IV.

In der Verfolgung der neuen musikalischen Richtung, welche etwa um das Jahr 1600 von Italien her zuerst sichtbar wurde und in Deutschland bald lebhafte Anhänger und sehr talentvolle Fortbildner fand, hatte der verheerende Krieg die Deutschen empfindlichst gestört. Zwar jene Künstler, deren Lebenswurzeln noch in die kraftvolle vorhergehende Periode hinabreichten, fuhren auch während des Krieges fort zu schaffen, ja entwickelten wohl gar in den schlimmsten Zeiten die allergrößte Thätigkeit, äußerlich zuweilen hart bedrängt, aber innerlich unversehrt. Auch was in dem ersten Decennium der Unglücksjahre geboren wurde, konnte noch aus einer wenngleich angegriffenen so doch nicht überbürdeten Volkskraft Nahrung ziehen. Allein innerhalb der letzten fünfzehn Jahre der Kriegszeit und auch noch eine Weile darüber hinaus lag das deutsche Land in völliger Erschöpfung darnieder, geistig und körperlich trat scheinbar ein Stillstand ein, und durch den ganzen Zeitraum etwa von 1650 bis 1675, in welchem die junge Saat jener Zeit schon hätte ihre Früchte tragen können, sehen wir auf musikalischem Gebiete fast nur ältere Meister thätig, keinen frischen und vollen Nachwuchs. Erst nachher hat man den Eindruck, daß auch die Kunst sich allgemeiner wieder aufrichtet und suchend und tastend ihren Weg fortsetzt.

Johann Christophs und Johann Michaels Geburtsjahre fallen genau in die genannte Periode der Ermattung. Und da ist es fast wunderbar, [40] und für ihr Geschlecht tief bedeutsam, daß die allgemeinen Zeichen der Zeit an ihnen beinahe gar nicht wahrzunehmen sind. Beide zeigen eine Tiefe und Frische der Begabung, die sie zu einer einzigen Erscheinung in ihrer Art machen dürften. Daß ein solches Unberührtbleiben von den Einflüssen der Kriegs-Drangsale, der Gräuel, der allgemeinen Entartung möglich war, ruft mit Nothwendigkeit den Rückschluß hervor auf ein Geschlecht von größter Gesundheit, auf eine Familie von tüchtigster Sittlichkeit. Eben diese muß auch die Heranwachsenden in dem ideal- und haltlosen Leben jener Tage ohne Wanken gestützt, schirmend stets umgeben und so erzogen haben, daß, als sie ins selbständige Leben entlassen wurden, sittlich und künstlerisch kein Abfall mehr möglich war. Ihre Mitgift war der ins Innere gerichtete beschauliche Sinn, der sie auf die tiefsten Regungen eines unverdorbenen Gemüths lauschen und auf die reinen Bilder einer ungetrübten Phantasie schauen ließ, und der ihr musikalisches Schaffen ebenso kennzeichnet, wie später das Sebastian Bachs. Wie Heinrich Bach in der einfachen Frömmigkeit seiner kindlichen Seele ein Stück jener geheimnißvollen Kraft hegte, welche dem zerknickten Volke zu neuem Leben verhelfen sollte, so kann man auch bei diesen beiden Persönlichkeiten sagen, daß dasjenige, was in ihnen künstlerische Gestalt gewann, als ringsumher alles todt und öde lag, das bessere Selbst der deutschen Nation war. Hierin liegt nun auch die Geschichte ihrer Werke vorgezeichnet und der Grund beschlossen, warum man späterhin ihre Compositionen so bald, und die des größten von beiden am raschesten vergaß. Als die deutsche Kunstentwickelung eine Generation hindurch stockte, waren andre Völker, zumal die Italiäner, rüstig fortgeschritten, und hatten um eben so viel früher den Gipfel erreicht. Die neugekräftigten Deutschen sahen eine Kunstblüthe vor und über sich, die sie nach deutschem Triebe sich zu eigen zu machen und für sich auszunutzen trachteten. Mit dem, was hinter ihnen lag, hatten sie die unmittelbare Fühlung verloren; so eilten sie vorwärts neuen Idealen nach. Eigen und tragisch waltet die Weltgeschichte! Damit die höchste Kunsthöhe jener Epoche von zwei deutschen Meistern erklommen werden konnte, mußte ihr Volk zeitweilig in todähnlicher Erstarrung liegen, mußten andere es überflügeln, um hernach alles errungene ihnen zur Benutzung darbieten zu können; diejenigen aber die ungeschwächt [41] in dem Siechthum aller sich behaupteten und im reinen Gefäß den köstlichsten Inhalt deutschen Wesens bargen und hegten, über sie rollt das Rad hinweg und tilgt ihre Spur, und bald fragt keiner nach ihnen mehr.

Doch nicht für immer sollen sie vergessen sein. Nicht nur als Vorfahren Sebastian Bachs haben sie für uns Bedeutung, ihr absoluter künstlerischer Werth ist groß genug, um ihnen aus eignem Verdienst einen Ehrenplatz in der Kunstgeschichte anzuweisen. Die Gleichgültigkeit hat freilich den größten Theil ihrer Werke zu Grunde gehen lassen; dies ist besonders für Michael Bach zu beklagen, dessen Stärke vorwiegend im Instrumentalen gelegen haben muß, und von allen derartigen Productionen sind nur noch geringe Trümmer übrig, während Vocal-Compositionen in etwas reichlicherer Anzahl erhalten sind, in denen schon nach der Aussage der nachfolgenden Generation Johann Christoph seine ganze Kraft entfaltet hat. Doch darf man, auch abgesehen von diesem Mißverhältnisse, aus allgemeinern Gesichtspunkten dem letztern unbedenklich das größere Talent zusprechen. Seine Werke sind von einer Bedeutsamkeit und Vollendung, die den, welcher sich mit dem damaligen, unsicher tastenden Kunstschaffen vertraut gemacht hat, befremdend berühren muß, wenn er sich nicht die eigenartige Stellung des Meisters zu seiner Zeit klar gemacht hat. Ein rastloser Fleiß und großes technisches Geschick muß sich hier mit einer tief und stark empfindenden musikalischen Natur verbunden haben, die in ihrer Einsamkeit die Ideale älterer Künstler selbständig weiter bildete, unbekümmert um Beachtung oder Nichtbeachtung der Welt, und fast noch mehr ein Vorläufer Händels als Seb. Bachs genannt zu werden verdiente, wenn nicht ein Zug schwärmerischer Innigkeit die Stammesverwandtschaft mit letzterem sprechend bewiese.

Heinrich Schütz hatte im dritten Theile seiner Symphoniae sacrae und Andreas Hammerschmidt besonders in den beiden Theilen seiner »Musikalischen Gespräche über die Evangelia« um die Mitte des Jahrhunderts eine Kunstform angebaut, welche für die Entwicklung einiger Hauptzweige der damaligen Kunst von größter Bedeutung sein und schließlich vorzugsweise im Händelschen Oratorium gipfeln sollte, wenngleich auch Seb. Bachs Kirchenmusik Nahrung aus derselben gezogen hat. Es ist dies die poetisch-musikalische [42] Gestaltung abgeschlossener biblischer Vorgänge, entstanden durch theilweise Anregung der damals in Italien sich entwickelnden dramatischen Kunstform und mit Anlehnung an die Form des sogenannten geistlichen Concerts. Die Art, das Bibelwort zu behandeln, war hier bald dramatisirend, so daß die Reden verschiedener Personen auch verschiedenen Stimmen zugetheilt wurden, bald chorisch erzählend oder auch betrachtend, wie denn zumal Hammerschmidt mit Vorliebe Strophen protestantischer Kirchenlieder einflocht. Sie wollten den betreffenden Vorgang durch die der Musik gegebenen Mittel möglichst anschaulich machen; ausdrucksvolle Declamation, charakteristisches Instrumentenspiel, besonders aber ein Streben nach Erfindung von Tongestalten, die in allgemeiner Anlage wie in besonderer Ausführung den behandelten Ereignissen musikalisch analog waren, kamen hinzu, um die Phantasie zu lebendiger Reproduction zu reizen. Da es nicht Aufgabe des Oratoriums ist, wirklich dramatisch zu sein, sondern nur, den in einer Begebenheit liegenden Stimmungsgehalt musikalisch zu entbinden, so ist es bei Schütz und Hammerschmidt principiell schon ganz so vorgebildet, wie es sich bei Händel und in der Bachschen Passion vollenden sollte. Wenn jedoch nahezu noch ein Jahrhundert verging bis zu dieser höchsten Blüthe, so liegt der Grund hiefür zu einem Theile in der erwähnten Entkräftung, welche das deutsche Volk in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts befiel. Während zu der Zeit in Italien schon ganz bedeutende oratorische Schöpfungen entstehen konnten, wie z.B. Allessandris »Santa Francesca Romana«, fanden die genannten deutschen Meister, wie es scheint, sehr wenige Talente, die auf ihren Pfaden erfolgreich weiter zu wandeln vermochten, und ganz sicher war, daß, wer es konnte, vorläufig nur für sich selbst arbeitete. Auch von Johann Christoph Bach besitzen wir nur ein einziges Werk dieser Gattung, dasselbe ragt aber dermaßen über die Leistungen seiner Vorgänger hinaus und aus der Umgebung seiner Zeit hervor, daß es allein schon seinen Schöpfer auf eine imponirende Künstlerhöhe hebt. Es ist ein Tonbild über den mystischen Kampf zwischen dem Erzengel Michael und dem Teufel, dem die Worte der Offenbarung Johannis 12, 7–12 zu Grunde gelegt sind: »Es erhob sich ein Streit im Himmel. Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen, und der Drache stritt und seine Engel, und siegeten nicht. Auch ward [43] ihre Stätte nicht mehr funden im Himmel. Und es ward ausgeworfen der große Drach, die alte Schlange, die da heißet der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführet; und ward geworfen auf die Erden und seine Engel wurden auch dahin geworfen. – Und ich hörete eine große Stimme, die sprach im Himmel: Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich und die Macht unsers Gottes seines Christus worden; weil der verworfen ist, der sie verklaget Tag und Nacht für Gott. Und sie haben ihn überwunden durch des Lammes Blut, und durch das Wort ihrer Zeugniß, und haben ihr Leben nicht geliebet bis an den Tod. Darum freuet euch, ihr Himmel und die darinnen wohnen.« Bach hat, um dieser kühnen und großartigen Schilderung gerecht zu werden, Tonmittel aufgeboten, die nicht nur für die damalige Zeit außergewöhnlich zu nennen sind: zwei fünfstimmige Chöre, zwei Violinen, vier Bratschen, Fagott, vier Trompeten, Pauken, Bass und Orgel werden verwendet. Sologesang fehlt natürlich, doch treten einige Male die Bässe choranführend heraus. Eine Sonata der Instrumente, ohne Trompeten und Pauken, leitet ein, die nach damals beliebter und an die französische Ouverture mahnender Weise auf breitgelagerte Accordgänge im geraden Takt ein imitatorisch bewegteres Zeitmaß im 3/4 Takt folgen läßt. Dann schweigen alle Instrumente; nur durch die Orgel gestützt beginnen die beiden Bässe des ersten Chors canonisch ihren mehr declamatorischen als melodischen Gesang:


4.

[44] vom 17. Takte an gesellt sich in dumpfen Viertelschlägen auf Tonika und Dominante die Pauke hinzu, vier Takte später eine Trompete mit einem wie von fern her tönenden Schlachtsignal, eine zweite antwortet, eine dritte, das Getümmel wächst an, es ist als sähe man aus allen Himmelsgegenden streitbare Schaaren heranziehen, jetzt schmettert endlich die vierte Trompete hinein, und nun prallen beide Chöre wie feindliche Heeresmassen an einander. Der Schall sämmtlicher Instrumente und der Orgel gießt sich brausend darüber her, aus dem dichtesten Haufen heraus ruft Trompetenklang in wirbelnden Sechzehntelgängen, herausfordernd und entweichend in sinnverwirrendem, rastlosem Doppelcanon. Man glaubt mit Schlachtgetöse den unermeßlichen Himmelsraum sich anfüllen zu sehen; es bildet sich eine Tonsäule, welche nahezu das ganze klingende Gebiet vom großen bis zum dreigestrichenen C harmonisch ausfüllt, und, mit einer ganz kurzen Ausnahme am Anfang, nicht weniger als sechzig Takte hindurch unbeweglich auf dem C dur-Dreiklange ruht: nur rhythmisch bewegt fluthen die kämpfenden Chöre heran und zurück, auf keiner Seite wollen die harmonischen Fugen nachgeben. Aber endlich legt sich der kriegerische Lärm und triumphirend treten die Chöre mit den Worten: »und siegeten nicht« hinüber auf die Dominante. Ein energisches, sorgfältig gestaltetes Fugato des ersten Chors schließt sich an: »auch ward ihre Stätte nicht mehr funden«; nach der Sitte dieser Zeit, der auch noch Seb. Bach treu blieb, führen die Geigen über dem Soprane den Bau selbständig bis zur Siebenstimmigkeit weiter. Von breiten Harmonien der Instrumente getragen, führt ein Bassmotiv:


4.

die Schilderung fort, der sich aber bald wieder die gesammte Chormasse bemächtigt und in allmähligem malerischen Niedersinken das Hinabstürzen des Satanas aus dem Himmel versinnlicht. Nun folgt in straffen marschartigen Rhythmen eine Siegessymphonie der Instrumente, und nach derselben folgender neue großartige Aufschwung des Chores:


4.

4.

4.

4.

