II.

Unter den kleinen Herrschern des damaligen Mitteldeutschland, welche meistens ihr Deutschthum möglichst verleugneten, nur ihr eignes Wohl im Auge hatten und von Regentenpflichten keine Vorstellung, ragt Herzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar als eine eigenartige, gewissenhafte und tiefer angelegte Persönlichkeit hervor. Er regierte schon seit 1683 und stand, als Bach von ihm berufen wurde, im 46. Lebensjahre. Von seiner Gemahlin nach kurzer, unglücklicher Ehe getrennt, lebte er kinderlos und still auf der »Wilhelmsburg«, dem weimarischen Residenzschlosse. Seine Hofhaltung war einfach, sein Sinn rauschenden und glänzenden Vergnügungen abgewandt; im Sommer um 9 Uhr, im Winter schon um 8 Uhr Abends pflegte auf dem Schlosse alles Leben zu verstummen. Je weniger Zeit und Geld er aber für persönliche Interessen verbrauchte, desto nachhaltiger gab er sich den Verhältnissen seines Ländchens hin, und hier war es vorzüglich die Sorge für geistliche und Schul – Angelegenheiten, welche ihn erfüllte. Wilhelm Ernsts Charakter war im hohen Maße ein kirchlich – religiöser. Schon bei dem Knaben hatte sich dieser Zug stark geäußert, indem er im achten Jahre unter Anleitung des Hofpredigers vor seinen Eltern und einer auserlesenen Versammlung eine ordentliche Predigt hielt über Apostelg. 16, 31 »mit Anstand und mit einer außerordentlichen edlen Freimüthigkeit und vielem Aeußerlichen«, wie erzählt wird. Seine [374] 45jährige Regierungszeit ist denn auch von Beginn bis Ende mit einer Anzahl trefflicher Einrichtungen und Verordnungen dieser Art erfüllt, welche ihm bis heute ein lebendiges Angedenken erhalten haben. Die alte verfallene Jakobskirche ließ er 1713 neu erbauen, die Stadt-Schule verwandelte er 1712 in das jetzige Gymnasium und versorgte sie mit einem neuen Gebäude und wohlthätigen Stiftungen zur Unterstützung armer Schüler, noch zwei Jahre vor seinem Tode gründete er ein Prediger- und Lehrer-Seminar, zum zweihundertjährigen Jubelfeste der Reformation; am 30. October 1717, auf welchen Tag er zugleich seinen Geburtstag feierte, machte er eine Stiftung, deren Zinsen jährlich den Geistlichen, Lehrern, Schülern und Annen zu gute kommen sollten, hierzu ließ er auch eine Gedächtnißmünze schlagen, auf deren Avers sein Kopf zu erblicken ist: ein scharfgezeichnetes mageres Gesicht mit zurückliegender Stirn, großer vorstehender Nase und etwas vorstehendem Kinn. Er führte die Confirmation der Kinder wieder ein, die seit mehr als anderthalb hundert Jahren außer Gebrauch gekommen war, und legte den Geistlichen den Katechismus-Unterricht dringend ans Herz. Mit wirklichem und edlem Eifer betrieb er ferner die Bildung des niedern Volkes, oder, was damals dasselbe war, dessen Unterweisung in der christlichen Lehre, so daß er oftmals auf dem Lande von einem Orte zum andern reiste, um sich vom Stande des Kirchen- und Schulwesens selbst zu überzeugen. Ebenso trat im eignen Leben die Richtung auf das Religiöse hervor; sein Wahlspruch war: Alles mit Gott. Täglich hielt er seine Andachten, und verlangte dasselbe von der Dienerschaft; wenn er das Abendmahl genießen wollte, schloß er sich Tage vorher von allem ab und beschränkte auch die Vorträge seiner Räthe auf das Nöthigste, in Betreff der Hofdiener hatte er gleich am Anfange seiner Regierung eine bestimmte Communionordnung erlassen. Unter ihnen hielt er streng auf Frömmigkeit und gute Sitten, wird aber im übrigen als ein milder und sorgsamer Herr gerühmt, besonders gegen alte und erprobte Diener. Sein liebster Verkehr waren Geistliche, die er gern im vollen Ornate um sich sah. Ueber die Bedürfnisse des damals etwa 5000 Einwohner zählenden Ortes hinaus1 vermehrte er die Zahl der ordentlich angestellten [375] Geistlichen auf mindestens sieben, und im Jahre 1710 berief er sie einmal aus dem ganzen Lande, über hundert, zu einer Synode nach Weimar, deren Verhandlungen er von Anfang bis zu Ende beiwohnte. Es ist natürlich, daß ihn alle die kirchlichen Streitfragen, welche der mehr und mehr erstarkende Pietismus aufgeregt hatte, aufs höchste interessirten; mit seiner Ueberzeugung stand er aber durchaus bei der altkirchlichen Partei2. Für die Jakobskirche wollte er, laut Verordnung, nur einen Prediger zulassen, der auf »unverdächtigen« Universitäten studirt hätte, was gegen Halle gerichtet ist, im Jahre 1715 verbot er die mit Mißbräuchen verbundenen religiösen Privatzusammenkünfte, drei Jahre darauf empfahl er den Predigern zur allgemeinen Vertretung den dogmatischen Satz, daß die Amtsgaben auch unbekehrter Geistlicher schon vermöge ihres Amtes heilig und wirkungsfähig seien. Unter den Studenten in Jena veranlaßte er genaue Untersuchungen über die wichtigsten Differenzpunkte, und entschied dann in einem ausführlichen Rescript, wie er jene Fragen gelöst wissen wollte. Uebrigens ist es nach allem, was vorliegt, doch ziemlich klar, daß Wilhelm Ernsts Interesse keineswegs im Kirchenthum und der Wahrung der »reinen« Lehre aufging, sondern ein mächtiger Zug lebendiger Frömmigkeit in ihm wohnte. Deshalb war ihm auch orthodoxer Zelotismus zuwider, er untersagte streng allen Kanzelstreit, und forderte, daß etwa herrschende religiöse Irrthümer »bescheiden und gründlich« widerlegt würden.

