III.

In den innigsten Beziehungen zu Johann Bach stand sein jüngster Bruder Heinrich, dessen Linie wir uns zunächst zuwenden wollen; der mittlere Bruder Christoph wird uns hernach geraden Weges auf Sebastian Bach hinführen. Heinrich Bach ist dasjenige unter Hans Bachs Kindern, auf welches außer der musikalischen Begabung auch der Charakter des Vaters, das heitere und harmlose Gemüth, übergegangen ist. Es kann darum leicht gedacht werden, daß er ein besonderer Liebling des Alten war, der ihn sorgfältig, soweit es in den Verhältnissen lag, und in frommer Weise, wie uns besonders gerühmt wird, erziehen ließ1. Sein erster Lehrer in der Instrumental-Musik war natürlich der Vater selbst, und der Knabe war hierin, d.h. also im Violinspiel, ein gelehriger Schüler. Mehr aber lockte ihn schon damals der mächtige Orgelklang, den er freilich in der Dorfkirche seiner Heimath nicht hören konnte, denn Wechmar erhielt ein kleines Orgel-Werk erst im Jahre 16522. Wenn es dann Sonntag wurde, so entlief der Kleine nicht selten in eine der herumliegenden Ortschaften, wie Wandersleben, Mühlberg, ja vielleicht gar Gotha, um sein Ohr an den erhabenen Tönen zu sättigen. Es mußte ihm Gelegenheit zu weiterer Ausbildung gegeben werden, und hierfür zu sorgen ward der älteste Bruder Johann ausersehen. Wo und wann dieselbe erfolgte, ist nicht ganz sicher zu bestimmen, erinnert man sich an das, was über Johann Bachs frühere Aufenthaltsorte erzählt ist, so wird man auf Schweinfurt und Suhl geführt, hier paßt auch die Zeit, da Heinrich am 16. Sept. 1615 geboren war, und demnach seine musikalischen Lehrjahre etwa von 1627–1632 fallen müssen. In Schweinfurt litten die Brüder sehr durch die Kriegsnoth, die Folgen des Restitutions-Edicts trieben sie aus der Stadt, und so mögen im Jahre 1629 beide nach Suhl gegangen sein. Als der ältere dann 1635 nach Erfurt übersiedelte, zog Heinrich mit ihm und spielte in der Raths-Compagnie, bis er im September 1641 endlich die Stelle [28] erhielt, welche seinen Neigungen und Fähigkeiten am meisten entsprach. Er wurde Organist in Arnstadt, und hatte diesen Posten über 50 Jahre inne bis zu seinem am 10. Juli 1692 erfolgten Tod3. Sobald er sich in dem neuen Amte orientirt hatte, sann er darauf, einen eignen Hausstand zu gründen, und wie er bislang sich an den ältern Bruder angeschlossen hatte, so führte er nun auch die jüngere Schwester von dessen erster Gattin als Weib heim. Sie hieß Eva und war 1616 geboren, die Vermählung fand in dem seiner Anstellung folgenden Jahre statt4. Zu dem ersten Sohne, Johann Christoph (geb. 8. Dec. 1642) wählte er seine beiden Brüder zu Pathen. Es gehörte Muth dazu in jenen Zeiten zu heirathen, nicht nur weil oft genug der Mann weder sich noch Weib und Kinder vor den Gewaltthätigkeiten einer gänzlich verwilderten