[47] Die Worte der »großen Stimme« giebt der Meister mit der vollen Pracht sämmtlicher Tonmittel, wie es der oratorische Stil erfordert, welcher vor allem den vollen musikalischen Gehalt des Textes entfesseln muß, ehe er dramatisirende Rücksichten nehmen darf. Das Tonwerk breitet sich hiernach noch durch mehre Abschnitte aus, unter denen die Stelle: »und haben ihr Leben nicht geliebet bis in den Tod« durch Innigkeit und charakteristische Zeichnung besonders ergreift, und schließt mit einem jubelnden Triumphgesang der alternirenden Chöre. Auch dadurch kennzeichnet es sich als oratorienhafte Schöpfung, daß bei aller Plastik und Lebendigkeit der Schilderung [48] doch die größte modulatorische und harmonische Ruhe darin herrscht: nicht das fessellos strömende, sondern das einen festen Gegenstand umfluthende Gefühl kommt zur Aussprache; ein Umstand, der sich als principieller Unterschied auch zwischen Sebastian Bachs und Händels Werke legt. Insofern nun die meisten Kirchencomponisten am Ausgange des 17. Jahrhunderts auch in ihren rein lyrischen Chorsätzen jene harmonische Simplicität aufweisen, haben dieselben auch in diesen als Vorläufer Händels zu gelten, während Seb. Bach zu seinem Chorstile auf anderm Wege, durch das Mittel der Instrumentalmusik kam. Dem vorliegenden Werke würde vielleicht etwas größere modulatorische Mannigfaltigkeit gar nicht einmal nachtheilig geworden sein; dient das reichliche Verwenden des C dur-Dreiklangs mit den nächstverwandten Harmonien auch schildernden Zwecken, und heben sich einige überraschende Ausweichungen dann auch um so mächtiger hervor, wie die großartige Wendung vom C dur- nach dem B dur-Dreiklange über den Worten: »der die ganze Welt verführet«, so verlangt doch besonders am Schlusse das Ohr nach einem mehr aus der Tiefe hervordringenden Harmonienstrome, besonders einer energischeren Verwendung der Unter-Dominante. Aber es wäre auch die ganze Anlage des Werkes nicht so geworden, wie sie ist, hätte nicht Bach nach einem sehr bestimmt und deutlich gezeichneten Vorbilde Hammerschmidts gearbeitet. Dieser hat in seinem »Andern Theil geistlicher Gespräche über die Evangelia« Nr. XXVI (Dresden, 1656) dieselben Bibelworte für sechsstimmigen Chor mit Trompeten, Zinken und Orgel gesetzt, und der Gedanke, den Kampf in der lange fest gehaltenen Dreiklangs-Harmonie von C dur sich austoben zu lassen, hat ihn zum eigentlichen Erfinder; auch in der musikalischen Darstellung des Sturzes aus dem Himmel und in dem langaushallenden C dur des Schlusses ist die Originalität bei dem älteren Meister. Aber die Erfindungskraft und der Geist, mit welchem Bach das überlieferte Gebilde ausgestaltete, und den schlichten Carton zum großen Frescobilde umschuf, zeigt ihn seinem nicht zu unterschätzenden Vorgänger so überlegen, wie wir es ohne die Thatsache dieser Nachbildung zu erkennen gar nicht im Stande sein würden. Wir dürfen uns nicht auf die Einzelheiten einer höchst interessanten Vergleichung einlassen; doch sei daran erinnert, wie auch hier eine Analogie hervortritt zwischen Joh. [49] Christoph Bach und Händel, der gleichfalls Tonwerke, durch welche er angeregt wurde, in directer Weise weiter zu bilden keinen Anstand nahm1. Es konnte nicht fehlen, daß eine so gewaltige Tonschöpfung trotz des geringen Verständnisses, welches im allgemeinen Mit- und Nachwelt für Joh. Christoph Bach hatte, doch manchem offenen Künstlergemüthe imponirte. Georg Philipp Telemann lernte sie offenbar kennen, als er 1708–1711 Concert- und Capellmeister in Eisenach war, und versuchte in einer jedenfalls aus dieser Zeit stammenden Cantate zum Michaelisfeste einen ähnlichen Flug; allein da sein Talent für das Großartige wenig ergiebig war, so bleibt er auch hier im Alltäglichen sitzen, oder bringt es mit der krampfhaften, stimm- und chorwidrigen Gesangsbehandlung, die ihm in seinen frühern Werken eigen ist, nur zur Carricatur. Groß aber war die Bewunderung, welche der Meister in der nachlebenden Generation seines Geschlechtes fand. Sebastian Bach, der auch sonst seinem Oheim künstlerisch verpflichtet ist, hielt grade dies Chorstück besonders hoch und brachte es noch in Leipzig zur öffentlichen Aufführung. Unverkennbar ist auch die Anregung, die er aus ihm für das eigne Tonbild gleichen poetischen Gegenstandes gewann, welches den Anfang einer seiner größten Cantaten bildet2. Aber es tritt an demselben auch der durchgreifende Unterschied der Auffassung hervor: Sebastian steht überwiegend auf dem Boden der reinen Musik, und wenn vor der genialen Urkraft, die aus jenen Tönen redet, auch das Werk des Oheims zurücktreten muß, so behauptet dieses doch grade durch sein oratorisches Gepräge wiederum seine Stellung. Die Bibelworte: »Nun ist das Heil und die Kraft« u.s.w., welche bei Joh. Christoph einen Theil des Ganzen bilden, hat Sebastian einem eignen Doppelchore zu Grunde gelegt3, der nun natürlich keine Vergleichungspunkte mit des ältern Meisters Arbeit zuläßt, und überhaupt unvergleichlich ist, wie sein Schöpfer es war. – Auch Philipp Emanuel, Sebastians Sohn, verehrte den großen und »ausdrückenden« Componisten, wie er Johann Christoph bezeichnend [50] nennt4; er ist es, durch den wir erfahren, daß bei einer Aufführung jenes Chorstückes durch Sebastian Bach in Leipzig alle Welt über die Wirkung erstaunt gewesen sei5. Dies Erstaunen würde wohl heutzutage auch nicht fehlen. –

Ein Werk gleicher Gattung besitzen wir von Michael Bach nicht, doch hat sich ein Tonstück desselben mit Instrumental-Begleitung erhalten, welches rein lyrischer Art ist, und daher geradezu eine Kirchen-Cantate genannt werden kann6. Zu Grunde liegt das zweistrophige Kirchenlied: »Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ«, doch ist keinerlei Choral-Melodie für die Composition verwendet, der Componist hat vielmehr die einzelnen Verszeilen mit besonderer Beachtung des jedesmaligen Wort- und Satz-Ausdrucks für sich durchgearbeitet. Ohne sich noch auf eine specielle Würdigung der Musik einzulassen, sieht man doch schon das Unangemessene dieser Form im allgemeinen. Denn diese Behandlungsweise kann nicht da angewendet werden, wo es sich fast ausschließlich um den Ausdruck eines Grundgefühls handelt, welches stromartig das Ganze durchdringen und alle Einzelheiten überfluthen müßte. Das Stück ist halb motettenhaft, halb oratorisch; die rechte Form für solche Aufgaben war eben noch nicht gefunden, und es ist noch mancher daran gescheitert, bis Sebastian Bach die Sache klar machte. Im übrigen ist die Composition voll interessanter Einzelheiten und geistreicher Intentionen; hierin stand Michael seinem ältern Bruder kaum sehr nach, dagegen bedeutend an Sinn für große, plastische Formen. Verwendet sind vierstimmiger Chor, 2 Violinen, 3 Violen, Fagott und Orgel; zur Tonart ist G moll gewählt. Eine einleitende Sonate von 14 Takten, in welcher langsame Tonfolgen mit krausen Figurationen abwechseln, macht einen etwas zerfahrenen Eindruck. Die erste Zeile giebt zu einem Gebilde von 16 Takten Veranlassung, das mit [51] Fermate abschließt; es ist ein leidenschaftlicher Ausdruck in den Ausrufen: »ach bleib! ach bleib!«, die schon im dritten Takt nach Es dur und As dur hinüberdrängen, dann nach G moll zurücksinken, sich wieder erheben und endlich auf der Dur-Parallele ausruhen. Die Worte: »weil es nun Abend worden ist« werden von einem absteigenden, tonleiterartigen Gange getragen, der suchend und abbrechend durch die Stimmen irrt (nicht ohne einige harmonische Härten):


4.

nach 6 Takten schließt wieder eine Fermate auf der Dominante von G moll ab. Nun bringt der Sopran allein mit einem bewegten, stufenweise aufsteigenden Motive die Worte: »dein göttlich Wort das helle Licht«, darüber bauen sich imitirend zwei Geigen, deren erste allmählig bis zu der damals unerhörten Höhe des dreigestrichenen G und A sich emporschwingt, augenscheinlich um den Begriff des hellen Lichtes zu versinnlichen; einfallend schließt der ganze Chor: »laß ja bei uns auslöschen nicht«, und führt dann dasselbe Motiv eine Weile mit den Instrumenten durch, zum Ende nach G dur zurückkehrend. Die zweite Strophe ist ganz analog behandelt; der Alt singt allein die erste Zeile in chromatischen Gängen, wie sie damals zum Ausdruck von Schmerz und Kummer schon sehr beliebt waren:


4.

4.

[52] Nach zwei durch Fermaten begränzten Sätzen folgt dann ebenfalls ein freies Fugato mit dem prägnanten Thema:


4.

An der Fugirung betheiligen sich in selbständiger und geschickter Weise die beiden obersten Streichinstrumente, während an andern Stellen der Cantate, wo dieselben über den Stimmen eigne Gänge auszuführen haben, sie meist recht unbeholfen sich gebärden und durch wunderliche Sprünge fehlerhafte Stimmfortschreitungen vermeiden wollen, – ein weniger Michael Bach als der unfertigen Technik seiner Zeit zuzuschreibender Mangel. Durch häufige Benutzung der großen Sexte erhält das Fugato ein an das Dorische mahnendes Gepräge, was ihm sehr gut ansteht.

Eine ähnliche Unsicherheit in der Formbehandlung zeigt Michael Bach in der Motette. Aber auch dies müssen wir mehr auf Rechnung seiner Zeit schreiben.

Die wesentlichen Gattungs-Merkmale der Motette sind, daß sie mehrstimmig ist, keine obligaten Instrumente zuläßt, und daß ihre Töne über einen Bibelspruch oder Vers eines kirchlichen Liedes gesetzt sind. Daraus folgt, daß ihre Blüthezeit in die erste große Kunst-Periode fällt, die etwa bis 1600 sich erstreckt, wo die Musik wesentlich polyphon, vocal und kirchlich war. Mit der seitdem erfolgten Umgestaltung des polyphonen Systems in das harmonische und dem damit zusammenhängenden raschen Umsichgreifen der Instrumental-Musik, des Strebens nach leidenschaftlicherem, wortgemäßem Tonausdruck und des Einzelgesanges wurde die Motette allmählig der neutrale Boden, auf dem die verschiedensten Richtungen[53] sich ungehindert glaubten bewegen zu dürfen. Wir reden hier vorzugsweise von Deutschland, wo durch Anregung der protestantischen Kirche eine weit buntere Fülle von Formen emportrieb, als in Italien. Heinrich Schütz, sonst ein Hauptvertreter der neuen Schule, hatte in seinen Musicalia ad chorum sacrum die Anforderungen derselben mit den Grundsätzen der alten Richtung zu verschmelzen gesucht (vergl. z.B. Nr. IV: »Verleih uns Frieden gnädiglich«, und Nr. VII: »Viel werden kommen von Morgen und Abend«), aber es konnte doch nicht fehlen, daß das eigentlich polyphone Wesen immer mehr vernachlässigt wurde, und man das, was man so an innerm musikalischen Reichthum einbüßte, durch freiern Schwung der Melodie, lebendigeren Rhythmus und schärfer gewürzte Harmonien zu ersetzen suchte. Um die Anwendung derselben möglich zu machen, mußte man sich der unterstützenden Instrumente bedienen. Dann wurde man aufmerksam auf die Neuheit des so entstehenden Klangkörpers und die Möglichkeit neuer Combinationen, auch manche dem reinen Instrumentalwesen abgelauschte Erscheinungen übertrug man auf die Vocal-Musik. Viele Motetten des 17. Jahrhunderts sind ohne mitgehende Orgel oder andre Instrumente gar nicht denkbar, man sieht dies an der Führung des Basses, welcher nicht selten durch Uebersteigen des Tenors die Harmonie ganz unkenntlich machen würde, wenn nicht ein sechzehnfüßiger Orgelbass hinzukäme, man erkennt es aus dem unbekümmerten Auftreten mancher für den so sehr empfindlichen Organismus reiner Vocal-Musik unerträglichen harmonischen Fortschreitungen, die aber unter dem Rauschen der Orgel und des Orchesters überhört werden, und manche rasche Harmonienwechsel, z.B. freier Eintritt eines achtstimmigen Chores in A dur, nachdem C moll unmittelbar vorhergegangen war, sind ohne feste Stützpunkte unmöglich auszuführen. Häufig genug ist auch die Begleitung der Orgel durch Notirung eines Continuo, oder das Mitgehen andrer Instrumente angedeutet. Wo aber der Charakter einer Motette den lautern Klang menschlicher Stimmen allein zu fordern scheint, merkt man es doch deutlich, daß die Phantasie des Componisten auch mit Tongestalten erfüllt war, auf welche die innere Natur der Vocal-Musik nicht führen konnte. Die dramatisirten biblischen Darstellungen, welche Schütz und Hammerschmidt eingeführt hatten, und die von letzterem mit so großer Vorliebe gepflegte contrastirende [54] Verbindung von Choral und Bibelworten im geistlichen Concerte oder Madrigal werden von der Motette ebenfalls wiedergespiegelt. Ein vierstimmiger Chor ohne Sopran beginnt mit den Worten der Offenbarung Johannis, die man sich von Christus gesagt denken muß: »Siehe ich stehe vor der Thür und klopfe an; so jemand meine Stimme hören wird und die Thür aufthun, zu dem werde ich eingehen« u.s.w. Nachdem er neun Takte gesungen hat, stimmt als Erwiederung darauf der Sopran die Melodie des Weihnachts-Liedes »Vom Himmel hoch« an mit den Worten: »Bis willkommen, du edler Gast, den Sünder nicht verschmähet hast« u.s.w., während dessen der Chor seine Aufforderung fortsetzt. Es hat auch die Contrapunctirung einer Choral-Melodie auf der Orgel unverkennbaren Einfluß auf diese Form geübt, ja sie ist es, durch welche dieselbe allmählig erst zu künstlerischer Vollendung gedeiht, so daß hier die Instrumental-Musik das polyphone Gewebe, was um ihretwillen bei Seite gesetzt war, hundert Jahre später aus eignen Mitteln wieder herbeibringt. Aber noch complicirteren Dramatisirungen fügt sich die Motette. Eine doppelchörige Composition, die etwa um die Wende des 17. Jahrhunderts entstanden sein muß, liegt mir handschriftlich vor ohne Nennung des Componisten. Zu Anfang fragen sich die Chöre wechselsweise mit den Worten der Sulamith: »Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebet?«, dann geht der zweite Chor in den Choral über: »Hast du denn Jesu dein Angesicht gänzlich verborgen«, der erste aber führt seine Fragen daneben und zwischen den Zeilenpausen fort, in welche nach Beendigung der Choralstrophe auch der zweite wieder einstimmt. »Da ich ein wenig vorüberkam«, erzählt nun der zweite Chor, und der erste, ohne Sopran, wiederholt dies,


4.

setzt mit jauchzenden Intervallenschritten der Sopran ein, »den meine Seele liebet!« beide Chöre bemächtigen sich rasch zufassend dieses Ausrufs, führen ihn in freudig erregter Cadenz zu Ende, und wie erfüllt von seliger Gewißheit tritt der zweite Chor wieder mit der Choralstrophe auf: »Fahr hin, o Erde, du schönes, doch schnödes [55] Gebäude, fahr hin, o Wollust, du süße, doch zeitliche Freude«; der erste Chor dazu: »ich halt ihn, ich halt ihn und will ihn nicht lassen!« und so zuletzt in breiter Harmonieentfaltung beide vereint. Eine andere Motette stimmt an poetischem Gegenstand und theilweiser Anlage mit einem dramatisirten Kirchenstücke Hammerschmidts überein, und könnte wohl durch dieses angeregt sein. Es ist der Dialog zwischen dem Engel und den Hirten in der Christnacht (Hammerschmidt, musikalische Gespräche, 1. Theil, Nr. 5). Der genannte Meister läßt den Engel in Begleitung von Orgel und zwei kleinen Zinken das freudige Ereigniß von Christi Geburt verkündigen, was der Hirtenchor mit seinen Freudenausrufen unterbricht, dann erhalten die Hirten den Auftrag nach Bethlehem zu gehen, wo angekommen sie mit den Worten des Lutherliedes »Merk auf, mein Herz, und sieh dort hin« das Jesuskind bewundern, immer unterbrochen durch den ermunternden Zuruf des Engels, und mit dem Gesange »Ehre sei Gott in der Höhe« schließen. Der Motetten-Componist läßt den staunenden Hirtenchor beginnen: »Ach Gott, was für ein heller Glanz er schreckt uns arme Hirten ganz«, dazwischen tritt die helle Sopranstimme des Engels: »fürchtet euch nicht«, und fährt fort mit anschließendem, nun lebhaft an Hammerschmidt erinnerndem Jubelrufe des Chors:


4.