Nächstdem war er den Wissenschaften und Künsten wohl gewogen, und zeichnete sich auch hierin vor den meisten seiner Standesgenossen aus, daß er diese Neigungen nicht nur äußerlich und aus Ostentation hegte, sondern nachhaltig und aufrichtig bethätigte. Er hatte seiner Zeit drei Jahre in Jena studirt, und schon seine theologischen Interessen hielten ihn mit der Wissenschaft in steter Verbindung. Außer der dem herzoglichen Archive zugewendeten Sorgfalt hat er durch verschiedene werthvolle Ankäufe den Grund zu der jetzt so bedeutenden großherzoglichen Bibliothek gelegt, und ließ [376] dieselbe mit der ihm eignen geschäftlichen Genauigkeit von Anfang an durch einen besondern Bibliothekar verwalten. Auch besaß er eine bedeutende Münz-Sammlung und war auf deren stete Vermehrung bedacht. Trotz seines ernsten Sinnes hatte er sich doch bewogen gefunden, im Jahre 1696 ein Opernhaus erbauen zu lassen, und besaß zeitweilig in Gabriel Möller einen »Hof-Comoedianten«, was so viel heißt, als daß eine unter der Leitung dieses Mannes stehende Truppe das Privilegium genoß, in Weimar und den übrigen Orten des Landes zu spielen. Im Jahre 1709 bestand jedoch dies Privilegium schon nicht mehr3. Das freundschaftliche Verhältniß, was zwischen dem weimarischen und dem lebenslustigen Hofe zu Weißenfels stattfand, blieb auf derartige Vergnügungen nicht ohne Einfluß: 1698 feierte Wilhelm Ernst daselbst mit großem Gefolge einen vieltägigen Carneval, auch blieben die Vettern bis in spätere Decennien treue und eifrige Jagdgenossen. Die Hofcapelle war für damalige Zeiten nicht unbedeutend, und zählte schon im Jahre 1702 einige hervorragende Künstler. Ein Lebensabriß des Herzogs aus dem Jahre 1730 berichtet treuherzig: »Sein Gehöre belustigten zuweilen sechzehn in Heyducken-Habit gekleidete wohlabgerichtete Musikanten«; da dies natürlich die besten der Capelle gewesen sein werden, so ist die Folgerung fast zwingend, daß auch Bach sich zeitweilig im »Heyducken-Habit« hat präsentiren müssen – eine komische Vorstellung! Indessen war das Interesse für Kammermusik wohl mehr noch bei seinem jüngeren Bruder Johann Ernst, in dessen Diensten Bach im Jahre 1703 auf einige Monate gewesen war, und nach seinem 1707 erfolgten Tode bei einem der Söhne desselben aus zweiter Ehe, dem Prinzen Johann Ernst, von welchem noch mehr zu erzählen sein wird. Des Herzogs Neigung mußte sich seiner Natur gemäß überwiegend der kirchlichen Musik zuwenden4.

[377] Es ist auf den ersten Blick klar, daß sich für Bach und seine Zwecke gar kein günstigerer Ort denken ließ. Jede Kunstpflanze, mag sie in noch so fruchtbarem Erdreich stehen, bedarf doch Licht und Luft zu ihrer Entwicklung, und für die wahre Kirchenmusik waren jene Elemente damals äußerst schwer zu finden, besonders an Höfen, die doch vorzugsweise die Mittel zum Gedeihen der Kunst darbieten konnten. Wirkliches Interesse für Religion zeigte sich fast nur in Gestalt des kunstfeindlichen Pietismus, im übrigen verbarg sich hinter den kirchlichen Formen meistens die religiöse Gleichgültigkeit, welche es am liebsten sah, wenn die herkömmliche Kirchenmusik ein Compromiss mit der Oper abschloß, und möglichst zu Gunsten der letzteren, denn in dieser war der Schwerpunkt des allgemeinen musikalischen Interesses gelegen. Ganz anders war es am Hofe Wilhelm Ernsts. Der Herzog hatte die tiefe Ueberzeugung, daß die kirchlich protestantische Religion das höchste der menschlichen Güter sei, welches aber nicht das übrige Leben mit all seinen Aeußerungen und Beziehungen ausschließe, sondern nur in sich verdichte und einem reineren Ideale zuwende. Künstlerische Bestrebungen im Gebiete der Kirche mußten ihm daher als etwas ausnehmend löbliches und fördernswerthes erscheinen, besonders wenn er bemerkte, wie ein hochbegabter Mann den größten Theil seiner gewaltigen Kraft an diese Aufgabe wandte. Was aber seine Ansicht war, bildete zugleich die des größten Theils seiner Umgebung, und Bach konnte sich überzeugen, daß seiner Musik schon deshalb, weil sie kirchlich war, Theilnahme geschenkt wurde. Er fühlte sich getragen von der Gunst einer Mehrheit, in deren Schätzung alles was mit der Kirche zusammenhing den obersten Platz einnahm. Zustimmung und Antheil seiner Mit menschen ist aber auch für den stärksten Geist zum Theil nothwendig wie die Lebensluft, zum andern Theil wenigstens erwärmend und stärkend wie Sonnenschein. Der weimarische Hof nimmt sich unter den Fürstenhöfen jener Zeit ganz so [378] ernst und überragend aus, wie Bach schon damals unter den Kirchencomponisten; beide scheinen wie für einander bestimmt gewesen.