Soldateska schützen konnte, sondern weil allzuhäufig nicht abzusehen war, woher nur die nöthigsten Subsistenz-Mittel kommen sollten. Nicht lange währte es, so klopfte denn auch die bittre Noth an Heinrich Bachs bescheidenes Häuschen. Als Besoldung waren ihm 52 Fl. und 5 Fl.5 Hauszins freilich angewiesen, aber damit hatte er sie noch lange nicht in Händen. Die kleinen Regierungen, sämmtlich durch den Krieg arg mitgenommen, hatten selber kein Geld, konnten also auch ihren Untergebenen nichts zukommen lassen. Allgemein ist in jener Zeit die Klage um rückständigen Gehalt. Bachs Vorgänger im Amte, Christoph Klemsee, hatte sogar einmal mehre hunderte von Thalern zu fordern. Dabei mußten trotzdem Kriegscontributionen gezahlt werden, und wenn grade die rechte Horde einfiel, so war man selbst seiner Kleider auf dem Leibe nicht sicher6. Es mußte schon schlimm kommen, ehe der anspruchslose Mann sich entschloß, bei den Grafen [29] von Schwarzburg deshalb als Bittsteller zu erscheinen. Er wußte aber im August 1644, wie er sagt, »aus sonderlicher Schickung des lieben Gottes« nicht mehr das Brod für sich und seine kleine Familie zu finden, da die zugesagte Besoldung ihm schon über ein Jahr nicht gezahlt war, und er alles vorher erhaltene, um seine eignen Worte anzuwenden, »sich fast mit weinenden Augen hatte erbitten müssen«7. Es wäre ganz unbegreiflich, wie er überhaupt nur bis dahin hätte existiren können, wenn man nicht annehmen müßte, daß er ein kleines Grundstück besessen, durch dessen Bebauung er sich allenfalls vom Hungertode retten konnte. Etwas Ackerbau wurde stets und wird auch noch im Thüringischen von den Lehrern, Cantoren und Organisten nebenher betrieben. Dazu kamen einige Naturallieferungen, die gegen Ende des dreißigjährigen Krieges um so leichter einflossen, als es sowohl an Käufern wie an Geld fehlte – waren doch zwei Drittel der Bevölkerung vernichtet! Von den jungen Grafen erging nun sofort ein ernster Befehl, dem Bach aus der Noth zu helfen und ihm zu weiterer Klage keine Veranlassung zu geben, der Verwalter der betreffenden Casse aber reichte seine Entlassung ein, indem er bemerkte, er habe während der 13 Jahre seines Amtes mehr Unannehmlichkeiten über sich ergehen lassen müssen, als der geringste Dienstbote. Wie groß die Gefahr war, unter diesen Verhältnissen in ein dissolutes Leben zu verfallen, sieht ein jeder, und der schon erwähnte Vorgänger Bachs war ihm durch sittenlose Lebensführung, die das strengste Einschreiten der Behörde nöthig machte, mit einem schlechten Beispiele vorangegangen8. Um so höher ist es anzuschlagen, daß nicht das allergeringste vorhanden ist, was einen Schatten auf sein Leben werfen könnte; dies erscheint von einer so unschuldsvollen Einfalt, daß das Auge nur mit dem innigsten Gefallen darauf ruht.