Engel und Chor alterniren noch eine Weile mit einander, und vereinigen sich dann in einem lebhaften Fugato: »die allem Volk widerfahren wird«, bis mit einem arienhaften 3/4 Takt: »Denn euch ist heute der Heiland geboren« abgeschlossen wird. Daß dem Chor im Verlauf ganz unbekümmert und unverändert die Worte des Engels in den Mund gelegt werden, ist oratorisch stilgemäß, da es nur darauf ankommt, die Begebenheit in den äußersten Umrissen anzudeuten,[56] dann tritt sofort die Musik in ihr uneingeschränktes Recht7. – Endlich bemächtigt sich die Motette auch des Chorals in der Weise, daß sie die Melodie der einzelnen Zeilen auseinanderdehnt, zwischen verschiedenen Chören und Stimmen vertheilt oder wiederholt, einzelne Glieder variationenhaft umspielt oder zu kleinen Imitationen benutzt und so Schritt vor Schritt das Ganze durchnimmt. Hammerschmidt hat im »Vierten Theil musikalischer Andachten geistlicher Motetten und Concerte« (Freiberg, Georg Beuther, 1646) unter Nr. XXII die letzte Strophe des Liedes »Wie schön leucht't uns der Morgenstern« in dieser Weise doppelchörig und zwar vortrefflich behandelt; durch Beigabe eines bezifferten Continuo, welcher sich streng der tiefsten Stimme anschließt, ist das Mitgehen der Orgel ausdrücklich gestattet. Die ersten beiden Zeilen trägt zunächst der erste, höhere Chor vor (3/1 Takt), die zweite schon imitatorisch um einen Takt verlängert, der andere, aus tiefern Stimmen bestehende, nimmt sie auf, reckt aber die zweite Zeile aus den ursprünglichen vier Takten durch Imitationen zu achten aus einander; dann werfen die Chöre die erste Zeile mehre Male einander zu, indem sie in andre Tonarten ausweichen, wiederholen die zweite und vereinigen sich achtstimmig und abschließend auf der dritten. Der ganze Abschnitt wird, genau wie im Kirchenliede, repetirt. Dann hebt der zweite Abschnitt mit den Worten an: »Amen, Amen! Komm, du schöne Freudenkrone« u.s.w., noch reicher und lebendiger gestaltet, und mit breiter Pracht über der letzten Zeile einherfluthend in kunstreicher und wirkungsvoller achtstimmiger Führung, wie sie von der Mitte des Jahrhunderts an bei den deutschen Componisten immer seltener wird8. Fügen wir nun noch an, daß die Componisten zuweilen [57] auch eine mehrstimmige geistliche Arie der Motette als Schlußsatz anhängten, ja daß selbst Hammerschmidt einmal eine Sammlung von ein- und zweistimmigen Gesängen mit Begleitung Motetten nannte, so wird unser Ausspruch von einem Tummelplatze der verschiedenartigsten Richtungen begründet erscheinen. Dadurch war aber die Form der Motette eine sehr unsichere geworden, und als im Anfange des 18. Jahrhunderts sich die Begriffe von Oper, Oratorium, Kirchen-Cantate feststellten und die Orgelkunst zur vollen Entwicklung gekommen war, verloren sich ihre Gattungsmerkmale fast ganz. Sie fristete ein phrasenhaftes Scheinleben, aufgeputzt durch weitere Anleihen bei der Instrumentalmusik und Kirchen-Cantate, floß auch zuweilen ganz mit der geistlichen Arie zusammen. Hätten die Componisten noch etwas mit dieser Form zu machen verstanden, so war dazu grade in Thüringen Gelegenheit, wo die Chöre der Currente-Sänger eine Lebensfähigkeit bis in unser Jahrhundert bewiesen haben und wo man die eigentliche Pflegstätte der Motette auch dann noch zu finden glaubte, als der musikalische Vorwitz sie schon als einen überwundenen Standpunkt verspotten zu dürfen wähnte9. Hier wurde auch der selbständige zwei- und dreistimmige Sologesang in die Motette eingeführt. Aber ihre Zeit war gewesen. Nur Sebastian Bach brachte noch etwas ganz eignes und gewaltiges in dieser Gattung hervor, jedoch kann man die volle Großartigkeit seiner Motetten nur mit Instrumental- besonders Orgel-Begleitung würdigen; ohne eine solche erscheinen sie nur bei einer ganz virtuosenhaften Ausführung nicht stilwidrig.

Von den Motetten Michael Bachs waren zwölf zusammen zu bringen. Vieles, was sein Großneffe Philipp Emanuel noch an mehr- und einstimmigen geistlichen Arien besaß, ist bis jetzt nicht wieder ans Licht gekommen, dagegen ließen sich fünf Stücke finden, die Philipp Emanuel fremd waren10. Von ihnen sind nur zwei ohne [58] Choral. Die eine: »Sei nun wieder zufrieden, meine Seele« (A moll 4.) ist doppelchörig mit Orgelbegleitung11, und gehört zu den weniger gelungenen Werken des Tonsetzers. Eine Anzahl geistvoller Einzelheiten kann nicht täuschen über die musikalische Planlosigkeit und Unruhe des Ganzen, und nicht entschädigen für die Eintönigkeit einer consequent festgehaltenen Homophonie. Bach ist seinem Texte Satz für Satz nachgegangen. Dies Verfahren war bei der polyphonen Compositionsweise früherer Jahrhunderte erträglich, wo die kunstvolle Verschlingung selbständiger oder einander nachahmender Stimmen die Kunstforderung der Einheit in der Mannigfaltigkeit mehr im Nebeneinander, als im Nacheinander befriedigte. Je homophoner aber eine Composition wird, desto mehr muß sie durch Ebenmaß in Ausdehnung der Tongruppen und Bedachtsein auf den innern Zusammenhang der Tonarten dem nach Verbindung und Harmonie der Perioden verlangenden Gefühle entgegenkommen, zumal bei einem rein lyrischen Inhalte wie der vorliegende. Die Zerfahrenheit des Baues verdirbt natürlich auch die edle, ergebne Grundstimmung, welche der Componist dem Ganzen offenbar hat geben wollen. Ueber dieselben Worte hat Hammerschmidt (vierter Theil musikalischer Andachten Nr. IV) ein viel kunstgerechteres Gebilde zu schaffen gewußt, an dessen Schluß Bach einmal erinnert, und das ihm sicherlich auch bekannt war. – Eine zweite, sechsstimmige Motette in D dur 4. ist zum Neujahrsfeste bestimmt. Die Handschrift, welche sie uns aufbewahrt hat, trägt die Notiz, daß die Stimmen dazu in [59] Es dur geschrieben seien12. Daraus geht hervor, was auch der Charakter des Stücks an sich wahrscheinlich macht, daß sowohl Orgel als begleitende Instrumente, vermuthlich Geigen, mitspielten. Die Orgel differirte um einen halben Ton mit der Stimmung der Instrumente, so daß ihr D dur hier Es dur war. Für den Chor war es natürlich gleichgültig, wie die Stimmen aufgezeichnet waren, da ihm die Tonhöhe, nach welcher er seinen Einsatz bemaß, doch von außen her gegeben wurde, nicht aber für die Instrumente, welche nach damaliger Sitte zugleich mit aus den Stimmblättern der Sänger spielten. Die Construction dieser, von hellem Festglanz durchleuchteten Motette ist einheitlicher. Sie zählt 74 Takte und zerfällt in zwei Hauptabschnitte, deren letzter wiederholt wird und schon dadurch ein Gefühl der Abrundung hervorruft. Contrapunctische Combinationen werden auch hier nicht entfaltet, dagegen sind mit Vorliebe einige hübsche Klangwirkungen angewendet, zunächst der Contrast der hellen nur von einem Tenor unterstützten Sopranstimmen gegen die gesättigte Farbe eines tiefen vierstimmigen Klangkörpers, dann eine wie Harfenaccorde anmuthende und wohl erst durch Mitwirkung der Streichinstrumente zur ganzen Geltung gebrachte Bewegung der obern Stimmen, zu denen tiefere in jubelnden Sechzehntelgängen sich ergehen:


4.

[60] Der am Schluß auftretende echomäßige Wechsel von forte und piano, ein in den damaligen Motetten übrigens sehr häufiger Effect, verräth die Einwirkung des Orgelstils; durch die Natur der menschlichen Stimme, welche der größten Mannigfaltigkeit von Schattirungen fähig ist, wird er nicht begründet.

Entwickelter sind die zehn mit Chorälen verflochtenen Motetten. Da begegnet uns zunächst ein fünfstimmiges Stück mit Orgel über die Worte aus Hiob: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt«, wozu nachher im Sopran der Choral tritt: »Christus der ist mein Leben«13. Für diese Gedanken hat Bach ergreifende Töne zu finden gewußt. Die vier tieferen Stimmen haben die ersten 16 Takte des nur 41 Takte im ganzen zählenden Satzes (G dur 4.) allein das Wort, der melodieführende Alt überrascht durch schwärmerisch-innigen Ausdruck, dessen freie Subjectivität dadurch erhöht wird, daß statt zwei Perioden von je zwei Takten, wie sie eine natürlich-einfache Declamation ergeben haben würde, hier drei und drei Takte einander gegenübergestellt sind. Der zu den Worten »und er wird mich hernach aus der Erden wieder auferwecken« so tief empfunden aufsteigende und sich wieder absenkende Gang erinnert an das Schönste, was aus Johann Christophs, des ältern Bruders, Phantasie geflossen ist. Mit dem 17. Takte tritt fast unvermerkt der Choral ein und bewegt sich in halben Noten ruhig über den bewegteren Unterstimmen hin, welche sich besonders in den Pausen mit den Worten »denselben werde ich mir sehen« mehre Male sehnsüchtig erheben. Eine von Michael Bach sehr geliebte harmonische Combination, der Terzquartsext-Accord mit vorgehaltener und sich zögernd auflösender Quarte, kommt hier einige Male zu eindringlicher Verwendung. Von allseitiger Vollendung ist freilich auch dieses Stück noch ziemlich weit entfernt. Den Mittelstimmen fehlt die auch für die homophone Schreibweise unerläßliche melodische Führung, die Tenöre erinnern an die beiden Bratschen in dem damals beliebten fünfstimmigen Geigensatze, welche nur da sind, um die Accorde zu vervollständigen. Unbeholfen [61] ist es, wenn eine Stimme, um einer falschen Fortschreitung auszuweichen, plötzlich einen Vierteltakt pausirt (s. Takt 23): die bemerkte Absicht verstimmt hier um so mehr. Dabei fehlt es doch nicht an Unreinheiten des Satzes; die Quintenfolge Takt 37 zwischen Bass und Tenor II. kann freilich leicht geändert werden, allein derartiges kommt zu oft vor auch bei andern und zwar den angesehensten Componisten der Zeit, z.B. Pachelbel und Erlebach14, als daß zu vermuthen wäre, sie rühre nicht vom Künstler selbst her. Einen Hauptgrund für solche Licenzen haben wir oben angegeben; die nachfolgende Generation befliß sich freilich wieder größerer Strenge, allein bei Entfaltung großer vocaler und instrumentaler Massen waren selbst Händel und Bach mitunter gegen sich nachsichtig. Ein andrer wesentlicher Mangel besteht darin, daß der musikalische Contrast zwischen dem vierstimmigen über die Bibelworte gesetzten Gesange und der Choral-Melodie zu wenig gewahrt ist. Sowie beide Factoren zusammentreten, bleibt ein Gegensatz fast nur in den verschiedenartigen Wortverbindungen erkennbar, die natürlich verschiedene Rhythmisirung fordern, übrigens bilden die Unterstimmen eigentlich nichts als die dürftige accordliche Grundlage für den Choral. Man könnte meinen, es habe dem Künstler vorzugsweise an der poetischen Zweiheit gelegen, die ja allerdings auch schon durch die einfachste Zusammenführung die Stimmung sehr vertiefen kann, indem das am Bibelwort entzündete individuelle Gefühl mit dem kirchlichen Gemeingefühl zusammenströmt. Allein ganz sicher ist diese Annahme nicht; denn wenn auch grade poetische Contraste zur Zeit sehr beliebt waren, so konnte doch die damalige musikalische Technik solche Aufgaben kaum besser lösen. Die contrapunctische Geschicklichkeit war bei den Deutschen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts durchschnittlich eine geringe, und es ist ein merkwürdiger Irrthum, wenn man die Componisten vor Bach und Händel in gelehrte Künsteleien versunken sich vorstellt, welchen jene beiden Meister erst das wirkliche Leben eingeblasen hätten. In dieser Hinsicht war wenig von ihnen zu lernen. Anders verhielt [62] sich die Sache in Italien, wo die Traditionen der großen Vocal-Meister des 16. Jahrhunderts niemals abrissen, der Uebergang ins neue Tonsystem sehr allmählig erfolgte, und die Bedürfnisse des Cultus wie die Neigung der Nation die unausgesetzte Beschäftigung mit breiten, kunstreichen Vocal-Formen nicht erschlaffen ließ bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus. Händel legte den Grund zu seiner contrapunctischen Meisterschaft vor allem hier, Bach gewann sie durch die schon bemerklich aufblühende, aber von ihm zur höchsten Reife gezeitigte Orgelkunst, deren Resultate er dann auf die mit Instrumenten verschmolzene Vocal-Musik übertrug. Wenn schon Johann Christoph Bach in der Choral-Motette etwas ganz vortreffliches leistete, wie wir bald sehen werden, so bezeugt dies eben nur sein alle überragendes Talent. Unter einer sehr reichen Auswahl gleichzeitiger derartiger Compositionen, welche mir vorliegen, ist nicht eine einzige, die es in contrapunctischer Behandlung Michael Bach zuvorthäte, wie denn auch all die übrigen zu rügenden Mängel nicht etwa ihm allein anhaften. Aber der ergreifende Ausdruck, der auch jetzt noch der letztgenannten Motette eine volle Wirkung sichert, gehört ihm eigen. Er war noch kein ganzer Meister, aber ein tief empfindendes, erhabner Ahnungen volles Künstler-Gemüth15.