Das neue Amt war ein doppeltes, das eines Hoforganisten und Kammermusicus. Hierfür bezog Bach die ersten drei Jahre hindurch einen Gehalt von 156 Gülden 15 ggr., welcher pünktlich ausbezahlt wurde, da die Finanzverwaltung exact war5. Um Johannis 1711 stieg er auf 210 Gülden 12 ggr., zu Ostern 1713 auf 225 Gülden, von 1714 an gar noch höher – ein deutliches Zeichen, wie sehr man ihn zu schätzen wußte6. Die Schloßkirche stammte noch aus dem Jahre 1630 und hatte später den Namen »Weg zur Himmelsburg« erhalten; der Herzog ließ, um sie noch mehr zu zieren, im Jahre 1712 fünf neue Glocken für sie gießen7. Wie oft Bach dienstlich in ihr zu thun hatte, ist nicht genau zu sagen, da häufig wohl auch außerordentliche Gottesdienste dort gehalten wurden. Die Orgel war ziemlich klein, besaß aber ein kräftiges, volles Pedal, worin sie die Orgel der Stadtkirche übertraf, während diese ihr an Reichthum der Manual-Register überlegen war. Es wird von Interesse sein, die Disposition kennen zu lernen:


[379] Ober-Clavier.

1. Principal 8'

2. Quintatön 16'

3. Gemshorn 8'

4. Gedackt 8'

5. Quintatön 4'

6. Octave 4'

7. Mixtur 6 fach

8. Cymbel 3 fach

9. Glockenspiel.


Unter-Clavier.

1. Principal 8'

2. Violdigamba 8'

3. Gedackt 8'

4. Trompete 8'

5. Kleingedackt 4'

6. Octave 4'

7. Waldflöte 2'

8. Sesquialtera 4' [?]


Pedal.

1. Groß-Untersatz 32'

2. Sub-Bass 16'

3. Posaun-Bass 16'

4. Violon-Bass 16'

5. Principal-Bass 8'

6. Trompeten-Bass 8'

7. Cornett-Bass 4'8.


In der musikalischen Capelle konnte Bach als Cembalo- und Violinspieler verwerthet werden, da er aber späterhin zum Concertmeister aufrückte, so wird letzteres das Gewöhnliche gewesen sein, ausgenommen natürlich bei kirchlichen Aufführungen, wo er seinen Platz an der Orgel hatte. Ein Verzeichniß der herzoglichen Musiker, welches zwischen 1714 und 1716 angelegt ist, zählt ihrer 22 auf; darunter sind freilich auch die Sänger begriffen, die aber mehr oder minder alle nebenher ein Instrument zu spielen pflegten, so wie auch die meisten Spieler auf mehren Instrumenten Bescheid wußten. Es waren auch immer einige darunter, die noch ganz anders geartete Amtspflichten hatten: man wußte sich eben sehr zu behelfen. Die vier Stimmen des Vocalchores pflegten doppelt besetzt zu sein, zur Verstärkung kamen sechs Capellknaben hinzu; auch war noch der Stadt-Musicus vorhanden, welcher mit seiner Gesellschaft eine etwa erwünschte Unterstützung leisten konnte.