Wenn über dem Grabe Heinrich Bachs Johann Gottfried Olearius warmen Herzens und in Ausdrücken, die von gutmüthiger Schönrederei [30] weit entfernt sind, die musterhafte Frömmigkeit des Gestorbenen rühmte, und wir dieses Urtheil, soweit für uns noch eine Prüfung möglich ist, bestätigen müssen, so wird gleichwohl bei flüchtiger Betrachtung nur den wenigsten sofort klar sein, was damit in Wahrheit gesagt ist. Der Werth einer solchen Gesinnung ist den Zeiten nach verschieden; es kann Verhältnisse geben, wo ein frommer Mann genannt zu werden als gar kein so bedeutendes Verdienst erscheint. Aber es giebt auch Zeiten, wo die Frömmigkeit der einzige Hort für die idealen Güter der Menschheit ist, und die alleinige Bürgschaft für einen im Grunde liegenden unversehrten Kern menschlicher Natur. Einen solchen Abschnitt erlebte das deutsche Volk in den letzten Jahren des dreißigjährigen Krieges und nach demselben. Die große Masse vegetirte in dumpfer Gleichgültigkeit weiter, oder ergab sich einem rohen, sittenlosen Genußleben, die wenigen, welche der Muth zu existiren noch nicht ganz verlassen hatte, richteten, als alle realen Lebensgüter durch ein furchtbares Schicksal rings um sie her zermalmt waren, den Blick über die allgemeine Verwüstung hinweg auf das, was ihnen ewig und unvergänglich erschien und fanden Trost und Erhebung in dem Gedanken, daß alles Thun und Leiden der Menschen in der Hand Gottes ruhe. So hegten sie still in sich den Keim, aus welchem Deutschland zu seiner Wiederbelebung neue Kraft saugen sollte, und man kann auch hier die Bemerkung machen, wie von der Religion die Cultur ausgeht. Der erste Schritt zur geistigen Freiheit geschah auf religiösem Gebiet durch Spener und dessen Anhänger, aus dem Pietismus erwuchs das erste Werk wissenschaftlicher Geschichtsschreibung. An der Religion entwickelte sich, da auf dem Boden des reinen Gefühlslebens keine äußeren Hindernisse zu überwinden waren, die Musik in kaum einem Jahrhundert zu einer Höhe, welche wie keine zweite Erscheinung den unzerstörbaren, in unmeßbare Tiefen gegründeten Lebenskern des deutschen Volkes untrüglich bewiesen hat. Und wenn die Neigung zur instrumentalen Musik mit ihrem unsinnlichen Ideale uns im allgemeinen tief im Wesen steckt, so begreift man, weshalb es dieses Mal grade die Orgelkunst sein mußte, die zuerst machtvoll emportrieb, und warum alles, was auch in vocaler Richtung der deutschen Musik damals zu leisten möglich war, sich nur auf jene stützen konnte. Wer aber in jener Zeit durch seine Lebenslage in Verbindung mit der Religion stand, [31] oder – was bei den Menschen, deren Schicksale uns hier interessiren, gleichbedeutend ist – im Dienste der Kirche sich befand, den dürfen wir vor andern bevorzugt nennen. Und wer in einer solchen Stellung jenen idealen Schatz in schlichter, treuherziger Frömmigkeit in sich nährte, den müssen wir schon aus diesem Grunde als einen Träger der Cultur bezeichnen. Heinrich Bach hatte das Glück, unvergeßliche Eindrücke aus seiner Kindheit zu besitzen, in welcher durch eine fromme Erziehung seine eigne Neigung zur Musik der Kirche gekräftigt war, und wie lebendig dieselben noch in späten Jahren in ihm waren, geht aus den Worten des Begräbnißpredigers hervor, welcher den Bericht über seine Knabenzeit doch aus keiner andern Quelle haben konnte, als aus der Erzählung des Greises allein. Darum begreift man den Schrecken desselben, als er einst vor das Consistorium citirt wurde, weil bei einer kleinen Festlichkeit, die er in Folge eines Baues seinen Zimmerleuten gegeben hatte, über das »Vaterunser« gelacht und gespottet sein sollte: er betheuerte hoch und bei Gott, daß er davon nichts gehört noch gewußt habe, und in der That stand ihm wohl nichts so fern, als eine solche Blasphemie9. Ein einfach schöner Zug ist es auch, daß er wenn irgend möglich nie versäumte einer Leiche, sie mochte noch so arm und niedrigen Standes sein, seinerseits das letzte Geleit zu geben10. Freundliches und hülfreiches Wesen war ihm in dem Maße eigen, daß es niemanden in der Stadt gab, der ihm etwas anderes, als »liebes und gutes« nachzusagen wußte. Bei dem großen Rufe, den er als musikalische Autorität genoß, hatte er auch die Aspiranten auf die Organisten-Plätze der Grafschaft zu prüfen und ein Urtheil über sie abzugeben. Als im Jahre 1681 ein neuer Organist in Rockhausen angestellt werden sollte, und dieser sich vor ihm producirt hatte, äußerte er sich: was das Orgelspiel des Candidaten betreffe, so sei er hierin für die Besoldung gut genug. Zu gutmüthig, um den vielleicht recht armseligen Spieler an der Erreichung seines Zieles zu hindern, hielt er doch einen leisen Spott über die geringe Besoldung nicht zurück – er wußte aus eigner Erfahrung ein Klagelied über die schwarzburg-arnstädtischen [32] Gehalte zu singen11. Daß er den fröhlichen Sinn seines Vaters geerbt hatte, ist schon früher gesagt, und es war dies ein so hervorstechender Zug seines Charakters, daß nach 100 Jahren noch Philipp Emanuel Bach von seinem »muntern Geiste« zu sagen wußte12. Vielerlei Ungemach hatte ihn während seines langen Lebens betroffen, besonders in der Kriegszeit, und auch später noch in seiner Familie und schließlich an der eignen Gesundheit, er hatte jedoch stets den Kopf oben behalten, den Dingen die beste Seite abzugewinnen gewußt, und sich seinen Frohsinn bewahrt.