Reichlicheres Lob noch verdient die Motette: »Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, machet uns rein von allen Sünden« mit Choralvers: »Dein Blut der edle Saft« aus Johann Heermanns Lied: »Wo soll ich fliehen hin«, fünfstimmig (F dur 4., 83 Takte) in gleicher Anlage, wie die vorige16. Der Chor der vier tiefern Stimmen ist weniger syllabirend, contrapunctisch reicher, in den einzelnen Stimmen melodisch fließender; gegen das Ende gesteigerte Erregtheit, [63] und Wiederholen der beiden letzten Choralzeilen, wodurch das Ganze befriedigend gekrönt und abgerundet wird. Motivische Entwicklung, welche dem Chor eine Einheit in sich gäbe, ist freilich auch hier spärlich: der Organismus des Ganzen ist noch nicht zu vollem Leben erwacht. Aber die tiefe Innigkeit der Composition bezwingt doch mit unwiderstehlicher Kraft, über der hindurchleuchtenden schönen Seele vergißt man leicht die Gebrechen des Körpers.

Ein Zeugniß von sinniger künstlerischer Ueberlegung bietet ein über die viel componirten, auch von Wolfgang Briegel zu einer sehr schönen Motette verwendeten, Worte gesetztes fünfstimmiges Tonstück: »Herr, wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde« (B dur 3/4, 125 Takte)17. Zu diesem und dem nachfolgenden Psalmenverse hat Bach fünf Strophen des Kirchenliedes »Ach Gott, wie manches Herzeleid« in der Weise der vorigen Motetten gefügt, und zwar in solcher Auswahl, daß im Verlaufe des Stückes mehr und mehr der poetische wie musikalische Gegensatz zwischen der Ober- und den unteren Stimmen verschwindet, und am Schluß alle sich endlich in die letzte Choralstrophe vereinigen: »Erhalt mein Herz im Glauben rein«. Die vorhergehenden Strophen sind in dieser Reihenfolge geordnet: 13, 5, 6, 15. Der vierstimmige Chor ist zuerst nach Kräften selbständig, energisch declamirend, mit verschiedenen melodischen Wendungen geziert, in einigen höchst ausdrucksvollen Verschlingungen der Mittelstimmen schon jenen ekstatischen Zug andeutend, der in den Choralgesängen Sebastian Bachs oft so überwältigend hervorbricht; auch einige motivische Ausführungen werden versucht. Mit Takt 56 ändert sich die Sache. Es treten die Psalmenworte auf: »wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Theil«; dazu kommt die einfache Paraphrase des Kirchenlieds: »Ob mir gleich Leib und Seel verschmacht, so weißt du, Herr, daß ichs nicht acht« u.s.w. Schon sechs Takte vor dem Einsatz des Chorals beginnen [64] die andern Stimmen den ersten Takt desselben thematisch und wie praeludirend durchzuarbeiten,


4.

und fahren auch nachher noch mit Imitationen fort. Ein gleiches findet vor dem Eintritt der nun folgenden 15. Strophe statt, dann verschmilzt der Alt in seiner Bewegung sich schon ganz mit dem Choral18, die rhythmische Einheit wird immer größer, bis endlich das Bibelwort ganz verstummt, alles die letzte Gesangstrophe in freudig-beschleunigtem Zeitmaße anstimmt, und so die subjective Empfindung in das allgemeinere Gefühl des Kirchenliedes vollständig einmündet. Hier erfassen wir einen ganz deutlichen Keim Sebastian Bachschen Geistes, ein Vorzeichen von dessen unerschöpflicher Kunst im poetischen Verwenden des Chorals. Die vorbereitenden Imitationen aber des ersten Takts der Melodie sind genau so, wie in Michael Bachs Choral-Bearbeitungen für die Orgel; er hat die dort geübte Praxis bei einem passenden poetischen Anlasse auf die Vocal-Musik übertragen.

Vier doppelchörige Motetten entwickeln sich aus dem mit gleichvertheilten Kräften dargestellten Gegensatze von Choral und Schriftwort. Zwei von ihnen stimmen bis ins Einzelste der Anlage, die dritte mit diesen in allem wesentlichen überein (alle drei E moll 4.). Der tiefere vierstimmige Chor hebt homophon mit dem Bibelspruche an, dann tritt der Choral ein, in dessen Zeilenzwischenräume der zweite Chor immer wieder hineinfällt. So geht es durch zwei Strophen [65] weiter, und zur dritten vereinigen sich beide Chöre in fünf- bis siebenstimmiger Harmonie, aber in der Weise, daß der tiefere die letzten Töne der Zeile nachhallend wiederholt. Die poetische Combination besteht das eine Mal aus Hörnigks Liede: »Mein Wallfahrt ich vollendet hab«, Strophe 1, 3, 6, und den neutestamentlichen Worten: »Dem Menschen ist gesetzt einmal zu sterben, darnach aber das Gericht. Der Tod ist der Sünden Sold, aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Christo Jesu, unserm Herrn«; das andre Mal aus Strophe 1, 4, 5 von Johann Francks »Jesu meine Freude« und den Sprüchen: »Halte, was du hast, daß Niemand deine Krone nehme, und sei getreu bis in den Tod, so wirst du empfahen ein herrliches Reich und eine schöne Krone von der Hand des Herren«; das dritte Mal endlich aus der 1., 6., 5. Strophe des Flitnerschen Liedes »Ach was soll ich Sünder machen« und den Schriftstellen: »Herr, du lässest mich erfahren viel und große Angst und machest mich wieder lebendig. Der Herr verstößt nicht ewiglich, sondern er betrübet wohl und erbarmet sich wieder nach seiner großen Güte.« Etwas anders ist die vierte beschaffen (C dur 4., 115 Takte). Auch sie hat den erwähnten Gegensatz zum Motiv, aber es wird nur eine Strophe verwendet und späterhin der erste Chor zur Theilnahme an den freierfundenen Gängen des zweiten herbeigezogen, so daß hier, als seltene Ausnahme, die Empfindung vom Kirchlichen in das allgemein Religiöse, vom Objectiven ins Subjective hinübergeführt wird. Und darauf hin ist auch die Stimmung vom Beginne her angelegt. Der rührend schöne Sterbechoral: »Ach wie sehnlich wart ich der Zeit, wenn du, Herr, kommen wirst«, hat es vielleicht nur seines ganz subjectiven Gepräges wegen zu keiner weiteren Verbreitung im Gemeindegesange gebracht. Michael Bach harmonisirt ihn in schlichter, kindlicher, aber unbeschreiblich ergreifender Weise. In der letzten Strophe bricht das persönliche Gefühl in dem todessehnsüchtig wiederholten Seufzer »O komm! o komm! o komm und hole mich!« siegreich durch. Und nun steigern und überbieten sich beide Chöre in den Ausrufen »Herr, ich warte auf dein Heil« und kehren endlich zu der letzten Liedzeile zurück, um in seligem Frieden hinzusterben. Unter allen Motetten Michael Bachs möchte diese die vollendetste sein19.

[66] Ungefähr den umgekehrten Entwicklungsgang nimmt eine andre doppelchörige Motette, weihnachtlichen Inhalts (G dur 4., 73 Takte). Die Chöre concertiren mit den Worten des Engels »Fürchtet euch nicht; siehe, ich verkündige euch große Freude« u.s.w. Nachher vereinigen sich alle Alte, Tenöre und Bässe zu einem geheimnißvoller klingenden vier- oder fünfstimmigen Satze: »Denn euch ist heute der Heiland geboren«, in den endlich, wie hellen Lichtglanz, die Soprane den Choral »Gelobet seist du, Jesu Christ« hineinsenken. Um ihn schaaren sich nun in frischer, wenngleich nicht weitsichtiger Contrapunctirung die andern Stimmen20.

Durch Zerdehnung und Umspielung einer ganzen Choralstrophe mittelst der vollen Chormasse ist die doppelchörige Motette gebildet: »Nun hab ich überwunden« (G dur 4., 92 Takte)21. Daß der Componist Hammerschmidts oben erwähnte Arbeit über »Wie schön leucht't uns der Morgenstern« gekannt, und sich wohl auch als Vorbild gesetzt habe, ist aus äußern und innern Gründen wahrscheinlich. Hammerschmidts Werke waren sehr verbreitet und, wie schon gesagt, auch in der Chorbibliothek der arnstädtischen Oberkirche vorhanden. Grade dieses Stück trägt außer andern in die Continuo-Stimme mit rother Farbe sorgfältig eingemalten Directions-Bemerkungen auch daran noch die Spuren genauen Studiums, daß die Takte gezählt sind und ihre Summe am Schlusse verzeichnet ist. Im Bau zeigt Bachs Motette besonders durch die wechselseitige Aufnahme der immer in andre Tonarten hinübergeführten Choralverse zwischen den beiden Chören Verwandtschaft mit dem Werke des älteren Meisters; dagegen ist der Schluß ganz abweichend. Wieder ist es die schöne Melodie des Melchior Vulpius zu dem nicht minder innigen Liede: »Christus der ist mein Leben«, welche sich hier Bach mit der dritten [67] Strophe dieses Liedes zur Bearbeitung gewählt hat; das Stück gehört im ganzen und einzelnen zu dem Besten, was von dem talentvollen Tonsetzer erhalten blieb. An der Declamation des Anfangs: Chor I »Nun!« Chor II »Nun«, Chor I »Nun, nun, nun, nun!« Chor II desgleichen, möchte allerdings wohl mancher Anstoß nehmen; diese einzelnen Ausrufe sollen mehr das musikalische Interesse spannen, als den Wortsinn hervorheben, und die damaligen Componisten liebten es sehr, ihre Motetten in dieser Weise zu beginnen22. Eine selige Zuversicht spricht aus den Tönen, die sich zeitweilig zum freudigsten Kampfesmuth steigert, besonders in den energisch abgebrochenen Rufen: »Kreuz! Kreuz, Leiden! Kreuz, Leiden, Angst und Noth!«; man wird an die kühnen Herausforderungen erinnert im fünften Satze von Sebastian Bachs Motette: »Jesu meine Freude!« Wenn die ganze Strophe durchgenommen ist, zieht sich der Doppelchor zum einfachen zusammen, und bringt nun die Melodie als Cantus firmus im Sopran mit ganzen Noten; die andern Stimmen contrapunctiren in künstlicherer Weise, als man es sonst bei Michael Bach gewohnt ist, der Contrapunct zur ersten Zeile ist sogar durch vierfache Verkleinerung der Melodie selbst entwickelt, auch im weiteren wird die Bildung wirklicher Motive versucht, die einander nachahmen.

Es bleibt noch eine letzte, höchst merkwürdige Arbeit zu erwähnen, von allen die äußerlich längste und innerlich mannigfaltigste23. Auch sie ist doppelchörig, aber es sind sechs Stimmen (2 Soprane, Alt, 2 Tenöre, Bass) und drei Stimmen (Alt, Tenor, Bass) einander gegenübergestellt. Der sechsstimmige Chor hebt in C moll 4. von dem Ausspruche: »Unser Leben ist ein Schatten auf Erden« ernst und schwer die ersten beiden Worte an. Nach sechs Takten aber beginnt plötzlich eine unheimliche Hast der Stimmen sich zu bemächtigen: mit einer flüchtigen Figur gleitet der erste Sopran aufwärts:


4.

[68] – Pause, nur gezogene Klagetöne im Alt – dann wieder das unstete Tonbild; nun huscht es gespenstig in einer Mittelstimme dahin – man glaubt wesenlose Wolkenschatten über eine Bergeshalde eilen zu sehen. Da beginnt der ganze Stimmenchor einen irren Wirbeltanz, erst Achtel, dann Sechzehntel und Achtel gemischt, wie wenn der Herbstwind die dürren Blätter emporwirbelt: jetzt tanzen sie ganz in der Höhe, nun tiefer am Boden, dann wieder hoch; dann stockt alles und Grabesklänge tönen dazwischen, wieder gleitet jene geisterhafte Figur vorbei, und wiederum die düstern Traueraccorde.


4.

4.

[69] Wer ahnt in diesem phantastischen Bilde nicht Sebastian Bachs romantischen Geist? – Nun tritt zum ersten Male der andere Chor ein mit der vierten und fünften Strophe des Chorals: »Ach was soll ich Sünder machen«, dessen ruhiger Fluß zweimal von der Zustimmung des ersten Chores unterbrochen wird und dessen psychologisches Resultat in den Worten gipfelt: »und weiß, daß im finstern Grabe Jesus ist mein helles Licht, meinen Jesum laß ich nicht.« Wie zur Bekräftigung dieses Vertrauens ertönen dann im ersten Chore dreistimmig Christi Worte selbst: »Ich bin die Auferstehung und das Leben« in 27 Takten durchgeführt, und ihm entgegnend antwortet der zweite Chor zuversichtlich: »Weil du vom Tod erstanden bist, werd ich im Grab nicht bleiben«, mit Bestätigung unterbrochen vom sechsstimmigen ersten. Wer aber glauben wollte, daß mit dieser befriedigenden Entwicklung die Motette schlösse, würde irren. Zu tief lebte in dem Tonsetzer das düstre Bild allgemeiner menschlicher Hinfälligkeit. So stimmt er denn von neuem in vollen Harmonien den ergreifenden Choral an: »Ach wie nichtig, ach wie flüchtig ist der Menschen Leben!« Und nun kommt ein wunderbarer Schluß:


Ach Herr, lehr uns bedenken wohl,

Daß wir sind sterblich allzumal,

Auch wir allhier keins Bleibens han,

Müssen alle davon,

Gelehrt, reich, jung, alt oder schön.


