein gebricht.


Evangel. And. S. 7:


Schmach und Schande

Wird der Frommen Crone sein,

Ihre Thränen, Freuden-Wein!


ebenda S. 33:


Das Thränen-Maaß wird stets voll eingeschencket,

Der Freuden-Wein gebricht.


Die Leiden des Lebens werden, wie in der zweiten Arie der Cantate, oftmals durch Bilder vom Meere versinnlicht; einmal (Geist- u. weltl. P. II, 142) findet sich sogar der Ausdruck: »aus Wellen der Bekümmernißen«. Im ersten Recitativ findet sich der unreine Reim »worden – Orten«, veranlaßt durch die weiche thüringische Aussprache des t. Franck reimt sehr häufig »binden, finden« und ähnliche Wörter mit »dahinden« d.i. dahinten. Die Cantate »Himmelskönig, sei willkommen« erweist sich als Francksche Dichtung hinreichend auch schon durch die Anordnung ihrer Theile, nämlich: [806] Chor, Bibelspruch (als Arioso), Arie, Arie, Arie, Choral, Schlußchor. Daß die Anreihung mehrer Arien verschiedenen Versmaßes ohne zwischengeschobene Recitative eine Francksche Eigenthümlichkeit sei und, soweit sich erkennen läßt, nur bei ihm vorkomme, habe ich schon gesagt. Und auch die Eigenheit findet sich anderwärts bei ihm, auf einen Choralchor noch einen freien Chor folgen zu lassen, vrgl. Geist- u. weltl. P. II, S. 192; Evang. And. S. 202 (derselbe Text). Ueberhaupt aber entscheidet mit eben so großem Gewicht für die Autorschaft Francks bei diesen zwei Texten die allgemeine Haltung und die Gedankensphäre, in der sie sich bewegen. Die hier bestehende Uebereinstimmung läßt sich nicht entwickeln, sondern nur als Totaleindruck empfinden. Da ist sie aber auch so einleuchtend, daß ich es getrost einem jeden selbst überlassen darf, zu prüfen. Sollte es hiernach nun jemandem auffallend sein, daß die Texte sich nicht in dem zweiten Theile der Geist- und weltl. Poesien gedruckt finden, so zwingt nichts zu der Annahme, der Dichter habe in ihn seine sämmtlichen noch unveröffentlichten Poesien aufgenommen. Daß er schon bei dem ersten Theile nur auswählend verfuhr, bezeugt ausdrücklich Lorbeer unter seinem vorgedruckten Lobgedichte, warum sollte er es bei dem zweiten Theile nicht ebenso gemacht haben? Wir werden später noch andere Gedichte als Francksche erkennen müssen, die ebenfalls, soviel bekannt geworden, nicht veröffentlicht sind. Vielleicht gefielen ihm die Texte nicht mehr, vielleicht hatte er sie auch grade nicht bei der Hand; wie leicht konnten sich doch solche Blättchen verzetteln!

Die Entstehungszeit der Cantate »Ich hatte viel Bekümmerniß« kennen wir durch Bachs eigenhändige Notiz, denn etwas andres, als die Entstehungszeit dürfte nach Bachscher Praxis das Datum auf dem Umschlage der Stimmen nicht bedeuten. Die Cantate kann also nicht wohl, wie vermuthet worden ist (Chrysander, Händel I, S. 22), die im Herbst 1713 für Halle componirte sein. Sie kann es zumal dann nicht, wenn Franck den Text verfaßte, denn Bach componirte das Probestück in Halle ganz unvorhergesehen und sicherlich auf Worte, die ihm dort unterbreitet wurden. Jene Vermuthung bildete sich wohl zum Theil nur deshalb, weil man früher von Bachs reicher Thätigkeit als Cantatencomponist in jener Zeit noch keine Kunde hatte. Die Entstehungszeit der Cantate »Himmelskönig, sei willkommen« haben wir zu combiniren. In Weimar ist sie geschrieben; dies läßt sich aufs sicherste aus der Beschaffenheit eines Theiles des Originalmanuscripts beweisen. Die königl. Bibliothek zu Berlin besitzt im Autograph die Partitur und je eine Flöten- und Violinstimme, die übrigen Stimmen hat Bach von Copisten schreiben lassen. Unter der Gesammtmasse der Stimmen nun ist ein kleiner Theil, der in Weimar geschrieben wurde, nämlich außer den beiden autographen Stimmen je ein Sopran, Alt, Tenor und Bass, und zwar ergiebt sich dies aus dem Wasserzeichen des Papiers. Wir kennen zu der Advents-Cantate »Bereitet die Wege, bereitet die Bahn« durch Bachs eigne Handschrift das Jahr 1715 als Entstehungszeit. Das Papier derselben hat ein sehr scharf hervortretendes Wasserzeichen, gleichsam ein M, an dessen rechtem Grundstriche zwei schräg in die Höhe gegerichtete [807] Arme befindlich sind, ungefähr in dieser Form:


Kritische Ausführungen

Dies Zeichen findet sich ferner im Papier des Autographs zur Cantate »Mein Gott, wie lang, ach lange« aus Francks »Evangelischem Andachts-Opffer«, wo sich auf der andern Seite des Bogens noch eine nicht minder deutliche Figur hinzugesellt: eine zweizinkige Gabel, welche auf einem Halbrund steht:


Kritische Ausführungen

Weiter sind dieselben beiden Zeichen in der Cantate »Nur jedem das Seine« erkennbar, und diese stammt gleichfalls aus dem Evangelischen Andachtsopfer; auch die Farbe des Papiers stimmt überein. Und endlich treten sie selbst in einem Autograph Walthers hervor, der ja immer in Weimar lebte, einer Copie von zwei Frobergerschen Toccaten, die sich auf der Bibl. des königl. Instituts für Kirchenmusik in Berlin befindet. Es steht also fest, daß ein so gezeichnetes Papier in Weimar damals gebraucht wurde. Ich habe alle Bachschen Autographe, die mir durch die Hand gegangen sind, auf ihre Wasserzeichen untersucht und mich überzeugt, daß dasselbe Papier weder in Cöthen noch Leipzig – und auf diese beiden Orte kann es hier allein ankommen – im Gebrauch war. Wo ich es nur entdeckte, deuteten sofort auch andre Zeichen auf Weimar, und in allen Autographen, die theils nachgewiesenermaßen zu Leipzig geschrieben waren, theils durch Schriftzüge und Inhalt deutlich auf diesen Ort zeigten, sind die Wasserzeichen ganz andrer Art. Sehr häufig findet man hier einen Halbmond, oder die Buchstaben MA, nicht selten eine füllhorn- oder körbchenartige Figur mit breitem Oberrande, dessen Fläche durch allerhand Striche und Züge geziert ist, die auf das erste Hinblicken fast wie Buchstaben aussehen; von diesem Oberrande laufen geschwungene Linien nach unten spitz zu. Zuweilen findet sich auch ein Hirsch, oder ein einfacher Adler, anderer Signaturen nicht zu gedenken. Der oben specificirte kleinere Theil der Stimmen also enthält jene ausschließlich weimarischen Wasserzeichen in sprechender Deutlichkeit, und hiermit ist die Entstehung der Cantate in Weimar entschieden. Man kann aber aus der Beschaffenheit des übrigen Manuscripttheiles sehr wohl die weiteren Schicksale der Composition herauslesen. Die andre, größere Partie der Stimmen ist von der Hand eines Copisten geschrieben, dessen sich Bach in Leipzig sehr häufig zu bedienen pflegte, auch zeigen die Wasserzeichen: Halbmond, MA und Füllhorn ihre Herkunft an; zu ihnen gehört ein eigner Umschlag. Die autographe Partitur endlich wird durch das Zeichen des Füllhorns ebenfalls nach Leipzig verwiesen (auf den ersten Blättern der beiden Anfangsbogen steht statt dessen ein ziemlich großes W), aber die reizend sorgfältige Schrift, die fast durchweg mit Lineal gezogenen Taktstriche, die beinahe gänzliche Abwesenheit aller Aenderungen und Correcturen, endlich das Fehlen des J.J. am Anfange und des S.D.G. am Schluß lassen für jeden, der Entwürfe Bachscher Partituren kennt, die vorliegende als eine Abschrift erscheinen. Das Werk war also in Weimar componirt und aufgeführt, in Leipzig suchte es später der Meister wieder hervor, ließ die Zahl der Stimmen den Verhältnissen entsprechend vermehren und schrieb die Partitur [808] des ihm offenbar lieben Werkes ins Reine. Auch in den beiden autographen Stimmen ist der letzte Chor im 6/8 Takt von Bach mit seinen Leipziger Schriftzügen hinzugesetzt; wahrscheinlich hatte er ihn zu Anfang anders instrumentirt.

Ist die Cantate in Weimar componirt, so frägt sich nur noch, in welchem Jahre? Nach dem Osterfeste von 1715 kann es nicht gewesen sein, da von hier ab die Franckschen vollständigen Jahrgänge vorliegen, ebensowenig aber wohl vor 1712, da schon der Text allein die Bekanntschaft mit Neumeisters Cantaten nothwendig voraussetzt, und diese vor 1712 nicht von Eisenach nach Weimar gekommen sein werden. Die große Aehnlichkeit in der Gestaltung aber, die sie mit der Cantate »Ich hatte viel Bekümmerniß« zeigt, rückt sie ganz nahe an diese heran. Gemeinsam ist beiden eine nach gleichem Princip gebildete Symphonie, gemeinsam eine breite, beide Male gleich vortreffliche Choralbearbeitung, die auch hier wie dort ungefähr an derselben Stelle steht. In der Fugirung der andern Chöre findet sich manches Uebereinstimmende. Beide Cantaten enthalten drei Arien, deren je eine mit bloßem Continuo, mit einem concertirenden Soloinstrumente und mit Streichquartett begleitet wird. Es ist also anzunehmen, daß sie entweder am 25. März 1714 oder am 14. April 1715 zuerst aufgeführt wurde.

28. (S. 534.) Bach hat außerdem aus dem »Evangelischen Andachts-Opffer« noch componirt die Texte zum Trinitatisfeste (»O heilges Geist- und Wasser-Bad«), zum 9. Sonntage nach Trinitatis (»Thue Rechnung! Donnerwort, das die Felsen selbst zerspaltet«), zum 13. Sonntage nach Trinitatis (»Ihr, die ihr euch von Christo nennet)« und zum 3. Sonntage nach Epiphanias (»Alles nur nach Gottes Willen«, B.-G. XVIII, Nr. 72). Von der ersten Cantate ist die autographe Partitur auf der Amalien-Bibliothek des Joachimsthaler Gymnasiums zu Berlin (Nr. 105), die autographen Partituren der übrigen sind auf der königl. Bibliothek daselbst, zu den letzten beiden werden dort auch die theilweise autographen Stimmen aufbewahrt. Alle vier Cantaten sind nicht in Weimar componirt; ihre breiten und tiefsinnigen Formen weisen auf Leipzig. Aeußere Zeichen weisen ebenfalls dahin, bei der ersten das Papier mit dem Halbmonde als Wasserzeichen und eine besondere Zierlichkeit der Handschrift, welche in mehren späteren Cantaten hervortritt, z.B. in »O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe« und »Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen«, auch in der zu Leipzig gemachten Abschrift von »Himmelskönig, sei willkommen«. Für die zweite ist der Gebrauch der Oboe d'amore entscheidend, da man dieses Instrument in Weimar zu Bachs Zeiten nicht kannte, wie Walther (im Lexicon u.d.W.) bezeugt, außerdem aber auch die flüchtige an Correcturen reiche Schrift, mit der Bach den größten Theil seiner Leipziger Cantaten aufzuzeichnen pflegte. Dasselbe Anzeichen gilt auch für die letzten beiden Cantaten. Daß der Meister unter Umständen zu alten Texten zurückgriff, sahen wir schon bei einigen Neumeisterschen Poesien. Bei Francks Gedichten, die er besonders liebte, ist es sehr leicht begreiflich.

[809] 29. (S. 550.) Ueber die Beschaffenheit des Autographs ist unter Nr. 27 näheres gesagt. Hier muß noch hinzugefügt werden, daß es nicht ganz vollständig erhalten ist, der Schlußchoral fehlt. Nach Ausweis des gedruckten Textes war es von dem Liede »Herr Christ, der ein'ge Gotts-Sohn« die fünfte Strophe: »Ertödt uns durch dein Güte« u.s.w. Da der jetzige Bestand des Autographs drei Bogen ausmacht, so daß auf der letzten Seite nur noch zwei Liniensysteme frei sind, so wird der Choral auf ein besonderes Blatt geschrieben gewesen sein. Sein wirkliches dereinstiges Vorhandensein aber bezeugt der Umstand, daß hinter der Arie das endübliche S.D.G. fehlt. Als Ergänzung ließe sich der Schlußchoral aus »Jesus nahm zu sich die Zwölfe« (B.-G. V, 1, Nr. 22) verwenden oder der einfach vierstimmige Satz bei Erk I, 47, beide nach A dur transponirt.

30. (S. 556.) In einem Katalog geschriebener Musikwerke der Verlagshandlung Breitkopf und Härtel in Leipzig vom Jahre 1761 wird die Cantate »Alles was von Gott geboren« mit dem Sonntage ihrer Bestimmung und der Vocal- und Instrumental-Besetzung ganz genau und richtig aufgeführt. Die nach Winterfelds Vorgange (Ev. K. III, 328) weit verbreitete Meinung, Bach habe die Cantate »Ein feste Burg« zur Reformations-Jubelfeier des Jahres 1717 geschrieben, ist ein vollständiger Irrthum. Verarbeitungen und Benutzungen früherer Compositionen kommen bei Bach nur in seinen späteren Jahren vor. Daß er in Weimar zu einer so feierlichen Gelegenheit auf ein nur zwei Jahre vorher geliefertes Werk zurückgegriffen hätte, ist ganz undenkbar, auch wenn nicht in den gedruckten Festinformationen (auf dem Archiv zu Weimar) ausdrücklich von einem »neucomponirten Stücke« die Rede wäre. Auch Franck, der für die Jahre 1716–1718 zwei neue Jahrgänge Kirchencantaten schrieb, würde eine Aufwärmung der älteren Dichtung zu diesem Zwecke nicht zugelassen haben. Endlich, und dies ist nicht das wenigst Entscheidende, lag eine Leistung wie der Einleitungschor ohne allen Zweifel noch außer Bachs damaligem Vermögen. Der Choralchor in seiner ganzen Fülle und Gewaltigkeit ist in folgerichtiger Entwicklung die letzte und höchste Blüthe von Bachs Künstlerschaft, und einen riesigeren als den gemeinten hat er nie geschrieben. Wann die Erweiterung der weimarischen Cantate geschehen ist, läßt sich vorläufig nicht mit Sicherheit bestimmen. Ich denke an das Reformationsfest im Jahre 1730. Im Juni hatte die zweihundertjährige Jubelfeier der Uebergabe der augsburgschen Confession stattgefunden, zu der Bach drei Cantaten gesetzt hatte. Es war natürlich, daß man auch das Reformationsfest dieses Mal mit größerem Glanze feierte, eben so aber, daß Bach durch die vielen Festcompositionen ermüdet war und keine Lust hatte, etwas durchaus neues zu schaffen. Außerdem befand er sich grade in jenen Monaten in einer sehr niedergedrückten und mißmuthigen Stimmung. Von den Aenderungen, die er bei dieser Gelegenheit mit dem alten Materiale vornahm, läßt sich eine noch deutlich erkennen: die nach Buxtehudescher Weise colorirte Choralmelodie der ersten Arie war ursprünglich nur den Instrumenten (vermuthlich der Oboe und Orgel) zugetheilt, wie das Bach [810] in dem ganzen Jahrgange zu thun liebte. Die untergelegten Worte der zweiten Strophe hatte Franck zum Schlußgesange bestimmt, und da werden sie auch in Bachs Composition zuerst gestanden haben. Bei der Erweiterung lag ihm daran, alle vier Strophen zur Geltung zu bringen; er gab deshalb dem Schlußchorale die vierte, der ersten Arie die zweite und schuf für die erste und dritte neue Chorsätze hinzu. Man sieht ja auch gleich, daß die Singstimme nur die vereinfachte Oboenstimme ist, und ihr zu Liebe manches charakteristische unterdrückt werden mußte, z.B. der echt Buxtehudesche Einsatz mit der aufwärts rollenden Tonleiter Takt 23; nur bei ein paar Schlußcadenzen hat er ihr etwas besonderes zu thun gegeben. Schwerlich von ihm selbst herstammend ist aber eine Textabänderung am Beginn des Duetts, wo es statt der Originalworte: »Wie selig ist der Leib, der, Jesu, dich getragen; doch selger ist das Herz, das dich im Glauben trägt«, jetzt heißt: »Wie selig sind doch die, die Gott im Munde tragen, doch selger ist das Herz, das ihn im Glauben trägt«. Dies giebt eigentlich gar keinen Sinn, und tilgt jedenfalls grade die Vorstellung, welche das Wesen der Composition bestimmte. Ein entscheidendes Autograph fehlt; es könnte jemand diese Aenderung aus kleinlicher Pruderie vorgenommen haben. Auch noch an andern Stellen enthält der Text falsche Lesarten: in der ersten Arie muß es heißen: »siegt in Christo für und für«, im ersten Recitativ: »womit er dich zum Kriege u.s.w. geworben hat«; im letzten Recitative heißt es bei Franck nur: »dein Heiland bleibt dein Hort«, doch mag hier die Abwechslung mit »Heil«, der mehrfachen Wiederholungen wegen, von Bach gewollt sein.