Aber es lohnte das Geschick einem so trefflichen und liebenswürdigen Charakter auch mit Gütern, die bei seiner Naturanlage ihm das Leben zu einem vorzugsweise glücklichen machen mußten. Aus einer mehr als 37jährigen einträchtigen Ehe erwuchsen ihm sechs Kinder, darunter talentvolle, ja genial begabte Söhne, deren musikalische Ausbildung ihm Genuß sein mußte. Der älteste Sohn, von allen weit der bedeutendste, ist schon angeführt; ein zweiter, Johannes Matthäus (3. Jan. 1645), überlebte sein zweites Lebensjahr nicht. Es folgten Johann Michael (9. August 1648) und Johann Günther (17. Juli 1653). Auch die letzteren wurden bald tüchtige Orgelspieler und konnten, wenn es galt, den Vater im Amte vertreten. Als der Erstgeborne, Johann Christoph, nach Eisenach berufen war und 1668 die älteste Tochter, Maria Katharina (geb. 17. März 1651) sich mit Christoph Herthum, Organisten in Ebeleben bei Sondershausen vermählt hatte, zog es den Vater wohl oftmals zu seinen auswärtigen Kindern, und Michael und Günther mußten inzwischen den Orgeldienst versehen. Dem Grafen Ludwig Günther schien jedoch dieses Arrangement, was sicher nicht die geringste Störung brachte, zu eigenmächtig, und als im Jahre 1670 die einigermaßen heruntergekommene sonntägliche Chormusik wieder mehr gehoben und in Schwung gebracht werden sollte, indem unter Direction des Cantor Heindorff auf jeden Sonntag eine besondere musikalische Uebungsstunde angesetzt wurde, in welcher Bach zu accompagniren hatte, ließ er bei Gelegenheit der Anzeige hiervon ihm eine solche Selbständigkeit [33] verbieten13. Im Jahre 1672 begegnet uns eine Eingabe des bescheidenen Künstlers: er habe gehört, daß sein Vorgänger neben seinem Gehalte einige Maß Korn geliefert bekommen habe; seine eignen Neben-Einnahmen seien sehr gering, noch fühle er sich freilich gesund, aber das Alter nahe doch: er bäte daher um eine ähnliche Vergünstigung. Er hatte 31 Jahre lang gedient, ehe er nur daran dachte, das für sich zu beanspruchen, was man seinem unwürdigen Vorgänger gegeben hatte, und was er nun natürlich, als Mann von 57 Jahren, auch erhielt. Dann arbeitete er wieder rüstig in seinem Amte weiter, und wurde es ihm einmal sauer, so half der jüngste Sohn – denn Michael war mittlerweile auch davon gezogen – diesmal aber mit Vorwissen des Grafen. Nach zehn Jahren war er ein Greis geworden, die treue Gattin war gestorben (21. Mai 1679), die Glieder wurden schwach und die Finger steif. Nun erbat er sich (9. Nov. 1682) den Sohn zum wirklichen Substituten, der »seine Kunst ohne eitlen Ruhm so erlernt, daß er verhoffentlich dem lieben Gott und seiner Kirche darin wohl dienen, auch gnädiger Herrschaft, Hohen und Niedrigen, ja der ganzen Bürgerschaft damit aufwarten« könne. Dies wurde gewährt und froh über die feste Anstellung feierte Günther drei Wochen darauf seine Hochzeit mit Anna Margaretha, Tochter des vormaligen Bürgermeisters Krül in Arnstadt. Aber der Tod entriß am 8. April des folgenden Jahres dem alten Vater die Stütze und der jungen Frau ihren Gatten; Bach mußte wieder allein auf der Orgelbank sitzen, und es war einsam um ihn her geworden. Doch hatte sich inzwischen sein Schwiegersohn Herthum in Arnstadt niedergelassen, und verband mit seinem Amte als gräflicher Küchenschreiber den Dienst an der Orgel der Schloßcapelle, wogegen Bach, wie bisher, in der Barfüßer- und Liebfrauen-Kirche fungirte. Er hatte seit 1683 den Greis ganz in sein im Lengwitzer Viertel gelegenes Haus14 aufgenommen, verrichtete den Dienst erst theilweise, dann ganz für ihn, und suchte mit seinen Kindern dessen alte Tage zu erleichtern und zu erheitern; Sebastian Bachs ältester, von Erfurt herübergekommener [34] Bruder unterstützte ihn zeitweilig. Noch einmal vergingen zehn Jahre, und nun wandte der Siebenundsiebzigjährige sich mit seiner letzten Bitte an den Grafen Anton Günther: er sei über 50 Jahre dort Organist gewesen, und erwarte nunmehr eines seligen Endes von Gott; er habe noch keine (derartige) Bitte an den Grafen gerichtet, es werde ihm eine Freude und ein Trost sein, wenn noch vor seinem Ende seinem Schwiegersohne die Zusicherung der Nachfolge im Amte gemacht werde. Er war bereits erblindet, mit zitterndverzogenen Buchstaben steht sein Name und Charakter unter dem Briefe. Aber auch jetzt noch war sein Geist hell und rege und seine Enkel mußten ihm die Bibel vorlesen. Am 14. Jan. 1692 hatte er die letzte, sofort erfüllte Bitte gethan15, am 10. Juli starb er. Von seinen Kindern waren nur Christoph und Michael noch am Leben, auch die beiden Töchter waren dem Vater schon vorangegangen; aber 28 Enkel und selbst Urenkel folgten dem Sarge, und die ganze Bürgerschaft betrauerte ihn. Es wird dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein, daß Bach in seinem Schreiben von 1682 seine Kunst nicht nur in den Dienst des Hofes, sondern der gesammten Gemeinde, von Arm und Reich gestellt wissen will.