Die schwermüthige Melodie führen zwei hochliegende Soprane in Terzen, denen die tiefern Stimmen nachfolgen, und bleiben in dieser schrillen, Mark und Bein durchdringenden Weise drei Zeilen hindurch; mit der vierten fährt schaurige Hast in die Massen, sie drängen [70] sich ängstlich zusammen, wie die Schaaren am Ufer des Acheron – »davon! davon!« murmelt es durch die Reihen, »davon!« klingt es aus der Tiefe, »davon!« hallen im Dunkel verschwindend die beiden Soprane nach. –

Wie fast immer, bleibt auch in dieser Motette Michael Bach in der Ausführung hinter seinen Intentionen nicht selten zurück. Ein andrer seines Geschlechts sollte nach ihm vollenden, was er oft nur undeutlich schaute; doch würde ihm selbst vielleicht noch eine höhere Meisterschaft beschieden sein, wenn er nicht in der Blüthe seines Lebens dem allgemeinen Verhängniß anheim gefallen wäre, dessen Tragik er so tief künstlerisch empfand. Noch aber ist das an dieser Composition sehr merkenswerth, daß sie schon fast ganz auf dem Boden der Kirchen-Cantate steht, sowie umgekehrt desselben Künstlers einzig erhaltene Kirchen-Cantate das Wesen der Motette an sich trägt. Die Kirchen-Cantate entwickelte sich in der That aus einer Zusammensetzung verschiedener Bibelsprüche mit Strophen von kirchlichen oder geistlichen Liedern. Bis zum Jahre 1700 war diese Form die allein herrschende, und es wird später ausführlich erörtert werden, was darin geleistet wurde, bis Sebastian Bach sie zur größten Vollkommenheit entwickelte. Erst nach dem genannten Zeitpunkte fing man an, das Recitativ und die italiänische Arie hineinzuziehen, und wie auch die so bereicherte Cantate Sebastian Bach ihre großartigste Ausbildung verdankt, ist bekannt. Sehr deutlich erkennen wir grade bei Michael Bach, wie die verschiedenartigsten Keime in der Musik der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts neben einander lagen, die bald nach ihren selbständigen Richtungen hin emportreiben sollten. Er war eine von den Erscheinungen, die als Vorboten neuer Kunststadien aufzutreten pflegen, um die etwas schwebt wie Lenzesluft, und die, was sie noch nicht bieten, ersetzen durch das, was sie ahnen lassen.

Dagegen hat der ältere Bruder, Johann Christoph Bach, dem wir schon in der concertirenden Chor- Musik die volle Meisterschaft zuerkennen mußten, auch in der Motette eine Reihe von Grattungsmustern hinterlassen. So wahr eine bedingungslose Vollendung menschenunmöglich ist, so sicher läßt sich die bedingte Meisterschaft daran messen, ob jemand die Summe von Kunst-Ideen und -Werkzeugen, welche das Bedürfniß seiner Zeit geschaffen hat, seinen eignen [71] Kunstideen vollständig zu assimiliren und mit den ewig gültigen Kunstforderungen zu vereinigen vermag. Bei der Motette kam es darauf an, eine Menge gegensätzlicher Momente zur höhern Einheit aufzulösen. Es galt, die instrumentalen Errungenschaften zu verwerthen, aber so zurückhaltend, daß nur ein temperirender Schimmer von ihnen auf die reine Fläche des Vocalkörpers fiel, es galt, sich zum harmonischen Tonsystem zu bekennen, aber mit stetem Bedacht, daß die Form der Motette eigentlich im polyphonen System vergangener Jahrhunderte wurzle, es galt, die Bewegung der Accord-Massen auf den Leitstern der darüber schwebenden Melodie in jedem Augenblicke zu beziehen und doch nicht zu vergessen, daß Stimmen Individuen sind mit der Berechtigung eines selbständigen Ganges. Den musikalischen Plan galt es aufzustellen, welcher mit einer nur vom Gefühl zu prüfenden Logik die einander ablösenden Theile zum vernunftgemäßen Ganzen verwebt, dabei aber dennoch den gedankenmäßigen Forderungen der mitwirkenden Poesie nicht ins Gesicht zu schlagen. Und vor allem war es die Aufgabe, jener subjectiven Wärme und Innigkeit, welche die künstlerische Signatur der Zeit bildet und in der geistlichen Dichtung rührend, wenngleich wenig kräftig hervortrat, auf ihrem eigensten Gebiete den gebührenden Platz zu erobern, ohne doch jene feine und nach den Verhältnissen so flüssige Linie zu überschreiten, welche das individuell Empfundene von dem allgemein Verständlichen absperrt. Alles dies sind Forderungen, die für eine kirchliche Vocal-Composition noch heute in gleichem Umfange gültig sind, damals aber neu waren, und wenn ihre Erfüllung heutzutage theilweise noch schwerer erscheint, da das musikalische Material gewaltig angewachsen ist, und sehr wenigen es gelingt, sich auf so beschränktem Gebiete künstlerisch frei zu bewegen, so ist sie leichter doch wieder nach den Seiten hin, wo sich eine Fülle von Erfahrungen hat sammeln lassen. Daß aber Johann Christoph Bach seine Aufgabe ganz gelöst hat, daran dürfte wohl kein Einsichtiger zweifeln: scheint es uns doch, als könnten seine Motetten gestern componirt worden sein. Er verhält sich hier zu seinem Vorgänger Hammerschmidt ebenso wie in der oratorischen Compositionsgattung, und wie dieser seinerseits sich zu Schütz verhält. Keiner von ihnen wäre ohne seinen Vordermann geworden was er ist, und jeder hat über die Leistungen des andern einen Schritt hinaus gethan, so nämlich, [72] daß in der Motette Johann Christoph Bach den natürlichen Gipfelpunkt erreicht zu haben scheint, den auch Sebastian nur durch einen künstlichen Thurmbau noch zu überragen vermochte, während das Oratorium, die Passion und die Kirchen-Cantate erst eine Generation später ihre Vollendung fanden, dennoch aber Erscheinungen, wie diesen Eisenacher Meister, in ihrer Art zur Voraussetzung haben. Wenn man den großen Künstler nur wenig beachtete und rasch vergaß, so erklärt sich dies daraus, daß die Form der Motette nicht das höchste Kunstziel war, dem der Zeitgeist rasch und mit glücklichem Gelingen nachstrebte. Sie konnte es nicht sein, da sie auf so vielfältigen Compromissen beruhte. Das darf aber die geschichtliche Forschung nicht hindern, ihm den gebührenden Platz in der Kunstentwicklung anzuweisen, den Untergang des größten Theils seiner Compositionen zu beklagen und das wenige Erhaltene als ein echtes Denkmal vaterländischer Kunst in das rechte Licht zu stellen.

In der häufig erwähnten musikalischen Hinterlassenschaft von Sebastian Bachs zweitem Sohne waren sieben Werke von Joh. Christoph Bach vorhanden, oder, da man ein unbekanntes mit ziemlicher Sicherheit ihm ebenfalls zuschreiben kann, acht24. Von ihnen sind vier bis jetzt verloren, hoffentlich nicht für immer25; fünf andre sind auf andrem Wege erhalten und bekannt geworden. Nach Abzug der schon besprochenen oratorischen Composition bleiben acht Motetten übrig, ein noch geringerer Gesammt-Bestand, als bei Johann Michael. Freilich das innere Gewicht ist ein ganz anderes.

Zuerst sind zwei kleinere und einfache Motetten zu betrachten, beide fünfstimmig und aus einem mäßig langen Chor mit einer nachfolgenden mehrstrophigen Arie bestehend26. Der einen liegt als [73] Bibeltext zu Grunde: »Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt eine kurze Zeit, und ist voller Unruhe« (Hiob 14, 1 und 2), sie gehört in denselben Vorstellungskreis wie Michael Bachs: »Unser Leben ist ein Schatten«, ist weniger phantastisch freilich, aber doch tief stimmungsvoll. Ein müder, trauriger Zug geht durch den 22 Takte langen ersten Abschnitt. Dies der Anfang:


4.

4.

Auf den eigentlichen Motettensatz folgt eine fünfstimmige Arie desselben Charakters, aber von ausdrucksvoller Melodik, deren erste Strophe lautet:


Ach wie nichtig,

Ach wie flüchtig

Ist das Leben,

So dem Menschen wird gegeben.

Kaum wenn er zur Welt geboren,

Ist er schon zum Tod erkoren.


Die beiden letzten Zeilen werden kehrreimartig am Schlusse jeder der fünf Strophen wiederholt. Indem sich zu Anfang dreimal je zwei Hebungen und Senkungen ablösen, denen der Componist sich eng anschließt, [74] entsteht eine Periode von drei und zwei Takten, sinnreich wird hierdurch der Charakter der Mattigkeit dem Tonstücke aufgeprägt. Den Dichter dieses Liedes, welches natürlich von dem Michael Franckschen »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig« ganz verschieden ist, konnte ich nicht ausfindig machen.

Die Worte der Offenbarung Johannis (2, 10): »Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben« bilden für die andere Motette die Grundlage. Sie beginnt breit und zuversichtlich:


4.

Zu den verheißenden Worten wird die Bewegung lebhafter, am Schluß wiederholt sich der Anfang; der Satz zählt nur 20 Takte. Die nachfolgende Aria: »Halte fest und sei getreu« ist vierstrophig; ihr Anfang klingt absichtlich an den Beginn des ersten Satzes an.

[75] Beide Motetten sind sicherlich frühe Arbeiten Johann Christophs, sie entbehren der großen Züge und des mächtigen Baues, welche den übrigen sechs insgesammt eigen sind, auch zeigt die Stimmführung noch nicht die Gewandtheit und den Fluß, welche der Meister sich später zu erwerben gewußt hat. Aber man fühlt in ihnen die Regungen einer eigenthümlichen, tief schauenden Phantasie, und dieses Geschenk seiner Nationalität hat er nicht nur auf Anregung seines Vaters, sondern ebenso sehr aus eigner Neigung bei den besten Meistern in die Schule geschickt, denn er war, wie wir sahen, schon sehr früh im Amte, und somit auf eigne Füße gestellt. Nicht nur von den beiden hauptsächlichsten deutschen Meistern suchte er zu lernen, sondern er griff weiter auf deren eigne Vorbilder, die Italiäner, zurück. Dies beweist seine neben den Zeitgenossen unvergleichlich größere contrapunctische Gewandtheit, sangbarere Führung der Mittelstimmen, das schöne Ebenmaß seiner melodischen Gedanken, und harmonische Eigenheiten, die direct auf die kirchliche Kunst um 1600 zurückweisen, z.B. die Verbindung stufenweise sich folgender Dreiklänge meistens zu besonders charakteristischen Zwecken, ein Ausdrucksmittel, was Hammerschmidt nicht geliebt zu haben scheint. Wie der Meister selbst uns überliefert hat, ist die eine der sechs großen Motetten: »Lieber Herr Gott, wecke uns auf«, von ihm im Alter von dreißig Jahren componirt27. Sie zeigt schon den Künstler in seiner vollen Reife. Diesen Anfang,


4.

[76] der mit seiner schön gezeichneten Melodie, seiner vortrefflichen Declamation so ganz den Ausdruck inniger, kindlicher Bitte trifft, konnte kaum ein andrer erfinden. Mit Schütz's Composition der gleichen Worte (Musicalia ad chorum sacrum Nr. XIII) hat Bachs Motette gar keine Aehnlichkeit; gekannt wird er sie freilich haben und auch den Text wohl geradeswegs dorther entnommen, denn dieser ist nicht biblisch, sondern stammt aus irgend einem Kirchengebete, aber die Vermuthung einer Anlehnung ist hier durchaus abzuweisen28. Trotzdem ist es interessant zu sehen, wie der Motettenstil sich innerhalb 25 Jahren entwickelt hat, wie viel geschmeidiger, anmuthvoller alles geworden ist, wie viel bestimmter der Ausdruck, übersichtlicher die Periodisirung und flüssiger der Verlauf des Ganzen. Schütz hält seiner historischen Stellung gemäß noch zum Theil an den Traditionen der vergangenen Zeit fest, besonders auch in der ununterbrochenen Verknüpfung der sich ablösenden Motetten-Gedanken, während Bach, im vollen Besitz des neuen harmonischen Tonsystems, dieses Mittel zur Herstellung der Einheit entbehren kann, und mit festgebildeten Perioden auftritt. Eine solche Anlage muß freilich in einer doppelchörigen Composition um so mehr hervortreten, als diese ja wesentlich auf Responsion der Glieder gestellt ist, und nur an den Höhepunkten sich zur vollen Vielstimmigkeit erweitern soll. Nachdem der zweite Chor die angeführten drei Takte wiederholt hat, tritt ungerades Zeitmaß (3/2) ein, in dem das Tonstück durch vier Gruppen verläuft zu den Worten: »wecke uns auf, | daß wir bereit sein, wenn dein Sohn kommt, | ihn mit Freuden zu empfahen | und dir mit reinem Herzen zu dienen.« | Von ihnen ist die dritte am breitesten ausgeführt, indem durch 35 Takte die Tonmassen zwischen beiden Chören Takt um Takt auf und nieder fluthen, voller Schwung und in prächtiger strömender Bewegung, besonders der Bässe, wo wieder recht der Einfluß der Italiäner zu Tage tritt. Auch die zum geraden Zeitmaß zurückkehrende Schlußfuge durchzieht ein warmer Hauch südlicher Schönheit, die Kühnheit eines hervorragend künstlichen Aufbaus mildernd und vergoldend. Dazu ist sie ein interessantes [77] Beispiel für die aus dem alten System in das neue sich umbildende Fugenform. Das Thema:


4.