[380] Einen würdigen Kunst- und Amtsgenossen fand Bach an dem Organisten der Stadtkirche zu St. Petri und Pauli, Johann Gottfried Walther. Derselbe war ein Erfurter, durch seine Mutter, eine geborne Lämmerhirt, mit Bach ziemlich nahe verwandt und außer dem diesem Geschlechte durch Johann Bernhard Bach, seinen ersten Lehrer in der Musik, verbunden. Geboren den 18. Sept. 1684 stand er Sebastian an Alter fast gleich, und schon war für beide einmal Gelegenheit gewesen, nach demselben Ziele zu rennen, als die Stelle Georg Ahles in Mühlhausen neu besetzt werden sollte. Doch hielt sich Walther von einer Bewerbung, die ihm nahe gelegt war, zurück, und wurde einige Monate darauf, am 29. Juli 1707, von Erfurt an die Stadtkirche zu Weimar berufen, wo der bisherige Stadtorganist Heintze kurz vorher gestorben war9. Auf diesem Posten ist er bis zu seinem am 23. März 1748 erfolgten Tode geblieben; mit der Hof capelle hatte er zu Bachs Zeit nichts zu thun, da er erst 1720 zum Hof-Musicus ernannt wurde, dagegen erhielt er schon im Jahre seines Antritts den Clavierunterricht bei dem Prinzen Johann Ernst und dessen Schwester Johanne Charlotte10. Walthers Name ist in der Kunstgeschichte durch sein musikalisches Lexicon allgemein bekannt; es erschien 1732 zu Leipzig und ist der erste deutsch verfaßte Versuch, die Gesammtmasse des musikalisch Wissenswertheil in lexicalische Form zu bringen. Besonders macht die Fülle der mit großem Fleiße zusammengetragenen biographischen Notizen das Buch noch heute zu einem schwer entbehrlichen Quellenwerk, wenn es natürlich auch von vielen Ungenauigkeiten nicht frei ist; der Verfasser suchte es übrigens unablässig zu vervollkommnen und wollte eine Fortsetzung erscheinen lassen, starb aber darüber hin11. Und doch war dies nur die Frucht freier Nebenstunden in dem Leben des arbeitsamen Mannes, seine Hauptthätigkeit galt der musikalischen Praxis in Spiel, Lehre und Composition. Zur Unterweisung befähigte ihn sein höchst exactes, unverdrossen ausharrendes Wesen, [381] verbunden mit gründlichen musikalischen Kenntnissen so sehr, daß er sich hierin neben Bach wenigstens als Lehrer der Composition vollständig behaupten konnte. Sein Spiel muß nach Ausweis der von ihm erhaltenen Compositionen tüchtig und gediegen gewesen sein. Von diesen wurden einige wenige Hefte zu Lebzeiten des Künstlers in Kupfer gestochen12, aber eine große Anzahl derselben ist uns in seiner eignen Handschrift überliefert, und zwar ausschließlich Tonwerke für Orgel oder Clavier; von seinen Kirchencompositionen, über welche er uns selber unterrichtet, ist mir wenigstens nichts zu Gesicht gekommen. Fünf Fugen (in A dur, C dur, D moll, C dur, F dur) sind respectable, auf dem Grunde seiner thüringischen Vorgänger weitergeführte Arbeiten, noch mehr die Praeludien, beziehungsweise Toccaten, welche vieren derselben voran gehen13. Dem Orgelchoral aber war sein Hauptinteresse zugewendet, er sammelte unermüdlich, was er an guten Choralbearbeitungen früherer, theilweise auch zeitgenössischer Tonsetzer erreichen konnte und hat selbst viele Hunderte solcher Stücke gefertigt. Noch existiren fünf mehr oder minder umfassende Choralsammlungen von seiner Hand, in ihnen finden wir auch Böhm ziemlich häufig vertreten und Buxtehude, für welchen ihn Andreas Werkmeister zu interessiren gewußt hatte. Sein hauptsächliches Vorbild aber blieb Pachelbel, dessen Geist die Erfurter Organisten damals insgesammt beherrschte, und dessen Sohn er im Jahre 1706 eigens in Nürnberg besuchte. Einen ganzen Jahrgang von Choralvorspielen in der Weise jenes Meisters hatte er ausgearbeitet14. Man kann in das hohe Lob vollkommen einstimmen, was Mattheson ihm spendet, welcher ihn den zweiten, »wo nicht an Kunst den ersten Pachelbel« nennt, und behauptet, daß Walthers Choräle an Nettigkeit alles überträfen, was er jemals gehört und gesehen, und er habe doch viel gehört und noch mehr gesehen15. In dieser Specialität wird er nach Sebastian Bach als der größte Meister gelten müssen, wenn man von den weit [382] ausgesponnenen Formen des norddeutschen Orgelchorals absieht, in welchen er sich nur ganz flüchtig versucht hat. Alles was Pachelbel technisch mehr oder weniger unausgeführt gelassen hat, ist von Walther vollendet. Die Contrapuncte stehen freier noch der Melodie gegenüber und bilden einen selbständigem Organismus unter sich, in dem die einzelnen Stimmen in großer Ungebundenheit sich bewegen; mit gleicher Leichtigkeit führt bald der Bass, bald eine Mittel- oder Oberstimme den Cantus firmus, die Pedaltechnik ist voll entwickelt. Dazu gebietet er über einen bedeutenden Reichthum combinatorischer Erfindung, und über jene Gewandtheit im Lösen schwieriger contrapunctischer Probleme, welche nur durch ausdauernden Fleiß gewonnen wird. Seiner Stärke sich bewußt arbeitet er gern im künstlicheren Canon. Zu der Melodie »Wir Christenleut hab'n jetzund Freud« setzte er z.B. einen zweistimmigen Canon in der Octave und im Abstande eines Vierteltaktes und legte den Cantus firmus ins Pedal16. Sehr gern führt er die Choralmelodie zwischen Oberstimme und Pedal canonisch, und in mannigfaltigster Abwechslung, indem z.B. der Bass mit der einfachen Melodie einherschreitet und die Oberstimme um einen Takt mit der colorirten nachfolgt (in einer Bearbeitung von »Ach was soll ich Sünder machen«), oder die Oberstimme in halben Noten sich voranbewegt und nach zwei Takten das Pedal in Viertelnoten hinterher eilt und so jede Zeile am Schlusse wieder einholt (»Mitten wir im Leben sind«)17. Auch wo eine intimere Verknüpfung zwischen zwei Choralzeilen möglich ist, weiß [383] er sie herauszufinden, und arbeitet demnach eine Choralfuge über die erste Zeile von »Herr Jesu Christ, du höchstes Gut« dergestalt durch, daß er die zweite als Gegenthema verwendet und zwar sowohl im doppelten Contrapunct als in der Verkleinerung18. Ein eben so kunst- wie geistreiches Experiment ist einmal an der vermuthlich von Pachelbel stammenden Dur-Melodie zu »Wo soll ich fliehen hin« vorgenommen, die so bearbeitet ist, daß sie den doppelten Contrapunct in allen vier Stimmen zuläßt, und somit bei der zweiten Strophe der Tenor zum Alt, der Alt zum Tenor, der Sopran zum Bass und der Bass zum Sopran wird19. Aber eben diese contrapunctische Virtuosität begründet auch manche Mißgriffe Walthers. Eine solche vollentwickelte Technik ist ein zweischneidiges Schwert, sie wendet sich oft gegen den, der sie handhabt, indem sie sich selbstsüchtig hervordrängt und des Künstlers Gebilde in ihrem natürlichen Wachsthum schädigt. Um sie zu zügeln und in jedem Augenblicke dem Ideal unterthänig zu halten, bedurfte es einer genialen Großartigkeit, die man dem engumgränzten, zum Kleinlichen neigenden Walther absprechen muß. Die Idee des Pachelbelschen Orgelchorals, die Choralmelodie in einfacher Größe hervortreten zu lassen, damit sich an ihr die religiöse Einzelempfindung empor und weiter ranke, wird oft durch Walthers überkünstliche und mehr auf die einzelne Combination als einen umfassenden Plan gerichtete Canonik ganz verdunkelt. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Eine Behandlung von »Hilf Gott, daß mirs gelinge«20 ist ganz nach Pachelbels Weise angelegt: zwei Oberstimmen fugiren die betreffende Choralzeile, welche nach einer Weile langsam und groß hervortönend im Pedal erscheint. Das genügt aber dem Componisten noch nicht, sondern er bringt zu der Melodie im Pedale dieselbe auf dem stark registrirten Hauptmanuale noch einmal im Quinten-Abstande und zwar verkleinert, colorirt, theilweise verkürzt, je nachdem es sich schicken will. Ein jeder empfindet das peinlich Beunruhigende dieser verkünstelten Verbindung, da das Ohr zwischen der ruhigen, einfachen Melodie unten, und der unruhigen, verzierten oben, ja was noch schlimmer ist, zwischen Tonika- und Quint-Gefühl unten[384] und oben unaufhörlich hin und her schwankt. Ein schönes edles Bild ist hier häßlich verzerrt. Das zweite Mal handelt es sich um den Choral »Gott der Vater wohn uns bei«. Es werden zuerst die beiden Anfangszeilen von der Oberstimme in halben Noten unter schöner Sechzehntel-Contrapunctirung vorgetragen. Zu den drei letzten Tönen setzt schon das Pedal mit der Wiederholung ein, und das Gehör wird, ehe es ans Ziel der eingeschlagenen Richtung gelangt ist, bereits nach einer andern Seite hingedrängt. Nachdem das Pedal sich seiner Aufgabe entledigt hat, übernimmt die Oberstimme von neuem die Führung, hat aber eben nur zwei Töne erklingen lassen, als das Pedal mit der doppelten Verkleinerung hineinfährt und wie der verstummt. Die folgende Zeile führt das Pedal und die Oberstimme geht canonisch hinterher, die nächste führt wieder die Oberstimme allein, die nachfolgende wird abermals zum Canon; dann tritt Repetition ein. Die Schlußzeilen sind zwischen Oben und Unten so verschränkt, daß die Fortentwicklung der Melodie fast unkenntlich wird. Hier führt uns ein Uebermaß von Künstlichkeit fast auf den Standpunkt Samuel Scheidts, also um hundert Jahre zurück. Durch einen Irrthum ist dieser Orgelchoral unter Bachs Namen in die Griepenkerlsche Ausgabe seiner Orgelcompositionen gelangt21. Aber niemals, darf man wohl behaupten, hätte Bach ein solches Stück geschrieben, das der interessanten Einzelcombination den Plan und Organismus des Ganzen so völlig aufopfert. Der ganze Unterschied zwischen beiden Künstlern tritt an solchen Productionen klar hervor, und bestätigt in oft überwältigender Weise die Höhe des Bachschen Genius. Bei einer noch viel größeren polyphonischen Virtuosität, als sie Walther eigen war, läßt er sich doch niemals zum Schaden des Ideals von ihr übermannen und bleibt groß und einfach auch in den complicirtesten Formen. In der canonischen Führung einer Choralmelodie den schwierigsten Aufgaben gewachsen, wovon er grade in seinen weimarischen Orgelchorälen die glänzendsten Beispiele gegeben hat, wendet er dieses Mittel doch fast niemals in der eigentlich Pachelbelschen Form an, offenbar weil er die Tendenz derselben in ihrer ganzen poetischen Tiefe erfaßte. Nur zwei Ausnahmen kennen wir, und [385] hier rechtfertigt die unbeschreiblich großartige Ausführung sich selbst22. Und danach ist der eigentliche Vollender des Pachelbelschen Ideals dennoch Bach allein, ebenso wie auch er nur mit Entschiedenheit jenen letzten Schritt that, und in seinen Contrapuncten die poetischen Vorstellungen des der Melodie zugehörigen Liedes abspiegelte, wozu sich auch bei Walther nur schwache Ansätze finden. Eine möglichst vollständige Veröffentlichung der Orgelchoräle des letzteren würde ihm aber nur das gebührende Recht erweisen, denn ihre Feinheit und technische Vollendung, die Mattheson mit Glück »Nettigkeit« nennt, verdienen bewundert zu werden.