Sein eigentliches Instrument war die Orgel, und wenn er hier und da noch Stadt-Musikant dazu genannt wird, so hat dies nach seinen eignen schriftlichen Aeußerungen, sowie nach allen sonst vorliegenden Nachrichten nur die Bedeutung, daß ihm das Recht zustand, auch in der städtischen Musik-Zunft mitzuwirken und sich dadurch eine Erwerbsquelle zu öffnen. Auch hatte er als Mitglied der gräflichen Capelle seinen Dienst bei Hofe, und mag dort den Platz am Cembalo eingenommen haben. Von dem Grade und der Art seiner virtuosen Fertigkeit jetzt noch eine nähere Anschauung zu gewinnen, ist nicht möglich, da sehr wenig von seinen Compositionen erhalten ist, und die allgemeine Bewunderung seiner Zeitgenossen sich nur in unbestimmten Ausdrücken bewegt. Einer der bedeutendsten Orgelspieler seiner Zeit war er jedenfalls. Doch verdankt er seinen Ruhm zuverlässig auch einer ausgedehnten Thätigkeit als Tonsetzer, und wenn Olearius in der Leichenrede von Heinrich [35] Bachs Chorälen, Motetten, Concerten, Fugen, Praeludien redet, so umfaßt er damit ziemlich alle in der kirchlichen Musik jener Zeit gebräuchlichen Kunstformen. In diese ergoß Bach seinen frischen, kindlich-frohen Sinn, jenen »munteren Geist«, den noch Philipp Emanuel Bach an seinen Compositionen zu loben wußte. Eins seiner beliebtesten Werke war ein kirchliches Tonstück, welchem der Psalmspruch: »repleatur os meum laude tua« zu Grunde lag, so daß Olearius noch an seinem Sarge hieran erinnern konnte. Wenn derselbe Redner sagt, daß Bach in seinen Compositionen »dero Final erst bei dero Endigung gewiß gefunden, zu selbigem aber vorhero alles abgesehen und gerichtet« habe, so läßt sich dies zwar allgemein so verstehen, daß der Künstler in planvoller Anlage seine Werke gegen das Ende hin wirksam zu steigern vermocht habe. Doch darf man auch wohl einen Hinweis auf reichere Gliederung der Kunstmittel und lebendigen Wortausdruck darin finden, Elemente, die, besonders durch Heinrich Schütz aus Italien nach Deutschland verpflanzt, der protestantisch-kirchlichen Musik des ganzen 17. Jahrhunderts ihr überwiegendes Gepräge aufdrückten. Andrerseits aber erscheint Bach in einem uns erhaltenen Orgelstücke über den Choral: »Christ lag in Todesbanden«16 vollständig vertraut mit Charakter und Forderungen der alten Schule. Obgleich selbständig für Orgel gedacht, unterwirft sich doch diese Choralbearbeitung den strengen Gesetzen vocaler Stimmführung, und weiß mit Verständniß, im vorletzten Takte sogar etwas absichtsvoll, das Auszeichnende der dorischen Tonart hervorzuheben. Es muß erwähnt werden, daß unserm Meister zu Studien der altkirchlichen Tonwerke in Arnstadt eine nicht gewöhnliche Gelegenheit gegeben war, da die dortige Kirchenbibliothek in einer Reihe von Folianten Compositionen von Orlando Lasso, Philippus de Monte, Alardus Nuceus, Franciscus Guerrerus, L. SenflsLiber selectarum cantionum von 1520 und anderes besaß, welche Schätze zum Theil durch Schenkung des Grafen Günther des Streitbaren dorthin gelangt waren, und noch jetzt sich daselbst befinden. Dagegen legen freilich [36] die in der Arnstädter Chorbibliothek vorhandenen mannigfachen Compositionen Andreas Hammerschmidts, welche Spuren reichlichen Gebrauchs tragen, Zeugniß ab, daß man ebenso der neuen Richtung Rechnung zu tragen wußte. Heinrich Bach hat in seinem bescheidenen Sinne vielleicht nie an Veröffentlichung seiner Compositionen gedacht. So müssen wir uns fast nur auf Vermuthungen über seine künstlerische Art beschränken, die jedoch eine Befestigung durch den Hinblick auf seine Söhne erhalten, deren vorzüglicher, wenn nicht einziger Lehrmeister der Vater war, und über deren Werken ein etwas günstigeres Schicksal gewaltet hat.