31. (S. 558.) Die Dichtung steht in dem Anhange des zweiten Theils der Geist- und weltlichen Poesien (S. 436–440) und hat hier folgende Ueberschrift: »Diana, Endymion, Pan und Pales, | Am | Hoch-Fürstl. Gebuhrts-Festin | Herrn | Herrn Hertzog Christians | zu Sachsen-Weissenfels | nach gehaltenem Kampff-Jagen im Fürstl. | Jäger-Hofe bey einer Tafel-Music | aufgeführet.« | Das Datum findet sich nicht dabei, läßt sich aber herausrechnen. Die Anordnung der Gelegenheitsgedichte auf hohe Personen ist chronologisch. S. 235 steht eine Gratulations-Cantate auf Wilhelm Ernst zu Neujahr 1714, vorher gehen Festgedichte auf die Einweihung der Jakobskirche, welche am 6. Nov. 1713 stattfand, diesen vorher wieder eine Neujahrs-Cantate, also 1713. Einen Anhang zu den »Ehren-Gedichten« zu geben, beschloß Franck offenbar erst während des Druckes, als sich herausstellte, daß noch Raum blieb. Hier stehen zuerst zwei Geburtstags-Cantaten auf Wilhelm Ernst, also October 1714 und 1715, darauf die Weißenfelser Geburtstags-Cantate, Februar 1716. Erschienen ist das Buch ebenfalls 1716, also ein späterer Termin ist nicht möglich. Ein früherer wäre allenfalls mit Rücksicht darauf annehmbar, daß Franck den Gedichten auf seinen Herzog den Vorrang in der Ordnung gegönnt hätte. Aber für das Jahr 1716 entscheiden die mehrfachen, auffälligen Anklänge an die grade in jener Zeit componirten Kirchencantaten. Die Anfangsarie der Diana erinnert in Takt 19 und 20 an gewisse Stellen der D moll-Arie [811] der Cantate auf den 20. Trinitatis-Sonntag; der Bass in der zweiten Arie der Pales sehr an das Duett derselben Cantate. Der Schluß auf der Unterdominante in der Arie der Diana (Takt 27) mit der Rückwendung in die Haupttonart mahnt an die ganz gleiche Stelle in der Anfangsarie der Cantate »Bereitet die Wege«, endlich die erste Arie der Pales an die G dur-Arie der Cantate »Tritt auf die Glaubensbahn«. Auch deshalb paßt das Jahr 1716 als Zeit der Composition besser, weil so die Erinnerung an sie bei Umarbeitung der Pfingstcantate von 1716 im Jahre 1731 näher lag (vrgl. diesen Anhang Nr. 23).

32. (S. 561.) Die »Evangelischen Sonn- und Festtags-Andachten« datiren von 1717. Daß dies nicht so zu verstehen ist, als bezögen sie sich auf das Kirchenjahr 1717–1718, liegt auf der Hand. Zuerst wurden die Einzeldrucke angefertigt (deren sich übrigens keine erhalten haben), da nun dieses erst gegen Ende des bürgerlichen Jahres geschah, so war es kaum möglich, auch den Gesammtdruck noch in demselben Jahre herzustellen, besonders wenn er eine sorgfältige und hübsche Ausstattung erfuhr, wie es hier der Fall war. Ueberdies aber befand sich Bach im December 1717 garnicht mehr in Weimar. Keine der aus diesem Jahrgange componirten Cantaten besitzen wir noch in ihrer ersten Gestalt, wir kennen sie nur in späteren Leipziger Ueberarbeitungen, die sich zunächst durch Einschiebung von Recitativen und Chorälen, sowie durch Theilung in zwei Hälften kenntlich machen. Franck hat in den »Evangelischen Andachten« keine Recitative angewendet; ausnahmslos beginnt er mit einem selbstgedichteten Chortext, läßt drei, meistens vier Arien verschiedenen Versmaßes folgen und schließt mit einem Choral. Er hat deshalb diese Dichtungen auch nicht Cantaten sondern geistliche Arien genannt. Daß aber wirklich Ueberarbeitungen vorliegen, läßt sich klar beweisen. Für die Cantate zum zweiten Advents-Sonntage »Wachet, betet, seid bereit« bin ich der Mühe überhoben, da der geübte Scharfblick ihres Herausgebers das Richtige bereits gefunden hat, ohne auf die Entstehungszeit des Textes gestützt zu sein (s. B.-G. XVI, Vorwort S. XX). Die Einschiebungen bestehen hier in den Recitativen S. 343, 349, 354, 360 und dem Choral S. 354. Der vergrößerte Umfang führte von selbst die Zweitheilung herbei, außerdem wurde die Cantate nun für den 26. Trinitatis-Sonntag bestimmt. Andre Aenderungen sind nicht erkennbar. Früher erwähnte ich einmal eines Cantaten-Jahrgangs des weimarischen Cantors Johann Sebastian Brunner (vom Jahre 1748), der darin die Dichtungen älterer Landsleute in seltsamer Weise benutzt habe (s. Nr. 12). Auch an den Text dieser Cantate hat er sich gemacht, und seine einzelnen Theile mit wahrer Virtuosität durch einander geschoben, wobei es ihm auf etwas gelegentlichen Unsinn nicht ankam. Hier ein Stück aus diesem Cento Franckianus als Probe:


»Aria Choro:

Wacht auf! ihr Seelen wachet!

Steht auf vom Schlaff der Sicherheit,

Und gläubt, es ist die letzte Zeit,

[812] Da GOtt, der HErr der Herrlichkeit,

Der Welt ein Ende machet.


Duetto.

Lasset uns bey Zeiten ziehen

Aus Egypten dieser Welt;

Eh das Feuer auf uns fällt. [!]

Wer nicht bald daraus wird fliehen,

Muß darinnen untergehn;

Drum last uns auf JEsum sehn.


Recitativo:

Der Spötter Zungen mögen immer schmähen;

Genug! es muß geschehen,

Daß alles wird vergehen.

Alleine Christi Wort wird unbeweglich stehen.


Aria Choro:

Nur wohlgemuth, ihr Frommen!

Verharret im Glauben, und steten Vertrauen,« u.s.w.


Zu der Cantate auf den vierten Advents-Sonntag: »Herz und Mund und That und Leben« befindet sich die autographe Partitur auf der königl. Bibl. in Berlin. Die Gestalt derselben enthält ihre ganze Entstehungsgeschichte. Das Autograph besteht aus sechs Bogen; nach Ausweis der Wasserzeichen sind die vier ersten weimarisches, die beiden letzten Leipiger Papier. Als Reinschrift verräth es sich durch die große Eleganz und Zierlichkeit der Züge, die Taktstriche im Anfangschor sind mit Lineal gemacht, sonst doch sorgfältig heruntergezogen, Correcturen fehlen fast gänzlich, auch entbehrt es jeder Ueberschrift und des üblichen J.J. Der Gesammteindruck des Manuscripts ist dem des Autographs zu »Himmelskönig, sei willkommen« ganz gleich; beide scheinen in ihrer jetzigen Gestalt zu derselben Zeit gefertigt zu sein. Als Bach sich an die Umarbeitung machte, schrieb er erst die einzuschiebenden Stücke besonders nieder und dann das Ganze ins Reine. In dem aus Weimar stammenden Convolut von Partitur und Stimmen fand er noch vier leere Bogen Notenpapier; mit der ihm eignen Sparsamkeit in diesem Artikel benutzte er dasselbe, und als es nicht reichte, nahm er noch zwei Bogen neuen Papieres hinzu. Die Umgestaltungen des Textes sind hier bedeutender. Abgesehen davon, daß die Cantate wieder für eine andre Gelegenheit bestimmt ist, für das Fest der Heimsuchung Mariae, und drei Recitative eingesetzt sind, ist zunächst der Schlußchoral geändert. Nach Franckscher Vorschrift war es ursprünglich die sechste Strophe von »Ich dank dir, lieber Herre« (»Dein Wort laß mich bekennen«); in der Bearbeitung stellte Bach an den Schluß des ersten Theils die sechste Strophe des Janus'schen Liedes »Jesu, meiner Seelen Wonne« nach der Melodie »Werde munter, mein Gemüthe« (wobei die je zwei Schlußtöne der beiden letzten Zeilen in einen zusammengezogen werden mußten, was der Meister sich auch in der Matthäus-Passion erlaubte, B.-G. IV, S. 173) mit figurirter Instrumentalbegleitung und schrieb am Ende des Ganzen eine Wiederholung desselben vor. Den Choralsatz der ersten Fassung haben wir bei dieser Gelegenheit eingebüßt. Sodann mußten die Arien 2. und 3 [813] ihre Stellen tauschen; einige Textänderungen sind unwesentlich, bemerkenswerther aber, daß die erste Arie jetzt durch eine Oboe d'amore begleitet wird, was nicht das Ursprüngliche gewesen sein kann. Endlich ist der vierten Arie ein neuer Text untergelegt; die Originalworte lauten so:


»Laß mich der Ruffer Stimmen hören,

Die mit Johanne treulich lehren

Ich soll in dieser Gnaden-Zeit

Von Finsterniß und Dunckelheit

Zum wahren Lichte mich bekehren.«


Auf die Heimsuchung Mariae paßten diese Worte nicht. Die Umstellung der Stücke ist ganz ähnlich, wie ich sie bei der Ueberarbeitung der Ostercantate von 1704 annehmen zu müssen glaubte; dies bemerke ich hier ausdrücklich, um einen etwaigen Vorwurf der Willkürlichkeit abzuwehren. – Nun existirt auch noch die Composition der dritten Advents-Cantate »Aergre dich, o Seele, nicht«, ihre Original-Partitur befindet sich ebenfalls auf der königl. Bibl. zu Berlin. Herr Dr. Rust war so gefällig, sie auf meine Bitte zu untersuchen, da ich selbst es zur geeigneten Zeit versäumt hatte. Sie ist eine in Leipzig geschriebene, von Bach revidirte und mit eigenhändigen Zusätzen versehene Copie mit der inneren Ueberschrift »J.J. Dominica 7post Trinitatis di J.S. Bach aõ 1723«. Bei dieser bestimmten Jahresangabe wage ich es nicht, die Cantate für eine Ueberarbeitung zu erklären, soviel es auch für sich hat, anzunehmen, daß Bach in der Zeit, wo der alte Drese starb und der Sohn durch die Trauer an Ausübung seiner Compositionspflichten verhindert war, alle drei Cantaten hinter einander setzte. Zudem sind mehre Stellen darin, an denen die Musik wohl auf den umgedichteten Text paßt, sehr schlecht aber auf den ursprünglichen. Eingeschoben sind wieder die Recitative und der Choral in der Mitte; der Schlußchoral, die achte Strophe des Liedes »Von Gott will ich nicht lassen« (»Darum ob ich schon dulde hier Widerwärtigkeit«) fehlt in der Partitur ganz. Die Originalform der umgedichteten Arien 1 und 2 theile ich mit.


»Aria 1.

Bist du, der da kommen soll,

Seelen-Freund, in Kirchen-Garten?

Mein Gemüth ist Zweifels-voll,

Soll ich eines andern warten!

Doch, o Seele, zweifle nicht.

Laß Vernunft dich nicht verstricken,

Deinen Schilo, Jacobs Licht,

Kannst du in der Schrifft erblicken!«


»Aria 2.


Meßias läßt sich mercken

Aus seinen Gnaden-Wercken,

Unreine werden rein.