steht, wenn man das Ganze überblickt, offenbar im modernen G dur, die Beantwortung findet aber nicht nach dem Gesetze statt, wonach auf das G im dritten Viertel des ersten Taktes ein D im Gefährten antworten müßte, sondern der Componist läßt in der Weise der alten Schule nachahmen, welche das entscheidende Gewicht auf genaue Correspondenz der einzelnen Intervallenschritte legte, und dafür die Beziehungen zwischen Tonika und Dominante hervorzuheben oft nicht für nöthig hielt. Bach beantwortet sein Thema also nicht:


4.

sondern:


4.

also mixolydisch gefärbt; alte und neue Tonart vermischen sich hier zu einer merkwürdigen Tonalität, welche mit ihrem Hang zur Unter-Dominante die ganze Fuge beherrscht. Alt ist ferner die gleich am Anfang eintretende Engführung zwischen den Oberstimmen, die aber hier mit einer Art von Absichtlichkeit bei jedem neuen Einsatze wiederkehrt, wie denn überhaupt das Princip der Engführung in der Fuge erfinderisch ausgebeutet ist. Bloße Unentwickeltheit deuten die mehrfachen vollständigen oder halben Schlüsse an, nach denen die Durcharbeitung von neuem einsetzt; auch die Instrumentalfugen derselben Zeit sind noch mit dieser Unfertigkeit behaftet, und grade in der Entfesselung eines ununterbrochenen Tonstromes in der Fuge durch stets neue unerwartete Einführungen des Themas und motivisch angesponnene Zwischensätze sollte sich erst Sebastian Bachs [78] Genie glorreich bewähren und die denkbar höchsten Forderungen erfüllen. Den kunstvollen Bau unserer Fuge anlangend, so ist das Thema nicht nur auf eine dreifache Engführung, sondern bei der ersten dieser Engführungen (auf dem dritten Viertel des ersten Takts) auch für einen doppelten Contrapunct in der Octave und der Decime angelegt. Um die ganze Fülle der Engführungen zu ermöglichen, hat der Componist jedoch im Verlauf das Thema etwas abgeändert und die melodische Phrase des zweiten Takts um eine Terz herabgesetzt; durch diese beachtenswerthe Spur motivischer Umbildung wird die Erkennbarkeit des Themas nicht beeinträchtigt, und einem großen Reichthum von Combinationen das Thor geöffnet. Dieser beginnt von Takt 12 der Fuge an in immer dichter werdenden Engführungen sich auszubreiten, leuchtet auf in den überraschenden Eintritten des Themas im Contrapunct der Decime, gründet sich fest durch die majestätischen Decimen-Verdopplungen desselben zwischen Bass und Tenor des zweiten Chors und strömt in immer reicheren Harmonien des vollen achtstimmigen Satzes mit dem zwanzigsten Takte einem Halbschlusse auf der Dominante von E moll zu. Sodann wiederholen sich die Stimmeintritte des Anfangs, aber nur scheinbar, weil das motivisch umgebildete Thema hierzu benutzt wird, dies gestattet einen andern Modulationsgang, und so münden die Töne bald wieder in das eben beschriebene große innerliche Crescendo zurück und wiederholen es noch reicher und schließen in breiter Pracht mit dem 34. Takte ab.

Noch von einer zweiten Motette wird uns das Entstehungsjahr angegeben. Es ist die über die Worte der Weisheit Salomonis 4, 7. 10. 11. 13 und 14 componirte: »Der Gerechte, ob er gleich zu zeitig stirbt, ist er doch in der Ruhe« (fünfstimmig, F dur); diese soll nach Philipp Emanuel Bachs Zeugniß aus dem Jahre 1676 stammen und wäre also nur um vier Jahre jünger als die vorige29. Die Beziehungen [79] zur Kunst der Italiäner sind hier noch enger, und das deutliche Anklingen an eine schöne Motette Johann Gabrielis: »Sancta Maria, succurre miseris« dürfte schwerlich ganz zufällig sein. Besonders weist das tonleiterartig aufsteigende Motiv im letzten Satze bei Bach – bei Gabrieli vom 62. Takte an (vergl. auch Takt 37–39) – auf eine wirkliche Verwandtschaft hin, daneben auch Gestaltungen wie Takt 8–20 bei Bach, 24–27 bei Gabrieli, zudem die übereinstimmende Tonart und ähnliche Gesammtstimmung der ganzen Stücke, endlich mit freilich nur geringer selbständiger Beweiskraft, aber doch getragen durch die andern Aehnlichkeiten, der Eintritt der proportio tripla nach dem diminuirten tempus imperfectum bei Gabrieli wie bei Bach30. Daß trotzdem das Werk des deutschen Meisters von hoher Originalität sein kann, bedarf nicht erwähnt zu werden; daß es dies ist, lehrt jede Vergleichung. Ein Geist, der in großen Umrissen zu gestalten versteht, zeigt sich besonders darin, wie Bach die Fülle des Textes zu gliedern gewußt hat; das rundet sich so vollständig ab, und enthält doch einen solchen Reichthum contrastirender Einzelheiten, daß der Gesammteindruck ebenso beruhigend wie belebend ist. Unsäglich schön ist die Stimmung des ersten Abschnitts getroffen, der Glücklichpreisung des Edlen, welcher durch einen frühen Tod allen Kränkungen und Gefahren des »bösen« Lebens entrückt ist und zur ewigen Ruhe gekommen; die abwärts sinkenden Gänge versinnlichen mit der dem Meister eignen Plastik das Hinscheiden »des Gerechten«, aber es ist kein müdes Abfallen, wie das der welken Blume, voll und schwer sinken die Töne herunter, wie Regentropfen im Abendglanz funkelnd sich langsam von den Blättern lösen. Zu dem seligen Frieden dieses ersten Satzes steht der zweite im wirksamen Contrast, der in freudig belebtem Gange anhebt: »er gefällt Gott wohl und ist ihm lieb«, und durch eine Reihe verschiedenartiger Gedanken und Tonbilder unbeirrt hindurchwandelt. Auch [80] hier ist wieder die »ausdrückende« Kraft des Componisten zu bewundern, die den durch die Worte bezeichneten sinnlichen Vorgang so sicher im Tongebild wieder zu spiegeln weiß, wie es hernach nur Händel, und in erhöhtem Maße, gekonnt hat. Man beachte nur den Tonsatz der Worte: »und wird hingerücket« – wie sich das fortschwingt geradeswegs in den Himmel hinein! Und wie sodann die Bosheit und Verkehrtheit der Welt in energischen Harmoniefolgen, Vorhalten und Accentrückungen sich ausprägt, und nach diesem beängstigenden und trüb ausklingenden Harmonienknäuel die hellen Dreiklänge aufblitzen: »Er ist bald vollkommen worden, und hat viel Jahr erfüllet!« Und nun folgt die vollständige Beruhigung des bunten, leidenschaftlichen Drängens im letzten Abschnitt, der breit und gesättigt, ein wahrhaft goldner Strom, dahin zieht. Das ihn ganz beherrschende, kunstreich verarbeitete und mit immer größerer Innigkeit hervorquellende Motiv strebt aus dem Dunkel der Erde in lichte Regionen auf:


4.

[81] Es ist das dem Gabrieli entlehnte; aber was dort nur musikalische Bedeutung hatte, gewinnt hier – und das ist Bachs Originalität – musikalische und poetische zugleich.

Nimmt man einmal den so dehnbaren Begriff des »Romantischen« in seiner ursprünglichsten Bedeutung und versteht darunter die Mischung von Elementen einer in sich vollendeten Culturperiode mit neuen über ihre Gränzen hinaus nach dunkel geahnten Zielen strebenden Tendenzen, so paßt kein Wort auf Joh. Christoph Bachs Motetten besser, als dieses, ganz besonders auch hinsichtlich der Tonalität. Die alten Kirchentöne vereinigen sich in ihnen zuweilen mit dem modernen Dur- und Moll-System in einer ganz undefinirbaren Weise, und es entsteht eine gebrochene Beleuchtung, ein merkwürdiges Helldunkel, das diese Motetten manchmal als unleugbare Stammverwandte der Schubertschen und Schumannschen Productionen erscheinen läßt. Schon die Schlußfuge der eben besprochenen E moll-Motette mußte in dieser Hinsicht auffallen. Viel mehr aber noch tritt der romantische Zug in zwei andern doppelchörigen Motetten hervor. Die eine derselben hat die Worte des alten Simeon zur Grundlage: »Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren«31. Als Hauptton ließe sich, mit Rücksicht auf die hervortretendsten Periodenschlüsse, allenfalls der aeolische aufstellen mit plagalischem Anfang und Schluß. Daneben aber ist das Stück so durchaus modern-harmonisch ausgeführt, und rundet sich, cyklisch in den Anfang zurücklaufend, so ganz nach unserm jetzigen Formprincip ab, daß man eben so wohl sagen kann, es weise gar keine Grundtonart auf. Neben den aeolischen Hauptwendungen berühren wiederum sowohl dorische wie mixolydische Klänge das Ohr. Vor allem aber zeigt sich das Schwanken zwischen altem und neuem Tonsystem in der allgemeinen Weise, wie Bach harmonisch fortschreitet. Man muß diesen Ausdruck gebrauchen, da der Componist durch das ganze Stück hindurch mit concertirenden Accordfolgen operirt. Die Erhöhungen und Erniedrigungen einzelner Töne galten den Alten als Accidentia – Zutälligkeiten, welche das Wesen der Tonart nicht weiter beeinträchtigten, während sie bei uns den Charakter derselben theils schwankend machen, theils geradezu verändern, [82] und immer die verwandtschaftlichen Beziehungen eines Accords auf das wesentlichste beeinflussen. Für die alte Anschauungsweise ist es unter Umständen gleichgültig, ob G moll und E dur unmittelbar auf einander folgen, oder G dur und E moll, für uns sind letztere beide Tonarten auf das nächste verwandt, dagegen erstere durch eine Kluft getrennt, die nur große Kühnheit überspringt. Bach erhöht und erniedrigt nun häufig nach alter, construirt aber Accordfolgen nach neuer Manier; hierdurch entstehen manchmal Reihen von Dreiklängen, welche geeignet sind, jedes Gefühl für eine Grundtonart in unserm Sinne aufzuheben. Die Tonwellen heben sich und sinken ab in wunderbar zitternder Beweglichkeit, sie schimmern und glitzern im seltsamsten Farbenspiele der Harmonien; sie gehorchen auch jedem Hauche, und illustriren oft den Wortausdruck durch modulatorische Wendungen von unerhörter Kühnheit, wie man sie bei Componisten der folgenden Generation, selbst bei Sebastian Bach, vergeblich sucht. Nach einem Abschlusse auf dem E dur-Dreiklange befindet sich z.B. Johann Christoph mit zwei Schritten in F dur: E moll-C dur-A moll-F dur, und gleich darauf vermittelst des C dur-Dreiklangs in G dur, ein andermal läßt er achtstimmig auf einander folgen: A dur-B dur-A moll-G dur (Terz-Quart-Sext)-C dur, und sofort weiter: A dur-B dur-F dur-C dur-F dur, womit die Periode abschließt. Ganz erstaunlich ist es, wie man trotzdem nicht das beklemmende Gefühl ziel- und planlosen Umhermodulirens erhält, sondern sich voller Ruhe dem sichern Führer anvertraut. Der Künstler schaut seine Idee im Ganzen mit solcher Klarheit, und gestaltet sie mit solcher Logik, daß man wohl ein träumerisches, duftumflossenes Bild erblickt, aber auch sogleich weiß, es sei eben dies das vom Schöpfer beabsichtigte. Man kann in der That, wenn man andre Stücke Joh. Christophs betrachtet, die eine bestimmt ausgeprägte Dur- oder Moll-Tonart aufweisen, keinen Augenblick zweifeln, daß ihm die Mischung zweier verschiedener Tonsysteme ein Mittel war, dessen er sich zur Erreichung bestimmter Zwecke mit bewußter Ueberlegung bediente. Dies stempelt ihn unbedingt zum Meister, trotzdem daß kein Dutzend seiner Vocal-Compositionen uns mehr erhalten ist. So wußte auch Sebastian Bach, wenngleich schon unter ganz veränderten Verhältnissen, die alten Kirchentöne als ein mächtiges Ausdrucksmittel frei zu handhaben: man denke [83] an die überwältigend großartige Benutzung der mixolydischen Tonart in der Cantate: »Jesu, nun sei gepreiset«32. Wie sehr aber dieses Mittel hier passend ist, wo es gilt, die Stimmung eines Greises, der endlich die sichere Gewähr einer so lange ersehnten rettenden Zeit gefunden hat, und dessen brechendes Auge in das strahlende Morgenroth des neuen Tages blickt, zu erfassen und künstlerisch allgemeingültig zu gestalten, fühlt ein jeder. Mit den Anfangstakten:


4.

lösen sich die Chöre zuerst einander ab, und imitiren darauf einander im Abstand von einem Takte. Sodann folgt eine außerordentlich schöne, zum Theil oben schon erwähnte Stelle:

(das hierher gehörige Notenbeispiel auf der folgenden

Seite.)

aus der sich übrigens auch zu ergeben scheint, daß die Motette mit Instrumentalbegleitung gedacht ist (vielleicht nur einem unterstützenden tiefern Tonwerkzeuge), denn an jenen sich so überschwänglich ausdehnenden F dur-Stellen, wo der Bass des ersten Chors unter das liegende c des zweiten hinunter tritt, dürfte die volle Wirkung schwerlich ohne einen sechzehnfüßigen Instrumentalbass zu erreichen sein. [84] Der weitere Verlauf ist bei der abnormen Beschaffenheit des Tonstücks schwer ohne fortlaufende Beispiele zu schildern, und eine lebensvollere Totalvorstellung, als der Leser sie vielleicht nach dem Gesagten schon gewinnen mag, würde damit doch kaum erreicht. Von überaus milder Majestät ist die langathmige Steigerung: »und


4.

4.

4.

[85] zum Preis deines Volks Israel«, die endlich im authentischen aeolischen Ton, wenn man so sagen soll, voll abschließt. Nun aber zeigt sich erst recht die formbildende Kraft des Künstlers. Er bringt zuerst die vollen 34 Takte des Anfangs noch einmal, gelangt so nach C dur, und hebt nun, tief Athem schöpfend, mit dem Anfangsmotiv wieder vom schattigen F dur-Dreiklange an, läßt noch einmal in Imitationen der beiden Chöre den Tonstrom voll hervorquellen, hebt sich zweimal zu dem herbsüßen Nonen-Accorde von D moll, oder wie man ihn damals noch genannt haben würde, da er auf der Terz ruht, Septimenaccorde, einer harmonischen Combination, die damals unter den deutschen Componisten beliebt zu werden anfing, und sinkt leise herab nach A moll, wie das Haupt eines Sterbenden auf die Kissen. Es ist nur wie das brechende Auge, dem beim letzten Blick in die Welt die Bilder verschwimmen und sich vermischen, und wie der letzte in den unendlichen Raum hinausgleitende Seufzer, wenn hiernach die Chöre hinüberschwanken auf den Dur-Dreiklang der Ober-Quinte und so die letzten Rufe: »Herr! Herr!« verschweben, halt- und stofflos, in denselben Tönen, mit denen der Meister das Stück begonnen.