Es sind nur Joh. Christoph und Joh. Michael, mit denen wir uns werden beschäftigen müssen, denn über Johann Günther ist außer dem, was schon mitgetheilt wurde, nichts weiter bekannt geworden. Beide waren sich, wenn auch nicht gleich an Talent, so doch ähnlich an Charakter: Michaels stiller, nach Innen gekehrter Sinn wird uns aus mitlebendem Munde bezeugt, und wenn sein älterer Bruder trotz hoher Begabung und großer Kunstfertigkeit sowohl seiner Zeit wie der Nachwelt fast unbekannt blieb, so verschmähte er es eben gänzlich, seine Vorzüge geltend zu machen, ja war vielleicht selbst sich ihrer nicht völlig bewußt. Höchst wenig ist es, was wir über dessen äußere Lebensschicksale mitzutheilen haben. Daß er zum Zweck seiner Ausbildung fremde Kunststätten aufgesucht habe, ist ganz unwahrscheinlich: aus eignen Mitteln konnte er das schwerlich unternehmen, zu einer Unterstützung von Seiten der schwarzburgischen Grafen waren die Zeiten nicht angethan, auch finden wir ihn schon mit 23 Jahren in einer festen amtlichen Stellung, und endlich zog ihn seine Neigung sicherlich nicht in die Ferne. Kernig und ursprünglich, wie das ganze Bachsche Geschlecht war, hat es keinen hervorragenderen Musiker, einschließlich Seb. Bachs und dessen Generation, hervorgebracht, der zu seiner Ausbildung Italien besucht oder die Unterweisung eines fremdländischen Meisters genossen hätte; strebsam und emsig suchten sie sich stets mit den neuen Erscheinungen und Kunstrichtungen vertraut zu machen, aber sie zogen sie in sich hinein, ohne sich ihnen hinzugeben. Hätte sich unter Joh. Christoph Bachs älteren Verwandten ein seinen Fähigkeiten entsprechender Lehrer gefunden, so würde wohl in dessen Hände seine Unterweisung gelegt worden sein; allein in jener Zeit war sein Vater als Orgelspieler [37] wie als Componist sicherlich der bedeutendste des Geschlechts, und ihm zunächst wird der Sohn Können und Richtung verdanken. Im Jahre 1665 als Organist an die Eisenacher Kirchen berufen17, ist er in dieser Stellung bis an das Ende seines mehr als 60jährigen Lebens verblieben. Unter den Gotteshäusern, an welchen er den Dienst zu verrichten hatte, war das hauptsächlichste die St. Georgenkirche, deren Orgel jedoch hinfällig oder aus andern Gründen ungenügend gewesen sein muß, denn sie wurde vier Jahre nach Bachs Tode durch eine neue ersetzt von vier bis ins 3. reichenden Manualen, einem bis zum ē sich erstreckenden Pedale und 58 Stimmen18. Ob und wann er auch Hoforganist war, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen; jedenfalls bekleidete diesen Posten von 1677 bis 1678 Joh. Pachelbel. Bach vermählte sich am 23. Trinitatis-Sonntage 1667 mit Maria Elisabeth Wedemann, deren Vater Stadtschreiber in Arnstadt war. Dieser Ehe verdankten sieben Kinder das Leben, unter ihnen vier Söhne: Johann Nikolaus (10. Oct. 1669), Joh. Christoph (27. Aug. 1674), Joh. Friedrich und Joh. Michael19. Von 1696 an hatte er freie Wohnung im fürstlichen Münzgebäude, wo ihm sieben Wohnräume nebst Boden und zwei Ställen zur Verfügung gestellt waren, ein für seine und damalige Verhältnisse ziemlich ansehnliches Local20. [38] Er starb am 31. März 1703; sein Nachfolger im Amt wurde, wie schon erwähnt ist, der Erfurter Bernhard Bach21.