Das persönliche Verhältniß zwischen beiden Männern, schon durch Familienbeziehungen vorbereitet, ward bald ein freundschaftlich vertrautes, und Bach vertrat bei Walthers ältestem Sohne, Johann Gottfried, Pathenstelle (26. Sept. 1712)23. Ein von Bach mit vierstimmigem Canon und Widmung beschriebenes Stammbuchblatt werden wir auch wohl auf Walther beziehen dürfen, um so mehr, da von diesem ein ganz gleiches und ebenfalls mit Canon versehenes Blättchen vorhanden ist24. Bachs Erinnerungszeichen hat folgende Form:

»Canon à 4. Voc: perpetŭũs.


2.

Dieses Wenige wolte dem Herrn | Besizer zu geneigtem An- | gedencken hier einzeichnen |

Weimar, d. 2. Aũg. 1713.

Joh: Sebast. Bach.

Fürstl. Sächs. Hofforg. u.

Ca ier Musicus.«25


[386] Die Canon-Liebhaberei war ihnen damals gemeinsam; sie tritt, wie schon bemerkt, auch in einem Theil von Bachs weimarischen Orgelchorälen stark kervor. Wie sie noch in einer andern musikalischen Beschäftigung mit einander wetteiferten, werden wir hernach sehen. Ueberhaupt aber ist es selbstverständlich, daß Leute von so gleicher Lebensstellung und Strebsamkeit ihre Ansichten und Erfahrungen über die Kunst gegenseitig austauschten. So paßt denn auch am besten auf Walther eine Anekdote, welche durch die Erzählung eines der älteren Bachschen Söhne der Nachwelt erhalten sein muß. Sebastian hatte bald einen solchen Grad von Fertigkeit im Orgel- und Clavierspiel erreicht, und stellte sich in seinen eignen Arbeiten so schwierige Aufgaben, daß er die Compositionen andrer ungesäumt und unbesehen herunterspielen konnte. Er äußerte nun einst gegen einen Freund (unter dem wir also Walther vermuthen), er glaube wirklich, alles und jedes vom Blatte spielen zu können, und dieser machte sich einen Scherz daraus, ihn binnen acht Tagen eines andern zu belehren. »Er lud ihn«, erzählt unser Gewährsmann26, »eines Morgens zum Frühstück zu sich, und legte auf das Pult seines Instruments außer andern Stücken auch eines, welches dem ersten Ansehen nach sehr unbedeutend zu sein schien. Bach kam und ging seiner Gewohnheit nach sogleich zum Instrument, theils um zu spielen, theils um die Stücke durchzusehen, welche auf dem Pulte lagen. Während er diese durchblätterte und durchspielte, ging sein Wirth in ein Seitenzimmer, um das Frühstück zu bereiten. Nach einigen Minuten war Bach an das zu seiner Bekehrung bestimmte Stück gekommen, und fing an, es durchzuspielen. Aber bald nach dem Anfange blieb er vor einer Stelle stehen. Er betrachtete sie, fing nochmals an, und blieb wieder vor ihr stehen. Nein, rief er seinem im Nebenzimmer heimlich lachenden Freunde zu, indem er zugleich vom Instrument wegging: Man kann nicht alles wegspielen, es ist nicht möglich!«