Die andre, an Stimmung und Gestaltung verwandte Motette ist unter allen erhaltenen vielleicht die gewaltigste. Ueber den Worten [86] der Klagelieder Jeremiae 5, 15 und 16: »Unsers Herzens Freude hat ein Ende, unser Reigen ist in Wehklagen verkehret. Die Krone unsers Haupts ist abgefallen. O wehe, daß wir so gesündiget haben!« erhebt sich ein düster-großartiges Tonbild von nicht weniger als 225 Takten langsamer Bewegung. Als Tonart mag man die transponirt-dorische auffassen, welche, ähnlich der vorigen Motette, plagalisch beginnt und schließt. Sebastian Bach hat seine Bewunderung dieses Stücks dadurch an den Tag gelegt, daß er es zum Theil eigenhändig abschrieb33. Der Ausdruck sucht an Mannigfaltigkeit, Energie und ergreifender Innerlichkeit, die Bildung der Tonreihen an kühner Plastik, das Ganze an hoher Formvollendung unter den besten Gattungsbeispielen sicher seines gleichen. Welch eine tiefe Klage tönt aus diesem Anfange!:


4.

Und weiterhin unter den schmerzlichsten Accenten welch edler Zug der Melodie!:


4.

[87] Kein anderer Componist jener Zeit hätte im Austönen des Gedankens: »die Krone unsers Haupts ist abgefallen« – wie stolz und königlich hebt sich dies Motiv! –:


4.

kein andrer hätte einen so langen Athem zu verwenden gehabt, denn 39 Takte werden dadurch ausgefüllt, kein andrer auch so plastisch das stolze Aufstreben und das zerknickte Niedersinken zu zeichnen vermocht. Als Forkel, der begeisterte Verehrer Sebastian Bachs, einst dessen Sohn Philipp Emanuel in Hamburg besuchte, welcher sehr viel auf seines Großoheims Werke hielt, ließ ihn dieser einige derselben hören. »Ich erinnere mich noch sehr lebhaft«, erzählt Forkel, »wie freundlich der damals schon alte Mann bei den merkwürdigsten und gewagtesten Stellen mich anlächelte.« Harmoniefolgen, wie diese:


4.

[88] waren allerdings auch 100 Jahre nachdem sie gesetzt waren, noch geeignet, Staunen zu erregen; am Ausgange des 17. Jahrhunderts waren sie ganz unerhört. Philipp Emanuel besaß eine um das Jahr 1680 geschriebene und jetzt verlorene Motette, worin Johann Christoph die übermäßige Sexte angewendet hatte, was Forkel mit Recht ein Wagestück nennt34. An sich war der Gebrauch des Intervalls wohl nichts ganz neues mehr, es findet sich schon in Carissimis Oratorium Jephta und in desselben Meisters »Turbabuntur impii«35, aber doch beide Male im Sologesange, während Bach selbst im Chorsatze nicht davor zurückgeschreckt sein soll. Der Grundriß unserer Motette nähert sich viel weniger der damals in Ausbildung begriffenen Form der Dacapo-Arie, als vielmehr der modernen Sonatenform und darf deshalb wohl als das Ergebniß von Johann Christophs selbständigem künstlerischen Nachsinnen bezeichnet werden. Zwei klar von einander geschiedene große Theile zerfallen wieder je in einen Haupt- und Neben-Abschnitt. Der erste Haupt-Abschnitt setzt sich aus vier ausgedehnten Perioden zusammen (zu dreien derselben sind[89] oben die Motive angeführt), und endigt in G moll. Der erste Neben-Abschnitt beginnt mit der gleichfalls citirten Stelle: »O weh! daß wir so gesündiget haben!«, bildet in seinem ganzen Charakter den entschiedensten Contrast, und endigt im Halbschluß auf dem Dur-Dreiklang von D. Jetzt nimmt der zweite Theil seinen Anfang, wiederholt den Haupt-Abschnitt des ersten, läßt aber die Weherufe des ersten Neben-Abschnitts in den mannigfaltigsten Combinationen bald nebenher gehen, bald zwischenhinein dringen und beschließt in dieser von außerordentlichem Kunstverstand zeugenden Anlage gleichsam die Durchführung des Sonatensatzes und die Wiederholung des Hauptthemas zugleich. Nachdem wie im ersten Theile auf G moll geschlossen ist, tritt ganz regelrecht auch der Neben-Abschnitt (das Seiten-Motiv) wieder auf, und zwar dieses Mal mit wunderbar schöner Wirkung in B dur, und gestaltet sich erst vom fünften Takte wieder wie beim ersten Auftreten. Eine Coda von sechs Takten macht ein Ende.

Es sind noch zwei Motetten übrig, die wegen der in ihnen verwendeten Choral-Melodien eine abgesonderte Stellung einnehmen. Beide sind aber auch wieder unter einander verschieden. Oben wurde an einem Beispiele gezeigt, wie die von Hammerschmidt mit Vorliebe in seinen geistlichen Concerten angebaute Dialogen-Form auch auf die Motetten-Gattung übertragen worden war. Von dieser Art ist Joh. Chr. Bachs fünfstimmiges, in A moll stehendes Vocalstück: »Fürchte dich nicht«36. Der Alt, beide Tenöre und der Bass singen, gleichsam die Stimme Christi repräsentirend, die Bibelworte: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.« Dagegen intonirt später der Sopran den letzten Vers des Ristschen Liedes: »O Traurigkeit, o Herzeleid«, nämlich:


O Jesu du,

Mein Hülf und Ruh,

Ich bitte dich mit Thränen,

Hilf, daß ich mich bis ins Grab

Nach dir möge sehnen.


[90] Wenn er mit der vorletzten Zeile einsetzt, ertönen von der Stimme Christi die Worte: »Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein.« Man sieht, es sind zwei verschiedene Individuen, welche dramatisch mit einander verkehren. Der Componist mußte also die vier untern Stimmen wie eine compacte Masse zusammenhalten, um sie dem Sopran mit der nöthigen Bestimmtheit gegenüber treten zu lassen, und wenn wir früher an Michael Bachs Choral-Motetten zu tadeln hatten, daß die übrigen Stimmen nicht immer mit gehöriger Freiheit gegen die Choral-Melodie contrapunctirten, so ist eine solche Forderung hier bis zu einem gewissen Grade durch die Anlage der Composition selbst abgewiesen. Im übrigen hat es Bach verstanden, den vierstimmigen Tonkörper auch in seinem Contraste zum Choral zu einem von innerlichem Leben ganz erfüllten Organismus durchzubilden, und somit auch in dieser Gattung ein wahres Meisterstück hingestellt. Die rein musikalische Disposition ist, wie wir es schon gewohnt sind, auch unter den hier vorwaltenden erschwerenden Umständen sicher, klar und meisterlich, sie bietet drei Theile. Zuerst führt der vierstimmige Chor durch 39 Takte seinen Bibelspruch allein durch; beginnend mit kraftvollen und ermuthigenden Ausrufen bringt er sodann über dieses Thema:


4.

ein Fugato durch alle vier Stimmen, und läßt darauf bald zwei, bald drei, bald eine derselben auf dem Worte »gerufen« mit lang ausgehaltenen Accorden und Tönen mächtig hinausschallen, während unten das angeführte Thema mit einer kleinen zweckmäßigen Abänderung immer von neuem auftritt – eine in ihrer einfachen Größe an Händel erinnernde und seiner würdige Stelle. Hiermit schließt er auf C dur, der Ober-Mediante, ab und leitet mit einem über die Worte »du bist mein« gebauten Satze, der besonders durch Nachahmungen zwischen Alt und 2. Tenor interessant wird, nach A moll zurück. Dies der erste Theil, der zweite erstreckt sich bis zum Eintritt der vierten Choralzeile und enthält 24 Takte. Hier ist es[91] nun bewunderungswürdig, wie die beiden poetischen Individualitäten auseinandergehalten sind, z.B. gleich dadurch, daß der Sopran, in den Schlußaccord des Chors einsetzend, die erste Zeile der Melodie ganz allein vorträgt, der Chor dann erst nur in kurzen Sätzchen und Ausrufen sich hineinschiebt, hernach zu seinen, dem Hörer schon bekannten Anfangs-Motiven und Gängen zurückkehrt, mit denen die Choral-Melodie so stark wie möglich contrastirt und sich doch in sie hineinschmiegt, als ob sie eigens dazu erfunden wäre. Dem dritten Theile, 30 Takte lang, ist mit feiner Ueberlegung die größte dramatische Bewegtheit aufgespart; auf die wiederholten Hülferufe des Soprans antworten ebenso eindringlich die untern Stimmen: »Wahrlich, wahrlich, ich sage dir« u.s.w. und verleihen dieser Erregung durch mannigfache Imitation unter einander auch die dem Gegenstande angemessene Innerlichkeit. Weitere Einzelheiten anzuführen müssen wir uns versagen; genug, daß des Meisters volle Eigenthümlichkeit auch in diesem Stücke niedergelegt ist. Vergleicht man es mit Sebastian Bachs Motette »Fürchte dich nicht!«, die großentheils über die gleichen Bibelworte gesetzt ist, und ebenfalls in ihrer zweiten Hälfte eine Choral-Melodie mit poetischem Gegensatze einführt, so wird klar, daß diesem Kunst-Ideale Sebastian auf einem ganz andern Wege beizukommen suchte, als Johann Christoph und seine geringeren Zeitgenossen, und daß der Zusammenhang jenes mit seinen Vorgängern in diesem Punkte nur ein ganz allgemeiner ist. Der ältere Bach faßte die beiden dramatisch contrastirenden Charaktere als zwei gleichberechtigte Mächte auf, und suchte dies Verhältniß allein durch die Mittel der Musik herzustellen; der jüngere hielt die Stimmen, welche Träger des Bibelspruchs sind, dem Choral gegenüber nicht nur in gleichem Maße, sondern allzu selbständig, indem sie unter sich eine vollständige, keiner Ergänzung bedürftige Fuge ausführen, deren ruhig ziehender Strom die aufschwimmenden Stückchen der Choral-Melodie ganz zufällig erscheinen lassen würde, wenn derselben nicht eine erhöhte, symbolische Bedeutung beigelegt wäre, welche mit ihrem rein musikalischen Werthe zunächst nichts zu schaffen hat. Dies aber ist, wie wir im folgenden Abschnitte sehen werden, die Anschauung, die für die selbständige Behandlung des Chorals auf der Orgel maßgebend wurde, und dieser durch das Mittel der Instrumental-Musik führende[92] Weg war es, auf dem Sebastian sich einer Kunstform näherte, welche Johann Christoph von ihren natürlichen poetischen Gesichtspunkten aus begriff.

Hatte es sich hier also um einen dramatischen Gegensatz der Persönlichkeiten gehandelt, so gilt es in der andern Choral-Motette nur einen lyrischen Gegensatz der Stimmungen, wie wir ihm ja schon in mehren Werken Michael Bachs begegneten. Diese Motette (zwei-, hernach einchörig, F moll) ist wohl von allen Compositionen des Meisters jetzt die bekannteste. Ihr Bibelwort ist: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn«; in den zweiten Theil ist der Choral »Warum betrübst du dich, mein Herz« mit der dritten Strophe dieses Hans Sachs'schen Liedes eingewoben, und es ist mit solcher Vollendung geschehen, daß man die Composition für eine Seb. Bachsche hat halten dürfen37. Es kam darauf an, mit selbständigen Motiven die Choralmelodie durchgehend zu contrapunctiren, und wie wenig geübt der unbeholfene Stil unserer damaligen Tonmeister im ganzen noch im Lösen solcher Aufgaben war, ist bei Michael Bachs ähnlichen Arbeiten schon bemerkt worden. Johann Pachelbel bearbeitete die fünfte Strophe des Chorals: »Was Gott thut, das ist wohlgethan«, welchen er einer ausgeführteren concertmäßigen Composition zu Grunde legte, allerdings glatt und fließend, aber schon deshalb doch ganz anders, weil dort kein Gegensatz von Bibelwort und Kirchenlied vorhanden ist, wodurch die Grundstimmung erst in ihrer vollen Tiefe hergestellt und andrerseits auch die ausgedehnteste Beherrschung der contrapunctischen Technik erforderlich wird. Von Sebastian Bachs ebengenannter Motette aber unterscheidet sich auch dieses Werk, abgesehen von dem dort vorhandenen dramatischen [93] Gegensatze, durch jene tiefgehende Differenz in der Richtung beider Meister: Sebastian gestaltet rein musikalisch, Joh. Christoph plastisch-oratorisch. Auch hier ist eine Vergleichung beider sonst ziemlich übereinstimmend angelegten Werke äußerst belehrend; dasjenige Sebastians ist freilich reicher und blühender, stützt sich aber wesentlich auf die Orgel, Joh. Christoph dagegen befindet sich noch auf dem Heimathsboden der Motette, dem Vocalstil, und läßt die Menschenstimmen mit ihrer größern Ausdrucksfähigkeit und ihrer ganzen poetischen Mitgift zu Recht kommen. Es giebt vielleicht kein zweites Werk dieser Zeit, in dem Richtungen, welche hernach diametral aus einander gingen, so friedlich bei einander beschlossen liegen, und was trotzdem auf der ganzen Höhe der Kunst steht. Die Behandlung des Chorals mit all ihren technischen und ästhetischen Consequenzen deutet auf den Weg Sebastian Bachs, die sprechende Tonbildlichkeit der musikalischen Hauptgedanken entschieden auf Händel. So versinnlicht gleich das erste Hauptmotiv der Choral-Contrapunctirung, das im Verlauf auch in umgekehrter Gestalt dienen muß:


4.

einen dringend und inständig Bittenden, das zweite dagegen, zuerst im Alt, mit eng anschließenden Imitationen so auftretend:


4.

nachher in reicher Weise motivisch umgebildet, wie z.B. Takt 18 im Bass:


4.

zeichnet in seiner breiten Fülle mit gar nicht zu verkennendem Ausdruck die Gebärde jemandes, der feierlich und segnend die Hände [94] ausbreitet. Dabei sind doch alle rein musikalischen Anforderungen in bewundernswerther Weise gewahrt. Wie meisterhaft gegensätzlich sind die beiden Motive gestaltet, und wie beherrschen sie, und nur sie, den ganzen Tonsatz! Wie musikalisch angemessen neben der poetischen Schönheit ist nach den kunstvollen Verschlingungen jener dreitaktige Ruheplatz in der Mitte, wo die contrapunctirenden Stimmen fast nur declamatorisch leise bewegt stille und schwärmerisch im Klangmeer ausruhen! Im übrigen gehört sicherlich diese Motette unter des Meisters späte Compositionen. Die Harmonien-Verknüpfungen, besonders auch im ersten, tief ausdrucksvollen Theile derselben, sind wenn nicht kühner, so doch noch freier, geschmeidiger; die Melodie-Zeichnung ist noch individueller, so ist z.B. die Septime 4. im 19. und 23. Takte des ersten Abschnitts, welche der Sopran im freien Abwärtsspringen erreicht, ein für Chorcompositionen jener Zeit sehr neues Wagniß. Auch die Tonart F moll ist in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ungewöhnlich. Endlich trägt das Ganze mehr das Gepräge milder und dem Alter eigenthümlicher Beschaulichkeit, als jugendlicher Lebhaftigkeit oder männlichen Nachdrucks, wenngleich ja nicht zu leugnen, daß dem Johann Christoph wie seinem Bruder Michael ein Hang zum Sinnigen, Träumerischen besonders eigen war. Wenn man die nunmehr insgesammt vorgeführten Vocal-Compositionen beider überblickt, wird man diese überwiegende Neigung an der Wahl der Worte, wie in der musikalischen Gestaltung leicht erkennen.