Des jüngern Bruders Michael Jugend verlief zuversichtlich genau so, wie die des Erstgebornen: er genoß die Unterweisung seines Vaters und ging demselben, als er es vermochte, in der Erfüllung seiner Dienstleistungen zur Hand. 1673 wurde die Organistenstelle in Gehren bei Arnstadt vacant; Johann Effler, der mit ihr bis dahin betraut gewesen war, und sehr tüchtig gewesen sein muß, denn man machte große Anstrengungen, ihn zu halten, zog davon, um an der Predigerkirche in Erfurt den Platz des verstorbenen Johann Bach einzunehmen. Michael legte am 5. Oct. daselbst seine Orgelprobe ab, und befriedigte den Pfarrer und die Rathsverordneten so, daß sie der gräflichen Herrschaft ihren besondern Dank ausdrückten, weil sie »die Gemeine und Kirche mit einem stillen, eingezogenen und kunsterfahrenen Subjecto« versehen wolle. Zugleich wurde er Gemeindeschreiber und erhielt dafür eine jährliche Remuneration von 10 Gülden. Sein Einkommen giebt er 1686 selbst an auf 72 Gülden, 18 Klafter Holz, 5 Maß Korn, 9 Maß Gerste frei zu brauen, 31/2 Eimer Bier und einige sonstige Kleinigkeiten der Art, dazu etwas Ackerland und freie Wohnung. Das Haus, was ihm hierzu diente, steht noch jetzt, und ist zur Zeit Wohnung des Diaconus22. Neben der Erfüllung seiner Dienstpflichten und seiner Thätigkeit als Componist erübrigte er noch Zeit sich dem Instrumentenbau zu widmen, hierin das Vorbild und vielleicht auch der Lehrer seines Neffen Nikolaus. Wir finden ihn im November des Jahres 1686 damit beschäftigt, für den Kammerrath Wentzing in Arnstadt mehre Clavichorde herzustellen23, und eine Geige seiner Fabrikation befand sich im Anfange dieses Jahrhunderts im Besitze des Geometer Schneider in Gehren, welcher sie an Albert Methfessel schenkte, der sich, ein geborner Thüringer, damals [39] in Rudolstadt aufhielt24. Da der Bruder Christoph die ältere Tochter des Stadtschreibers Wedemann geheirathet hatte, so war es nach Bachscher Anschauungsweise natürlich, daß Michael sich die jüngere, Katharina, erwählte. Sie reichte ihm ihre Hand am dritten Weihnachtstage 1675 und schenkte ihm während achtzehnjähriger Ehe fünf Töchter, von denen die jüngste Sebastian Bachs erste Gattin werden sollte, und einen Sohn, Namens Gottfried (geb. 20. März 1690), zu dem er seinen Vetter, den Stadtpfeifer Joh. Christoph Bach aus Arnstadt, zum Pathen wählte. Der Knabe starb jedoch schon im nächsten Jahre, und den Vater selbst raffte in seinen besten Mannesjahren ein frühzeitiger Tod im Mai 1694 dahin.