Die geistlich Lahme gehen,

Die geistlich Blinde sehen

Den hellen Gnaden-Schein.«


[814] 33. (S. 577.) Ich mußte den oft erzählten Vorgang sehr viel einfacher darstellen, um nicht Ausschmückungen sagenbildender Phantasie für historische Wahrheit zu verkaufen. Eine unverfälschte Quelle ist der Bericht des Magister Johann Abraham Birnbaum, in dessen »Vertheidigung seiner unparteyischen Anmerkungen über eine bedenkliche Stelle in dem sechsten Stücke des critischen Musikus, wider Johann Adolph Scheibens Beantwortung derselben«, Leipzig, 1739 (wieder abgedruckt in der neuen, vermehrten und verbesserten Auflage von Scheibes kritischem Musikus. Leipzig, bei Bernh. Christoph Breitkopf. 1745, S. 899–1031). Birnbaum verfaßte diese Schrift zur Vertheidigung Bachs und unter dessen Augen, dedicirte sie ihm sogar. Es wird also nichts darin stehen, was Bach selbst für unrichtig hätte erklären müssen. Birnbaum erzählt nun S. 981 f.: »Wie, wenn ich ihm aber einen nennete, der zu seiner Zeit für den größten Meister auf dem Clavier und der Orgel in ganz Frank reich gehalten wurde, wider welchen der Herr Hofcompositeur vor nicht eben gar zu langer Zeit die Ehre der Deutschen und seine eigene völlig behauptet hat. Es war solches Mons. Marchand, welcher bey seiner Anwesenheit in Dreßden, und da sich der Herr Hofcompositeur ebenfalls daselbst befand, auf Veranlassen und Befehl einiger Großen des dasigen Hofs, von dem letztern zum Versuch und Gegeneinanderhaltung beyderseitiger Stärke auf dem Clavier, durch ein höfliches Schreiben aufgefordert wurde, sich auch anheischig machte, verlangtermaßen zu erscheinen. Die Stunde, da zwey große Virtuosen eins mit einander wagen sollten, erschien. Der Herr Hofcompositeur benebst denenjenigen, so bey diesem musikalischen Wettstreite Richter seyn sollten, erwarteten den Gegenpart ängstlich, aber vergebens. Man brachte endlich in Erfahrung, daß selbiger bey früher Tageszeit mit der geschwinden Post aus Dreßden verschwunden war. Sonder Zweifel mogte der sonst so berühmte Franzose seine Kräfte zu schwach befunden haben, die gewaltigen Angriffe seines erfahrnen und tapfern Gegners auszuhalten. Er würde ausserdem nicht gesucht haben, durch eine so schnelle Flucht sich in Sicherheit zu setzen.« Die Glaubwürdigkeit des Berichts wird dadurch erhöht, daß Adlung, der sich ebenfalls auf Bachs mündliche Mittheilungen stützte, fast genau mit ihm übereinstimmt. Dieser sagt nämlich (Anleit. zur musikal. Gel. S. 690 f.): »Es wird §. 345 Marchand, ein Franzos, zu nennen seyn, welcher sich einstens mit unserm Kapellmeister zu gleicher Zeit in Dresden befand, und durch allerhand Discurse gerieth man auf den Einfall, daß diese beyden Männer mit einander certiren sollten, um zu sehen, ob die deutsche Nation, oder die französische, den besten Claviermeister aufzuweisen hätte. Unser Landsmann ließ sich zur bestimmten Zeit also hören, daß sein Gegner seine schlechte Lust, es mit ihm anzunehmen, dadurch zu erkennen gab, daß er sich unsichtbar machte. Als Herr Bach zu einer gewissen Zeit bey uns in Erfurt war, trieb mich die Begierde, alles genau zu wissen, an, ihn darum zu fragen, da er dann mir alles erzehlte, welches zum Theil hier nicht statt hat, zum Theil ist es mir wieder entfallen.« Viel ausführlicher ist das Ereigniß in dem von Phil. Em. Bach und Agricola verfaßten Nekrologe [815] bei Mizler erzählt (S. 163 ff.): »Das 1717. Jahr gab unserm schon so berühmten Bach eine neue Gelegenheit noch mehr Ehre einzulegen. Der in Franckreich berühmte Clavierspieler und Organist Marchand war nach Dreßden gekommen, hatte sich vor dem Könige mit besonderm Beyfalle hören lassen, und war so glücklich, daß ihm Königliche Dienste mit einer starken Besoldung angeboten wurden. Der damahlige Concertmeister in Dreßden, Volumier, schrieb an Bachen, dessen Verdienste ihm nicht unbekannt waren, nach Weymar, und lud ihn ein, ohne Verzug nach Dreßden zu kommen, um mit dem hochmüthigen Marchand einen musikalischen Wettstreit, um den Vorzug, zu wagen. Bach nahm diese Einladung willig an, und reisete nach Dreßden. Volumier empfing ihn mit Freuden, und verschaffete ihm Gelegenheit seinen Gegner erst verborgen zu hören. Bach lud hierauf den Marchand durch ein höfliches Handschreiben, in welchem er sich erbot, alles was ihm Marchand musikalisch aufgeben würde, aus dem Stegreife auszuführen, und sich von ihm wieder gleiche Bereitwilligkeit versprach, zum Wettstreite ein. Gewiß, eine große Verwegenheit! Marchand bezeigte sich dazu sehr willig. Tag und Ort wurde, nicht ohne Vorwissen des Königes, ausgesetzet. Bach fand sich zu bestimmter Zeit auf dem Kampfplatze in dem Hause eines vornehmen Ministers ein, wo eine grosse Gesellschaft von Personen vom hohen Range, beyderley Geschlechts, versammelt war. Marchand ließ lange auf sich warten. Endlich schickte der Herr des Hauses in Marchands Quartier, um ihn, im Fall er es etwan vergessen haben möchte, erinnern zu lassen, daß es nun Zeit sey, sich als einen Mann zu erweisen. Man erfuhr aber zur größten Verwunderung, daß Monsieur Marchand an eben demselben Tage, in aller Frühe, mit Extrapost aus Dreßden abgereiset sey. Bach, der also nunmehr allein Meister des Kampfplatzes war, hatte folglich Gelegenheit genug, die Stärcke, mit welcher er wider seinen Gegner, bewafnet war, zu zeigen. Er that es auch, zur Verwunderung aller Anwesenden. Der König hatte ihm dafür ein Geschenk von 500 Thalern bestimmt: allein durch die Untreue eines gewissen Bedienten, der dieses Geschenk besser brauchen zu können glaubte, wurde er drum gebracht, und mußte die erworbene Ehre, als die einzige Belohnung seiner Bemühungen mit sich nach Hause nehmen.« u.s.w. »Uebrigens gestund unser Bach dem Marchand den Ruhm einer schönen und sehr netten Ausführung gerne zu.« Ebenfalls einen ausführlichen Bericht lieferte F.W. Marpurg (Legenden einiger Musikheiligen. Cöln, 1786. S. 292 ff.); auch er will sein Wissen von Bach selber haben, stimmt aber in mehren Dingen mit dem Nekrolog nicht überein. Nach ihm (ich stütze mich, da das Buch selber mir nicht zur Hand ist, auf das Referat des gewissenhaften Fürstenau II, S. 123 f.) wurde Bach mit des Königs Bewilligung zu einem Hofconcerte zugelassen, stand neben Marchand, als dieser ein französisches Lied variirte, und griff, zum Spielen ebenfalls aufgefordert, Marchands Thema auf, um es in neuer und unerschöpflicher Art weiter zu verändern. Dann lud er ihn zum Wettstreit auf der Orgel ein und präsentirte ihm auf einem Blättchen ein Thema zur Ausarbeitung aus dem Stegreif, aber Marchand stellte sich nicht zum Kampfe, sondern [816] verschwand aus Dresden. – Daß die zwei letzteren Berichte weder unter sich, noch mit dem Birnbaumschen und Adlungschen übereinstimmen, macht sie beide verdächtig, ja man kann bei einer richtigen Gruppirung aller die allmählig fortschreitende Sagenbildung deutlich wahrnehmen. Birnbaum und Adlung lassen Bach zufällig in Dresden anwesend sein, was uns durchaus natürlich erscheint, da wir seine Gewohnheit, jährlich eine Kunstreise zu machen, kennen. Im Nekrolog und bei Marpurg wird er wie ein Retter aus der Noth herbeicitirt, was schon deshalb unwahrscheinlich ist, weil Correspondenzen und Reisen damals noch mit mehr Behinderung verbunden waren als jetzt, und vollends sinnlos wird, wenn es von dem Franzosen Volumier ausgegangen sein soll, der doch schwerlich ein Interesse daran gehabt haben kann, seinen Landsmann durch einen Deutschen überwunden zu sehen, wogegen es aber sehr wohl denkbar ist, daß Bach früher mit Volumier über eine Reise nach Dresden correspondirt und dieser ihn dazu aufgemuntert hatte. In den älteren Berichten findet sich ferner kein Wort von einer Theilnahme des Königs; bei Mizler wird sie in einer Weise eingeschmuggelt, daß der Wunsch, dem Kampfe eine glänzendere Folie zu geben, unverkennbar ist. Denn der nunmehr sich ergebende Sachverhalt ist wieder ganz sinnlos: wenn der König sich um den Wettstreit wirklich bekümmerte, konnte dieser doch nicht beim Grafen Flemming, sondern nur bei Hofe entschieden werden. Marpurg geht noch weiter: Bach belauscht Marchand nicht heimlich, sondern erhält Zutritt zum Hofconcert; das Interesse für einen Wettkampf am Clavier wird hierdurch erschöpft, er muß ihn also für die Orgel herausfordern, was innerlich so unwahrscheinlich wie möglich ist, selbst wenn die äußeren Vorgänge dabei glaubwürdiger erzählt wären; aber ein Stegreifspiel, das sich auf ein zuvor präsentirtes Thema stützen soll, ist eben kein Stegreifspiel mehr. Daß Bach vor dem Könige nicht gespielt hat, beweisen nun auch die Acten der Hof- und Oberkämmerei-Kasse vom Jahre 1718 (im königl. Archive zu Dresden). Sie enthalten auf Fol. 32 unter: »Nach specificirte auf allergnädigste mündliche Königl. Verordnung im Jahre 1717. bey dero Ober Cammerey Casse bezahlte Posten.« folgende Notiz: »528. Kfl. [Kaisergulden] 71/2 Kr. oder 130 Ducaten zu 2. Thlr. 17. ggr. bestehend in 3. Medaillen, davon eine a 30. Duc: der Violinist Frühwirth, der sich in Carlsbaad, und die andern beyde zusammen à 100 Duc: der Organist Marchand der sich in der Capelle höhren laßen zu einem gnaden geschenck erhalten.« Da der Vorgang zwischen Marchand und Bach so großes Aufsehen machte, ist es wohl undenkbar, daß die Verzeichnung eines ihm gereichten Geschenkes neben dem Marchands vergessen sein sollte. Hätte er aber vor dem Könige gespielt, so würde dessen Munificenz ihn nun und nimmer mit leeren Händen haben abziehen lassen. Weiter folgt, daß er dann auch nicht durch einen Hofdiener um sein Geschenk betrogen werden konnte, denn eingetragen hätte doch der Posten unter allen Umständen werden müssen. Die Summe von 500 Thalern ist überdies viel zu hoch gegriffen, wenn Marchand nur 100 Ducaten = 270 Thlr. 20 ggr. erhielt; auch Händel bekam nicht mehr, als er zwei Jahre später sich bei [817] Hofe hören ließ (Chrysander II, 18). Es ist sehr möglich, daß solche Unterschleife öfter am Hofe vorkamen; vielleicht ist bei Bekanntwerdung eines solchen Falls später einmal im Bachschen Hause eine Vermuthung hingeworfen, die, wie es mit solchen Dingen zu gehen pflegt, durch häufige Wiederholung allmählig die Gestalt einer Thatsache annahm. – Der mitgetheilte Rechnungsposten trägt kein Datum. Trotzdem läßt sich aus der Stelle, wo er eingereiht ist, ungefähr schließen, daß Marchand etwa im September in Dresden gewesen ist. Die Posten sind nämlich ziemlich genau chronologisch geordnet. Dies Ergebniß paßt vollständig zu der Zeit, in welcher Bach jährlich zu reisen pflegte.

34. (S. 589, 394.) Wie man aus dem Titel des Orgelbüchleins sieht, ist es in Cöthen geschrieben. Wäre der Inhalt desselben aber auch in Cöthen componirt, so ließe sich die Bemerkung »p. t.« d.h. pro tempore »Capellae Magistro S. [erenissimi] P. [rincipis] R. [egnantis] Anhaltini-Cotheniensis«. schwer in irgend annehmbarer Weise erklären. Pro tempore konnte Bach nur schreiben mit Rückblick auf eine frühere Zeit, die weimarische nämlich, in der wenn nicht alle, so doch sicher die meisten der eingeschriebenen Choräle gesetzt waren. Dies ist auch nach seinen verschiedenen Obliegenheiten dort und hier natürlich. In Cöthen hatte er mit Orgel und Orgelspiel unmittelbar nicht das Geringste zu thun, in Weimar dagegen bildete es den Mittelpunkt seiner Functionen, und ausdrücklich sagt Adlung (Anleit. S. 690) von ihm: »Er hat schöne Chorale gesetzt, da er noch Hoforganist in Weimar war«, freilich ohne diese Thätigkeit auf jenen Ort zu beschränken. Nun kommt noch hinzu, daß die meisten seiner Orgelchoräle, die sich in den Waltherschen Sammlungen finden, in dem Orgelbüchlein wiederkehren, nämlich aus den drei Sammlungen auf der königl. Bibl. zu Berlin: »Das alte Jahr vergangen ist«, »Gelobet seist du, Jesu Christ«, »Herr Gott, nun schleuß den Himmel auf«, »Heut triumphiret Gottes Sohn«, »Jesu, meine Freude«, »Mit Fried und Freud ich fahr dahin«, »Puer natus in Bethlehem«, »Vom Himmel hoch da komm ich her«; aus dem Frankenbergerschen Autograph: »Es ist das Heil uns kommen her«, »Herr Christ, der ein'ge Gott'ssohn«; dieselben beiden stehen auch im Königsberger Autograph. Ich habe früher nachgewiesen, wie Walthers Verhältniß zu Bach sich allmählig gestaltete und daß beider Verkehr seit Bachs Fortgange jedenfalls, muthmaßlich aber auch schon in den letzten Jahren ihres Zusammenlebens ins Stocken gerieth und aufhörte. Es liegt daher nahe genug, daß Walther die Bachschen Choräle, welche er seinen Sammlungen einverleibte, von dem Verfasser in der Zeit von 1708–1717, wahrscheinlich in der ersteren Hälfte derselben erhielt. Dafür daß die meisten Choräle des Orgelbüchleins während der Kunstgemeinschaft Bachs und Walthers entstanden, spricht auch die an ihnen hervortretende Neigung für canonische Führungen, die Walther ebenfalls eigen war, bei Bach jedoch später abnahm.

Mit demselben Rechte suchen wir die Entstehungszeit der übrigen von Walther aufgenommenen Choräle Bachs, die sich nicht im Orgelbüchlein [818] finden, in Weimar. Es sind aus den Berliner Autographen: »Komm, Gott Schöpfer, heiliger Geist« (P.S. V, C. 7, Nr. 35) und »Nun komm, der Heiden Heiland« (P.S. V, C. 7, Nr. 45–47), letzterer zweimal, einmal sind statt der Achtel der rechten Hand für die 3. Strophe Sechzehntel geschrieben. Aus dem Frankenbergerschen Autograph (mit Ausschluß des schon früher besprochenen »Ein feste Burg ist unser Gott«): »Herzlich, thut mich verlangen« (P.S. V, C. 5, Nr. 27, mit kleinen Abweichungen, die vor Griepenkerls Edition den Vorzug verdienen), »Valet will ich dir geben« (P.S. V, C. 7, Variante zu Nr. 50, an drei Stellen von Griepenkerl etwas abweichend), »Vater unser im Himmelreich« (P.S. V, C. 7, Nr. 53). Dieselben Choräle enthält das Königsberger Autograph, außerdem noch: »Ach Gott und Herr« (H moll Kritische Ausführungen; s. Themat. Katalog, Anh. I, Serie V, Nr. 10), dessen Echtheit hiermit bewiesen ist, und »Wer nur den lieben Gott lässt walten«. Dieser letztere Satz ist nichts anderes, als die zur Erläuterung von Bachs Spiel in Arnstadt früher erwähnte Choralbegleitung mit Weglassung der Vor-, Nach- und Zwischenspiele und einigen geringen Veränderungen. Gewiß rührt das Arrangement von Bach selbst her. Da der Satz nun noch einmal in dem »Clavierbüchlein vor Wilhelm Friedemann Bach« wiederkehrt (P.S. V, C. 5, Nr. 52), noch reicher verziert und sicherlich zur Einübung der Verzierungen niedergeschrieben, so sehen wir daraus, wie bei Bach allmählig die Einsicht durchdrang, wozu allein eine solche Setzart gut sei.

Endlich findet sich noch im Buche des Andreas Bach der Orgelchoral »Gott, durch deine Güte« (P.S. V, C. 6, Nr. 25) in deutscher Tabulatur, aber, entgegen der Griepenkerlschen Ausgabe, im 3/2 Takt. Für weitere Arbeiten auf diesem Gebiete fehlen directe chronologische Anhaltepunkte. Aber wir brauchen die gewonnene Summe nur mit der Gesammtheit der erhaltenen Orgelchoräle zu vergleichen und uns dabei an die Worte des Nekrologs zu erinnern, daß Bach in Weimar die meisten seiner Orgelstücke gesetzt habe, so drängt sich die Ueberzeugung auf, daß der festgestellte Bestand noch bei weitem nicht genüge. Suchen wir weitere Spuren. Auf der Berliner Bibliothek ist ein Manuscript Bachscher Orgelchoräle, das von des Meisters eigner Hand folgende 16 Nummern enthält: 1) Fantasie über »Komm, heiliger Geist, Herre Gott« (P.S. V, C. 7, Nr. 36). 2) »Komm, heiliger Geist, Herre Gott« (ebend. 7, 37). 3) »An Wasserflüssen Babylon« (6, 12b). 4) »Schmücke dich, o liebe Seele« (7, 49). 5) Trio über »Herr Jesu Christ, dich zu uns wend« (6, 27). 6) » O Lamm Gottes unschuldig« (7, 48). 7) »Nun danket alle Gott« (7, 43). 8) »Von Gott will ich nicht lassen« (7, 56). 9–11) »Nun komm, der Heiden Heiland« (7, 45–47). 12) »Allein Gott in der Höh sei Ehr« (6, 9). 13) »Allein Gott in der Höh sei Ehr« (6, 8). 14) Trio über »Allein Gott in der Höh sei Ehr« (6, 7). 15) »Jesus Christus, unser Heiland« (6, 31). 16) Die canonischen Veränderungen über »Vom Himmel hoch« (5, II, Nr. 4). Dazwischen stehen noch einige Stücke von der Hand Altnikols geschrieben, des Schülers und späteren Schwiegersohnes. Hierdurch wie durch die Beschaffenheit [819] des Papiers erweist sich das Autograph als ein Leipziger Werk. Zugleich sieht man, daß es Reinschrift ist.

Die drei Bearbeitungen von »Nun komm, der Heiden Heiland« haben wir eben schon als muthmaßlich weimarische Erzeugnisse kennen gelernt. Auch der Choral »Komm, Gott Schöpfer, heiliger Geist«, von dem aus gleichem Grunde dasselbe wahrscheinlich war, findet sich in demselben Hefte von Altnikols Hand. Überraschend ist aber vor allem die Erscheinung, daß zu sämmtlichen dort vereinigten Orgelchorälen mit drei Ausnahmen (»Schmücke dich, o liebe Seele«, »Nun danket alle Gott« und »Allein Gott in der Höh« Nr. 12) Varianten existiren, mit denen verglichen jene als spätere Redactionen derselben sich herausstellen. Genaue Beobachtung führt zu der Ueberzeugung, daß Bach im allgemeinen seine in Leipzig entstandenen Instrumental–Compositionen später nicht noch einmal zu überarbeiten pflegte, weil mit Abschluß der Cöthener Periode sein instrumentaler Gedankenkreis vollständig ausgeweitet, seine Technik bis ins Feinste durchgebildet war. Der Schluß ergiebt sich jetzt fast von selbst. In jenem Manuscripte hat Bach besonders werthvolle Werke einer früheren Schaffensperiode gesammelt oder sammeln lassen, und sie bei der Gelegenheit noch einmal einer gründlichen Revision unterworfen. Daß einzelne derselben in Cöthen entstanden, diese Möglichkeit ist freilich nicht ausgeschlossen. Allein man muß immer doch bedenken, daß seine Stellung ihn hier auf ganz andre Dinge hinwies, die Veranlassung zum Orgelspiel fern lag, ja selbst die Orgeln des Ortes unbedeutend waren, so daß wohl nur in Aussicht auf seine Kunstreisen ihn das Verlangen anwandeln konnte, etwas großes, seinen Fähigkeiten entsprechendes für sein Lieblingsinstrument zu setzen. Mustern wir nun endlich, nach Ausscheidung aller von Bach in Leipzig selbst veröffentlichten Orgelchoräle, von der Höhe der besprochenen Sammlung aus den übrigen Bestand seiner erhaltenen einschläglichen Arbeiten, so erhellt gleich, daß kaum eine von ihnen in spätere Jahre fallen kann, die meisten früheren zugeschrieben werden müssen. Im Großen und Ganzen – dies ist das endliche Ergebniß – werden wir keinen Fehlgriff thun, wenn wir uns von Bachs Thätigkeit als Choralsetzer ein Bild zu machen suchen aus der Gesammtmasse der Orgelchoräle nach Abzug des dritten Theils der »Clavierübung«, der sechs bei Joh. Georg Schübler zu Zella erschienenen Choräle (die übrigens zum Theil Arrangements aus Cantaten sind) und der canonischen Veränderungen über »Vom Himmel hoch«. Diese Gesammtmasse vereinigt mit Ausnahme weniger zum Theil zweifelhafter Stücke die Ausgabe von Griepenkerl. Sie stützt sich auf die besten Quellen, soweit sie damals zu erreichen waren. Einen Irrthum in ihr habe ich schon früher nachgewiesen: der Choral »Gott der Vater wohn uns bei« (P.S. V, C. 6, Nr. 24) ist von Walther. Für unbedingt unecht, allerdings nur aus innern Gründen, halte ich auch den Choral »Ich hab mein Sach Gott heimgestellt« (6, Nr. 28), der mit seiner unordentlichen Canonik ein Seitenstück zu dem vorigen bildet und ebenfalls von Walther herstammen dürfte. Schwankend bin ich bei der zweistimmigen Bearbeitung [820] von »Allein Gott in der Höh« (6, Nr. 3); so schrieb ungefähr Bernhard Bach, doch mahnen einzelne bedeutendere Züge zur Vorsicht.