[387] Später muß eine Entfremdung zwischen ihnen stattgefunden haben; man erkennt dies aus der Art, wie Walther sich im Lexicon über Bach äußert. Wenn man jenen mehr als dürftigen Artikel ansieht, glaubt man nicht, daß er von einem Manne verfaßt sei, der länger als neun Jahre mit Bach an einem kleinen Orte, in gleichen Verhältnissen, durch Kunstgemeinschaft und die nächsten persönlichen Beziehungen verbunden zusammen lebte. Kein Wort verräth, daß es sich um jemanden handelt, der schon damals einer der größten Orgelspieler Deutschlands und als solcher nicht nur am weimarischen Hofe hochgeschätzt, sondern auch weit und breit berühmt war. Keine Erwähnung seiner in Weimar geschriebenen vielen Cantaten, Orgel- und Clavier-Compositionen, welche Mattheson schon im Jahre 1716 in Hamburg bewunderte. Nichts von jenem so viel besprochenen und für alle deutschen Musiker so ehrenvollen Wettstreite zwischen Bach und Marchand im Jahre 1717. Das alles waren Ereignisse, die Walther unmittelbar mit erlebt hatte, und doch unmöglich bis zur Abfassung des Lexicons wieder vergessen haben konnte. Man kann nicht dagegen einwenden, daß er sich in allen biographischen Artikeln immer nur auf die hauptsächlichsten Daten in kürzester Fassung beschränkt habe; wie weitläufig er bei persönlich Bekannten werden konnte, zeigt beispielsweise der Aufsatz über Georg Oesterreich. Wie viel interessantes wäre aus seinem eignen Verkehr mit Bach zu erzählen gewesen! Aber auch seine spätem handschriftlichen Zusätze beziehen sich nur auf Bachs Leipziger Zeit und stützen sich auf allgemein zugängliche Quellen; das lebendige Interesse an seinem großen Kunstgenossen muß vollständig erkaltet gewesen sein. Daß die Trennung ihrer Lebenswege davon der einzige Grund gewesen ist, kann man kaum glauben, so gern man es möchte. Es liegt zudem ein äußeres Anzeichen vor, daß in den letzten Jahren von Bachs Aufenthalt in Weimar schon die alte Vertrautheit zwischen beiden nicht mehr herrschte. Bach besuchte von dort aus seinen Vetter Johann Ludwig Bach, Capellmeister in Meiningen, den er sehr schätzen lernte und von dem er viele Compositionen eigenhändig abschrieb. Hätte er noch intimeren Umgang mit Walther gehabt, so würde es höchst auffällig sein, daß dieser im Lexicon den Meininger Bach garnicht kennt, denn er hätte jedenfalls durch Sebastian viel und lobenswerthes über ihn erfahren müssen. [388] Was aber der Grund der Entfremdung gewesen sein kann, darüber lassen sich höchstens Vermuthungen aufstellen. Vielleicht sah sich Walther durch Bachs überragende Bedeutung allmählig tiefer in den Hintergrund gedrängt, als sein ja ganz berechtigtes Selbstgefühl ertragen mochte, und wie leicht ergeben sich auf so beschränktem Terrain, wenn einmal Verstimmung eingetreten ist, Veranlassungen zu Empfindlichkeiten und Reibereien! Bedeutsam ist, daß Walther in seinen Sammlungen von Orgelchorälen, ein Kunstgebiet, auf dem er sich mit Recht als Meister fühlen durfte, verhältnißmäßig wenige von Bach aufgenommen hat.

Noch zu einer andern an der Stadtkirche angestellten Persönlichkeit trat Bach in nahe Beziehungen, zu dem Cantor Georg Theodor Reineccius. Auch hier ist es wieder ein Pathenverhältniß, was uns Kunde davon giebt27. Reineccius war 1660 in Neu-Brandenburg geboren und von 1687 bis 1726 Stadtcantor in Weimar, dazu Lehrer der Quarta, später der Tertia des Gymnasiums. Sein Amtsgenosse Walther giebt ihm das Zeugniß, daß er ein tüchtiger Tonsetzer gewesen, »ob er gleich die Composition bloß aus guten Partituren erlernet«, und fügt hinzu, der Capellmeister Theile in Naumburg, den man wohl den Vater der Contrapunctisten nannte, habe ihn wegen einer Messe aus E dur einen »gelehrten Componisten« genannt. Dies Urtheil sind wir im Stande prüfen und bestätigen zu können auf Grund einer doppelchörigen Motette »Preise, Jerusalem, den Herrn«. Jene »guten Partituren« müssen hiernach vorzugsweise die von italiänischen Meistern gewesen sein, denn die Motette verräth so viel vocales Wesen, Gewandtheit sowohl in der doppelchörigen, als in der achtstimmigen Behandlung, und Fluß der Stimmführung, wie ein damaliger Deutscher sich schwerlich ohne italiänisches Vorbild aneignen konnte. Sie besteht aus mehren breit ausgeführten Sätzen und schließt mit einer Hallelujah-Fuge28. Ein Jahrgang selbstgedichteter Cantaten-Texte über die Evangelien, welchen er um 1700 in Druck [389] gab, und jedenfalls großentheils auch selbst componirt haben wird, zeigt ihn als einen seine Muttersprache wohl beherrschenden und der gebundenen Wortfügung mächtigen Mann. Er scheint für jüngere Leute eine vertrauenerweckende Persönlichkeit besessen zu haben, denn neben Bach war ihm auch der noch um fünf Jahre jüngere Johann Matthias Gesner, welcher seit den ersten Monaten des Jahres 1715 bis 1729 Conrector am weimarischen Gymnasium war, in Freundschaft zugethan, und hat dies lange nachher noch öffentlich ausgesprochen29. Gesner war äußerst musikliebend, und da die Neigungen sich in der Person des wackern Reineccius begegneten, so ist es sicher, daß schon jetzt der große Gelehrte und der große Künstler in freundschaftliche Beziehungen traten, die sich dann nach mehr als zwölfjähriger Unterbrechung in Leipzig fortsetzten, und von Seiten Gesners ihren begeisterten Ausdruck fanden in jener bekannten und ihn selbst wie Bach gleich ehrenden Anmerkung seiner Ausgabe des Quinctilian30. Mit dem Gymnasium stand Bach unmittelbar in keiner Verbindung, denn die von dort zum Kirchenchor entnommenen Schüler waren natürlich dem Cantor unterstellt, und besondere Musikstunden für die Gymnasiasten wurden erst 1733 eingerichtet31; aber doch übte er auf den Chor, wenigstens in seiner spätern Stellung als Concertmeister, einen durchgreifenden Einfluß aus. Daß er übrigens in Weimar seinem alten Rector vom Ohrdrufer Lyceum, dem Magister Joh. Christoph Kiesewetter, wieder begegnete, welcher 1712 an die Spitze des neuen Gymnasiums berufen wurde, ist früher schon bemerkt.

Weniger ist über die Mitglieder der herzoglichen Capelle zu sagen. Capellmeister war Johann Samuel Drese, geboren um 1644, Vetter und Schüler von Adam Drese, der zuerst ebenfalls bei Herzog Bernhard von Sachsen-Jena, und zwar als Hof-Organist fungirte, mit dem Regierungsantritte Wilhelm Ernsts aber (1683) in sein Amt [390] nach Weimar berufen wurde32. Er war auch seit 1671 mit einer Weimaranerin vermählt. Schwach an Gesundheit konnte er jedoch die letzten zwanzig Jahre seinen Berufspflichten nur nothdürftig nachkommen; trotzdem ließ ihn der Herzog, der viel auf alte und treue Diener hielt, nicht fallen, sondern durch einen Vice-Capellmeister unterstützen. Als solcher wirkte von 1695 bis gegen 1705 Georg Christoph Strattner, der in der Hymnologie durch die Melodien bekannt ist, welche er zu Joachim Neanders »Bundesliedern und Dankpsalmen« setzte33. In seiner Bestallung wird ihm aufgetragen, daß er »in Abwesenheit des jetzigen Capellmeisters Johann Samuel Dresens oder wann derselbe seiner bekannten Leibesbeschwerung halber nicht fortkommen könne, jederzeit bei der gesammten Capelle dirigiren solle, und auf solchem Fall in gedachten Dresens Hause die gewöhnliche Probirstund halten, wie nicht weniger alle Zeit den vierten Sonntag in der fürstlichen Schloßkirche ein Stück von seiner eignen Composition unter seiner Direction aufführen, auch jederzeit, er möge dirigiren oder nicht, den Tenor singen« u.s.w., wofür er 200 Gülden jährlich erhielt34. Später war Samuel Dreses Sohn Johann Wilhelm, vermuthlich unter ähnlichen Verpflichtungen, Vice-Capellmeister, und rückte nach des Vaters Tode (1. Dec. 1716) in dessen Stelle. Ueber die Qualität der Kunstleistungen beider kann garnichts gesagt werden; die des Jüngern scheinen ganz unbedeutend gewesen zu sein, da Walther im Lexicon ihn nicht einmal nennt, und der alte, kranke Vater machte sich während Bachs Anwesenheit wohl nur noch sehr wenig geltend, so daß es letzterem auch hier leicht wurde, mit seinem Talent und seiner Persönlichkeit durchzudringen. Der Violinist Westhoff war schon 1705 gestorben, und irgend eine Celebrität läßt sich in der Capelle, soweit sich ihr Bestand erforschen ließ, nicht namhaft machen. Daß aber der Gesammtkörper ein tüchtiger und brauchbarer war, muß man bei dem lebhaften Antheil, den der Hof auch an der Kammermusik nahm, als gewiß voraussetzen. Noch verdient unter Weimars musikalischen Persönlichkeiten an dieser Stelle erwähnt zu werden Johann Christoph Lorbeer, Hofadvocat [391] und kaiserlich gekrönter Poet, der seiner Kunstbegeisterung zuerst durch ein »Lob der edlen Musik« (Weimar, 1696) Luft gemacht und ein Jahr darauf seine geliebte Kunst gegen ein mißverstandenes Programm des gothaischen Rectors Vockerodt ritterlich vertheidigt hatte. Er stand sehr gut mit Samuel Drese, der dem »Lob der edlen Musik« ein Preisgedicht auf seinen »Herzens-Freund« vorausschickte.

Fußnoten

1 Gräbner, Die großherzogl. Haupt- und Residenz-Stadt Weimar. Erfurt, 1830. S. 93.


2 Sein jüngerer Bruder Johann Ernst hatte im Jahre 1691 einen vergeblichen Versuch gemacht, August Hermann Francke als seinen Hofprediger und Informator seines ältesten Prinzen zu gewinnen (nach Franckes Tagebuch bei Kramer, Beiträge zur Geschichte A.H. Franckes. 1861).


3 Am 14. Mai dieses Jahres empfiehlt Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels an Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz den Gabriel Möller, der »vormals« in Weimar als Hof-Comoediant im Dienste gewesen (Staats-Archiv zu Dresden). Vrgl. Fürstenau, Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe zu Dresden, 2. Thl., S. 301 und 303.


4 Die beste Quelle über Wilhelm Ernsts Leben ist der im anderen Theile von Johann David Köhlers »Historischer Münz-Belustigung«, (Nürnberg, 1730. 4.) S. 18–24 gegebene Lebensabriß. Weitläufig behandelt diesen Regenten Gottschalg, Geschichte des Herzoglichen Fürstenhauses Sachsen-Weimar und Eisenach (Weißenfels und Leipzig, 1797) S. 213–281. Einzelheiten bot mir noch das Archiv zu Weimar. Neuerdings erschien unter dem Titel »Ernst August, Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach« ein interessantes Culturbild vom Frh. von Beaulieu Marconnay (Leipzig, Hirzel. 1872), was den hochachtbaren Charakter Wilhelm Ernsts des weiteren bestätigt.


5 Wenn er es für nöthig hielt, unterstützte der Herzog seine Hofdiener selbst durch Vorschüsse, s. J.D. Köhler, a.a.O. S. 23.


6 Nur von Michaelis 1710 an waren im großherzoglichen Archive die Gesammt-Kammerrechnungen aufzufinden, welche über Bachs Gehalt Auskunft geben. Hier finden sich verzeichnet: 150 Gülden Besoldung und 6 Gülden 15 ggr. »zu 3 Klafter Floßholz«, außerdem 12 ggr. »zu Kohlen vor den Hoforganisten den Winter über«. Von Michaelis 1711–1712 bieten sich folgende Notizen: An Besoldung »200 Gülden dem Hoforganisten Bach«, daneben mit rother Tinte: »sonsten nur 150 Gülden, wegen der 50 Gülden zulage«, woraus zu schließen, daß er mit der Summe des vorigen Jahres ursprünglich angestellt gewesen. Ferner: »8 Gülden 12 ggr. dem Hoforganisten Statt 4 Klafter Floßholz«; aus einer Stiftung Herzog Wilhelms IV. 2 Gülden. Unter dem Titel »Baukosten« stehen neben einigen andern kleinen Ausgaben für Orgelreparatur auch 2 Gülden »zwei Zimmerleuten und 2 Taglöhnern so die Orgelbalgkammer zernommen und die Blasebälge abgehoben 18. Juni 1712«. Michaelis 1712–1713: »203 Gülden 15 ggr. 9 Pf. Dem Hoforganisten Joh. Seb. Bachen«, nämlich »1–3 jedes Quartal 50 Gülden, Trinit. 53 Gülden 15 ggr. 9 Pf. besage fürstl. Befehls vom 24. Febr.«; von letztgenanntem Datum an war ihm also von Ostern ab – er bezog seinen Gehalt postnumerando – eine jährliche Zulage von 15 G. ausgesetzt. Weiter: 8 G. statt 4 Klafter Floßholz und 2 G. aus der Stiftung.


7 A. Wette, Historische Nachrichten von der berühmten Residentz-Stadt Weimar. Weimar, 1737. S. 146, 147 und 150.


8 Wette, welcher S. 175 und 176 diese Disposition mittheilt, rühmt die Orgel als »unvergleichlich«, was sich, wenn auf sein Urtheil überhaupt etwas zu geben ist, auf die Qualität der Stimmen beziehen müßte. Sie stand im sogenannten Cornetton, d.h. eine kleine Terz über dem Kammerton. S. Anhang A. Nr. 17.


9 Wette, a.a.O. S. 261.


10 Den größten Theil seines Lebens beschreibt Walther selbst in Matthesons Ehrenpforte (Hamburg, 1740) S. 387–390. Dazu Gerber Lexicon II, Sp. 765.


11 Sein mit vielen handschriftlichen Zusätzen versehenes Exemplar besaß der Lexicograph Gerber und hat das Meiste daraus seinem eignen Lexicon einverleibt. Nach dem Tode desselben kam es in die Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde zu Wien.


12 Den bei Gerber namhaft gemachten ist noch hinzuzufügen ein Heft mit Bearbeitungen des Adventsliedes »Wie soll ich dich empfangen«, erschienen bei Christian Leopold in Augsburg.


13 Auf der königl. Bibl. zu Berlin.


14 Mattheson, Critica musica Bd. 2. Hamburg, 1725. S. 175.


15 Vollkommener Capellmeister, S. 476.


16 Das Autograph auf einem losen Quartblättchen in der königl. Bibl. zu Berlin. Vrgl. Mattheson, Critica musica a.a.O. Ebendaselbst im Format eines Stammbuchblattes ein »Canone infinito gradato à 4 Voci, sopra: A Solis ortus cardine«:


2.

nämlich ein Quintencanon, dessen Stimmen bei jeder Wiederholung um einen ganzen Ton höher einsetzen, also Sopran und Tenor das zweite Mal mit E, Alt und Bass mit H u.s.w.


17 Beide letztgenannten Choräle in dem Frankenbergerschen Autograph S. 270 und 334.


18 Commer, Musica sacra I, Nr. 145.


19 Im Königsberger Autograph befindlich.


20 Commer, a.a.O. Nr. 147.


21 P.S. V, C. 6, Nr. 24. Er steht mit Walthers vollem Namen im Frankenbergersehen Autograph S. 74.


22 »Dies sind die heiligen zehn Gebot« und »Vater unser im Himmelreich« im dritten Theil der Clavierübung.


23 Pfarr-Register der Stadtkirche zu Weimar.


24 Es ist das Anmerk. 16 genannte.


25 Das Blatt befand sich in der Autographensammlung des Herrn Generalconsul Clauss in Leipzig, wo ich es copiren durfte, und wurde mit dessen übrigen Autographen im Anfange des Jahres 1872 in Leipzig öffentlich versteigert.


26 Forkel, Ueber Joh. Seb. Bachs Leben u.s.w. S. 16.


27 Zu dem einen der am 23. Febr. 1713 geborenen Zwillinge Bachs.


28 Sammelband von 93 Motetten in Partitur (Nr. 13661) auf der Universitäts-(Gottholdschen) Bibliothek zu Königsberg, S. 203. Die Motette trägt nur die Namenszüge G.T.R. Da der Band aber offenbar im Thüringischen angefertigt ist, so kann über den Componisten wohl kaum ein Zweifel entstehen.


29 Jo. Matth. Gesneri primae lineae isagoges in eruditionem universalem. Tom. II, pag. 553 (edit. alt.): »Vinariae familiaritas mihi fuit cum praeceptore tertiae classis (Reinesio) qui simul Cantor erat atque collegii totius senior, et per XL annos in populosa urbe munere scholastico functus: et erat vir bonus, cui fidem habere poteram«.


30 Zu Instit. orat. I, 4, 3.


31 Wette, a.a.O. S. 415.


32 Walther, Lexicon.


33 Walther, Lexicon. Vrgl. Winterfeld, Ev. K. II, 516 ff.


34 Acten des Staats-Archivs zu Weimar.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1873.
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