Fußnoten

1 Joh. Gottfr. Olearius, Leichenrede auf Heinrich Bach mit üblicherweise angehängter Lebensbeschreibung. Arnstadt, 1692; die vollständigste Quelle für sein Leben.


2 Brückner, Kirchen- und Schulenstaat im Herzogthum Gotha, Theil III, St. 9, S. 8.


3 Die gegebene Darstellung sucht vielfach sich widersprechende Nachrichten zu ordnen und in Zusammenhang zu bringen. Daß beide Brüder längere Zeit in Suhl waren, geht schon aus den von ihnen geschlossenen Ehen hervor.


4 Pfarr-Register zu Arnstadt.


5 d.h. meißensche Gülden = 21 guten Groschen. Damit man dies nicht für allzu wenig halte, sei beispielsweise bemerkt, daß der Conrector der arnstädtischen Schule noch im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts nur 81 Gülden und 10 Maß Roggen erhielt.


6 Vergl. die charakteristischen Schilderungen bei Th. Irmisch, Der thüringische Chronikenschreiber M. Paulus Jovius und seine Schriften. Sondershausen, 1870. S. 30 und 31.


7 Fürstl. Archiv zu Sondershausen. Acta, die Bestallungen der Schuldiener am Arnstädter Lyceo 1616–1680. fol. 167 ff.


8 Dieser Klemsee hatte sich in Italien gebildet und veröffentlichte im Jahre 1613 bei Weidner in Jena ein Buch fünfstimmiger italienischer Madrigale, wie ich aus dem Verzeichniß der Musikalien Georg Beckers in Lancy ersehe (mitgetheilt in den Monatsheften für Musikgeschichte IV, S. 55 und 56).


9 Arnstädter Consistorial-Protokolle vom 17. Juni 1672; auf dem fürstl. Archiv zu Sondershausen.


10 Olearius, a.a.O. S. 45.


11 Archiv zu Sondershausen, Acten betr. die Bestallung des Schuldienstes in Rockhausen, 1681. fol. 2.


12 Zusatz zur Genealogie.


13 Acten auf dem fürstl. Archiv zu Sondershausen.


14 Daß er hier wohnte, sagt eine auf dem Rathhause zu Arnstadt befindliche Liste jener Zeit; wahrscheinlich war es das Haus Nr. 308, wo lange Zeit hindurch die Organistenwohnung war.


15 Auch dieses Schriftstück, sowie die beiden vorher erwähnten befinden sich auf dem Archiv zu Sondershausen.


16 Zuerst mitgetheilt von A.G. Ritter, Orgelfreund, Bd. VI, Nr. 14. Derselbe hat es einer Handschrift aus Suhl entnommen. Ist es, wie ich vermuthe, dieselbe, welche später in meinen Besitz kam, so trägt das Stück allerdings nur die Namens-Chiffre H.B. Dies könnte aber außerdem nur noch »Heinrich Buttstedt« bedeuten, von dessen Stil der Satz himmelweit entfernt ist.


17 In einer später noch zu erwähnenden Leichenpredigt auf Dorothea Maria Bach vom Jahr 1679 wird er »wohlverordneter Organist bey denen Kirchen alhier in Eisenach« genannt.


18 Adlung, Musica mechanica organoedi. Berlin, 1768. 1. Bd. S. 214 u. 215.


19 Von diesen in der Genealogie aufgeführten Söhnen war in den Eisenacher Kirchenregistern nur der zweite zu finden; das Geburts-Datum des ältesten ist nach Walther, ebenso der Todestag des Vaters. Die Töchter hießen: Marie Sophie, geb. 24. März 1674 (soll wohl 1671 sein!); Christine Dorothea, 20. Septbr. 1678; Anna Elisabeth, 4. Juni 1689.


20 Der hierauf bezügliche, von Bach selbst unterschriebene, untersiegelte und vom 27. April 1696 datirte Revers, zugleich das einzige Actenmäßige, was über ihn aufzufinden war, ist im Staatsarchiv zu Weimar. Das achteckige Siegel zeigt die verschlungenen Buchstaben J.C.B. Ein gemeinsames Siegel besaß die Bachsche Familie nicht. Sebastian gebrauchte von seiner weimarischen Zeit an einen Stempel mit Rosette und Krone darüber; Stephan Bach in Braunschweig hatte einen nach links schreitenden Storch oder Kranich, Johann Elias Bach in Schweinfurt einen Schild, auf dem oben eine Taube sitzt, während in der Schildfläche sich ein Posthorn befindet.


21 Walther erwähnt in den handschriftlichen Zusätzen zum Lexicon, daß ihm eine Parentation gehalten sei über die Verse Paul Gerhardts: Das Haupt die Füß und Hände sind froh daß nun zum Ende die Arbeit kommen sei. Gerber, der sich im Besitz von Walthers Handexemplar befand, hat die Angabe reproducirt.


22 In der Mitte des vorigen Jahrhunderts zerstörte ein Brand einen großen Theil Gehrens. Alle städtischen Gebäude, welche bei dieser Gelegenheit vernichtet wurden, werden urkundlich aufgezählt; die »Stadtschreiberei« befindet sich nicht darunter.


23 Die hierher gehörigen Acten sind auf dem fürstl. Archiv zu Sondershausen.


24 Dies nach mündlicher, aber ganz zuverlässiger Tradition. Was aus der Geige später und nach Methfessels Tode (1869) geworden, weiß ich nicht.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1873.
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