35. (S. 624.) Die Vorrede des Helbigschen Jahrganges datirt vom 22. März 1720. Also werden die Cantaten für das Kirchenjahr 1719/20 bestimmt gewesen, zuerst einzeln gedruckt und darnach zu einem Büchlein mit Vorrede zusammengefaßt worden sein, wie es so der gewöhnliche Lauf war. Vor 1720 kann daher Bach die Cantate nicht componirt haben, nach 1722 auch schwerlich, da er den 17. Trinitatis-Sonntag 1723 schon in Leipzig erlebte, wo ihm andre Texte zu Gebote standen, zudem würde gegen diese Annahme die Beschaffenheit des Autographs Verwahrung einlegen. Umstände, welche die Entstehung in den beiden zwischenliegenden Jahren geradezu verböten, sind allerdings nicht aufzufinden, aber wir wissen wenigstens nichts von darin unternommenen Reisen, welche allein die Composition veranlassen konnten. Zudem ist zu beachten, daß Cantaten-Jahrgänge, welche jetzt überall wie Pilze aus der Erde schossen, wenn sie nicht von renommirten Dichtern herrührten, in der Erinnerung der Mitwelt das Jahr ihres Erscheinens meistens nicht zu überleben pflegten, besonders wenn sie, wie hier, von auswärts benutzt wurden. Das Autograph, welches sich auf der königlichen Bibliothek zu Berlin befindet, ist derart, daß man es fast unwillkürlich mit der Karlsbader Reise in Verbindung bringt. Neben der gänzlichen Verschiedenheit des Gesammtcharakters von den gewöhnlichen weimarischen und Leipziger Autographen fällt die Besonderheit des Papier-Materials auf, das für die letzten anderthalb Bogen sowohl nach Aussehen als nach Wasserzeichen ein ganz andres ist, als für die übrigen, während die Schrift dieselbe bleibt, so daß offenbar dem Componisten unter dem Schreiben das Papier ausgegangen ist und er eine andre Qualität als die vorher gebrauchte zu kaufen gezwungen war. Die Wasserzeichen der ersten Bogen deuten nicht mit Ausschließlichkeit auf Cöthen (ein ganz sicher an diesem Orte gebrauchtes Papier läßt den sogenannten Harzmann, eine aufrechtstehende Person mit der Felljacke bekleidet und eine Tanne in der Hand haltend, erkennen; Bach benutzte es zu der Geburtstags-Serenade auf den Fürsten Leopold); sie sind, mit dem Adler auf dem einen Blatte, und allerhand Figuren, unter denen ein D deutlicher hervortritt, auf dem andern, jedenfalls ungewöhnlicher Art. Die letzten anderthalb Bogen tragen den Schild mit zweigekreuzten Schwertern in der einen Hälfte seiner Fläche, weisen also auf eine sächsische Fabrik. Man mag hieraus nun muthmaßen, was man will, so viel ist klar, daß die Partitur unter ungewöhnlichen Verhältnissen zu Stande kam. – Ich füge noch eine Bemerkung über die Edition dieser Cantate durch die Bach-Gesellschaft bei. Die erste Arie wird in der Partitur durch obligate Orgel begleitet, die zugehörige autographe Stimme ist aber nicht für Orgel, sondern ganz entschieden für Violine gemeint, auch ist das Wort Organo erst von neuer Hand darüber geschrieben. Denn es wäre sonst unerklärbar, warum der Bass fehlte, wie es der Fall ist, und nur die rechte Hand allein spielen sollte, warum ferner die vielen Bogen und Punkte hineinnotirt sind, welche [821] in der Partitur fehlen und für die Orgel gar keinen Sinn haben, warum weiter im zweiten Theile der Arie so viele Doppelgriffe geändert sind, wenn dies nicht geschah, um sie für die Geige spielbarer zu machen, z.B. Takt 128 auf 129 statt:


Kritische Ausführungen

so


Kritische Ausführungen

endlich warum die Stimme in D moll steht, der ausgeschriebene Orgelbass aber in C moll. Fand eine Aufführung mit obligater Orgelbegleitung statt, so besorgte sie jedenfalls Bach selber, der dann den Part aus dem Stegreif transponirte. Ich glaube daher, daß es unrichtig war, zu Gunsten der Stimme von der Notirung der Partitur abzuweichen. Die in der Vorrede zur Cantate (S. XXIV) geäußerten Bedenken erledigen sich dagegen nunmehr von selbst.

36. (S. 643.) Handschriftliche Quelle ist das Buch des Andreas Bach. Ein einstweilen verschwundenes Autograph (s. Griepenkerls Vorrede) enthielt neben der Fis moll-Toccate noch den Orgelchoral »Valet will ich dir geben« in B dur, dessen weimarischer Ursprung feststeht. Bach hatte also wohl zwei gleichzeitig entstandene Stücke zusammengeschrieben. Daß beide übereinstimmend geformten Toccaten nicht zu gleicher Zeit entstanden sein sollten, ist gegen alle Wahrscheinlichkeit und Analogie, und so wäre schon aus diesem Grunde auch für die C moll-Toccate die Annahme des weimarischen Ursprungs nahe gelegt, selbst wenn das Zeugniß des Andreas Bachschen Buches fehlte. Es existirt noch eine dritte Toccate, in F moll, von ähnlicher Gestaltung, insofern mit einem Passagensatze begonnen wird, der sich allerdings bald zu strengerem, imitatorischem Gange beruhigt, darauf ein langsames Stück im 3/2 Takt folgt, vollgriffig und durchgehend gebunden, und eine bewegte Fuge den Schluß macht. Die Toccate ist in zwei alten Handschriften überliefert, deren keine jedoch Bach als Componisten nennt. Die eine, im Besitz des Herrn Dr. Rust in Berlin, stammt aus dem Nachlasse von dessen Großvater F.W. Rust, einstigem Capellmeister in Dessau, sie trägt nur die Aufschrift Toccata con Fuga in F moll. Die andre befindet sich auf der Bibliothek des königlichen Instituts für Kirchenmusik zu Berlin, ist nur Toccata genannt und weist den Namen »Dobenecker« auf. Aber es gab noch eine dritte Handschrift, ebenfalls aus Rusts Nachlasse, welche jetzt nur in einer Copie der Fuge fortexistirt, die Herr Pfarrer Schubring in Dessau seiner Zeit davon nahm, diese nannte ausdrücklich als Verfasser Sebastian Bach. Es fragt sich nun, ob die innere Bedeutung des Werkes derart ist, daß man es trotz der schwankenden Beglaubigung Bach zuschreiben kann. Ich halte sie dafür und sehe auch in dem »Dobenecker« der Berliner Handschrift kein großes Hinderniß; es kann dies recht wohl der Name ihres einstigen Besitzers oder Abschreibers sein, der um so eher versucht werden konnte, sich auf dem Titelblatte zu nennen, als, wie aus der Rustschen Handschrift hervorgeht, [822] die Toccate auch anonym sich verbreitete; von einem Componisten Dobenecker ist nie das Geringste bekannt geworden. Stammt aber das Werk aus Bachs Feder, so muß es in die ersten Arnstädter Jahre zurück verlegt werden und was sich zwischen ihm und den Toccaten aus Fis moll und C moll an formeller Uebereinstimmung findet, kann nur als äußerlich und zufällig gelten. Die Polyphonie des ersten Satzes ist zwar schon recht gewandt, aber doch nicht frei von allerhand kleinen Ungelenkigkeiten und Stockungen, für welche ein an Bachs Meisterwerken geübtes Ohr sehr leicht geschärft wird; sie hat außerdem eine sehr große Aehnlichkeit mit der Textur jenes C moll-Praeludiums (P.S. V, C. 4, Nr. 5), das uns nebst seiner Fuge ebenfalls in die frühere Arnstädter Zeit zu gehören schien. Der Mittelsatz mit seinen undeutlichen Imitationen und dicken Harmoniemassen erinnert gar an gewisse Partien in südländischen (z.B. Georg Muffats) Toccaten, hat mancherlei Härten, und der Fuge endlich haften fur jeden, der sich in Bachs Schreibweise orientirt hat, die Spuren des Anfängerthums so deutlich erkennbar an, daß es nicht nöthig ist, auf Einzelnes einzugehen. Aber Bachscher Geist leuchtet hindurch, wir müßten dann nur wieder annehmen, daß Kittel mit seiner Aeußerung über die D moll-Toccate geirrt habe, denn diese ist jedenfalls reifer. So wie die Sache jetzt liegt, mochte ich nicht wagen, der F moll-Toccate ohne weiteres einen Platz unter den authentischen Werken Bachs anzuweisen; es wird abzuwarten sein, ob nicht neues Material ans Licht kommt, das den jetzigen Ergebnissen Halt verleiht. Uebrigens stimmen die Handschriften nicht überein und deuten auf Aenderungen des Componisten hin. Die ursprüngliche Gestalt bietet Rusts Handschrift, in der Berliner ist der erste Takt des dreitaktigen Fugenthemas wiederholt und so eine bessere Periode erzielt, von unwesentlichen Verbesserungen abgesehen; mit ihr stimmte auch die verlorene Handschrift. Offenbar falsch ist aber in der Berliner der 3/2 Satz ans Ende gebracht, wie es denn auch sonst ihr an Fehlern nicht mangelt. Dieselbe enthält auch noch eine Fuge in G moll, welche man dann wohl ebenfalls Bach zusprechen müßte, und in der That hat sie auffallende Aehnlichkeit mit der Schlußfuge der E moll-Toccate, nur daß alles viel unreifer und steifer sich darstellt. Beides, Toccate und Fuge, edirte nach der Berliner Handschrift mit Angabe Dobeneckers als Componisten Fr. Commer (Musica sacra I, Nr. 9), doch nicht eben correct.

37. (S. 647.) Quantz äußert sich an der angeführten Stelle wörtlich so: »Man muß aber bey Ausführung der laufenden Noten die Finger nicht sogleich wieder aufheben; sondern die Spitzen derselben vielmehr, auf dem vordersten Theil des Tasts hin, nach sich zurücke ziehen, bis sie vom Taste abgleiten. Auf diese Art werden die laufenden Passagien am deutlichsten herausgebracht. Ich berufe mich hierbey auf das Exempel eines der allergrößten Clavierspieler, der es so ausübte, und lehrete.« Daß Bach gemeint sei, beweist das Register, wo unter der Rubrik »Bach (Johann Sebastian)« auf diese Stelle verwiesen wird. Die Beschreibung, welche Forkel vom Einziehen der Finger giebt, stimmt hiermit überein, nur beschränkt [823] Quantz dasselbe auf die Execution von Laufwerk, während dieser mit Recht eine umfassende Eigenthümlichkeit der Bachschen Technik darin erblickt. Aber auch so wird immer erst die Angemessenheit des Einziehens für das Clavichord erklärt; für den bekielten Flügel oder die Orgel wäre es unnütz, wenn nicht eben ganz allgemein nur auf diesem Wege völlige Gleichmäßigkeit des Anschlages erzielt würde. Das Geniale der Methode liegt in ihrer Vielseitigkeit. Bei Passagen auf dem Clavichord trat ihr Werth am sichtbarsten hervor und war dem flüchtigen Urtheil am einleuchtendsten, weil bei dem unvermeidlichen Geräusch, mit dem die Tangenten unter die Saiten schlagen, hier das längstmögliche Niederdrücken der Tasten zur Vernehmbarkeit der Tonreihen dringend nothwendig ist. Man versteht es daher; wenn Quantz, der Flötenspieler, nur von diesem Falle redet. Wenn aber Philipp Emanuel Bach das Einziehen der Finger nur auf gewisse Vorkommnisse beschränkt – er nennt es »das Schnellen«, wobei der Finger »so hurtig als möglich von der Taste abgleiten« und das allezeit »durch einen gewissen Grad der Gewalt geschehen muß« (II, 1, §. 36) – wenn er es allein beim geschwinden Abwechseln der Finger auf einer Taste (I, §. 90), beim letztmaligen Anschlag des höheren Trillertons (II, 3, §. 8), bei der Manier des »Schnellers« (II, 8, §. 1) und beim Vortrage raschbewegter Gedanken (III, §. 1) angewendet wissen will, es aber nicht als allgemeine Spielregel hinstellt, so war sein Fingersatz eben schon ein andrer, als der Sebastians. Es wird das im Verlauf der vorn gegebenen Darstellung alsbald auch noch an andern Dingen deutlich werden. Forkels Verwunderung ist deshalb ungegründet. Mit ihm haben freilich viele alles, was Philipp Emanuel schreibt, unbesehen für Sebastians Lehre gehalten und dadurch irrthümliche Ansichten verbreitet.

38. (S. 678, 680, 688.) Nach allem, was bis jetzt an verschiedenen Stellen über die Gründlichkeit gesagt ist, mit der Bach eine einmal erfaßte Kunstform nicht eher losließ, als bis sie nach allen Seiten durcharbeitet war, darf es als unzweifelhaft gelten, daß zwei so gleichartige Werke, wie die sechs Violin- und sechs Violoncell-Soli, unmittelbar hinter einander geschrieben sind. Nun ist die letzte der Suiten des zweitgenannten Werkes nicht für das Violoncell, sondern für die von Bach erfundene Viola pomposa bestimmt. Was oben über dieselbe erzählt wurde, wissen wir durch den Lexicographen Gerber. Dieser hatte es von seinem Vater erfahren, der in den Jahren 1724–1727 in Leipzig Bachs Schüler war, und damals erlebte, daß sein Lehrer die Viola pomposa bisweilen an Stelle des Violoncells treten ließ, um eine deutlichere Ausführung der schwierigen und beweglichen, insbesondere der hochliegenden Bassfiguren in seinen Kirchencompositionen zu ermöglichen (s. Gerber, L. I, Sp. 491 f., und Sp. 90). Nehmen wir jetzt an, daß dieViola pomposa etwa um 1724 erfunden sei, wie Gerber der Sohn es wirklich thut (L. II, Anhang, S. 85), so würde die Composition der beiden Werke in einem Abschnitte von Bachs Leben stattgefunden haben, wo sein Geist bei dem Uebergang und der Eingewöhnung [824] in eine neue, anspruchsvolle Berufsthätigkeit durch ganz andre musikalische Aufgaben vollauf in Anspruch genommen war. Wie unwahrscheinlich dies ist, leuchtet ein. Man nehme hinzu, daß die fünf ersten Violoncell-Soli, die Bach selber nicht spielen konnte, doch gewiß mit Hinblick auf einen tüchtigen Meister des Instruments geschrieben sind, wie ihn die Cöthener Capelle in Abel besaß, daß bei mehren andren seiner bedeutendsten Kammermusikwerke die Zeit der Entstehung in Cöthen feststeht und daß doch im allgemeinen nichts natürlicher ist, als die Composition einer musikalischen Specialität eben an dem Orte, wo mehr als irgendwo anders dafür die Anregung vorhanden ist. Die andre schon an sich sehr fernliegende Möglichkeit, daß beide Werke etwa in der späteren Leipziger Zeit componirt sein könnten, wird durch die Thatsache vernichtet, daß die Violinsoli sich in dem mehrfach genannten Sammelbande Joh. Peter Kellners, den Herr Roitzsch in Leipzig besitzt, und der die Notiz trägt: »Franckenhayn den 3. Juli 1726« bereits abschriftlich vorfinden (mit Ausnahme der H moll-Suite und in dieser Reihenfolge: G moll, A moll, C dur, E dur, D moll), ja daß derselbe Kellner von der aus der G moll-Sonate arrangirten Orgelfuge schon im Jahre 1725 sich eine Abschrift fertigte (s. B.-G. XV, S. XXV). Endlich thut ein Uebriges die Beschaffenheit eines Autographs der Violinsoli. Für jeden, der sich mit Bachschen Autographen eingehender beschäftigt hat, ist die Handschrift des Meisters, wie sie sich in Folge seiner ungeheuren compositorischen Thätigkeit in Leipzig ausbildete, kaum zu verkennen; auch die wenigen, immer wiederkehrenden Papiersorten mit ihren Wasserzeichen liefern ziemlich sichere Anhaltepunkte. Die königl. Bibliothek zu Berlin besitzt ein Autograph des Violinwerks, dessen Züge von der Leipziger Hand durchaus verschieden sind, dagegen in ihrer Spitzigkeit und Schärfe mit dem Buch IV, 2, Anmerk. 53 erwähnten zweiten Autographe der Inventionen und Sinfonien entschiedene Verwandtschaft zeigen; das Wasserzeichen des Doppeladlers weicht ebenfalls ab, ich habe in Leipziger Autographen bis jetzt nur den einfachen Adler und auch diesen selten bemerkt. Es mag dieses die erste Reinschrift sein, welche Bach davon anfertigte. Der Hamburger Musiklehrer Georg Pölchau erwarb das Manuscript im Jahre 1814 aus den nachgelassenen Papieren des Clavierspielers Palschau in Petersburg, welche für den Butterladen bestimmt waren. Es hat 23 Blätter, die aber nicht alle beschrieben sind, da aufs Umblättern stets Bedacht genommen ist; daher ist es denn auch geschehen, daß die einzelnen Stücke, wenn sie das Ende eines auf einer Seite schon beschriebenen Blattes erreicht hatten, ohne selbst zu Ende gekommen zu sein, sich auf irgend einem andern Blatte so fortsetzen, daß das Umwenden durch gleichzeitiges Auflegen dieses Blattes vermieden werden konnte. Ein Titel fehlt; in den Einzelüberschriften nennt Bach mit präciser Unterscheidung nur die Stücke aus G moll, A moll und C dur, in denen je zweimal ein langsamer Satz mit einem raschen abwechselt, Sonaten, die übrigen, welche aus Tänzen sich zusammensetzen, Partien. Uebrigens fehlt das Autograph zu der letzten derselben (E dur), und die letzten zwölf Takte der D moll-Ciacona sind von ungeübter Kinderhand, etwa Friedemanns, [825] geschrieben. Ein zweites, vollständiges Autograph, ebenfalls auf der königl. Bibliothek zu Berlin, besteht aus Titelblatt und 22 andern Blättern und entstand nach Handschrift, Wasserzeichen und Titelangabe in Leipzig. Der Titel ist deshalb vorzüglich interessant, weil ihn Bachs zweite Frau, Anna Magdalena, schrieb. Er lautet: »Pars 1. | Violino Solo | Senza Basso | composée | par | Sr. Jean Seb: Bach. | Pars 2. | Violoncello Solo. | Senza Basso. | composée | par | Sr. J.S. Bach. | Maitre de la Cha-pelle | et | Directeur de la Musique | a | Leipsic. | [rechts unten:]ecrite par Madame | Bachen. Son Epouse. |« Dasecrite gilt von dem Titel und einigen Ueberschriften der einzelnen Nummern. Auch hier sind es drei Sonaten und drei Partien. Der Titel deutet an, daß Violin-und Violoncell-Soli zu einem zweitheiligen Werke zusammengefaßt sind. Letztere bilden aber ein besonderes Heft mit folgendem, auch von Anna Magdalena geschriebenem Titel: »6 | Suites a| Violoncello Solo | senza |Basso | composées | par | Sr. J.S. Bach. | Maitre de Chapelle. |« Es sind 19 nicht ganz beschriebene Blätter; der Name »Suite« ist auch von Bach selbst jedem einzelnen Stücke hinzugefügt.