Fußnoten

1 In ausgedehntem Maße benutzte er für »Israel in Aegypten« ein Magnificat von Dionigi Erba; s. Chrysander, Händel I, S. 168–177.


2 »Es erhub sich ein Streit«, B.-G. II, Nr. 19.


3 B.-G. X, Nr. 50.


4 Zusatz zur Genealogie.


5 In einem Briefe an Forkel, vom 20. Sept. 1775 aus Hamburg, den Bitter in seinem Werk über Bachs Söhne I, S. 343 mitgetheilt hat. Ph. Emanuel bewahrte das Stück in seinem »Alt-Bachischen Archive« auf, einer Sammlung von Compositionen tonsetzender Bachs vor und neben Sebastian; aus dem Nachlasse G. Pölchaus kam es an die königl. Bibliothek in Berlin.


6 In Stimmen, welche aus dem Bachischen Archive herstammen, auf der königl. Bibliothek in Berlin.


7 Die drei beispielsweise angeführten Motetten sind einem Sammelbande alter derartiger Compositionen entnommen, den ich vor Jahren von einem thüringischen Dorfcantor erwarb. Er enthält eine große Anzahl in ihrer Art tüchtiger Stücke aus dem Ende des 17. und Anfange des 18. Jahrhunderts, dann auch manches neuere. Leider sind fast nie die Namen der Componisten genannt, möglicherweise gehört einiges daraus noch Michael Bach an.


8 Auf die schöne doppelchörige und in derselben Weise gestaltete Motette der gleichen Sammlung (Nr. XXI) über den Choral »Ich hab mein Sach Gott heimgestellt« sei wenigstens anmerkungsweise aufmerksam gemacht. Michael Bach hat die letzte Strophe desselben ebenfalls behandelt am Schluß seiner Motette: »Unser Leben ist ein Schatten«.


9 F.E. Niedt, Musikalische Handleitung, Th. 3, herausgegeben von Mattheson (Hamburg, 1717), S. 34: »Die Explication über die Moteten überlasse ich denen Thüringischen Bauren, als welche solche von dem Hammerschmid Zeit ihres Lebens (gleichwie die Altenburgische Bauren-Mägde ihre Stiefeln, und die Spanier ihre kurtze Mäntel von ihren Vorfahren angeerbet) behalten werden.«


10 Die bis jetzt verschollenen Compositionen sind nach dem Katalog des musikalischen Nachlasses von Ph. Emanuel Bach, der sich auf der königl. Bibliothek zu Berlin befindet, folgende: »Auf laßt uns den Herrn loben«, für den Alt und 4 Instrumente. »Nun ist alles überwunden«, Arie für 4 Singstimmen, Arnstadt, 1686. »Weint nicht um meinen Tod«, Arie für 4 Singstimmen, 1699. »Die Furcht des Herrn« u.s.w., für 9 Singstimmen und 5 Instrumente. Bei den drei letzten ist freilich der Verfasser nicht genannt, aber nach der Anordnung des Katalogs spricht die Wahrscheinlichkeit für Michael Bach. Noch zwei andre namenlose Compositionen finden sogleich und weiter unten Erwähnung.


11 So ist sie wenigstens herausgegeben von F. Naue (Neun Motetten für Singchöre von Johann Christoph Bach und Johann Michael Bach [3 Hefte]; Leipzig, Friedr. Hofmeister. Heft I, 3), nach einer mir unbekannten Vorlage. Im Bach-Archiv war sie mit vier begleitenden Instrumenten versehen, vorausgesetzt, daß eine dorther ohne Namen des Componisten angeführte Motette gleichen Textes dieselbe ist.


12 Sammelband von 93 Motetten in Partitur aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts auf der königl. Bibliothek zu Königsberg in Preußen (sign. 13661), Nr. 37. Die Notiz lautet wörtlich: »In Stimmen ex Dis«, wie man ja noch bis in den Anfang unseres Jahrhunderts Dis dur für Es dur sagte. Auch bei andern Stücken finden sich ähnliche Notizen mit gleicher Beweiskräftigkeit.


13 Naue, Heft I, 2.


14 Auch Heinr. Schütz scheute sich im vielstimmigen Vocalsatze zu Zeiten nicht vor Octavenverdoppelungen, z.B. Takt 4 der sechsstimmigen Motette: »Selig sind die Todten« zwischen 2. Sopran und 2. Tenor.


15 C. von Winterfeld will (Evangelischer Kirchengesang III, 430) zwischen Michael Bachs Motette: »Ich weiß daß mein Erlöser lebt« und der gleichen von Melchior Frank eine Verwandtschaft finden, von der ich aber keine Spur entdecken kann.


16 Naue, Heft II, 5. Derselbe hat einen bezifferten Bass beigefügt, welcher im Katalog über den musikalischen Nachlaß Philipp Emanuel Bachs nicht verzeichnet ist. Hier findet sich dagegen die Jahreszahl 1699 angemerkt, die, wenn sie nicht auf Schreib- oder Druckfehler beruht, nur das Jahr der Copie-Anfertigung anzeigen kann, denn der Componist war damals schon todt. Dieser Umstand entwerthet auch die Bedeutung der übrigen Jahreszahlen, welche der Katalog bei andern Compositionen bietet, um ein beträchtliches.


17 Naue, Heft II, 6; hier mit Generalbass; im Verzeichniß des Bachschen Archivs ohne einen solchen. Die ganz anders geartete Briegelsche Motette ist neu herausgegeben von Fr. Commer, Geistliche und weltliche Lieder aus dem XVI.-XVII. Jahrhundert (Berlin, Trautwein), S. 80–85.


18 Dasselbe geschieht schon einmal Takt 13, hier wohl nur aus Mangel an Geschick. Auch die lahme Harmonisirung von Takt 11 und 12 (und entsprechend Takt 36 und 37) verräth einen noch nicht fein durchgebildeten Geschmack.


19 Amalien-Bibliothek auf dem Joachimsthal zu Berlin, Bd. Nr. 116, letztes Stück; Bd. Nr. 326, letztes Stück; Bd. Nr. 116, drittletztes Stück; ebendaselbst, vorletztes Stück. Die erste und vierte Motette sind mit Continuo. Der Katalog des Bach-Archivs führt an: »Ach wie sehnlich wart ich u.s.w. Für den Discant, 5 Instrumente und Fundament von Johann Michael Bach.« Ich glaube, daß unter dieser Notiz des ohnehin wenig sorgfältig abgefaßten Verzeichnisses unsere vierte Motette verborgen ist Der Ausdruck »5 Instrumente und Fundament« ist befremdlich und verdächtig.


20 Amalien-Bibliothek, Bd. Nr. 90, erstes Stück. Ohne Continuo.


21 Naue, Heft III, 8. Ein Continuo ist beigefügt, von dem aber das Bach-Archiv nichts sagt. Nach diesem soll die Motette 1679 componirt sein, wo Michael Bach 31 Jahr alt und in Gehren Organist war.


22 Z.B. »Ich! ich! ich! ich will den Namen Gottes loben«, oder: »Uns! uns! uns! uns ist ein Kind geboren«, u.a. Sebastian Bach, als er, an seinen heimathlichen Traditionen festhaltend, einst eine seiner frühern Cantaten begann: »Ich! ich! ich! ich hatte viel Bekümmerniß«, zog deshalb den Spott Matthesons auf sich.


23 Naue, Th. III, 7. Im Katalog von Philipp Emanuels Nachlaß ist die Jahreszahl 1696 angemerkt. Da Michael Bach schon 1694 starb, kann dieselbe natürlich nicht die Entstehungszeit angeben.


24 Dies ist die vierstimmige Motette mit Fundamental-Bass: »Ich lasse dich nicht«, was wohl nichts anderes sein wird, als der Ausgang der anfänglich doppelchörigen Composition Joh. Christophs: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn«; es wird später über sie gesprochen werden.


25 Nämlich nach dem Katalog: »Meine Freundin, du bist schön«, ein Hochzeitstück mit 12 Stimmen. »Mit Weinen hebt sichs« u.s.w., für 4 Singstimmen und Fundament, 1691. »Ach, daß ich Wassers genug« u.s.w., für den Alt, 1 Violine, 3 Violdigamben und Bass. »Es ist nun aus« u.s.w., Sterb-Arie für 4 Singstimmen.


26 Erhalten in einer ältern Handschrift, welche sich zu Mühlhausen in Thüringen im Besitz des Herrn Organist Steinhäuser befindet.


27 Das aus dem Bachischen Archiv in die königl. Bibliothek zu Berlin gelangte Autograph trägt die Ueberschrift: »Motetta. â. 8 Voc:« am Schlusse steht die Bemerkung: »121 tact«, unter dem System rechts in der Ecke: »Eisenach 4. 1672 X bris. Joh, Christo Bach org.« Unter den Singstimmen der Generalbass; die Handschrift sehr fein und zierlich, Taktstriche mit Lineal gezogen. Die Motette ist ebenfalls von Naue herausgegeben (Heft II, Nr. 4).


28 Winterfeld, Evang. Kirchenges. III, 429 scheint so etwas im Sinn zu haben. Das Stück von Schütz ist neu herausgegeben von Neithardt, Musica sacra Bd. VII, Nr. 8 (Berlin, Bote und Bock).


29 Das von Ph. Em. Bach herrührende Manuscript ist auf der Bibliothek in Berlin; derselbe Künstler hat die Singstimmen mit Streichinstrumenten und Orgel begleiten lassen, wie die eigenhändig von ihm angefertigten Instrumentalstimmen beweisen. Herausgegeben ist die Composition von Naue (Heft I, 1), hier mit Orgelbegleitung, ferner von Neithardt, Musica sacra, Bd. VII, Nr. 14. Es wird dieselbe sein, welche Reichardt besaß, und deren Kraft und Kühnheit er rühmte (s. Gerber,. N.L. I, Sp. 207).


30 Das Verdienst, hierauf zuerst hingewiesen zu haben, gebührt Winterfeld, s. dessen Evangel. Kircheng. a.a.O. Die betreffende Motette des Venetianers Gabrieli steht in desselben Forschers Werke: Johannes Gabrieli und sein Zeitalter (Berlin, Schlesinger, 1834), III, 24–28. Man muß im Hervorsuchen von Aehnlichkeiten über so weite Zeitstrecken hinaus allerdings sehr behutsam verfahren, allein hier scheint mir in der That eine richtige Beobachtung gemacht zu sein.


31 S. Anhang A. Nr. 6.


32 B.-G. X, Nr. 41. Besonders im Eingangschor sind die Stellen auf S. 6 und 7 und S. 18 von ganz unbeschreiblicher Erhabenheit.


33 Die Partitur ist auf der königl. Bibliothek zu Berlin. Daselbst befindet sich auch noch eine andre Abschrift von Pölchaus Hand. R.v. Hertzberg hat im 16. Bande der Musica sacra (Berlin, Bote und Bock) unter Nr. 18 das Werk herausgegeben.


34 S. den Nekrolog Seb. Bachs in Mizlers Musikalischer Bibliothek, Leipzig, 1754. Bd. IV, Th. 1, S. 159. Diese Nachrichten hat Gerber N.L. I, Sp. 206 und 207 etwas ausgeschmückt.


35 Zu dem ersten Falle s. Chrysanders Ausgabe der Oratorien von Carissimi, in den »Denkmälern der Tonkunst« II, 19 im vorletzten Takt (f-4., denn so ist die Harmonie zu denken); das zweite Beispiel bei R. Schlecht, Geschichte der Kirchenmusik, S. 452, Takt 4 und 6, wofern die Angabe hier verläßlich ist.


36 Befindlich in einer Handschrift aus dem vorigen Jahrhundert auf der Amalien-Bibliothek des Joachimsthalschen Gymnasiums in Berlin, Bd. 116, erstes Stück. Die Handschrift, welche auch einen bezifferten Bass aufweist, ist leider keine sehr correcte.


37 Die königl. Bibliothek in Berlin bewahrt ein sehr altes Manuscript derselben, welches vielleicht Autograph ist. Veröffentlicht wurde sie als Werk Johann Christophs zuerst durch Naue (Heft III, 9) mit hinzugefügtem Bass; später bei Bote und Bock in Berlin, Breitkopf und Härtel in Leipzig und anderweitig. Der Irrthum wegen der Autorschaft stammt, so weit ich sehe, von J.G. Schicht her. Dieser gab die Motette als eine Composition Sebastians bei Breitkopf und Härtel heraus und hängte ihr auch in seiner eigenhändigen Abschrift (jetzt auf der königl. Bibliothek zu Königsberg in Pr. Nr. 13583) noch Strophe 7 und 8 desselben Sachs'schen Liedes an in einer von Sebastian Bach stammenden Harmonisirung, die auch, aber in Viertelnoten-Bewegung, von Erk mitgetheilt ist: J.S. Bachs Choralgesänge, I, 121.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1873.
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