39. (S. 711.) Von Kammertrios mit obligatem Clavier giebt es in vollständiger autographer Partitur jetzt noch drei. Eine Sonate in G moll für Gambe und Clavier (B.-G. IX, S. 203) hat Bezifferung, wo eine der oben beschriebenen Stellen zu finden ist, und nur dort; eine Sonate in G dur für dieselben Instrumente (ebend. S. 175) zeigt von Bezifferung nirgends eine Spur, weil eben solche Stellen nicht darin vorkommen. Die sechs Sonaten für Violine und Clavier existiren in einer Handschrift, von der Bach nur die letzten Sätze der letzten Sonate selbst geschrieben und das übr ge revidirt hat; die Bezifferung ist hier nur einige Male angedeutet, und er mag es nicht für nöthig gehalten haben, sie zu vervollständigen; das wenige genügt aber schon, um auch hier dasselbe Princip erkennen zu lassen. Ueberdies giebt es noch eine andre werthvolle alte Handschrift, welche in der Bezifferung vollständiger ist, und auch in ihr betrifft diese immer nur jene ersten Themaeintritte über dem Grundbass (s. B.-G.). Daher ist es ganz sicher nur ein Zufall, daß im letzten Satze der E dur-Sonate die Bezifferung fehlt; auch hier muß Accordfüllung eintreten Takt 1–4, 35–49 (aber mit Ausschluß der vereinzelten Takte, wo die rechte Hand schon zu thun hat) und 120–123, natürlich so bescheiden und einfach wie möglich. Nicht jedoch darf die Forderung an solche Stellen gerichtet werden, wo die Begleitung schon an sich eine vollständige Harmonie bewirkt, wie am Anfange des dritten Satzes der A dur-Sonate, am Anfange des zweiten Theils des Schlußsatzes der C moll-Sonate (wenigstens nicht für die ersten beiden Takte), am Anfang des ersten Satzes der Gambensonate in D dur (B.-G. IX, S. 189), oder wo beide Stimmen höchstens um den Raum einer Octave aus einander liegen und deshalb in ihrer Zusammengehörigkeit unmittelbar empfunden werden, wie am Beginn des Schlußsatzes der Violinsonate in G dur, oder an derselben Stelle der Flötensonate in H moll (B.-G. IX, S. 15), welche letztere, da sie im Autograph vorliegt, [826] auch durch das Fehlen der Bezifferung an jener Stelle die Richtigkeit unserer Behauptung nachdrücklichst bekräftigt. In annähernder Vollständigkeit existirt auch noch das Autograph eines Trio für Flöte und Clavier in A dur (B.-G. IX, S. 32 ff. und 245 ff.), dessen erster Satz einige Male einen bezifferten Bass hat. Es sind das, da der Satz in Concertform geschrieben ist, solche Stellen, wo die Flöte mit einem der beiden Themen gegensätzlich auftritt, nämlich am Anfang und zur Einleitung des Mitteltheils: hier bringt übrigens der Charakter der Form das Accompagnement schon von selbst mit sich. Nach diesem Muster ist der erste Satz der Flöten-Sonate in Es dur (B.-G. IX, S. 22 ff.) auszufuhren, wo ebenfalls alle Stellen zu accompagniren sind, in denen die Clavierstimme der rechten Hand schweigt. Einzelfälle, in denen noch außerdem einmal füllende Accorde eintreten sollen, finden sich voll beglaubigt nur in dem vierstimmigen Largo der Violinsonate aus F moll durch die bei Takt 8 zu lesende Notiz: accomp. und das im 58. Takt verzeichnete ?, woraus sich denn ergiebt, daß auch an allen übereinstimmend beschaffenen Stellen die Violine mit dem Bass durch wenige, einfache Harmonien vermittelt werden muß. Die Gambensonate aus D dur, welche in einer sorgfältigen Handschrift des Thomasschülers Christian Friedrich Penzel aus dem Jahre 1753 existirt, hat im 22. Takte ihres dritten Satzes eine Bezifferung, die echt sein mag, obgleich die zweistimmige Harmonie völlig befriedigend ist. Endlich findet sich in dem dritten Satze der Violin-Sonate in G dur nach der ersten Bearbeitung (B.-G IX, 252 ff.) an verschiedenen ungewöhnlichen Stellen bezifferter Bass, der hier in der eigenthümlichen Anlage des Stücks seine Berechtigung hat. Und damit ist das Register schon geschlossen, in seiner Kargheit ein klarer Beweis, wie energisch Bachs Streben auf eine gleichmäßige Durchführung der reinen Dreistimmigkeit gerichtet war. Ich wiederhole noch einmal, daß alle Fälle insgesammt nur aus solchen Stellen bestehen, wo die obligate Stimme der rechten Hand unbeschäftigt ist. Zu deren eigenthümlichen Tonreihen aber noch nach Gutdünken harmonische Füllstimmen fügen zu wollen, ist nach meiner Ueberzeugung ganz unstatthaft und den Intentionen Bachs im Allgemeinen wie im Besondern zuwider. Die Ansichten, welche W. Rust über diesen Gegenstand äußert (B.-G. IX, S. XVI und XVII), kann ich nicht theilen.

40. (S. 718.) Seit einigen Jahren hat sich die Ansicht verbreitet, Bach habe in seinen Kirchencompositionen Orgel und Cembalo neben einander gebraucht, letzteres immer bei Arien und Recitativen, und die wunderlichsten Phantasien über diesen Gegenstand sind noch kürzlich von einem Mitarbeiter der Allgem. musik. Zeitung (Jahrgang 1872, Nr. 31–33) mit großer Zuversicht als das einzig Wahre zu Markte gebracht worden. Es scheint, daß dazu ein Aufsatz Fr. Chrysanders die Veranlassung geworden ist, in welchem dieser die Art und Weise klar stellt, wie Händel beim »Saul« die Orgel angewendet wissen wollte (Jahrbücher für musikalische Wissenschaft I, S. 408 ff.). Das Gesammtresultat dieser auf Grund von Händels Handexemplar gemachten höchst werthvollen Mittheilungen [827] ist, was im Texte von uns schon einige Male ausgesprochen wurde, daß nämlich Händel die Orgel nicht etwa als den Mittelpunkt seines Oratorienorchesters ansah, sondern sie wie jedes andre Instrument eben nur dort anwendete, wo sie ihm die ihrem Wesen entsprechende Wirkung zu machen schien, in ausgedehnterem Maße also nur in den Chören und Instrumentalsätzen, aber auch hier häufig nur zur Verstärkung des Basses und immer zu diesem Zwecke bei den nicht eben zahlreichen Solostücken, zu denen sie überhaupt herbeigezogen wird, während das eigentlich accompagnirende Instrument bei diesen das Cembalo ist. Die Mannigfaltigkeit, mit der Händel die Orgel bald benutzt, bald nicht, bald einstimmig, bald vollgriffig, zeigt den souveränen Meister, der für jedes ganz genau seine Stelle weiß. Das Princip jedoch hatte er von den Italiänern überkommen, die ihre Theaterpraxis eben so wohl, wie ihre Kammermusik in die Kirche trugen. In Hamburg, der hervorragendsten Pflegstätte der Oper in Deutschland, wurde das, was Händel mit Recht für sein neues Kunstideal in Anspruch nahm, den Italiänern auf dem eigensten Gebiete der Kirchenmusik einfach nachgemacht, und bald so gründlich mit der Orgel aufgeräumt, daß im Jahre 1739 Mattheson ein gutes Wort für sie einlegen durfte und im »vollkommenen Capellmeister« S. 484, §. 29 schreiben, es würde »aus verschiedenen Ursachen nicht schlimm seyn, wenn in den Kirchen saubere und hurtig-ansprechende kleine Positiven, ohne Schnarrwerck, mit den Clavicimbeln vereiniget werden könten«. Demgegenüber hat Bach stets das rein deutsche Princip vertreten und von einem ständigen Cembalo bei der Kirchenmusik eben so wenig etwas wissen wollen, wie er sich je mit der Theatermusik befaßt hat. Es ist mir nicht bekannt, daß Chrysander aus Händels Praxis irgendwo einen Schluß auf diejenige Bachs gemacht hätte. Daß es von Andern dennoch geschah, ist um so unbegreiflicher, als jetzt nahe an hundert Bachsche Cantaten in der Ausgabe der Bach-Gesellschaft mit ausführlichen Quellennachweisen vorliegen, aus denen jedermann sich zur Genüge über die Sache unterrichten kann. Da glücklicherweise eine große Anzahl von Cantaten in autographen oder vom Componisten revidirten Stimmen vorliegt, so stellen die um einen Ton abwärts transponirten und vom ersten bis zum letzten Takte bezifferten Orgelstimmen den Bachschen Willen sofort außer jeden Zweifel. Denn weshalb der vielbeschäftigte Mann sich die Mühe des Transponirens und Bezifferns auch bei solchen Stücken hätte geben sollen, die den Orgelspieler garnichts angingen, dürfte wohl schwerlich jemand zu sagen wissen. Findet sich neben der bezifferten Orgelstimme auch eine bezifferte im Kammerton, so bedeutet das natürlich nicht, daß beide mit einander bei der Aufführung executirt sind, sondern die Cembalostimme war für die Proben bestimmt, welche nicht in der Kirche statt fanden. Und diese ständige Mitwirkung der Orgel verlangte Bach in allen Perioden seines Lebens, nicht nur in der Leipziger Zeit, aus welcher die meisten Belege vorhanden sind, sondern auch in Weimar. Die Adventscantate von 1714, auf deren Umschlage alle mitwirkenden Instrumente umständlich aufgeführt werden, weist ausdrücklich die Orgel und kein andres Instrument neben [828] ihr auf, und zu welchen Manipulationen Bach beim Niederschreiben seiner Partituren durch den Cornetton der dortigen Schloßorgel veranlaßt wurde, ist in Nr. 17 dieses Anhangs auseinandergesetzt. Bei den Cantaten nun gar, welche noch der ältern Richtung angehören, dürfte vom Cembalo schon gar keine Rede sein, selbst wenn nicht die autographe Partitur und die gedruckten Stimmen der Mühlhäuser Rathswechsel-Cantate über die unausgesetzte Verwendung der Orgel die genaueste Auskunft gäben. Eine Veranlassung, das Cembalo in die Kirche einzuführen, konnte doch nur die Aufnahme der italiänischen Arie und des Recitativs geben, dieser in der Opernmusik ausgebildeten Formen, welche der älteren Kirchencantate fehlen. Für eine Aufführung z.B. der Cantate »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« ohne Orgel wird also auch nicht einmal der Schein einer Begründung beigebracht werden können. Wären noch weitere Beweise nöthig, so könnten sie gar aus Bachs eignen Worten geliefert werden. In dem Mühlhäuser Entwurf (S. 351 f.) sagt er von dem achtfüßigen Stillgedackt, welches in das neue Brustpositiv gebracht werden soll, daß es »vollkommen zur Music accordieret«. Die »Musik« ist nach damaligem und noch heute in Thüringen herrschendem Sprachgebrauch die von Sängern und Instrumentalisten ausgeführte Kirchenmusik. Daß Solosätze gemeint sind, ergiebt sich aus der Beschaffenheit des Registers von selbst. Das Accordiren bedeutet die Eigenschaft, sich mit der Singstimme und den begleitenden Instrumenten, und diese in sich verschmelzen zu können. Daß Bach in Mühlhausen den Weg betrat, von welchem er sein Leben lang nicht wieder abwich, ist seines Orts entwickelt worden. Sehr selten kommt es wohl einmal vor, daß innerhalb einer Cantate der bezifferte Orgelbass zu einem einzelnen Stücke aussetzt; unter den veröffentlichten Cantaten findet sich ein solcher Fall B.-G. V, 1, S. 200 ff. Aber keine Spur, weder in Partitur noch Stimmen weist darauf hin, daß hier nun ein Cembalo eingetreten sei; wäre es dennoch geschehen, so würden ein paar verschwindende Ausnahmen nichts gegen die Regel beweisen, wahrscheinlich jedoch hat Bach auf dem Orgelpositiv selbst das Accompagnement übernommen, welches im übrigen dem Organisten zufiel. Nur in einem einzigen Falle wissen wir von Verwendung des Flügels, und dieser beweist grade nur wieder, daß ihn Bach sonst nicht verwendete. Es ist die Trauerode auf die Königin Christiane Eberhardine, von der in Siculs »thränendem Leipzig«. 1727. S. 22 f. gemeldet wird: »also ließ sich auch bald darauf die Trauer-Music, so dießmahl der Herr Capellmeister, Johann Sebastian Bach, nach Italiänischer Artcomponiret hatte, mit Clave di Cembalo, welches Herr Bach selbst spielete, Orgel, Violes di Gamba, Lauten, Violinen, Fleutes douces und Fleutes traverses u.s.w. – – hören«. Nach »italiänischer Art«, wie des ungewöhnlichen Falles wegen besonders bemerkt wird, hatte er die Ode gesetzt, weil sie, ohne irgendwo ein kirchliches Element in sich zu tragen, doch in der Kirche aufgeführt werden sollte, für die zwitterhafte Situation war auch nur die zwitterhafte Praxis der Italiäner angemessen.

[829] Wie weit die Unsitte, in der Kirche zum Clavier Musik zu machen, sich in Deutschland verbreitet hat, bin ich außer Stande, näher zu bestimmen. Da Bach der einzige war, der in einem wirklichen Kirchenstile schrieb, so würde es nicht auffallen dürfen, wenn er allein auch der Orgel eine durchgreifende Mitwirkung gestattet hätte. Aber zur Ehre seiner thüringischen Landsleute muß es gesagt sein, daß wenigstens sie das wichtigste kirchliche Instrument immer als solches gewürdigt haben. Vielleicht ist das Cembalo in ihren Kirchen niemals aufgekommen, wenigstens liegen mir noch aus den Jahren 1768 und 1769 Cantaten vor, welche durchweg nur Orgelbegleitung kennen. Für die erste Hälfte des Jahrhunderts darf es wohl als sicher gelten, denn der mit den thüringischen Verhältnissen wohlvertraute Verfasser des »Gesprächs von der Musik zwischen einem Organisten und Adjuvanten« (Erfurt, 1742) nimmt Orgelbegleitung bei Kirchenmusiken als etwas ganz selbstverständliches an, z.B. S. 29, wo er warnt, beim Begleiten des Recitativs die Accorde nicht liegen zu lassen, damit der Zuhörer den Text auch verstehen könne. Sogar Gr. H. Stölzel, der doch Italien durchreist hatte, scheint dem heimathlichen Brauche nicht untreu geworden zu sein; die viertehalbhundert Cantaten wenigstens, welche sich von ihm in der Bibliothek der Schloßkirche meines augenblicklichen Wohnorts befinden, verlangen Orgelbegleitung. Diese geben zugleich erwünschte Gelegenheit zu beobachten, wie sorglos man mit dem Namen »Cembalo« verfuhr: oft steht auf dem Umschlage dieses als accompagnirendes Instrument verzeichnet, während darin eine perfecte Orgelstimme liegt. Es erklärt sich das sehr leicht daraus, daß in den Proben zur sonntäglichen Musik, welche in der Wohnung des Cantors oder einem Schullocale abgehalten wurden, in der That das Cembalo an die Stelle der Orgel trat. So konnte Altnikol in einer Abschrift von seines Schwiegervaters Cantate »Ein feste Burg ist unser Gott« (B.-G. XVIII, Nr. 80) von den beiden Bässen des ersten Chors den oberen mit Violoncello e Cembalo, den anderen mit Violone ed Organo bezeichnen. In der Probe sollte das Cembalo sogleich verstärkend mit dem Violoncellbasse gehen und nicht auf den erst später einsetzenden tieferen und bezifferten Cantus firmus warten, in der Kirche übernahm selbstverständlich das Orgelmanual die Rolle. Andrerseits wird man jetzt auch zu verstehen wissen, was Kittel meint, wenn er an der im Text beigebrachten Stelle aus dem »angehenden praktischen Organisten« sagt, daß jedesmal ein Schüler habe am Flügel accompagniren müssen, wenn Bach eine Cantate »aufführte«. Natürlich kann damit ungenauerweise nur eine Probe bezeichnet sein; Bachs hier geschildertes Eingreifen und die Empfindungen des Schülers dabei passen auch nur auf eine solche.

Ganz unberechtigt aber wäre es, das Zeugniß Philipp Emanuel Bachs in Sachen seines Vaters anrufen zu wollen. Schon bei der Betrachtung von Sebastian Bachs Applicatur wurde klar, daß die Ansichten des einen nicht die des andern waren. Sie konnten es nicht sein, weil Bach der Sohn neue und von der Richtung des Vaters abweichende Wege ging. Mit der Orgel machte er sich nicht mehr zu schaffen, das ganze Streben galt [830] dem immer selbständiger werdenden Claviere, der Kirchenmusik stand er innerlich nicht viel näher, als seine und Sebastians Zeitgenossen ihr gestanden hatten. Außerdem will es etwas sagen, daß er zwanzig Jahre in Hamburg lebte. Und doch sind seine Anforderungen an die Mitwirkung des Flügels bescheidenster Art. Er sagt (Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen II, S. 1): »Die Orgel, der Flügel, das Fortepiano und das Clavicord sind die gebräuchlichsten Clavierinstrumente zum Accompagnement. – Die Orgel ist bey Kirchensachen, wegen der Fugen, starken Chöre, und überhaupt der Bindungen wegen unentbehrlich. Sie befördert die Pracht und erhält die Ordnung. So bald aber in der Kirche Recitative und Arien, besonders solche, wo die Mittelstimmen der Singstimme, durch ein simpel Accompagnement, alle Freyheit zum Verändern lassen, mit vorkommen, so muß ein Flügel dabey seyn. Man hört leider mehr als zu oft, wie kahl in diesem Falle die Ausführung ohne Begleitung des Flügels ausfällt.« Der letzte Satz setzt seine Meinung außer Zweifel. Nicht an Stelle der Orgel soll das Cembalo in Arien und Recitativen den accompagnirenden Generalbass ausführen, sondern nur dort soll es zutreten, wo schon an sich von einer Begleitung der Orgel ganz abgesehen und diese ausschließlich andren Instrumenten, also zunächst wohl dem Streichquartett, übertragen war. Hier mache sich, besonders bei ganz einfacher Begleitung, eine Verstärkung durch den Flügel nöthig, weil die Klangwirkung sonst zu dürftig sei. Völlig damit in Uebereinstimmung, aber auch nur so verständlich ist es dann, wenn er S. 259 Verhaltungsmaßregeln giebt über die Begleitung eines Recitativs auf der Orgel, zu dem noch andre, aushaltende Instrumente gesetzt seien. Dem gewöhnlichen Stil freilich der Kirchencomponisten des 18. Jahrhunderts, wenn man von einem solchen überhaupt reden soll, war die Orgel in den Solosätzen höchst unbequem, sie hielt Ausdruck und Bewegung dem Göttlichen gegenüber in den Schranken und Formen fest, deren Beobachtung eben das Wesen der Kirche ausmacht; bei ihrem ernsten, würdevollen Ton mußte alle Sentimentalität und Leichtfertigkeit verstummen. Aber von dieser idealen Bedeutung der Orgel im Organismus der Kirchencantate hatte man keine Ahnung, und zornig ruft Kirnberger, der zwei Jahre lang die sonntäglichen Kirchenmusiken Sebastian Bachs als sein Schüler miterlebt hatte, und von ihm alle seine musikalischen Urtheile abstrahirte, die Worte aus (Grundsätze des Generalbasses S. 64): »Von je her wurden Kirchenmusiken – – mit der Orgel zum Fundament und Aufrechthaltung der Musik begleitet. – In gegenwärtigen erleuchteten Zeiten, wo eine Kirchenmusik gänzlich einer comischen Operette gleichen muß, hält man die Orgel zum accompagniren für ganz unschicklich, wodurch eine Capelle von ihrer wahren Würde herabgewürdiget, und den musikalischen Mißgeburten in Bierhäusern gleich gesetzt wird.«

41. (S. 667, 732.) Eine dreisätzige Sonate für Violine und Bass aus A moll bewahrt in Seb. Bachs eigner Handschrift die königliche Bibliothek zu Berlin. Sie ist auf demselben auffallend starken, gelben Papiere [831] geschrieben, wie das dort ebenfalls aufbewahrte Autograph des sechsstimmigen Ricercars aus dem »musikalischen Opfer« (sign. P. 226), danach also während Bachs letzter Lebenszeit, um 1747. Daß die Composition ihn zum Verfasser habe, sagt der von fremder Hand hinzugefügte Titel. Er sagt ganz sicherlich etwas falsches: kein Hauch Sebastianschen Geistes ist in ihr zu spüren. Vermuthlich war einer seiner Söhne der Autor; es wäre nicht das einzige Beispiel, daß der Vater, liebevoll theilnehmend, deren Arbeiten copirte. Die Themen sind mitgetheilt in A. Dörffels thematischem Verzeichniß, Anhang I, S. 3, Nr. 5. – Dieselbe Bibliothek besitzt ferner ein Heftchen in klein Querquart mit »Inventionen« für Violine und bezifferten Bass, ohne Nennung des Componisten. Auch dieses hat Seb. Bach selbst geschrieben; Züge und Format stimmen ganz mit dem zweiten (vrgl. S. 669. Anm. 53) Autograph der Clavier-Inventionen und -Sinfonien überein. Daß es Originalcompositionen sein sollten, ist wenigstens nach der Art, wie die Stücke eingeschrieben sind, sehr zweifelhaft. Das Heft beginnt mit »Inventio seconda«, H moll; sie besteht aus: Largo; Balletto. Allegro; Scherzo. Andante; Capriccio. Allegro. Dann folgen zwei leere, größtentheils rostrirte Blätter, darnach gleich: »Inventio quinta«, B dur, erster Satz ohne Bezeichnung; Aria; Giga. Presto; Fantasia. Amabile. Es schließt sich an: »Inventio sexta«, C moll, erster Satz. Lamentevole; Balletto. Allegro; Aria. Comodo assai; Fantasia. Diese Invention steht auf vier Blättern, deren letztes die zweite Seite leer hat. Endlich: »Inventio settima«, D dur, erster Satz ohne Bezeichnung; Presto. Bifaria (so! soll jedenfalls die theilweise zweistimmige Führung der Geige andeuten); Largo. Andamento; Presto. Steht auf vier Blättern, das letzte ist nur zum Theil beschrieben. Damit ist das Heft zu Ende; die Anfänge im themat. Verzeichn. Anh. I, S. 3, Nr. 8–11. Man erkennt, daß hier nur eine Abschrift vorliegt, die auf das gesammte Original garnicht gerichtet war. Daß die Compositionen absolut nicht von Bach herrühren können, läßt sich freilich nicht behaupten; er konnte möglicherweise die Absicht haben, aus einem älteren Manuscripte für einen bestimmten Zweck eine Auswahl zu treffen, und der musikalische Stil ist wenigstens der seiner Zeit. Aber sehr unwahrscheinlich ist es jedenfalls, schon wegen der gehäuften und gesuchten Vortragsbezeichnungen, die ganz gegen Bachs Manier waren, dann besonders auch wegen der Unbedeutendheit und Knappheit der Stücke nach Inhalt und Form, wegen der von Bachs Ausdrucksweise ganz abweichenden Art der Tonphrasen. Die Gesammtform ist die der Violinsonate in eingeengten Verhältnissen. Das Interessanteste daran ist für uns wohl der Name »Invention«. Er beweist mindestens so viel mit Sicherheit, daß Forkels Definition dieses Ausdrucks gründlich falsch ist, wenn er (S. 54) sagt: »Man nannte einen musikalischen Satz, der so beschaffen war, daß aus ihm durch Nachahmung und Versetzung der Stimmen die Folge eines ganzen Stückes entwickelt werden konnte, eine Invention. Das übrige war Ausarbeitung und bedurfte, wenn man die Hülfsmittel der Entwicklung gehörig kannte, nicht erst erfunden zu werden.« [832] Diese Definition ist augenscheinlich erst von der Bachschen Clavier-Invention abstrahirt.

42. (S. 733.) Zu dem handschriftlichen Materiale, nach welchem die Bachgesellschaft das C dur-Trio herausgegeben hat, liefere ich hier noch einen Nachtrag. In der Gottholdschen Bibliothek zu Königsberg i. Pr. findet sich eine von Gotthold selbst geschriebene Sammlung von Choralvorspielen (Nr. 498 des Katalogs von J. Müller). Unter ihnen steht Fol. 11 ff. auch das C dur-Trio, betitelt: »Trio von Gollberg«. Der Name ist offenbar aus »Goldberg« verschrieben. Goldberg ist der bekannte Schüler Seb. Bachs, für welchen die 30 Variationen des vierten Theils der»Clavierübung« geschrieben wurden; er stammte aus Königsberg. Da die Autorschaft Bachs sonst hinlänglich beglaubigt ist, so ergiebt sich die Folgerung von selbst, daß Gotthold seine Copie von einer Handschrift Goldbergs nahm, und daß ein neues Beispiel zu der in der musikalischen Handschriftenkunde sich so oft wiederholenden Erscheinung vorliegt, daß im Laufe der Zeiten sich unvermerkt der Name eines Abschreibers an die Stelle des Componisten schiebt. Goldberg nun hat als Schüler Bachs zuversichtlich seine Abschrift nach einer sehr guten Vorlage gemacht, und daher ist dieselbe für die Herstellung eines möglichst richtigen Notentextes – denn ein Autograph fehlt – nicht ohne Bedeutung. Beziffert ist sie nicht. Einige der Abweichungen haben innere Glaubwürdigkeit; wesentliches betrifft keine von ihnen. Da das Manuscript allgemein zur Vergleichung zugänglich ist, begnüge ich mich mit diesem Hinweise.

43. (S. 749.) Die unveröffentlichte Orchesterpartie (in D dur) kenne ich bis jetzt nur aus der Copie, welche aus Fischhoffs Nachlaß an die königl. Bibliothek zu Berlin kam. Ihre Echtheit wird aber, von dem Charakter der Sätze ganz abgesehen, schon durch den einen Umstand überzeugend bewiesen, daß die Ouverture daraus von Bach zu seiner Cantate »Unser Mund sei voll Lachens« in höchst genialer Weise verarbeitet ist. Das schöne Werk ist somit aus dem Anhang des thematischen Katalogs, wo es unter den zweifelhaften Werken (Ser. VI, Nr. 3) seinen Platz gefunden hat, wieder zu erlösen. – Was die Entstehungszeit der Partien betrifft, so weisen die autographen Stimmen der andern D dur-Partie durch ihr Wasserzeichen MA auf Leipzig. Diejenigen der H moll-Partie dagegen – sie befinden sich nebst den zuvorgenannten auf der königl. Bibliothek zu Berlin – tragen der Handschrift nach den cöthenschen Charakter: die Züge sind etwas scharf und spitz und steifer als in der späteren Leipziger Zeit. Die Quadrate, welche Bach späterhin durchgängig in der Weise schreibt, daß zunächst der zusammenhängende Zug Kritische Ausführungen gemacht und darauf der fehlende WinkelKritische Ausführungen über dem kurzen Horizontalstriche eingefügt wird, kommen hier vielfach noch in der älteren Gestalt Kritische Ausführungen vor. Die spätere, so eigenthümliche Form der Kreuze, welche dadurch entsteht; daß die Verticalstriche nicht ganz durchgezogen werden, und somit oft wie auf dem tieferen Horizontalstrich ruhend erscheinen, herrscht ebenfalls noch nicht. [833] Doch treten beide spätere Schreibweisen schon hier und da zwischen die älteren hinein, so daß eine Uebergangsperiode deutlich erkennbar ist. Auch das Wasserzeichen des Papiers ist ein ganz besonderes, in den Leipziger Autographen bis jetzt von mir nicht gefundenes. Läßt man nun wieder die Erwägung mitwirken, daß Bach jedenfalls in Cöthen als Vorsteher des fürstlichen Orchesters solche Orchesterpartien geschrieben haben wird, so spricht die Wahrscheinlichkeit wohl sehr dafür, daß die H moll-Partie ebendort entstand. Von der C dur-Partie fehlt das Autograph; eine gewiße Einfachheit der Haltung läßt sie jedoch eher älter als jünger erscheinen. Die beiden aus D dur, auch durch reichere Instrumentirung ausgezeichnet, mögen zusammen in Leipzig geschrieben sein.

44. (S. 759.) In dem größeren Notenbuche Anna Magdalenas steht auf den beiden jetzt nach Seite 111 folgenden Blättern, und zwar auf deren Innenseiten, das weitverbreitete Lied: »Willst du dein Herz mir schenken, So fang es heimlich an«. Auf der Außenseite des ersteren steht in der Mitte: Aria di G[i]ovannini. Die Blätter liegen lose, haben aber von Anfang an ins Buch hineingehört, denn auf der Rückseite des zweiten beginnt zum zweiten Male die Arie: »Schlummert ein, ihr matten Augen« und setzt sich auf den folgenden Seiten fort. Es müssen hier ursprünglich einige Seiten leer gelassen sein, auf die später das Lied geschrieben wurde, diese sind sodann mit noch einigen andern Blättern heraus gerissen oder geschnitten. Noten- und Buchstaben-Schrift sind weder diejenigen Bachs, noch seiner Frau, der Text ist mit lateinischen Lettern geschrieben, die Notensysteme sind mit einem etwas schmaleren Rostrale gezogen, als das sonst für die Liniirung gebrauchte ist. Aus dem Bachischen Archive Philipp Emanuel Bachs kam das Buch in die Hände Karl Friedrich Zelters, des Directors der Berliner Singakademie; damals waren, laut dessen eigner Angabe, die Blätter schon losgelöst. Die Annahme nun, daß Gedicht und Composition von Sebastian Bach selbst herrührten, stammt ebenfalls von Zelter, der auf einem noch jetzt dabei liegenden Zettel folgendes vermuthet: »Giovannini könnte Joh. S. Bachs italisirter Schäfername seyn und das Gedicht wie die Composition von ihm selbst gemacht, in die Zeit seiner zweiten Verlobung mit Anna Magdalena fallen, die recht gut soll gesungen haben. Die Abschrift, welche Mädgenhaft genug ist, könnte von der Hand des Liebchens seyn. Wäre diese Hypothese gegründet, so wäre ein solches Denkmal aus dem Blüthenleben des großen Mannes nicht zu verwerfen, wiewohl Herr Dr. Forkel wissen will, daß Seb. Bach nie ein Lied soll gemacht haben.« Was Zelter als Vermuthung hinwarf, galt alsbald für bewiesen, nachdem A.E. Brachvogel in seinem Roman »Friedemann Bach« ein wirksames Romanmotiv daraus geformt hatte; Ernst Leistner machte das Lied als Sebastians Dichtung und Composition zum Mittelpunkt eines Schauspiels in zwei Charakterbildern (Leipzig, O. Leiner. 1870); in dem angeblichen Bach-Hause zu Eisenach wird es zum »Andenken an Johann Sebastian Bachs Geburtshaus« verkauft, in häuslichen Kreisen, ja in den Concertsälen singt man es und beklatscht es als [834] rührende Antiquität, mögen auch unbefangene Hörer von jeher den Kopf dazu geschüttelt haben, daß diese Musik Bachisch sein solle. Daß sie es nicht ist, hätte ein jeder sehen können, der das Manuscript mit unbefangenen Augen betrachten wollte; steht doch der Name des Componisten klar und deutlich auf dem Titel. Giovannini war ein vornehmer Italiäner aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, der sich längere Zeit in Deutschland aufhielt und als Violinspieler und Componist mit Achtung erwähnt wird (Gerber, L. I, Sp. 510; N.L. II, Sp. 332). Er war der deutschen Sprache mächtig und versuchte sich mehrfach in der Liedcomposition. Im dritten und vierten Theile der von Johann Friedrich Graefe herausgegebenen Odensammlung (erschienen 1741 und 1743) finden sich sieben von ihm mit Musik versehene Oden, in der Vorrede zum vierten Theile bringt der Herausgeber auch einiges Persönliche über ihn bei. Ernst Otto Lindner hat in seiner Geschichte des deutschen Liedes im XVIII. Jahrhundert (Leipzig, Breitkopf und Härtel. 1871) zwei dieser Compositionen mitgetheilt (Notenbeilagen S. 103 und 104; vergl. auch im Text S. 31 und 33), an deren Stil jeder sofort den Componisten von »Willst du dein Herz mir schenken« wieder erkennen wird. Wann und wie das Lied in Anna Magdalenas Buch gekommen ist, läßt sich natürlich nicht bestimmen; vermuthlich erst nach ihrem Tode, als das Buch in andere Hände übergegangen war, denn zu andrer Zeit als der übrige Inhalt desselben ist es geschrieben, wie schon bemerkt wurde. Aus dem Umstande, daß der Text des vierstrophigen Liedes mit lateinischen Buchstaben geschrieben ist, läßt sich vielleicht schließen, daß der, jedenfalls sehr ungeübte, Abschreiber von Giovanninis Original copirte, der sich auch für das Deutsche wohl der für seine Muttersprache gebräuchlichen Lettern bediente. Das Gedicht, dessen spielende Anmuth höher steht, als die Musik, halte ich für eine Uebersetzung aus dem Italiänischen; als Original läßt es sich nach meiner Ansicht weder formell noch ideell mit dem Stande der deutschen Litteratur zwischen 1750 und 1780 vereinbaren. Wie aber jemand im Ernste meinen kann, Bach habe ein solches Lied dichten können, Bach dessen dichterischer Geschmack durch Kirchenlieder und Cantatentexte eines Neumeister, Franck und Picander bestimmt wurde, dessen Ausdrucksweise, um von dem Inhalte ganz zu schweigen, aus Briefen und amtlichen Schriftstücken genugsam bekannt ist, das gehört zu den Dingen, die mir unbegreiflich sind. Ich bedaure, daß W. Rust in dem Vorworte B.-G. XX, 1, S. XV sich für die Echtheit des fraglichen Liedes ausgesprochen hat, um so mehr, als ich ihm vorher bereits den Componisten Giovannini genannt hatte und überhaupt kein Grund vorlag, an jener Stelle von der Sache zu reden. Er behauptet, daß gewisse Partien der Noten die Schriftzüge Seb. Bachs erkennen ließen. Ich bin wie gesagt anderer Ansicht. Aber selbst wenn es der Fall wäre, würde dadurch selbstverständlich nicht dargethan, daß Bach der Componist und nun gar auch der Dichter sei. Ich darf wohl der allgemeinen Zustimmung versichert sein, wenn ich meine, daß die Frage über das Lied »Willst du dein Herz mir schenken« hiermit endgültig erledigt ist.

[835] 45. (S. 767.) Es ist dies das wichtigste Autograph des gesammten Werkes, das existirt. Ein, wie man sagt, von Bach geschriebenes, aber nur vier dieser Suiten enthaltendes Manuscript besaß früher Dr. W. Rust in Berlin; nach ihm ist, soweit es reicht, die durch F.A. Roitzsch besorgte neue Ausgabe bei C.F. Peters (Leipzig, 1867) hergestellt. Jetzt befindet es sich im Besitze von Professor G.R. Wagener in Marburg; ich habe es nicht gesehen. Aus Anna Magdalenas Büchlein sind, da die Blätter sich aus dem Einbande gelöst hatten, im Laufe der Zeit einige Lagen verloren gegangen. Daher wird es kommen, daß auch das Autograph lückenhaft ist: die sechste Suite (E dur) fehlt gänzlich, mehre der andern sind nicht vollständig vorhanden. Die bekannte Reihenfolge der sechs Suiten ist hier schon inne gehalten. Zu Anfang hat offenbar die D moll-Suite gestanden, es fehlt aber die Allemande und von der Courante der erste Theil und vom zweiten Theile 12/3 Takte, des Uebrige ist von Bach paginirt mit 4. 5. 6. 7. 8. 9. Da jedoch dieselbe Suite in dem größeren Buche Anna Magdalenas auf S. 86–95 noch einmal vollständig steht, so ist der Ausfall ersetzt. Dann wird die C moll-Suite gekommen sein, von der gleichfalls Allemande und erster Theil der Courante fehlen, und von der Gigue sind nur die ersten 12 Takte mit Auftakt vorhanden, der Rest wird auf einem verloren gegangenen Blatte gestanden haben. Vor der Gigue hat Bach die Notiz gemacht: »NB. Hierher gehöret die fast zu ende stehende Men. ex. c.b.« Der Menuett steht nämlich an einem ganz andern Orte des Buches; aus der Notiz aber schließe ich, daß die übrigen Theile der Suite nach dem Anfange zu gestanden haben. Auch hier kann das größere Buch ergänzend eintreten; allerdings nur theilweise, da es selbst die C moll-Suite nur bis in die Sarabande enthält (auf S. 96–100). Dann wird die H moll-Suite gefolgt sein, die folgende Ueberschrift trägt:

»Suite pour le Clavessin par J.S. Bach.«

Courante, Sarabande und Anglaise bis auf die letzten 22 Takte des zweiten Theils derselben fehlen, die beiden Menuette dagegen stehen weiter nach hinten zwischen andern Stücken und sind demnach wohl hinterher componirt; Gigue wieder vollständig, nach Takt 10 und 28 des ersten und Takt 12 und 28 des zweiten Theils sind jedesmal die zwei darauf folgenden Takte später eingeschoben und in deutscher Tabulatur am oberen oder unteren Rande nachgetragen. Es folgt:»Suite ex Dis pour le Clavessin«. Darauf: »Suite pour le Clavessin. ex G ?«. Beide sind vollständig.

46. (S. 773.) Forkel hat in der von ihm besorgten Ausgabe des wohltemperirten Claviers, die 1801 bei Hoffmeister und Kühnel in Leipzig erschien, die Praeludien aus C dur, C moll, Cis dur, Cis moll, D dur, D moll, Es moll, E moll, F moll und G dur in einer kürzeren Fassung gegeben. Er wollte in ihr die Gestalt sehen, welche den Stücken vom Componisten endgültig zugedacht gewesen sei (vrgl. seine Schrift über J.S. Bach, S. 63). Allein hier befindet er sich nicht nur mit dem musikalischen Gefühle sondern auch mit sämmtlichen Autographen des wohltemperirten Claviers im Widerspruch. Auch hat er seine Ansicht nicht diplomatisch begründet; eine Handschrift, welche aus seinem Besitze an die königl. Bibliothek zu Berlin[836] kam, ist erstens ziemlich incorrect und enthält zweitens von den fraglichen Praeludien auch nur die aus Cis dur und Es moll. Gleichwohl wird man schwerlich je geglaubt haben, daß derartige tiefgreifende Abweichungen so vieler Stücke in gar keiner Beziehung zum Componisten ständen. Die bis jetzt ungenutzte Quelle des Friedemann Bachschen Clavierbüchleins giebt darüber erwünschten Aufschluß. Sie zeigt, daß bei einer Anzahl von Praeludien jene kürzeren Fassungen in der That von Bach herrühren. Die Frage würde nun entstehen, ob die gekürzte Form den ursprünglichen Entwurf repräsentire oder etwa nur eine Zurichtung in usum Delphini bedeute, um den Kräften des Knaben nichts übertriebenes zuzumuthen. Aber auch hierüber verhilft uns das Büchlein, wenn nicht zur vollständigen, so doch zur annähernden Sicherheit. Denn einerseits sind nicht alle Praeludien, die in kürzerer Fassung existiren, in Friedemanns Buche wiederzufinden – G dur fehlt gänzlich –, andrerseits stehen aber auch mehre in der erweiterten Fassung darin, so namentlich Cis dur vollständig mit 104 Takten (der Anfang ist in der rechten Hand so


Kritische Ausführungen

und Cis moll mit 39 Takten; Es moll bricht im 35. Takte bei der Sechzehntelpassage im verminderten Septimenaccorde ab, genug jedoch, um zu zeigen, daß die Forkelsche Fassung nicht vorliegt; ebenso ist es mit dem F moll-Praeludium, das auf dem Orgelpunkt c im 18. Takte abbricht. Auch das C dur-Praeludium zeigt einige erhebliche Abweichungen von der Forkelschen Gestalt, Erweiterungen, die sich sofort als Verbesserungen erweisen; es ist nämlich (von kleineren Aenderungen abgesehen) hinter Takt 4, 6 und 8 je ein Takt eingeschoben, durch welche namentlich der Reiz der verhüllten Melodik schon wesentlich erhöht wird. Man sieht also wohl, daß bei der Umgestaltung der Praeludien nur rein musikalische Motive gewirkt haben. Ist es nun aber erwiesen, daß bei einigen Praeludien die sogenannte Forkelsche Fassung vom Componisten selbst herstammt, so darf bei der Beschaffenheit der Abweichungen der Schluß nicht zu kühn genannt werden, daß dies von allen gelte. Das D dur-Praeludium, das auch in kürzerer und längerer Form vorkommt, ist in Friedemanns Buche leider in einer Weise fragmentarisch, daß sich kein Schluß machen läßt, in welcher Form es hier beabsichtigt war, es hört nämlich im 19. Takte auf. Bei dem C dur-Praeludium aber haben wir nunmehr drei Fassungen zu unterscheiden: die Forkelsche, die Friedemann Bachsche, die endgültig für das wohltemperirte Clavier hergestellte. Die Sache verhält sich also grade umgekehrt, als Forkel meinte: die kurzen Praeludien sind das Frühere, die längeren das Spätere. Es werden ihm, vielleicht eben durch Friedemann Bach, Handschriften der Praeludien in ihren ersten Entwürfen zugekommen sein, die er dann für nachträgliche Ueberarbeitungen hielt, irregeleitet durch die Beobachtung ähnlicher Thatsachen an andern Bachschen Werken.

47. (S. 773.) Das bis jetzt unbekannt gewesene Autograph des wohltemperirten Claviers, über das ich hier zu berichten habe, war früher [837] im Besitze von Hans Georg Nägeli in Zürich. Derselbe scheint es, soweit ich über seine Erwerbungen Bachscher Autographe Nachricht erhalten konnte, im Jahre 1802 durch Vermittlung eines Freundes, des Professor J.K. Horner in Hamburg, von der damals dort noch lebenden einzigen Tochter Philipp Emanuel Bachs erhalten zu haben. Diese, Anna Karoline Philippine, trieb nach des Vaters Tode zusammen mit der Mutter, und als dieselbe 1795 verstarb, allein einen Handel mit den Musikalien Philipp Emanuel und Sebastian Bachs, wie aus einer Notiz in Nr. 122 des Hamburger Correspondenten von 1795 hervorgeht (sie ist mitgetheilt von Bitter, Emanuel und Friedemann Bach II, S. 127). Vermuthlich stammen aus dieser Quelle auch die beiden Autographe Johann Christoph Bachs aus Eisenach, die sich jetzt in meinem Besitz befinden (vrgl. S. 128, Anmerk. 41). Von Nägelis Sohne kaufte das Autograph des wohltemperirten Claviers im Jahre 1854 Herr Ott-Usteri in Zürich und ließ sich, dank der gefälligen Vermittlung des Herrn Hofrath Sauppe in Göttingen, bewegen, mir dasselbe im Herbst 1869 zur Untersuchung auf kurze Zeit anzuvertrauen. Inzwischen ist, im Sommer 1872, Herr Ott-Usteri gestorben und hat, wie ich höre, seine sämmtlichen Autographe der Züricher Stadtbibliothek vermacht.

Zu dem Bachschen Manuscripte gehört ein ebenfalls autographer Umschlag, der aber ursprünglich für beide Theile des wohltemperirten Claviers gedient haben muß, denn er lautet: »Zweymal XXIV | Praeludia [neben- stehend:] 1r Theil 24, 2r Theil 24 [von anderer Hand unter das Wort Praeludia geschrieben:] und Fugen | aus | allen 12. Dur und moll Tönen, | vors Clavier | von | Joh. Seb. Bach \ Dir. Mus. in Leipzig |«. Da die Bezeichnung »und Fugen« von anderer Hand herrührt, im Werke selbst aber die Fugen mit den Praeludien zusammengeschrieben sind, so daß am Schluß der Praeludien häufig steht »Fuga seq.«, auch Praeludien und Fugen häufig auf einem und demselben Bogen sich befinden, so ist klar, daß der Umschlag nicht ursprünglich zu diesem Manuscripte gehört hat, sondern zu einem andern, welches nur die Praeludien enthielt. Hierdurch wird bewiesen, daß Bach die Praeludien nicht für unabtrennbar von den Fugen hielt, sondern sie einmal auch allein zu einem selbständigen Werke zusammen stellte. Die Hand, welche den Zusatz machte, hat auf der Innenseite des Umschlags ein Seitenverzeichniß der Praeludien und Fugen aufgestellt, so:


»Praelud. 1. 2 Seiten Fuga 1. – 2 Seiten

Praelud. 2. 2 Seiten Fuga 2. – 2 Seiten«


u.s.w. und schließlich die zusammengezogene Seitenzahl in Bogen ausgedrückt. Außerdem hat sie über die von Bach geschriebene D moll-Fuge die Worte gesetzt: »bleibt weg«. Es ist nämlich nicht der ganze Inhalt des Umschlags autograph; die ersten sechs Praeludien und Fugen sind von anderer, viel jüngerer Hand geschrieben, vermuthlich einer Copistenhand: die Schrift ist sehr gezirkelt, das Papier frischer, die Liniensysteme sind mit einem andern Rostrale und viel sorgfältiger gezogen. Bachs Handschrift [838] beginnt mit der D moll-Fuge, die also nun zweimal vorhanden ist, daher die Worte darüber. Das erwähnte Seitenverzeichniß ist nicht zu Bachs Manuscript angefertigt, sondern zu dem jener Schreiberhand; zu jenem stimmt es nicht, wohl aber zu dem, was von diesem übrig ist. Die Angabe der Seitenzahl ist meistens höher, als Bachs Manuscript Seiten aufweist; in demselben Verhältnisse ist Bachs Schrift enger und gedrängter, als die des Copisten. Demnach hat der Besitzer ursprünglich den ganzen ersten Theil des wohltemperirten Claviers nur in jener Copisten-Handschrift besessen und nach ihr auf dem autographen Titel jene zwei Worte zugesetzt und im Innern das Verzeichniß angelegt. Später erst hat er das von Bach selbst Geschriebene hineingethan. Was dieses betrifft, so glaube ich bestimmt, daß Bach aus irgend welchen unbekannten Gründen garnicht mehr als eben nur das Vorliegende geschrieben hat, aber doch die Absicht hatte, das Fehlende noch nachzutragen. Während nämlich sonst das Autograph überall einen sparsamen Raumverbrauch anzeigt, ist die erste Bogenseite vor der D moll-Fuge zwar rostrirt, aber unbeschrieben. Hier sollte das zugehörige Praeludium stehen; da dieses aber für eine Seite zu lang ist, so darf man weiter schließen, daß er alles übrige noch hinzuschreiben wollte und sich dazu den Raum genau berechnet hatte.

Wie alle Bachschen Reinschriften ist auch diese klar und theilweise schön ausgeführte. Als Ueberschrift über den Praeludien findet sich dieses Wort mit großen und schönen lateinischen Zügen, mit der laufenden Nummer dahinter, bei den Fugen mit Ausnahme der zwölften und zwanzigsten auch die Stimmenanzahl, also z.B. »Praeludium 7.«. »Fuga 7. à 3.« Hinter Praeludium 10, 20, 21, 23, 24 steht:»Fuga seq.« Einmal, hinter der Es dur-Fuge, ist auch die Zahl der Takte (37) notirt. Daß die Handschrift während der Leipziger Periode gefertigt sei, erkennt man schon aus ihrem Aeußern, ganz deutlich aus den Schriftzügen, unsicherer aus dem Wasserzeichen des Papiers, einem Schilde mit gekreuzten Schwertern im linken Felde (der Umschlag besteht aus anderm Papier und hat in der einen Seite das Zeichen des Doppeladlers). Vergleicht man aber den Inhalt mit dem der andern Autographen, welche in der Einleitung der von Fr. Kroll mit ausgezeichneter Sorgfalt hergestellten Ausgabe der Bach-Gesellschaft beschrieben sind, so stellt sich an der Verschiedenheit der Lesarten alsbald mit völliger Evidenz heraus, daß dieses Nägelische, oder, wie wir von jetzt ab sagen wollen, Züricher Autograph von allen das späteste und vorzüglichste ist. Vermuthlich war es das Handexemplar Philipp Emanuel Bachs, der es mit sich nahm, als er im Jahre 1735 das elterliche Haus verließ. Die Richtigkeit dieser Ansicht vorausgesetzt, würde sich mit großer Sicherheit behaupten lassen, daß dies Manuscript erst kurz vorher von Sebastian angefertigt worden sei. Denn die wichtigsten von seinen abweichenden Lesarten finden sich weder in irgend einer der übrigen Handschriften, noch in irgend einer gedruckten Ausgabe, soweit über dieselben jetzt durch Krolls treffliche Edition ein Ueberblick ermöglicht ist, obwohl es ganz offenbare Verbesserungen sind, wie alsbald nachgewiesen werden soll. Dies ist eben nur dadurch erklärlich, daß das Autograph [839] dem Bereiche der Sebastian Bachschen Schüler, welche vor allen durch ihre Abschriften das Werk vervielfältigten und verbreiteten, gleich nach seinem Entstehen entzogen wurde. Außerdem ist der Gedanke angemessen, daß Bach seinen beiden ältesten und hervorragendsten Söhnen, unter die ja auch später sein musikalischer Nachlaß getheilt wurde, je ein Exemplar des Clavierwerkes, auf das er so großes Gewicht legte, mit auf den Weg gab. Das Friedemann Bachsche Autograph kam zunächst in die Hand des Domorganisten Müller in Braunschweig (gest. daselbst 1835), dann durch Vermächtniß an Prof. Griepenkerl daselbst, nach dessen Tode an die königl. Bibliothek in Berlin. Ein zweites Autograph, jetzt im Besitze von Prof. Wagener in Marburg, war vermuthlich des Componisten Handexemplar. Dieses ist 1732 geschrieben. Das Züricher Autograph muß also jedenfalls nach diesem Jahre gefertigt sein. Forkel wollte nach Griepenkerls Notiz eine alte Handschrift gesehen haben, die am Schlusse die Bemerkung trug: »Scripsit 1734«. Friedemanns Autograph kann dies nicht gewesen sein, da es eine solche Notiz nicht trägt. Dagegen läßt sich nicht einwenden, daß das Autograph gegen den Schluß hin unvollständig sei; denn hier ist offenbar nichts verloren gegangen und später durch einen Andern ergänzt, sondern Bach hat, und mit sichtlich steigender Ungeduld, überhaupt nur bis zum 68. Takte der A moll-Fuge (einschließlich) geschrieben, den Rest der Fuge sofort von andrer Hand, wohl derjenigen Friedemanns, ergänzen lassen, dann blieb das Heft eine Zeit lang liegen und wurde später durch dieselbe Hand vollendet. Dies alles läßt sich aus der Anlage des Manuscripts und den verschiedenen dazu verwendeten Papiersorten ganz gut erkennen. Das Züricher Autograph enthält aber jene Notiz auch nicht, ebensowenig das Fischhoffsche Autograph, dessen Echtheit einmal angenommen. Wenn nun also nicht noch ein im Jahre 1734 geschriebenes Autograph verloren gegangen sein soll, so war das von Forkel gesehene entweder gar keines, oder es war das Wagenersche, und er hat die Zahlen 1734 und 1732 verwechselt. Letzteres ist mir das wahrscheinlichste.

Ganz ohne Einfluß auf die Gestalt des heutigen Textes des wohltemperirten Claviers ist jedoch das Züricher Autograph nicht geblieben, nur ist er freilich verschwindend klein. Ich müßte mich sehr täuschen, oder es hat den beiden frühesten deutschen Herausgebern – zur Benutzung kann man nicht sagen, aber doch zur Einsicht vorgelegen, dem Hamburger Musikdirector und Nachfolger Philipp Emanuel Bachs, Ch. F.G. Schwenke, der um 1800 die Simrocksche Ausgabe besorgte, und Nägeli, der bald darauf im eignen Verlage eine solche erscheinen ließ. Daß Nägeli dies nicht eher gethan habe, als bis er im Besitze des Autographs sich befand, ist wohl sehr wahrscheinlich. Der Einfluß desselben aber verräth sich bei beiden an einer Anzahl kleiner Abweichungen, die sie zum Theil gemeinsam und die nur sie allein haben; ich werde unten einige Male darauf aufmerksam machen. Die Erwägung, daß diplomatische Kritik damals auf musikalischem Gebiete ein ungekanntes Ding und subjectives Gutdünken der oberste Richter war, muß man hinzunehmen, um zu begreifen, wie [840] diese Männer Kleinigkeiten aufnehmen und an den wichtigsten Aenderungen uninteressirt oder scheu vorübergehen konnten.

Da es an dieser Stelle vor allem auf den Beweis ankommt, daß das Züricher Autograph die übrigen an Vorzüglichkeit übertrifft, so habe ich von einer Mittheilung aller Varianten abgesehen. Ich werde nicht angeben die abweichenden und fehlenden Manieren, desgleichen Kleinigkeiten wie etwa einen hier und da fehlenden Verbindungsbogen, auch ganz offenbare Schreibfehler, die übrigens verhältnißmäßig selten sind. Hierzu wird sich wohl einmal eine andere Gelegenheit bieten. Alles übrige folgt hier in der Ordnung, daß zunächst die Lesarten aufgeführt werden, die nur allein im Züricher Autograph sich finden (und hier und da in den Ausgaben von Schwenke und Nägeli), sodann eine Anzahl solcher, deren Echtheit, obgleich durch mehre Quellen beglaubigt, doch noch einen Zweifel zuließ, welcher nunmehr vermindert oder ganz gehoben wird. Zu Grunde liegt der Collation Krolls Ausgabe der Bach-Gesellschaft.


D moll-Fuge. 31, zweites Viertel der rechten Hand:


Kritische Ausführungen

(die Noten des oberen Systems sind stets im Sopranschlüssel zu denken). Diese mit der Consequenz der motivischen Entwicklung im Widerspruch stehende Lesart ist vielleicht nur ein Versehen. Es dur-Praeludium.9, drittes Viertel d. r. H.:


Kritische Ausführungen

Daraus ist wohl Nägelis Lesart entstanden; s. Varianten bei Kroll. 56, im Tenor letztes Viertel: g als volles Viertel, in Uebereinstimmung mit 65, wo es als volles Viertel von allen Quellen geboten wird. Es dur-Fuge. 21, r. H.:


Kritische Ausführungen

warum dies besser ist, erklären 6 und 29. Es moll-Praeludium. 37, l. H. keine Septime in den drei Accorden, was mir größer und stimmungs-voller erscheint; von Nägeli aufgenommen. 38, r. H.:


Kritische Ausführungen

Schlußaccord ohne Fermate, so auch bei Nägeli. E dur-Praeludium. 3, 1. H.:


Kritische Ausführungen

E dur-Fuge. 6, l. H. zwölftes Sechzehntel [841] Ä; 13, l. H. siebentes Achtel fis, beides vielleicht nur Schreibfehler. E moll-Praeludium. 16, r. H.:


Kritische Ausführungen

offenbar besser, weil früheren Takten entsprechend. 37, l. H.:


Kritische Ausführungen

Schlußaccord mit kleiner Terz, so auch Nägeli, wenngleich nicht allein. F dur-Praeludium. 13, l. H.:


Kritische Ausführungen

17, l. H. im zehnten Achtel F nach Analogie von 7; vermuthlich aus diesem Grunde schon von Czerny geändert. F dur-Fuge. 45, r. H.:


Kritische Ausführungen

F moll-Praeludium. 5, l. H. erste Takthälfte:


Kritische Ausführungen

14, r. H. erstes Viertel:


Kritische Ausführungen

Die Schlußtakte dieses Stückes sind flüchtiger geschrieben, es fehlen mehre Noten; auch des als achtes Basssechzehntel ist wohl ein Versehen. F moll-Fuge. 13, im dritten Viertel der Tenor as als volles Viertel. 36, die beiden untern Stimmen:


Kritische Ausführungen

so daß das as des Tenors nach b geht, eine Stimmführung, die vorzuziehen wäre auch bei einem es des Basses statt e. 44, oberste Stimme im zweiten Viertel Kritische Ausführungen als halbe Note, was sicherlich nur eine Flüchtigkeit ist, ebenso 46, wo der erste Basston c als Viertelnote. Fis dur-Praeludium. Taktvorzeichnung: 12/8, im Widerspruch mit der Aufzeichnung des Stückes selbst; ein Versehen, das vielleicht aus der Erinnerung an die ursprünglich gewählte Schreibweise entstand. Damit könnte zusammenhängen, daß der letzte Basston hier, wie in den andern Autographen, als Kritische Ausführungen. notirt ist. 28, l. H. zweite Note cis, um die Octaven mit der Oberstimme zu vermeiden. 29, r. H. zweites Sechzehntel Kritische Ausführungen, scheint ein Versehen. Fis moll-Fuge. 29, zweite Hälfte, r. H.:


Kritische Ausführungen

jedenfalls schöner und consequenter; vrgl. 32. 33, letzte Note im Alt ā. G dur-Praeludium. [842] 7, l. H. die letzten sechs Sechzehntel nur Wiederholung der vorhergehenden sechs, um zwei Octaven zu vermeiden; es ist nun freilich eine neue hineingekommen, aber doch nur eine. G dur-Fuge. 8, H im Basse mit allen andern Autographen, dann aber auch Kritische Ausführungen im Discant, was der Gesammtstimmung unstreitig besser entspricht. G moll-Praeludium. 5, r. H.:


Kritische Ausführungen

eine reizvollere Rhythmisirung. Desgleichen 6, r. H. letztes Viertel und 8, l.H. letztes Viertel, Abweichungen, die beide Male auch Nägeli hat (s. Kroll S. 230). 15, r. H. letztes Viertel:


Kritische Ausführungen

G moll-Fuge. 21, im Alt erste Note Kritische Ausführungen, wegen des ringsumher herrschenden As vorzuziehen. As dur-Praeludium. 36, im Alt, fehlt Kritische Ausführungen; scheint, mit Rücksicht auf 38, ein Versehen. As dur-Fuge. 6, letzte Note des Tenors as als Viertel; besser, da so das Thema mehr hervortritt. Auch der Bogen über dem Kritische Ausführungen der Oberstimme ist, wie in einigen Handschriften und Drucken, hier vorhanden, und zu demselben Zwecke gut. 13, r. H. letztes Viertel:


Kritische Ausführungen

35, Alt zweites Viertel:


Kritische Ausführungen

als Imitation der Bassfigur im letzten Viertel des vorhergehenden Taktes. Gis moll-Praeludium. 2, r. H. erste Note für den Alt nur als Achtel, um verdeckte Octaven mit dem Basse zu vermeiden. Gis moll-Fuge. 7, zweite Hälfte Tenor:


Kritische Ausführungen

als melodischere Führung vorzuziehen. 15, erste zwei Achtel des Tenors zweimal cis; zweifelhaft, ob nicht Schreibfehler, wenngleich so wohlklingender. 32, l. H.:


Kritische Ausführungen

von allen Lesarten dieser merkwürdigen Stelle wohl die am wenigsten harte. A dur-Praeludium. 9, l. H. schlägt ē auf dem vierten Achtel dem vorhergehenden Sechzehntel der Mittelstimme nach. So auch Nägeli und Simrock. Die Ausführung ist aber jedenfalls ganz dieselbe, wie die der genaueren Notirung, welche Kroll nach den andern Autographen gegeben hat. Solche Freiheiten hat sich Bach zuweilen gestattet, um das Auge des Spielers über seine musikalische Intention zu orientiren. So schreibt er in diesem Züricher Autograph [843] den 29. Takt der F moll-Fuge r. H.:


Kritische Ausführungen

A dur-Fuge. 50, r. H. sechstes Achtel Kritische Ausführungen, jeden falls um eine Corresponsion mit dem Gange der Mittelstimme im 53. Takte herzustellen. Dagegen ist 43, fünftes Achtel, das Kritische Ausführungen in der Mittelstimme zuverlässig ein Schreibfehler. A moll-Praeludium. 22 vom siebenten Achtel bis 23 zum siebenten Achtel, also volle neun Achtel gänzlich gestrichen, die in der That der schwungvolleren Schlußentwicklung hinderlich sind und außerdem eine Härte enthalten, indem der Septimenaccord über F sich garnicht, oder doch nur mangelhaft auflöst. Wohl aus diesem Grunde ist in der Ausgabe Fr. Chrysanders (Wolfenbüttel, L. Holle) jenes F in A geändert, ich weiß aber nicht, auf Grund welcher Autorität. Ueber dem Schlußaccord eine Fermate; so auch Nägeli und die Handschrift Schwenkes. A moll-Fuge. 41, im dritten Viertel der Bass c als Achtel. 59, Tenor:


Kritische Ausführungen

hart, doch nicht ganz unmöglich. 63, Alt achtes Sechzehntel Kritische Ausführungen; die Septime sollte, wie es scheint, vorbereitet werden. 64, im dritten Viertel der Tenor Ä als Viertelnote; der Sprung nach a ist in der That überflüssig. 69, Tenor:


Kritische Ausführungen

81, Oberstimme:


Kritische Ausführungen

die strenge Engführung ist aufgegeben, wohl deshalb, weil man schon genug Engführungen gehört hat. B moll-Praeludium. 1, l. H., viertes Achtel, fehlt Kritische Ausführungen; im folgenden Takte ist die Stimmenführung etwas abweichend vorgezeichnet. 24 fehlen die Bindebogen zwischen Kritische Ausführungen; Fermate nur über dem letzten Accord. B moll-Fuge. 20, l. H.:


Kritische Ausführungen

vorzuziehen, da der Viertelgang in Terzen nun länger fortgesetzt wird. 36, r. H. drittletztes Achtel Kritische Ausführungen, nicht Kritische Ausführungen, besser, weil auf As dur vorbereitend. 74–75 fehlt der Bogen zwischen f und f. H dur-Fuge. 4, Tenor:


Kritische Ausführungen

ist besser, da so eine Quartsextharmonie vermieden wird. H moll-Praeludium. Die UeberschriftAndante fehlt. H moll-Fuge. 63, Oberstimme zweite Takthälfte: Kritische Ausführungen nur als Viertel, setzt im folgenden Takt neu wieder ein, wohl um die Imitation schärfer hervorzuheben. –

[844] D moll-Fuge. 35 stimmt die Lesart des Züricher Autographs mit der des Fischhoffschen überein und ist ihrer Consequenz wegen zu empfehlen; etwas Herbigkeit mehr oder weniger macht bei dieser Fuge nichts aus. Es dur-Praeludium. 34 übereinstimmende Lesart mit dem Wagenerschen und Fischhoffschen Autograph. Kroll beurtheilt sie (S. XXIV) ganz richtig und hätte sie darum auch als Hauptlesart in den Text aufnehmen dürfen. Es moll-Praeludium. 10, r. H. letzter Accord ist ein vollständiger Es moll-Accord mit à als tiefster Note, aber beweisunkräftig, weil mit anderer Tinte später hineingemalt. Diese fremden Spuren zeigen sich auch in dem Fis dur-Praeludium nebst Fuge und erweisen sich unter anderm als Correcturen Bachscher Flüchtigkeitsfehler, sind aber sonst von mir natürlich nicht weiter berücksichtigt. Es moll-Fuge 20 und 21, 41, 48 gleichlautend mit allen Autographen gegen die von Kroll aufgenommene Lesart. E dur-Fuge. 16, 26, 27 desgleichen; nur ist im letztgenannten Takte das fünfte Bassachtel punktirt, um eine Corresponsion mit dem vorhergehenden zu bewirken. E moll-Praeludium. 5, r. H.:


Kritische Ausführungen

und so mit kleiner Abweichung auch in den Autographen. 7, 9, 11 übereinstimmend mit allen Autographen, nur steht im 9. Takt vor dem Anfangs-H der rechten Hand ein Accentzeichen. Forkel sagt (S. 63), das E moll-Praeludium sei zuerst mit Laufwerk überhäuft gewesen und nachher von Bach vereinfacht. Hierin ist, wie man sieht, ein Fünkchen Wahrheit, nur daß Forkel den ersten Entwurf in Friedemanns Buche für die vereinfachte Gestalt hielt, und daß wir nicht wissen, ob die Verschnörkelungen in der erweiterten Gestalt von Bach selbst herrühren. Er muß hier etwas von Bachs Söhnen gehört haben, hat dies aber falsch verstanden oder angewendet. Und so ist es ihm wohl öfter ergangen. E moll-Fuge. 21, r. H. als achtes Sechzehntel Kritische Ausführungen, das auch Kroll als Hauptlesart aufgenommen hat. Ebenso 40, r. H. im dritten Viertel ḡ. F dur-Fuge. 42 übereinstimmend mit allen Autographen gegen Krolls Lesart. F moll-Praeludium. 22 Schlußaccord mit kleiner Terz gegen die Mehrzahl der Handschriften. F moll-Fuge. 32 hat der Bass im zweiten Viertel ges. 41 Alt im dritten Viertel /. Fis dur-Praeludium. 5, 17, 29 sind zwischen dem neunten und zehnten Sechzehntel keine Bindungen. G dur-Fuge. 82 gleichlautend mit allen Autographen gegen Krolls Lesart. G moll-Praeludium. 13 auf 14 bleibt das c des Basses liegen; diese Lesart auch in der Simrockschen Ausgabe. 19 Fermate auf dem letzten h in Uebereinstimmung mit dem Fischhoffschen Autograph. Gis moll-Fuge. Schlußtakt Dur; so mit dem Fischhoffschen Autograph und geringeren Handschriften auch Nägeli und Simrock. A dur-Fuge. 53, viertes Achtel der Mittelstimme gis; demzufolge rührt die Rasur in Friedemann Bachs Autograph schwerlich[845] vom Componisten selber her. A moll-Fuge. 69, im letzten Viertel Oberstimme wie in der Hauptlesart bei Kroll. B dur-Fuge. Schlußaccord ohne Fermate. B moll-Fuge. 50 auf 51 ohne Engführung:


Kritische Ausführungen

59, zweites Viertel im Alt Kritische Ausführungen, mit allen Autographen, da auch in dem Wagenerschen, wie Kroll eingesteht, eben so gut ein Quadrat gelesen werden kann. Ich glaube, daß dieser sehr fleißige Herausgeber in Bezug auf die von zweiter Hand in das Wagenersche Autograph eingetragenen Correcturen in einem Vorurtheil befangen ist. Wie man bemerkt haben wird, bestätigt das Züricher Autograph überall die ersten Lesarten desselben. Sollten die Correcturen spätere Verbesserungen des Componisten sein, dann wäre es ganz unbegreiflich warum unter ihnen von all den Verbesserungen des Züricher Autographs sich keine einzige findet.

Fußnoten

1 Der Strich unter einem Worte deutet Cursivschrift des Originals an.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1873.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon