II.

[216] Am Hofe Herzog Wilhelms IV. zu Weimar hatte vor Zeiten Sebastian Bachs Großvater eine Anstellung gehabt. Schwerlich aber war für eine Berufung des Enkels an denselben Ort dies die Veranlassung. Es werden andre Verbindungen vorgelegen haben, die wir nicht kennen, die aber von Eisenach wie von Arnstadt aus leicht geknüpft werden konnten. Sebastian erhielt die Stelle eines Hofmusicus, doch nicht bei dem regierenden Herzoge Wilhelm Ernst, sondern [216] bei Johann Ernst, dessen jüngerem Bruder, der hiernach seine eigne kleine Capelle gehabt haben muß1. Dies läßt auf ein specielleres Interesse desselben für die Musik schließen und die Stellung des jungen Künstlers in einem günstigen Lichte erscheinen. Denn es war augenfällig ein ganz anderes, Mitglied einer jener officiellen Capellen zu sein, die häufig nur der äußern Repräsentation wegen unterhalten, und demgemäß oftmals auch zu allerhand andern »nützlichen« Zwecken verwendet wurden, als einem Institut anzugehören, was allein private Vorliebe ins Leben gerufen hatte. Doch hieße es wiederum die Verhältnisse jener kleinen Höfe verkennen, wenn man glauben wollte, Sebastian habe mit der eigentlichen Hofcapelle garnichts zu thun gehabt. Vielmehr wurde er sicherlich, wenn er auch im nächsten Dienstverhältnisse zu Johann Ernst stand, doch in jener ebenfalls verwendet. Sein Platz war der eines Violinisten, und die Folgerung ergiebt sich leicht, daß, wenn er von Lüneburg an diesen Posten in eine solche Capelle berufen werden konnte, seine Leistungen als Geiger nicht allzugering sein durften. Indeß, so gewiß schon damals seine Ausbildung vorzugsweise auf Orgel- und Clavierspiel gerichtet war, so deutlich ist auch, daß er die Stelle in Weimar hauptsächlich aus äußern d.h. Existenz-Gründen angenommen hat. In sein eigentliches Fahrwasser gerieth er bei diesem ersten Schritte in die Kunstwelt noch nicht sogleich, lernte aber jedenfalls eine Fülle von Instrumentalmusik dort kennen, besonders auch italiänischer, welche am weimarischen Hofe beliebt war, wie wir später erfahren werden. Auch lebte damals dort ein nicht unbedeutender Violinvirtuose, Johann Paul Westhoff, als Kammermusicus und Kammersecretär, ein Mann, der überdies durch große Welterfahrung und allgemeine Bildung anziehend sein konnte2. Ferner fand sich daselbst der wohlberufene Organist Johann Effler, der, wie seiner Zeit erwähnt ist, Michael Bachs Vorgänger in Gehren gewesen war, und daß in Wahrheit Sebastian der kirchlichen Musik auch hier nicht fern geblieben ist, wird, wenn es dessen überhaupt bedarf, ein späteres Zeugniß [217] lehren. So bot ihm das musikalische Weimar doch mancherlei Anregung, und die Dauer seines Aufenthaltes genügte grade, sich derselben soweit hinzugeben, als es ihm zur Zeit dienlich erscheinen mußte. Schon nach wenigen Monaten eröffneten sich ihm neue Aussichten3.

Die arnstädtische Bürgerschaft hatte gegen Ablauf des vorigen Jahrhunderts eine ihrer Kirchen, welche im Jahre 1581 durch Feuersbrunst vernichtet war, unter dem Namen der »Neuen Kirche« wieder aufgebaut und im Jahre 1683 eingeweiht4. Eine Orgel fehlte noch, allein den Einwohnern lag das junge Gotteshaus so am Herzen, daß schon bald darauf das Consistorium anzeigen konnte, es sei durch Beiträge von allen Seiten eine Summe von 800 Gülden dafür zusammengeflossen, die wohl noch bis auf 1100 Gülden anwachsen würde5. Ein reicher Bürger vermachte im Jahre 1699 noch 800 Gülden, und es konnte nun zur Beschaffung eines recht gediegenen und gehaltvollen Orgelwerks geschritten werden. Man wählte mit Uebergehung einer einheimischen aber unfähigen Persönlichkeit zum Erbauer den Mühlhäuser Johann Friedrich Wender, welcher die Orgel von Pfingsten bis zum Winter des Jahres 1701 verfertigte und aufstellte6. Wender hatte mehre Orgeln im Thüringischen gebaut und sich dadurch einen Namen gemacht. Ein solider Arbeiter war er übrigens nicht. Schon nach kurzer Zeit stellte sich heraus, daß vier Pfeifen im Werke fehlten, im Jahre 1710 war bereits eine Reparatur nöthig, die Wender aber so flüchtig vornahm, daß Ernst Bach, der damalige Organist, erklären mußte, die Orgel bedürfe einer gründlichen Herstellung, um ihre gänzliche Unbrauchbarkeit zu verhüten. Aehnliche Erfahrungen wurden an der Orgel der Blasius-Kirche in Mühlhausen gemacht, welche Wender ebenfalls gebaut hatte, und in der es unablässig zu bessern gab.

Doch, das große Ton Werkzeug war vorläufig vollendet und der Stolz der Bürgerschaft. Einen ebenbürtig geachteten Organisten dafür [218] zu gewinnen, wollte aber nicht sogleich gelingen. Ein Schwiegersohn Christoph Herthums, des mehrfach genannten Eidams und Nachfolgers Heinrich Bachs, verstand nothdürftig eine Orgel zu behandeln, und wohl durch jenes Verwendung, wahrscheinlich auch, weil man zur Stunde Niemanden sonst hatte, wurde ihm die Stelle übertragen. Er hieß Andreas Börner, trat mit dem Beginn des neuen Jahres an und erhielt jährlich dreißig Gülden und drei Maß Korn. Letztere wurden seinem Schwiegervater am Einkommen abgezogen, der dagegen die Besorgung des sonntäglichen Frühgottesdienstes in der Liebfrauenkirche an Börner überließ, auch mußte dieser sich bereit erklären, am Schlusse des Vormittagsgottesdienstes in der Barfüßerkirche einzuspringen, wenn den vielbeschäftigten Herthum um diese Zeit seine Functionen in die Schloßcapelle riefen. Man wollte nicht viel an den Mann wenden, und traute ihm wenig zu. Wenn er in der Neuen Kirche gespielt hatte, war er gehalten, den Schlüssel zur Orgel-Treppe dem Bürgermeister Feldhaus, welcher die Angelegenheiten des Orgel-Baus unter Händen gehabt und geleitet hatte, jedesmal wieder abzuliefern7.

So war die Sache bis zum Sommer des nächstfolgenden Jahres fort gegangen. Mittlerweile gelangte Sebastian Bach nach Weimar, und man wird sich zu denken haben, daß er von dort aus bald Lust verspürte, Arnstadt, die alte Sammelstelle seines Geschlechts, und die dort lebenden Verwandten zu besuchen. Er kam, spielte, und das Consistorium wußte, daß dies der Mann war, den man brauchte. Mit Börner wurden nicht viele Umstände gemacht: er mußte einfach das Feld räumen. »Zur Verhütung jedoch aller besorglichen Collisionen« erhielt er eine neue Bestallung ausgefertigt als Organist der Frühkirche und vormittäglicher Substitut in der Barfüßerkirche, auch ließ man ihm seine Besoldung, so daß im übrigen alles beim Alten blieb8. Dem jungen, achtzehnjährigen Künstler gegenüber glaubte man sich aber zu besondern Anstrengungen verpflichtet; er hatte den Leuten gewaltig imponirt. Da die Mittel der Kirche beschränkt waren, so suchte man aus drei verschiedenen Kassen den stattlichen und [219] für seine Jugend wie im Vergleich zu seinen Amtsgenossen ansehnlichen Gehalt von 84 Gülden 6 ggr. (= 73 Thalern 18 ggr.) zusammen. Dann wurde ihm eine feierliche Bestallung aufgesetzt mit den üblichen weitschweifigen Ermahnungen zu Fleiß, Berufstreue und allem, was »einem ehrliebenden Diener und Organisten gegen Gott, die hohe Obrigkeit und Vorgesetzten gebühret«, und er am 14. Aug. 1703 auf dieselbe durch Handschlag verpflichtet9.

Sebastian muß sich bei einer so entgegenkommenden Aufnahme in dem hübschen und durch viele Familienerinnerungen geweihten Städtchen auf seinem neuen Posten ganz behaglich gefühlt haben, zumal seiner dienstlichen Pflichten unverhältnißmäßig wenige waren und für eignes Studiren und Schaffen die herrlichste Muße blieb. Kein lästiger Schuldienst nahm seine Kräfte in Anspruch, keins jener ganz heterogenen Nebenämter, wie es zum Beispiel dem Küchenschreiber Herthum beschieden war, sollte die Sammlung seines Geistes stören. Nur dreimal wöchentlich rief ihn sein Amt, am Sonntag Morgens von 8 bis 10 Uhr, des Donnerstags frühe von 7 bis 9 Uhr, und des Montags zu einer Betstunde10; mit welcher Freude er, zum ersten Male im Besitz einer eignen und seinen Neigungen entsprechenden Stellung, die von ihm erweckten Töne des neuen Orgelwerks durch den hohen und weiten Kirchenraum hinrauschen ließ, kann man ermessen. Die Orgel war splendid gearbeitet, alle Principale aus 14löthigem Zinn, auch die Gedackt-Register bestanden aus Metall, nicht, wie gewöhnlich, aus Holz. Der Charakter des Brust-Positivs muß durch das Ueberwiegen der vierfüßigen Stimmen allerdings etwas schreiend und nur bei vollem Werke von einigermaßen guter Wirkung gewesen sein, auch fehlten dem Pedale tiefe mittelstarke Register, aber das Hauptwerk war gut disponirt. Die Gesammt-Disposition mag hier folgen:


Oberwerk. Brust-Positiv.

1) Principal 8'.1) Principal 4'.

2) Viola da gamba 8'.2) Lieblich Gedackt 8'.

[220] 3) Quintatön 16'.3) Spitzflöte 4'.

4) Gedackt 8'.4) Quinte 3'.

5) Quinte 6'.5) Sesquialter.

6) Octave 4'.6) Nachthorn 4'.

7) Mixtur 4fach.7) Mixtur 1' zweifach.

8) Gemshorn 8'. Pedal.

9) Cymbel 1' zweifach.1) Principalbass 8'.

10) Trompete 8'.2) Subbass 16'.

11) Tremulant.3) Posaunenbass 16'.

12) Cymbelstern.4) Flötenbass 4'.

5) Cornetbass 2'.

Manual- und Pedal-Koppel. Zwei Bälge, 8' lang und

4' breit.


Noch bis vor einem Decennium war die Orgel vorhanden11.

Der Barfüßer- oder Ober-Kirche gegenüber nahm die Neue Kirche den zweiten Platz ein, sie war eigentlich zur Ergänzung jener wieder aufgebaut, da die Liebfrauenkirche sich zu ausgedehnter Benutzung ungeeignet erwies, und die große Zahl der sonntäglichen Kirchenbesucher in einem Gotteshause nicht Platz fand. Da Sebastian trotz seiner Jugend sich als einen vielseitig geschulten Musiker hinstellte, der besonders auch für die Leitung des Chorgesanges in Lüneburg Erfahrungen gesammelt hatte, so übertrug das Consistorium ihm noch die Unterweisung eines kleinen Schülerchors, der zu dem größeren, in der Oberkirche fungirenden Singechore, an dem nach altthüringischer Sitte auch die »Adjuvanten«, d.h. musikliebende Dilettanten der Stadt, sich betheiligten, gleichsam die Vorstufe bilden sollte. Die eigentliche Direction, dort Aufgabe des Cantors, hatte hier der Präfect des Schülerchors; Bach sollte nur einstudiren, das Ganze zusammenhalten und mit der Orgel begleiten. Daß er bei dieser Gelegenheit auch eigne Compositionen zu Gehör bringen werde, [221] mag man vorausgesetzt haben12. Endlich ist mit Sicherheit anzunehmen, daß sein Violinspiel in der gräflichen Capelle gelegentlich verwerthet wurde; obgleich jedes historische Zeugniß darüber fehlt, wird sich Sebastian diesen Ansprüchen noch weniger haben entziehen können, als seiner Zeit Michael Bach, der zu bestimmten Gelegenheiten von Gehren eigens hereinkommen mußte. Da die Capelle sich vorzugsweise aus Einheimischen, Professionisten und Dilettanten, zusammensetzte, so wäre es wohl sehr thöricht gewesen, eine so hervorragende Kraft unbenutzt zu lassen.

Im Orgelspiel fand Sebastian am Orte Niemanden, der ihn noch hätte fördern, geschweige denn es mit ihm aufnehmen können. Herthum kann die Musik nicht anders, als nebenher betrieben haben, denn sein Amt bei Hofe war ein umfassendes und arbeitsvolles, wie sich noch jetzt actenmäßig beweisen läßt. Johann Ernst Bach verlor in dem Elend seiner häuslichen Verhältnisse rasch wieder, was er etwa an Frische von seinen Ausflügen nach Hamburg und Frankfurt heim gebracht hatte. Die Vettern schlossen sich gewiß eng an einander an, aber lernen konnte Sebastian nichts erhebliches mehr von ihm. Etwas mannigfaltiger sah es in andern musikalischen Dingen aus. Adam Dreses reich bewegtes Künstlerleben war vor einigen Jahren zu Ende gegangen. An dessen Stelle war Paul Gleitsmann getreten, ein Schüler des gescheidten Johann Bähr in Weißenfels; er hatte dem Grafen schon länger als Kammerdiener und Musicus gedient, wußte auf der Violine, Viola da gamba und Laute Bescheid, und war, nach wenigen Spuren seines Wirkens zu schließen, ein intelligenter und wohlwollender Mann13. Hier konnte Sebastian wohl noch am leichtesten Verständniß finden, es mag aber auch der einzige aus der Capelle gewesen sein. Ein Liebhaber der Musik war der Rector des arnstädtischen Lyceums, der gelehrte und energische Johann Friedrich Treiber, welcher zu seiner durchgreifenden pädagogischen und ausgebreiteten wissenschaftlichen Thätigkeit auch noch selbständige musikalische Beschäftigungen fügte, ja sich vielleicht gar als Tonsetzer versucht hat14. Er besaß einen phantastisch genialen [222] Sohn, Johann Philipp, der neben seltenen Kenntnissen auf fast allen Gebieten des damaligen Wissens auch für Poesie und Musik ein hervorragendes Talent zeigte und in der Compositionslehre ein Schüler von Drese gewesen war. Studirt hatte er in Jena, zuerst Philosophie, Theologie und Medicin, hernach besonders Jurisprudenz, hatte die Magister- und Doctor-Würde erworben und Vorlesungen gehalten. Freisinnige Religionsansichten zwangen ihn, sich von Jena zu entfernen, er lebte nun einige Jahre auf dem Lande seinen wissenschaftlichen Arbeiten, wurde in Folge solcher wieder wegen Atheismus verfolgt und sogar einmal sechs Monate in Gotha gefangen gehalten. Der Haft entlassen, wohnte er zwischen den Jahren 1704 und 1706 bei seinem Vater in Arnstadt. Reibereien mit den dortigen Geistlichen veranlaßten ihn nach Erfurt zu gehen, wo er katholisch wurde und als Professor der Jurisprudenz zu hohen Ehren gelangte; er starb 1727 im 53. Lebensjahre. In Arnstadt veröffentlichte er 1704 ein Werk: »Der accurate Organist im General-Basse«, in dem er an nur zwei Choral-Bässen alle möglichen Accorde entwickelte. Vorher hatte er in Jena eine Anweisung erscheinen lassen, wie man in einer Arie alle Accorde, Ton-und Takt-Arten anwenden könne, und als Probe eine eigne Composition beigegeben15. Später in Erfurt componirte er zu Ehren des akademischen Rectors eine große Serenade und führte sie selbst auf16. Ein im Mai 1705 in Arnstadt ans Licht tretendes Product hatten aller Wahrscheinlichkeit nach beide Treiber zusammen verfertigt. Es war ein Singspiel, oder, wie auf dem Titel zu lesen ist, eine Operette, behandelnd: Die Klugheit der Obrigkeit in Anordnung des Bierbrauens17. Die Anlage ist die der biblischen Schul-Schauspiele des 17. Jahrhunderts oder der Dedekindschen geistlichen musikalischen Schauspiele: Dialog in Alexandrinern, dazwischen strophenmäßig gebaute Gesangstücke und kleine Recitative, [223] und möglichst viel auftretende Personen (hier nicht weniger, als dreißig); nur natürlich ins bürgerliche Leben mit all seinen Platt- und Derbheiten übertragen; mehre Personen sprechen den thüringisch-arnstädtischen Dialekt. Die Aufführung dieses und andrer dramatischen Producte geschah auf dem gräflichen Theater. Anton Günther hielt sich aber keine eigne Schauspieler- und Sänger-Gesellschaft; was in diesem Kunstzweige damals in Arnstadt geleistet wurde, entsprang zum eben so großen Theile aus dem Bemühen der Bürger. Der Graf hatte sich nach einem zwischen ihm und dem Kammerrath Wentzing im Verein mit dem Capellmeister Drese abgeschlossenen Contracte verpflichtet, ein Theater mit den nöthigen Decorationen herzustellen und zu erhalten, die Capelle zur Verfügung zu geben, für Beleuchtung und bei Banquets auf der Bühne für Speisen und Getränke zu sorgen; von der andern Seite war man verbunden, die Garderobe zu beschaffen, vor dem Grafen zu spielen, wann er es verlangte, vorausgesetzt, daß es vierzehn Tage vorher angedeutet sei, und der Hofdienerschaft freien Zutritt zu gewähren. Was diese Einrichtung von den ganz höfischen Instituten wesentlich unterschied und der Hamburger deutschen Oper annäherte, war, daß jeder, »wer diese Actiones zu sehen Belieben« trug, »gegen ein gewiß Geld« eingelassen werden mußte. So verlor sie nicht ganz den Boden des Volksthümlichen unter den Füßen; dies beweist die »Bier«-Operette, der am 6. Juli 1708 ein ähnliches Singspiel nachfolgte18, es beweisen es noch mehr die agirenden Personen, welche bald Schüler, bald arnstädtische Handwerker waren. Aehnliche Erscheinungen finden sich in andern thüringischen Residenzen, selbst in Weimar hatte der strenge Wilhelm Ernst ein »Opern-Haus«, ja sogar Hof-Comödianten19. Es war gut, daß nicht eben viele die Mittel besaßen, [224] sich ein solches Vergnügen ganz ohne Hülfe des Volkes zu verschaffen, sonst hätten sie es gern gethan. Die Arnstädter Theater-Einrichtungen sind Nachahmungen der braunschweigischen und durch Anton Günthers Gemahlin Augusta Dorothea, die Tochter des Herzogs Anton Ulrich, dorthin verpflanzt. Diese erbaute sich auch nach dem Muster des väterlichen Lustschlosses Salzdahlen die Augustenburg bei Arnstadt, wo zuweilen musikalische Aufführungen veranstaltet wurden; am 23. Aug. 1700 empfing sie dort ihre Eltern mit einer Cantate, die »Frohlockender Götter-Streit« betitelt und von einem Weimaraner gedichtet war, zu dem später Sebastian Bach noch in sehr nahe Beziehungen treten sollte20.

Damit wären die musikalischen Verhältnisse des damaligen Arnstadt erschöpft, so weit sie nachweisbar sind. Ihre Erwähnung geschah nicht, weil sie etwa auf Bach einen bestimmenden Einfluß geübt hätten, oder gar um einen solchen zu entwickeln. Dazu waren sie gegenüber einer so entschieden angelegten und energisch nach Innen arbeitenden Natur nicht angethan. Aber einen zwanzigjährigen Jüngling, der frisch ins Leben trat, mußten sie im flüchtigen Vorübereilen der Tage doch zuweilen streifen, und konnten seinen Geist zu wohlthätiger Erholung auf Augenblicke an sich ziehen. Vorzüglich mag die Aufführung volksthümlicher Singspiele seiner thüringischen Kernnatur ein Vergnügen gewesen sein. Nicht vom kunsthistorischen Standpunkte also, nur vom biographischen will hier seine musikalische Umgebung angesehen werden.

Bachs Beschäftigung mit dem Sängerchore, welcher für die Neue Kirche eingerichtet war, muß ihm bald das Verlangen erregt haben, für denselben sein Compositionstalent in Anwendung zu bringen, was auch den Wünschen des Consistoriums entsprochen haben wird. Einiges dieser frühesten Arbeiten auf dem Gebiete der concertirenden Kirchenmusik hielt er nach mehren Jahrzehnten in Leipzig noch einer neuen Bearbeitung werth. Diesem Einfalle des Meisters verdanken wir die Cantate auf den ersten Osterfeiertag: »Denn du wirst meine Seele nicht in der Hölle lassen«, die aber so, wie sie vorliegt, auf [225] dreierlei verschiedenen Bestandtheilen beruht, welche ursprünglich nicht zusammengehörten21. Man bemerkt leicht, daß der größte Theil davon auf ein zusammenhängendes, siebenstrophiges geistliches Gedicht gesetzt ist, welches mit der Strophe beginnt:


Auf, freue dich, Seele, du bist nun getröst,

Dein Heiland der hat dich vom Sterben erlöst.

Es zaget die Hölle, der Satan erliegt,

Der Tod ist bezwungen, die Sünde besiegt.

Trotz sprecht ich euch allen, die ihr mich bekriegt.


Der Componist hat aus der ersten Strophe eine Arie für Sopran, aus der zweiten, dritten und vierten22 ein Arioso für Alt, Tenor und Bass, aus der fünften ein Duett und aus der sechsten und siebenten ein Arioso mit anschließender vierstimmiger Arie gemacht. Es ist ganz das Verfahren der älteren Kirchencantate. Man componirte damals, bis im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts eine andre Gestalt überall durchdrang, strophisch gebaute Lieder in den Formen, welche sich im Verlauf des Jahrhunderts allmählig herausgebildet hatten, und durchflocht sie nach Belieben mit Bibelsprüchen und Chorälen, oft bildeten diese auch den Hauptbestandtheil und ließen nur irgendwo eine mehrstrophige und auch strophisch componirte Arie zu; zuweilen bestand der Text nur aus Bibelworten, oder einem mannigfach behandelten Chorale. Recitative finden sich noch nicht, statt dessen wird das Arioso angewendet, bei dem der Takt streng gewahrt und die Instrumentalbegleitung in stetige Mitleidenschaft gezogen wird, ohne daß es zur wirklichen Arienform käme. Das Recitativ: »Mein Jesus wäre todt« ist also unbedingt erst bei der spätern Bearbeitung hinzugesetzt, wie auch hinsichtlich des Textes schon aus der freien und unregelmäßigen Gestaltung der Reimzeilen klar hervorgeht, einer in der kirchlichen Dichtung damals kaum gemachten und noch wenig bekannten Erfindung. Das ihm folgende Duett endlich: »Weichet, Furcht und Schrecken« kennzeichnet sich durch die ganz abweichende metrische Textgestalt ebenfalls als nicht mit dem Hauptgedichte zusammenhängend, während es in seiner musikalischen[226] Factur den Stempel der frühesten Zeit trägt. Da nun der Inhalt auch hier auf das Osterfest hinweist, so ist es wahrscheinlich, daß dieses Stück einer andern Cantate, etwa auf den zweiten Osterfeiertag componirt, entnommen, und mit dem später hinzu componirten Recitative (in dem sich Bach übrigens in meisterlicher Weise dem Jugendstile anzunähern gewußt hat) in eine ausgedehnte zweitheilige Ostercantate vereinigt wurde. Das folgende Tenor-Solo: »Entsetzet euch nicht« hat vermuthlich auch der zweiten Cantate angehört und ging dort dem Duett voran; seinen Platz unmittelbar hinter der Eingangsnummer kann es nicht gehabt haben, schon weil ein poetischer Zusammenhang ganz fehlen würde. Am besten fügt sich alles an einander, wenn wir nach dem anfänglichen Bass-Arioso uns gleich die Sopran-Arie: »Auf, freue dich, Seele« gesungen denken, und in der zweiten Cantate nach den tröstenden Worten des Engels das Duett: »Weichet, Furcht und Schrecken«. So ist beide Male die rechte Beziehung zwischen Bibelwort und kirchlicher Dichtung vorhanden, und überdies war es Brauch, dieser jedesmal nur einen und nicht mehre Bibelsprüche voran zu schicken23. Als Entstehungszeit der ursprünglichen Cantaten läßt sich mit ziemlichem Vertrauen Ostern 1704 bezeichnen24. Ihr Charakter im Allgemeinen wie im Besondern giebt den engen Anschluß eines jungen Componisten an die gleichgearteten Werke der damaligen mittel- und norddeutschen Meister zu erkennen, vorzüglich aber der letzteren. Es ist dies nach Bachs dreijährigem Aufenthalte in Lüneburg und seinem von dort aus gepflogenen Verkehre mit Hamburg leicht erklärlich. Es zog ihn aber auch ein tiefliegendes Gefühl innerer Verwandtschaft zu jenen hin; diesem Gefühle gab er nach einigen Jahren auch äußerlich noch einmal nach, und wir werden dann Veranlassung haben, den Hauptvertreter der kirchlichen Kunst im Norden genauer zu würdigen, und wie sehr das vorliegende früheste Bachsche Cantatenwerk sich an ihn lehnt, im Einzelnen zu erkennen. Hier kommt es fürs erste nur darauf an, von seinem Inhalte eine allgemeine Vorstellung zu erwecken. Das erste Stück (C dur), wie schon erwähnt, für eine Bass-Stimme und über den Bibelspruch gesetzt: »Denn du wirst meine Seele nicht in der Hölle lassen und nicht zugeben, daß dein Heiliger [227] verwese«, wird durch eine kurze Sonate eingeleitet, in welcher sich drei Trompeten nebst Pauken und die Streichinstrumente mit der Orgel chorisch gegenüber stehen. Auf fünf Takte Adagio, in denen fast nur vereinzelte breite und durch Fermaten beschwerte Accorde sich hören lassen, folgt ein fanfarenartiges dreitaktiges Allegro, welches sofort in den Gesang hinüberleitet. Das chorische Wechselspiel wiederholt sich hier zwischen Singstimme und Instrumenten: wenn erstere eine ariose Phrase vorgetragen hat, wird sie durch eine ähnliche der Geigen oder Trompeten beantwortet oder durch kurze instrumentale Imitationen verfolgt. Auch in der ältern deutschen Arie spielt das instrumentale Gegenstück, das Ritornell, eine große Rolle, und nicht nur regelmäßig am Schlusse jeder Strophe, sondern auch zwischen den einzelnen Verszeilen; von hier gelangte es in das formunsichere Arioso, einem in seiner Entfaltung stecken gebliebenen Recitative, woraus es aber Bach, der auch diese Form zu einer bestimmten Geltung erhob, später wieder entfernte. Die Declamation ist im vorliegenden Falle ziemlich steif und wirkungslos, auch die Behandlung der Bass-Stimme um nichts freier als bei seinen Vorgängern, welche oft so wenig mit ihr anzufangen wissen, daß sie einfach mit dem Grundbasse zusammen geführt wird, oder mit diesem in parallelen Terzen geht. Es folgt das Recitativ und darauf das Duett zwischen Sopran und Alt in A moll, nur von Orgel und Geigen begleitet, ein anmuthiges Stückchen, was freilich den Textinhalt nur in einzelnen flüchtigen Zügen wiederspiegelt, aber im Gegensatze zu dem ersten Arioso schlank gewachsen ist und unbelastet durch contrapunctischen Tiefsinn seines Weges wandelt. Die Form ist die der italiänischen Da capo-Arie, welche sich damals allmählig und halb verstohlen in der Kirchenmusik festzusetzen beginnt. Auch dem folgenden Tenor-Solo »Entsetzet euch nicht«, was zur Tonart C dur zurückkehrend wieder sämmtliche Instrumente wach ruft, liegt sie zu Grunde, muß sich aber, so gut es gelingen will, mit dem Arioso-Stil vertragen. Die melodischen Gestalten bieten neben vielem Gemeingut damaliger Zeit einen speciell Bachschen Zug bei den Worten »den Gekreuzigten«, wo der Gesang schmerzlich in den Harmonien herumwühlt, umbaut von einem streng vierstimmigen Satze, der geführt ist, als könnte es gar nicht anders sein; bei Bachs Vorgängern kann man dies unter ähnlichen Verhältnissen durchaus nicht immer sagen.[228] Echt jugendliche Schwungkraft erfüllt die gegensätzliche Stelle: »er ist auferstanden und ist nicht hie«, noch bedeutenderes Feuer, ja jünglingshaften Uebermuth athmet aber die anschließende Sopran-Arie »Auf, freue dich, Seele«. Die Form ist wieder ganz klein: es werden die Zeilen der Strophe ohne viel Wiederholung heruntergesungen, so daß der Componist großentheils in der Form der älteren geistlichen Arie steht; da aber das erste Thema zum Schluß, wenngleich noch so flüchtig und fast nur wie Ritornell, wiederkehrt, so deutet er andrerseits auf die italiänische Arie hinüber, während endlich die mehrfach auf höheren Tonstufen sich wiederholende, und durch Zwischenspiele beantwortete, gleiche Tonphrase das Arioso anklingen läßt. Das Stück ist eine unsichere Mischung verschiedener Formprincipe, aber anziehend, weil natürlich und wahr empfunden. Nun gelangen wir zu einem neuen, großen Arioso, an dem sich Alt, Tenor und Bass meistens nach einander betheiligen, zuweilen mit einander. Hier herrscht die Maßlosigkeit eines jungen Feuergeistes. Die Vorstellung des »rasenden« Höllenhundes peitscht den Alt in Sechzehntelpassagen durch Höhen und Tiefen, unter anstürmenden Octavengängen des Orgel-Pedals, die Stimmen suchen sich in trotzigen und höhnischen Herausforderungen an Hölle und Tod gegenseitig zu überbieten; der Bass preist Christus den Sieger in ziemlich zopfiger Weise, und obgleich durch Wiederkehr dieser Partie eine Art von Abrundung versucht ist, so macht das Gesammte doch einen recht zerfahrenen Eindruck. Das folgende zweite Duett in G dur, welches ebenfalls dem Sopran und Alt zugetheilt ist, zeigt, gleich den Lüneburger Choralpartiten, wie ungewöhnlich rasch Sebastian Bach in der Kunst selbständiger ungezwungener Stimmführung sich zur Meisterschaft entwickelte. Zwei ganz verschiedene Motive werden neben einander hergeführt, um den größten Theil des Duetts sich aus dieser Combination entwickeln zu lassen. Der Sopran singt:


2.

dagegen der Alt, nur um zwei Viertel später einsetzend:


2.

[229] Die Zusammenführung erlaubt den doppelten Contrapunct der Octave, der auch gebührend angewendet wird, und wenn die Geigen sich der beiden Motive bemächtigen, bringt die Bratsche jedesmal noch eine dritte charakteristisch bewegte Stimme hinzu. Die Achtelfigur des ersten Motivs aber zieht sich durch das ganze Stück und hält es in allen seinen Theilen kräftig umschlossen. Um Bachs Talent und Frühreife zu würdigen und zu begreifen, muß man sich immer nur wieder erinnern, daß eine flüssige Polyphonie garnicht die starke Seite der damaligen deutschen Meister war, deren Errungenschaften er sich nur hätte anzueignen brauchen, daß vielmehr zum eben so starken Theile ihm seine eigne Gestaltungsgabe hier weiter helfen mußte. Selbst wenn man annehmen wollte, der Meister habe bei der zweiten Ueberarbeitung in dem Duett gebessert, was geschehen sein mag, so kann die Feile doch nur an Einzelnes gelegt sein; das Bewundernswerthe darin konnte er unmöglich erst später hinzubringen, da es grade der treibende Keim des ganzen Stückes ist. Wie jene zwei Themen zugleich aufs treffendste die contrastirenden poetischen Gedanken ausdrücken, braucht wohl nicht bemerkt zu werden. Uebrigens ist der chromatische Gang ein Lieblingsmotiv Bachs, dem wir alsbald in einer andern Composition wieder begegnen werden, und das sich durch seine gesammte Entwicklung verfolgen läßt. Wir kommen zur Schlußnummer. Voran geht in wenig veränderter Fassung die Einleitungs-Sonate. Dann bildet sich allmählig eine mehrstimmige Arie (in der ältern Bedeutung des Wortes, wo darunter das subjectiv-religiöse Strophenlied verstanden wird) heraus, erst zu zwei und zwei, hernach zu vier Stimmen vorgetragen, die sich in keiner Weise über das erhebt, was man von den bessern Componisten in dieser Gattung gewohnt war. Unmittelbar anschließend ertönt der Choral: »Weil du vom Tod erstanden bist«; die Geigen begleiten die Singstimmen in repetirenden Achteln, nur daß die erste Violine über dem Chore als fünfte Stimme ihren eignen Weg geht. Nach jeder Zeile fallen die Trompeten und Pauken fanfarenhaft ein, der Schluß löst sich überall in freibewegte Imitationen auf. Alles dies entbehrt der Originalität und ist nach bestimmten Vorbildern gearbeitet.

Bach mag sich in der ersten Zeit seines Arnstädter Lebens noch mehrfach auf dem Gebiete der Kirchenmusik versucht haben; doch [230] ist es bis jetzt nicht gelungen, weitere Zeugnisse dieser Thätigkeit ans Licht zu ziehen. So viel steht aber fest, daß auch hier sein Hauptbestreben auf die Instrumentalmusik sich richtete, und er fortfuhr, durch technische und compositorische Studien, wie durch eingehende Prüfung der besten damaligen Meisterwerke sich nach dieser Seite auszubilden. In Arnstadt »zeigte er eigentlich die ersten Früchte seines Fleißes in der Kunst des Orgelspielens, und in der Composition, welche er größtentheils nur durch das Betrachten der Werke der damaligen berühmten Componisten und angewandtes eigenes Nachsinnen erlernet hatte«; so sagt der Mizlersche Nekrolog. Wir wollen die Bekanntschaft einiger dieser Früchte zu machen suchen.

Johann Jakob, der zweite von Sebastians lebenden älteren Brüdern, hatte seine Kunstpfeifer-Lehrjahre in Eisenach durchgemacht, und sich dann vermuthlich auf die Wanderung begeben, um »zu erforschen, was anderer Orten Manier in der Musik sei«, wie man zu sagen pflegte. Im Jahre 1704 mag er sich grade in dem mit Kursachsen verbundenen Polen befunden haben, als der Schwedenkönig Karl XII. in seiner abenteuerlichen Siegeslaufbahn dorthin vorgedrungen war. Bestrickt von dem romantischen Zauber, der den jungen Helden umgab und durch vortheilhafte Bedingungen angezogen – so können wir denken – entschloß sich der Zweiundzwanzigjährige, als Hautboist in die schwedische Garde einzutreten25. Während des Abschieds, den von seinen Geschwistern und Verwandten zu nehmen er noch einmal in die Heimath zurückkehrte, wird es gewesen sein, daß Sebastian eine Composition für ihn aufsetzte, die dem Scheidenden ein brüderliches Andenken in der Ferne sein sollte. Die Form legten die persönlichen Verhältnisse nahe. In fünf kleinen Sätzchen schilderte er die verschiedenen Vorgänge und Stimmungen, welche der Abreise des Bruders vorhergingen und durch ihr Bevorstehen bewirkt wurden. Diesen hängte er eine Fuge an, und faßte das Ganze zusammen unter der Benennung: »Capriccio sopra la lontananza del suo fratello dilettissimo« – Capriccio über die Abreise seines sehr geliebten Bruders26.

[231] Das Werkchen ist in der gesammten Bachschen Litteratur so einzig, daß es sich aus der genannten äußern Veranlassung allein doch schwer erklären ließe, wenn nicht das Muster dazu ohne Schwierigkeit beizubringen wäre. Dieses Muster boten Johann Kuhnaus sechs Sonaten zu biblischen Historien, welche vier Jahre vorher erschienen waren und als Arbeiten eines so geistreichen und gelehrten Musikers natürlich bedeutendes Aufsehen erregt hatten27. Hier wurden nämlich sechs dem alten Testamente entnommene Begebenheiten durch eine Reihe von Tonbildern illustrirt, ein Compositionsverfahren, womit übrigens Kuhnau in seiner Zeit nicht vereinzelt stand. Mattheson, Kuhnaus jüngerer Zeitgenosse, berichtet, und man hat es ihm seitdem oftmals nacherzählt, daß Froberger ganze Geschichten auf dem Clavier darzustellen gewußt habe, »mit Abmalung der dabei gegenwärtig gewesenen, und Theil daran nehmenden Personen, sammt ihren Gemüths-Eigenschaften«, er meldet auch, sich im Besitz einer Suite desselben Componisten zu befinden, »worin die Ueberfahrt des Grafen von Thurn, und die Gefahr, so sie auf dem Rhein ausgestanden, in 26 Noten-Fällen ziemlich deutlich vor Augen und Ohren gelegt« werde28. Verwandt, wenn auch nicht ganz übereinstimmend, ist die Neigung gewisser französischer Componisten, eines Couperin und Gaspard de Roux, in ihren Clavierstücken bestimmte Charakter-Typen darzustellen. Man darf wohl behaupten, daß zu allen Zeiten, so lange es eine selbständige Instrumentalmusik giebt, in bald mehr bald weniger anspruchsvoller Weise Versuche gemacht sind, die nur das reine Gefühlsleben abspiegelnden musikalischen Formen mit bestimmteren; durch Vorstellungen getragenen Empfindungen zu füllen. Das erste und überallhin vorbildliche musikalische Organ ist nun einmal die menschliche Stimme, welche ohne das gedankenbergende Wort nicht gedacht werden kann. Und so ist es begreiflich, daß der neunzehnjährige [232] Sebastian, durch Geist und technisches Geschick eingenommen, sich auch einmal auf einen Weg locken ließ, der für Geister seines Schlages nicht entdeckt war. Für uns ist es aber ein besonders erfreulicher Umstand deshalb, weil sich nun leichter, als sonst wohl möglich gewesen wäre, erkennen läßt, daß wirklich neben so manchen andern auch Kuhnau Einfluß auf Bach gewann, von dem in der That verschiedenes gelernt werden konnte.

Johann Kuhnau war im Jahre 1667 in Geysing am Erzgebirge geboren, seit 1684 Organist an der Thomaskirche in Leipzig, von 1701 an auch Cantor an der Thomasschule daselbst; hier starb er 1722 und Bach, der ihn schon von Weimar aus hatte persönlich kennen lernen, wurde sein Amtsnachfolger. Er besaß eine Begabung von phänomenaler Vielseitigkeit, hatte in der Sprachkunde, Mathematik, Rechtswissenschaft sich gründliche Kenntnisse erworben, war auch ein witziger musikalischer Schriftsteller. In der Geschichte der praktischen Musik hat es ihn berühmt gemacht, daß er zuerst die Form der mehrsätzigen Kammer-Sonate auf das Clavier übertrug. Der erste Versuch dieser Art erschien als Anhang zum zweiten Theile seiner »Neuen Clavierübung« im Jahre 169529 und besteht aus einem Praeludium nebst Fuge in B dur, einem Adagio in Es dur mit anschließendem, imitationsmäßig durchgeführtem Allegro in B dur, und der Wiederholung der beiden ersten Stücke. Er hat offenbar Anklang gefunden, denn nach Jahresfrist kam unter dem Titel: »Frische Clavierfrüchte« ein neues Werk mit sieben solcher Sonaten heraus. Auch abgesehen von dieser Neuerung war aber Kuhnau für die Claviercomposition ein entschieden schöpferisches Talent, während die wenigen Orgelchoräle, welche sich auffinden ließen, unbedeutend erscheinen; seine Kirchen-Cantaten werden anderswo zur Besprechung kommen. In der Behandlung der Fuge, besonders der Doppelfuge galt er noch über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus hervorragenden Theoretikern, wie Mattheson und Marpurg, als Mustercomponist, und darf so auch jetzt noch angesehen werden, wenn man mehr die Klarheit und Eleganz als [233] Reichthum und Tiefe in Betracht zieht. Mit Pachelbel vergleichbar in bedeutsamer und sprechender Themengestaltung, mußte er doch durch den Charakter des Instruments, für das er schrieb, zu größerer Freiheit und Leichtfüßigkeit gebracht werden.

Die »biblischen Historien« enthalten ebenfalls treffliche Fugen, sind überhaupt durchweg so musikalisch interessant, daß sie noch jetzt jedem verständigen Spieler Genuß bereiten. Manches, was uns komisch darin erscheint und dem Kunstgenuß eine besondere Würze giebt, war vom Componisten durchaus nicht auf eine solche Wirkung angelegt. Er hat seine Aufgabe ganz ernsthaft genommen; verbot doch schon der biblische Gegenstand alle Spaßmacherei. Höchstens verräth sich in der Sonate über Jakobs Heirath ein fröhlich launiger Geist, aus andern spricht oft ein tiefer Ernst, der, wenn man sich über das Zwitterhafte der Gattung einmal hinweg gesetzt hat, sogar ergreifen kann. So ist es mit dem »vom David vermittelst der Musik curirten Saul«, zu dem der Verfasser folgende Anweisung giebt: »Also praesentiret die Sonata: 1) Sauls Traurigkeit und Unsinnigkeit, 2) Davids erquickendes Harfen-Spiel, und 3) Des Königs zur Ruhe gebrachtes Gemüthe.« Im trüben G moll, schwelgend in geistreich combinirten, melancholischen Harmonien beginnt sie; trotz der recitativischen Phrasen, die hier ihr Wesen treiben, ist doch überall Zusammenhang und Form; Sauls plötzlich aufzuckende »Unsinnigkeit« wird im 27. und 28. Takte allerdings höchst drastisch durch eine über dem liegenbleibenden Quint-Sextaccorde hinab quirlende Zweiunddreißigstel-Passage ausgedrückt. An den ersten Satz schließt sich eine sehr schöne Fuge mit diesem düster-brütenden Thema (ohne die Verzierungen):


2.

Den Contrapunct bildet ein unstet herumfahrendes Sechzehntel-Motiv, was als zweites Thema die ganze Fuge hindurch beibehalten wird; so enthalten die beiden Vorstellungen vom »traurigen« und »unsinnigen« Saul den poetischen Keim für eine echt musikalische[234] Entwicklung. Dann läßt sich Davids Harfe wie praeludirend vernehmen, dazwischen schwermüthige Betrachtungen des Königs, bis David in einem weit ausgeführten Zuge ununterbrochen fortspielt, diesen Gedanken:


2.

stets neu wiederholend und variirend, worauf denn im letzten Stücke des Königs zurückgebrachte Fassung durch ein wohlgefügtes in punktirter Achtelbewegung einherschreitendes Schlußstück abgespiegelt wird. Wie hier, so sind auch in den übrigen Sonaten vorzugsweise Situationen gewählt, welche eine möglichst einfache und ungemischte Empfindung durchdringt. Es sei noch das Programm der sechsten mitgetheilt: »1) Das bewegte Gemüth der Kinder Israel bei dem Sterbe-Bette ihres lieben Vaters. 2) Ihre Betrübniß über seinen Tod, ingleichen ihre Gedanken, was darauf erfolgen werde. 3) Die Reise aus Egypten in das Land Canaan. 4) Das Begräbniß Israels und die dabei gehaltenen bittren Klagen. 5) Das getröstete Herz der Hinterbliebenen.« Die Stimmungen sind zum Theil ähnliche, wie sie Bach bei der Abreise des Bruders an sich und den Seinigen beobachten konnte. In der That scheinen auch bestimmte musikalische Anklänge zu verrathen, daß ihm grade diese Sonate, bewußt oder unbewußt, vorschwebte. Kuhnaus Tonbilder sind aber überall breiter ausgeführt, als die Bachs; dies können wir nicht auf Rechnung von Anfängerschaft bei letzterem schreiben, weil er in andern Formen schon damals sehr ausführlich zu reden verstand. Vielmehr liegt da eine Andeutung, daß der jüngere Tonsetzer nicht mit dem vollen musikalischen Ernst ans Werk ging, wie der ältere, sondern im Gefühl, etwas halbkünstlerisches zu thun, die Composition mit einer Art von Humor betrieb, der sich ja der Wehmuth über das Scheiden des Bruders sehr wohl zugesellen konnte. Es ist auch bei der Schilderung von Stimmungen, an welchen man persönlich so sehr betheiligt ist, gar nicht anders möglich; hätte er selbst gejammert [235] und getrauert, wie er es schildert, so wäre ihm das Componiren sicher vergangen. Zudem bricht der objective Musiksinn in der Schlußfuge so siegreich durch, daß man nicht mehr zweifeln kann, wie Bach selbst diese Programm-Musik aufgefaßt wissen wollte. Doch gehen wir der Reihe nach! Das erste Stück »ist eine Schmeichelung der Freunde, um denselben [den Bruder] von seiner Reise abzuhalten«; das Schmeicheln wird durch eine sehr anmuthige, ordentlich streichelnde Figur versinnlicht:


2.

die übrigens auch in andern Compositionen aus der frühen Periode zu Tage tritt. Zweites Stück: »Ist eine Vorstellung unterschiedlicher Casuum, die ihm in der Fremde könnten vorfallen«; Fuge in G moll, 19 Takte lang, verliert sich aber sehr bald in entfernte Tonarten, was möglichenfalls auch eine beabsichtigte Symbolik sein könnte, denn die Modulationen gehen weich und unmerklich vor sich, langt endlich mit dem Ausdrucke Jemandes, der sich ganz müde gesprochen hat, auf der Dominante von F moll an. Da nichts auf den Bruder Eindruck macht, beginnt im dritten Theile »ein allgemeines Lamento der Freunde«. Zwei Bässe dirigiren als ostinati fast das ganze Stück; der zweite von ihnen:


2.

ist jenes bei der Cantate schon angekündigte Lieblings-Motiv Bachs: es findet sich weiter noch im ersten Chor der Cantate: »Weinen, klagen«30 und von dort herüber genommen im Crucifixus der H moll-Messe, im Anfangschor der Cantate: »Jesu, der du meine Seele«31, im Anfangschor der Cantate: »Nach dir, Herr, verlanget mich«, im Schlußsatze der Fis moll-Toccate für Clavier32, in einer Clavierfuge aus A moll33 und anderwärts. Die Oberstimme hat zu diesen Bässen [236] schluchzende oder chromatisch winselnde Gänge auszuführen, in dem Ganzen ist die Form des Passacaglio leicht zu erkennen und die große Leichtigkeit und Mannigfaltigkeit in der Behandlung bei einem kaum zwanzigjährigen Tonsetzer nicht genug zu bewundern. Der so trübselig und allein abziehende Bass am Ende erinnert wieder einmal an Böhm, dessen Einfluß auch in dem reichen Verzierungswerk der ersten beiden Sätze etwas zu erkennen ist. Im vierten Stücke nun »kommen die Freunde, weil sie doch sehen, daß es anders nicht sein kann, und nehmen Abschied«; hierzu haben sie nur elf Takte lang Zeit, denn die Post hält schon vor der Thür – fünftes Stück: Aria di Postiglione, ein allerliebstes zweitheiliges Tonbildchen, in welchem eine fröhliche Melodie mit dem Posthorn-Signale abwechselt, im zweiten Theile liegt sie im Bass und nimmt sich aus, als könne sie nie anderswohin gehört haben! Dann fährt der Wagen fort und der Tondichter ist allein. Er benutzt seine Muße dazu, über das Posthorn-Signal eine Doppel-Fuge zu schreiben.

Diese Fuge müssen wir noch etwas genauer betrachten. Sie ist das einzige weit ausgeführte Musikstück des Capriccio und auch das musikalisch werthvollste. Man sieht es deutlich, daß Bach, wenn er dieses Clavierwerk zum Andenken für seinen Bruder verfaßte, vor allem die Absicht hatte, ihm ein tüchtiges Musikstück zu schreiben, in dem er zeigte, was er zu leisten vermöge. Die Schilderung der genannten Situationen schickte er voran, weil die Gelegenheit günstig war, auch einmal in dieser Gattung es dem Kuhnau nachzuthun; er behandelte sie mit jener leichten Ironie, die ja das Interesse für den Stoff nicht ausschließt und die Herrschaft über ihn sichert. Mußten wir schon dort einen hohen Grad von Meisterschaft bewundern, so zwingt die Betrachtung der Fuge zum Erstaunen, ja man würde an der frühen Entstehungszeit des Capriccio zweifeln, wenn eben nicht die Anlehnung an Kuhnau das Räthsel löste. Die Erscheinung wiederholt sich annähernd, welche bei den Böhmschen Choralpartiten zu bemerken war. Bach besaß ein so merkwürdiges formales Talent, und die Energie seines Studiums war so groß, daß es seiner jugendlichen Empfänglichkeit in kurzer Zeit gelang, den Stil eines andern Meisters völlig in sich hinein zu nehmen. Dabei verzichtete er durchaus nicht auf die persönliche Eigenthümlichkeit. Kuhnau muß, wenn ihm je diese Fuge zu Gesicht gekommen ist, sich selbst darin sofort [237] wieder erkannt, aber auch von ferne das Wehen eines Geistes gespürt haben, der anders und mächtiger war, als er. Um das äußerliche zuerst zu nennen, so ist schon die ganze Spieltechnik der Fuge eine andre, als die spätere und eigentliche Bachsche, die an die Selbständigkeit und Geschmeidigkeit der einzelnen Finger und gelegentlich auch an Lauffertigkeit die höchsten Anforderungen stellt, aber einen ruhig und gleichmäßig fließenden Grundcharakter hat und allem Springen und Hinundherfahren entgegengesetzt ist. Es kann sich aber jemand sehr in die Bachsche Spielweise hineingefunden haben und grade in dieser Fuge auf ungewohnte technische Schwierigkeiten stoßen. Die Themen ahmen beide das Posthorn nach, das zweite in Anlehnung an die Aria di Postiglione:


2.

das erste in neuer Erfindung:


2.

Die Combination erinnert an die erwähnte Doppelfuge aus Kuhnaus Saul, dann stellenweise sehr bestimmt an eine Doppelfuge aus dessen Clavier-Uebung, für welche Bach eine besondere Vorliebe gehabt haben muß, denn er bearbeitete das erste Thema derselben noch in einer besondern Composition. Zu den beiden Hauptthemen gesellt sich ein dritter Contrapunct, den man fast als selbständiges Thema betrachten könnte, mit solcher Consequenz kehrt er wieder, hebt sich von den andern ab, und fügt sich in ihre Verbindung ein, wie hineingewachsen. Während die Fuge in frischem Zug ununterbrochen fortströmt, tauchen allerhand interessante thematische Bildungen[238] auf, besonders aus dem zweiten Thema höchst natürlich sich entwickelnd, so daß in der That alle Satzkünste hier in Anwendung gebracht sind. Es sollte ein rechtes Ricercar, eine Meisterfuge werden, womit er den Bruder beschenkte, und wäre alles, was er bietet, sein eigen, so würden auch wir ihn schon jetzt einen Fugenmeister nennen müssen.

Ich sagte zuvor, das Capriccio stehe unter Bachs Werken einzig da. Keineswegs aber ist es das einzige, in dem er den Spuren Kuhnaus gefolgt ist, und vielleicht entzog uns nur ein Zufall die Gewißheit, noch ein zweites Stück Programm-Musik von ihm zu besitzen. Denn eine zweite nach Kuhnaus Vorbilde gearbeitete mehrsätzige Composition liegt sicherlich vor34. Schon daß sie ebenfalls den Namen »Sonate« trägt, der für vieltheilige Claviercompositionen erst von Kuhnau aufgebracht und durchaus nicht gleich allgemein geworden war, würde unsre Ansicht ziemlich fest begründen35. Aber auch der innern Anzeichen sind genug, um einen so bestimmten Ausspruch zu erlauben. Der erste Satz (D dur 3/4) ist in seiner Construction und seinem gänzlich homophonen Wesen von dem, was man Bachisch nennt, so grundverschieden, daß Niemand, der ihm von den folgenden Stücken abgetrennt begegnen würde, auf den wahren Componisten rathen dürfte. Dem Stile Kuhnaus aber, welcher seinen musikalischen Absichten gemäß vielfach homophone, liedhafte Sätze bringt, ist er aufs nächste verwandt, ja ich stehe nicht an, zu behaupten, daß er gradezu nach einem bestimmten Stücke aus der »Historie« von Jakobs Heirath gemacht ist. Ich meine den Abschnitt, welcher die Ueberschrift trägt: »Der in der Hochzeitsnacht vergnügte Bräutigam, darbei ihm zwar das Herz was böses sagt, er aber solches bald wieder vergißt und einschläft.« Takt, Tonart, Ausdehnung und Zeichnung des Hauptgedankens, Gesammtcharakter, alles stimmt überein. Hier wie dort setzt sich das Ganze aus meist achttaktigen, arienmäßigen Perioden [239] zusammen, die jedesmal eine vollständige und fast immer dieselbe Cadenz machen, nur ist Kuhnau kürzer und durchsichtiger, Bach massiger in der Harmonisirung und fast noch einmal so lang, obgleich er durchaus nicht mehr zu sagen hat, als jener; hier verräth sich der Anfänger. Die Aehnlichkeit geht aber noch weiter: wie Kuhnau nun unter der Ueberschrift: »Jakobs Verdruß über den Betrug« einen kurzen, aus recitativischen Phrasen sich bildenden Satz bringt, genau so schließt Bach ein vierzehntaktiges Stückchen mit Recitativ-Nachahmung an, woraus sich dann ein gebundener polyphoner und ebenfalls in Kuhnaus Weise gehaltener Stil entwickelt (man vergleiche das erste Praeludium des ersten Theils der Clavierübung), der sehr schön auf die Dominante von H moll hinüberleitet. Das folgende Stück ist eine Fuge mit diesem Thema36:


2.

ein ausdrucksvolles und schon merklich selbständiges Stück, nur etwas zusammengeballt durch die einander auf die Fersen tretenden Engführungen. Aus den zuweilen nur durch ruhige Accordfolgen gebildeten Contrapuncten kann man Bach wenigstens seinen Vorbildern gegenüber keinen Vorwurf machen, auch nicht aus der nach den strengsten Gesetzen zuweilen unerlaubten Beantwortung des Themas, Gesetzen, die er ja selbst erst zu ganzer Gültigkeit erheben sollte. Es kommt nun ein schönes Stückchen Adagio, ebenfalls im gebundenen Stil und von einer Innerlichkeit, wie sie Kuhnau nicht zu Gebote stand; dann in der Haupttonart die Schlußfuge, zu welcher der ältere Meister wieder sein Theil beigesteuert hat, vielleicht gar aus dem in der Anlage sonst verschiedenen ersten Satze von Jakobs Heirath. Interessanter noch für uns, als der musikalische Werth dieses leichtgeschürzten Satzes ist die Ueberschrift, welche er in der Handschrift trägt: Thema all Imitatio Gallina Cucca37. Also das Gackern der Henne soll es bedeuten, dieses lustige Thema:


2.

[240] mit jener, es das ganze Stück hindurch begleitenden Gegenbewegung!:


2.

Es ist wohl nicht zu kühn, wenn wir, eben von dem Capriccio herkommend, hier ein ähnliches Verhältniß argwöhnen, wie es dort zwischen der Schlußfuge und dem Uebrigen bestand. Beide Fugen haben viel Verwandtes im Allgemeinen, nur daß die zweite flüchtiger dahingaukelt, was vielleicht durch den Gegenstand veranlaßt sein mag, welcher etwa dem Componisten vorschwebte. Daß überhaupt bestimmte Vorstellungen walteten, legt auch der Uebergang vom letzten Adagio nahe, der musikalisch so unmotivirt ist, daß er etwas besonderes scheint sagen zu wollen, es legt es das genannte Recitativ nahe und überhaupt die Anlehnung an Kuhnaus Historie. Welche es aber gewesen sein könnten, vermag ich nicht zu sagen, und Vermuthungen nach dieser Seite hin anzustellen, soll andern überlassen bleiben.

In jedem Falle war es die poetisirende Richtung zum geringsten Theile, welche Bach in Kuhnaus Compositionen anzog. Gab er sich ihr auch einigemale hin, so fehlen doch deutliche Anzeichen nicht, daß er es mehr in humoristischer Weise that. Bei dem Verhältniß, was zwischen Vocal- und Instrumental-Musik besteht und bei der viel innigeren Verbindung, welche damals noch unter diesen beiden Hauptgattungen herrschte, als hundert Jahre später, würde es sein Talent auch nicht verunehren, wenn er wirklich einmal geglaubt hätte, diese Kunstart sei etwas, besonders da das Ansehen eines Kuhnau sie deckte. Aber wenn nicht noch unbekannte Schätze Bachscher Instrumentalcompositionen ans Licht gefördert werden, die uns eines andern belehren, so bleibt die Wahrheit bestehen, daß er nach diesen Jugendversuchen niemals während eines langen, noch fast fünfzigjährigen Künstlerlebens wieder auf diese Gattung zurück kam. Einem [241] so urmusikalischen Genie, wie dem seinigen, mußte es unerträglich sein, die Kunst auf Krücken wandeln oder Magd-Dienste thun zu sehen. Das producirende oder reproducirende Hineinziehen eines Musikstücks in das Empfindungsgebiet einer bestimmten äußerlichen Vorstellung dient allzuhäufig nur der Flachheit und hilft sie befördern. Für die Erfindungskraft des Componisten wird es ein Reizmittel, wenn die natürliche Energie des musikalischen Schauens ermattet, und die Theoretiker zu Bachs Zeit, welche nach dem Schema der Rhetoren des Alterthums eine vollständige Topik der Erfindung aufstellten, weil dieselbe ihnen freiwillig wenig oder nichts gewähren wollte, fanden in dem Verfahren, die Phantasie durch solche Vorstellungen zu entzünden, den sogenannten locus adjumentorum. Das Einbildungsvermögen der Hörer aber, weit entfernt, zum rechten Verständniß leichteren Zugang zu erhalten, wird da durch auf Nebendinge abgezogen und der musikalischen Hauptsache entfremdet. Es kommt freilich auf die Art der Vorstellungen an, unter denen die Musik wirken soll. Die Franzosen, im allgemeinen für Instrumentalmusik wenig begabt, liebten es im kleinen Clavierstück, dem Einzigen fast, wo sie schöpferisch auftraten, dieses als Portrait- oder Genrebild-Unterschrift für L'Auguste, La Majestueuse, Les Abeilles u.s.w. zu gebrauchen, zeigten sich also auch hier theatralisch. Ueber den Deutschen Kuhnau wurde schon gesagt, daß er meistens empfindungsgesättigte Situationen zum Ausdruck bringt, wenngleich auch er zuweilen zu sehr äußerlichen Mitteln greift, z.B. dem Clavier den Vortrag von Recitativen zumuthet, und in der Anreihung verschiedener Tonbilder, deren geforderten poetischen Zusammenhang zu verdeutlichen der Musik unmöglich fällt, geradezu unkünstlerisch ist. Wird aber mit rein musikalischen Mitteln gewirkt und bezweckt die poetische Einmischung nur die Abgränzung eines einzigen bestimmten Empfindungskreises, in dem die Musik nunmehr unbehindert ihr Wesen entfalten kann, so dient dies allerdings sehr dazu, die Stimmung zu vertiefen, verrückt dann aber das Gleichgewicht zwischen objectiven und subjectiven Elementen im Kunstwerk wesentlich zu Gunsten der letzteren. Denn das Allgemeingültige im Kunstwerk ist die Form, in welche bei einem Musikstück der Gedanke oder die Vorstellung nicht eingeht. Alle solche Kunstideen sind für die einsame Träumerei, und [242] haben hier kaum geringere Berechtigung, als in der Dichtkunst das lyrische Lied, was ja nach Goethes Ausspruch eigentlich immer ein Gelegenheitsgedicht sein sollte; der größeren Menge sind sie höchstens in der kleinsten Form verständlich und dann doch selten sympathisch. Will der Künstler sie einer solchen sicher vermitteln, so bedarf er nothwendig des Beistandes der Menschenstimme, in deren Gesange die Natur das erläuternde Wort mit dem Tone zum einheitlichen Kunststoffe verschmolz. Bachs Entwicklung legt nicht nur gegen jenes musikalische Fabuliren ein schwerwiegendes Zeugniß ab, sondern bestätigt auch die Richtigkeit des letztgenannten Grundsatzes in nachdrücklichster Weise. Denn der Pachelbelsche Orgelchoral, hervorblühend aus all den Beziehungen, welche sich zwischen der Persönlichkeit und einer kirchlichen Melodie knüpften, und, was an heiligen Regungen und unsterblichen Erinnerungen des Künstlers sich um sie webt, in geheimnißvollen Klängen austönend – ist er etwas anderes, als solch ein subjectives Stimmungsbild? Eine lange Zeit hat vorzugsweise dieser Form Sebastian die Vollkraft seines Genies zugewendet und eine Empfindungswelt vor uns erschlossen, die tief und unausmeßlich ist, wie das Meer. Aber Künstler sein heißt das innerlich Erlebte äußerlich gestalten, und zu immer größerer Objectivirung eines Inhalts drängt, wie die gesammte Kunst, so die Entwicklung jedes echten künstlerischen Individuums. Den Orgelchoral zu seiner letzten und höchsten Vollendung erheben, das ist der Sinn von Bachs Choralchören und den ihnen verwandten Tongestalten, ein Weg, den er schon in Weimar betrat, und dann während seiner siebenundzwanzig Leipziger Jahre mit einer Energie verfolgte, welche eben so riesig ist, wie sein Genie.

Der zweite Satz der eben betrachteten Bachschen Sonate bietet eine selbständig geführte Pedalstimme, während im Uebrigen die Composition nur den Händen zu thun giebt. Es kehrt hier eine Erscheinung wieder, die schon oben bei einer Choralbearbeitung flüchtig berührt wurde. An einer ganzen Reihe von Bachschen Werken läßt sich beobachten, wie er erst allmählig zu einer durchgeführten selbständigen Verwendung des Pedals sich durcharbeitete. Allerdings herrschte hier auch bei seinen Vorbildern manche Freiheit, da sie sich, etwa mit Ausnahme des Orgelchorals, nicht streng an einen Satz von sich gleich bleibender Stimmenzahl banden, aber das Verhältniß[243] ist doch immer so, daß das Pedal einen wesentlichen Theil der Composition darzustellen hat, sobald es überhaupt in Mitleidenschaft gezogen ist. Ein vereinzeltes Auftreten aber inmitten eines Stücks und spurloses Wiederverschwinden, wie in der Sonate, ist das Zeichen des Anfängerthums: dergleichen hätte sich weder Pachelbel noch Buxtehude erlaubt. Nicht viel gereifter ist es, wenn erst gegen den Schluß einer Composition das Pedal angewendet wird, sei es in selbständiger Vorführung des Themas oder zum Zweck einer glänzenderen Schlußcadenz; hier liegt freilich eine künstlerische Absicht vor, die aber doch auf einen mehr äußerlichen Effect gerichtet ist. Endlich stößt man auf einzelne Pedaltöne, die als Orgelpunkte oder zur tieferen Gründung eines wichtigen Accords dienen sollen; dies Verfahren, das auch andre Componisten seiner Zeit kennen, verflicht das Pedal so gut wie garnicht in den Organismus des Stücks, und geht nur auf einen nebensächlichen Aufputz. Daher findet es sich auch, wenn nicht alle Zeichen trügen, noch in den ersten Jahren von Bachs zweitem weimarischen Aufenthalte, bis es mit der stetig zunehmenden Vertiefung des Künstlers ganz verschwindet. Die andern Arten der Pedalverwendung weisen auf seine früheste Schaffensperiode zurück, und wer sich vergegenwärtigt, mit welch polyphoner Lebendigkeit er schon vor dem zwanzigsten Jahre zu schreiben wußte, wird Compositionen dieses Merkmals selbst in der zweiten Hälfte der Arnstädter Zeit kaum mehr für möglich halten. Ganz äußerlich betrachtet legte schon das häufige Orgelspiel allein, wozu ihm doch in Arnstadt zuerst volle Gelegenheit geboten wurde, eine selbständige Beschäftigung der Füße nahe, wie denn überhaupt seine compositorischen Leistungen nach dieser Richtung hin als Gradmesser und Spiegel seiner technischen Fertigkeit angesehen werden dürfen. In dieser wie in jenen ging es mit reißender Schnelligkeit vor- und aufwärts; wir wissen, daß er ganze Nächte hindurch saß, um dem Drange seines Genius zu genügen38.

Eine solche durch willkürlichen Pedalgebrauch gekennzeichnete Composition hat ein besonderes biographisches Interesse, da sie mit Sebastians ältestem Bruder in Verbindung steht. Wie dem Johann Jakob, als er mit den Schweden ziehen wollte, ein musikalisches Andenken [244] überreicht wurde, so erhielt auch Johann Christoph bei einer festlichen Veranlassung sein tönendes Angebinde. Dort wie hier wurde der Name »Capriccio« gewählt, und wie dort die Veranlassung der Composition genau angegeben war, hier wenigstens hinzugefügt: zu Ehren Johann Christoph Bachs aus Ohrdruf39. Der Gedanke, daß es auch hier wieder hauptsächlich auf einen Beweis der erworbenen Kunstfertigkeit und der gemachten Fortschritte abgesehen sei, liegt um so näher, als das Werk dem einstmaligen Lehrer – vielleicht zu dessen Geburtstage – überreicht wurde. Schwerlich ist es später als 1704, vermuthlich gar noch in Lüneburg componirt. Die Entwicklung eines Künstlers geht nicht immer in gerader Linie aufwärts, sonst wäre das letztere sicher, da der Werth des zweiten Capriccios unzweifelhaft geringer ist, als der des ersten. Es besteht nur aus einem fugirten Satze, der Name war damals für freie Fugenformen nicht ungebräuchlich. Frei ist sie insofern, als neben dem Thema darin noch allerhand andre Elemente ihr unstetes Wesen treiben: anspruchsvolle Contrapuncte, die es zu nichts bringen, flüchtig spielende Gänge, drein fahrende Masseneffecte. Diese ungebundene Behandlung der Fuge verräth eben so sehr die Einwirkung der nordischen Schule, als die Geschicklichkeit in thematischer Entwicklung, welch letztere dem Stücke vorzugsweise sein Interesse verleiht. Sonst kommt es trotz seiner äußerlichen Breite (126 2. Takte) zu keiner rechten Entwicklung: ohne Berg und Thal führt der Weg in einer nicht grade unfreundlichen Ebene weiter. Die Schuld trägt wohl zum großen Theile das Thema:


2.

was mit dem straffen, frischen Posthornthema verglichen sich schlendernd, [245] fast schläfrig fortbewegt. Im 67. Takte ist es, wo plötzlich das Pedal herangezogen wird, aus keinem andern Grunde, als damit die beiden Hände über dem Basse ihr imitatorisches Spiel ausführen können; es verschwindet nach wenigen Takten, um gegen das Ende zu ähnlichem Zwecke noch einmal wiederzukehren, wo in brillanten Zweiunddreißigstel-Passagen dem Spieler Gelegenheit wird, sich zu zeigen. Man darf annehmen, daß auch sonst bei passender Gelegenheit der Bass durch das Pedal willkürlich verstärkt wurde, nothwendig ist es aber nur an den beiden bezeichneten Stellen. Seinem Charakter nach ist übrigens dies Capriccio für Cembalo bestimmt.

Ein Werk aber, an dem die orgelmäßige Haltung unverkennbar ist und das wegen jener unentwickelten Pedalbehandlung gleichfalls hierher gehört, liegt in einem Praeludium nebst zugehöriger Fuge in C moll vor40. In diesem Falle ist die Entstehung während der ersten Arnstädter Jahre unzweifelhaft: die Wonne, mit welcher der Componist in dem unbeschränkten Tonmaterial der Orgel badet, leuchtet aus jedem Takte hervor. Das Praeludium verwendet das Pedal, abgesehen von einem einleitenden, mehrtaktigen Solo, nur in gehaltenen Grundtönen, über denen sich ein prächtig strömender imitatorischer Satz aufbaut, der wieder einmal Bachs frühe Meisterschaft im polyphonen Gewebe beweist; nur zwei Stellen (Takt 20 und 24) sind auf damalige Manieren zurückzuführen, die Bach später gänzlich abstreifte. Die Fuge ist dermaßen gestaltet, daß erst ganz gegen Ende das Pedal und zwar mit dem Thema eintritt, von den Manualen nicht contrapunctirt, sondern durch Accordschläge nur harmonisch überdacht. Die Kunst des Satzes wie des Spiels mag noch nicht weiter gereicht haben; es ist aber ein schlagender Beweis von der Harmonie, in welcher sich bei Bach der äußere Musiker mit dem innern entwickelte, daß der unmittelbare Eindruck doch keineswegs der einer halbgestalteten Intention ist. Seine Gedanken fügten sich ganz in die Form, welche seine Spiel-Fertigkeit ihnen eben geben konnte; diese ist noch nicht nach allen Seiten gleichmäßig ausgebildet, aber das Kunstwerk ist wie aus einem Guß. So mag auch der späte Eintritt des Pedals seinen äußern Grund darin haben, daß der Componist [246] dasselbe obligat ganz durchzuführen noch nicht im Stande war; es ist aber jedem erkennbar, daß damit zugleich eine wohlbedachte Steigerung gegen den Schluß hin erzielt wird. In der That lodert hier ein echt jugendliches Feuer in hellen Flammen; die dröhnend auf- und abtaumelnden Sechzehntel-Gänge des Pedals mit den wuchtigen Accordschlägen der Hände sind von ganz bedeutender, durchaus orgelgemäßer Wirkung, auch in den brausenden Tonfluthen des Manuals, die zum Schluß hin alles überschäumen, lebt weit mehr als nur das Verlangen nach virtuosem Glanz. Betrachtet man den Bau der Fuge im Uebrigen, so verräth auch die Art, wie die Thema-Einsätze auf einander folgen, viel mehr das Bestreben, sich in einem gewaltigen Tonreiche frei zu tummeln, als den höheren und höchsten Anforderungen der Fugenform gerecht zu werden. Daß dies überhaupt ein Kennzeichen der vor-Bachischen Periode ist, daß dieselbe von strenger Polyphonie mehr oder weniger fern vor allem darnach trachtete, das gesammte Tonmaterial der Orgel zur Geltung zu bringen, ist bereits nachdrücklich von uns hervorgehoben. Erst Bach selber war es vorbehalten, die vollste Herrschaft über den Stoff im Dienste des höchsten Ideals zu verwenden. Das geschah zur Zeit seiner Meisterschaft, wo er strenger und strenger gegen sich selbst werdend von den Freiheiten einer früheren Zeit nur noch ganz seltene Spuren merken läßt. Für jetzt macht er noch umfassenden Gebrauch von ihnen. Die C moll-Fuge ist dreistimmig – bis zum Eintritt des Pedals, wo alle Stimmigkeit aufhört. Individuen aber, welche an der Entwicklung des Stücks durch regelrecht abwechselnden Vortrag des Themas sich betheiligten, sind jene drei Stimmen nicht. Das Thema setzt auf der Tonika der kleinen Octave ein, und steigt in vier einander folgenden Eintritten immer weiter auf bis in die zweigestrichene Octave; vom dritten Eintritte ab liegt es natürlich beständig in der obersten Stimme. Das formgebende Princip ist hier also nichts weiter, als der Wechsel zwischen Tonika und Dominante und ihre innern Beziehungen zu einander; in Wahrheit ist dies, wie für alle Instrumentalformen, so auch für die Orgelfuge die naturgemäße Grundlage. Volle Beseelung zu erlangen, ein Ziel, was andre Formen auf anderm Wege erreichen konnten, war ihr jedoch nur möglich durch Zurückziehung auf eine feste Stimmenanzahl, welche wie Persönlichkeiten mit einander umzugehen schienen. Denn es ist[247] Aufgabe der Form, den Stoff zum Leben zu erwecken, und der Orgelton gehört zu den leblosesten, die es giebt.

Zu den anziehendsten Jugendwerken Bachs ist eine andre Fuge aus C moll zu rechnen, die sich als ungefähre Altersgenossin der vorigen darstellt41. Anziehend ist sie auch deshalb, weil sich Gestalten wie das Thema in verschiedenen Fugen finden und zwar immer reifer und inhaltvoller, so daß ein Grundelement des Bachschen Wesens darin zum Ausdruck zu kommen scheint. Wundervoll erblüht ist es in der dreistimmigen Fuge der E moll-Toccate für Clavier, zu welcher unsere fast die Vorstudie zu sein scheint: so verwandt ist Inhalt und Behandlung. Aber auch an sich sagt sie schon genug, und es ist sehr zu bezweifeln, ob irgend einem andern jener Zeit ein solches Thema eingefallen wäre:


2.

Die zugleich harmonische wie melodische Bewegung freilich von der zweiten Hälfte des dritten Taktes an war ein beliebtes und zweckmäßiges Mittel, die Schallmassen der Orgel in Fluß zu bringen und Würde mit Lebendigkeit zu vereinigen, aber man betrachte den Anfang – welches Schweben, welche Unbestimmtheit in Rhythmus und Harmonie, da es doch Grundregel war und ist, im Fugenthema sowohl Tonart wie Gliederung sofort klar hervortreten zu lassen! Hier weiß man anfangs nicht, ob Es dur oder C moll gemeint ist, und wenn dieser Zweifel sich mit dem folgenden Takte löst, so hat man wegen der vier Sechzehntel des dritten Viertels so lange die Wahl, sie als F moll [248] oder As dur anzusehen, bis der Eintritt des Gefährten für die Dur-Tonart entscheidet. Immer aber bleibt die Wendung ungewöhnlich und von großem harmonischen Reize. Die rhythmische Unbestimmtheit dauert noch länger. Bis zum dritten Viertel des vierten Taktes weiß nur der Spieler oder Leser, auf welche Töne die Hauptaccente des Taktes fallen, der unvorbereitete Hörer dagegen wird sich die Tonreihe so vorstellen:


2.

da die Orgel nicht zu betonen vermag, und erst im vierten Takte wird sein Gefühl zurecht gerückt werden. Dies Hervortauchen aus dem subjectiven Dämmerlicht in die helle Objectivität ist ein tief gegründeter Zug Bachscher Kunst; ein Blick auf die Fis moll-Fuge im zweiten Theil des wohltemperirten Claviers vermag zu zeigen, wie er ihm bis in sein spätes Lebensalter nachgab. Von dem Thema aus durchdringt das ganze Stück ein Schwellen und Dehnen, ein Verlangen nach dunkel geahnter Seligkeit; ganz wundersam und allem dagewesenen unvergleichbar klingt in Stellen wie diese:


2.

der Sextaccord von As dur mit oben und unten liegender Terz und im folgenden Takte der trüb-schwankende verminderte Dreiklang. Immer wieder kommt auch der Componist auf diese Contrapunctirung [249] zurück, als könne er sich nicht satt daran hören. Der durchgehende Gefühlsstrom ist so intensiv, daß man darüber gern vergißt, wie wenig contrapunctischen Reichthum die Fuge entfaltet, und mit wie geringen Veränderungen immer die gleichen Combinationen nur in verschiedenen Versetzungen wiederkehren. Es ist ein unstet reizendes Auf- und Abfluthen, das uns an kein Ziel zu tragen bestimmt ist. Zum Schluß tritt Pedal ein, um wenigstens äußerlich anzuzeigen, daß jetzt ein Ende gemacht werden soll; ein nachdrückliches Solo desselben muß es versichern; wir würdens sonst nicht glauben.

Die Frage drängt sich auf, was Bach in diesen Jahren des Knospens und fröhlichen Erblühens weiteres im Orgelchoral geleistet habe. Denn daß er auch diese Gattung, der einige seiner frühesten Versuche angehörten, der er als Meister in unermüdlicher Thätigkeit zugewendet blieb, und auf welche ihn sein Beruf fortgesetzt hinwies, jetzt nicht vernachlässigt hat, ist unzweifelhaft. Vor allem wird man im Auge behalten müssen, daß es Pachelbels Richtung war, in welche der Knabe an der Hand des Bruders zuerst eingeführt worden, und die ihm, als er nach dreijährigem Ausfluge ins Thüringische zurückkehrte, wieder von allen Seiten anregend entgegentrat. Nachdem er sich im Norden von dem originellen Geiste der dort geltenden Meister zeitweilig hatte ganz erfüllen lassen, irren wir schwerlich in der Annahme, daß er mit gereifterer und bereicherter Kraft von neuem die Kunstformen begrüßte, welche er mit Recht seine vaterländischen nennen konnte. Sie waren ja auch von allen die tiefsinnigsten und entwicklungsfähigsten, sie der eigentliche Grund und Boden, aus dem wie eine Eiche voll sinniger Majestät der Bachsche Orgelchoral erwuchs, während alle andern Einflüsse nur als zugeleitete befruchtende Gewässer gelten dürfen. In Pachelbels Bahnen vorzugsweise weiter schreitend werden wir uns ihn während der ersten Arnstädter Jahre zu denken haben. Nur wenig freilich ist es, was mit einiger Wahrscheinlichkeit als Resultat seiner damaligen Compositions-Studien bezeichnet werden kann. Eine Reihe von siebenzehn Variationen über »Allein Gott in der Höh sei Ehr« werden in einem alten Manuscripte ihm zugeschrieben42. Ein innerer Grund gegen ihre Echtheit läßt sich kaum geltend machen, wenn man sie als Jugendwerk ansieht [250] und sich erinnert, wie sehr sich Bach auch dem Stile Böhms und Kuhnaus anzunähern vermochte. Denn in vielen Variationen findet sich allerdings Pachelbel wie er leibt und lebt, so besonders in der zweiten, wo der Cantus firmus im Pedal liegt, in der elften, welche der Mittelstimme die Melodie zutheilt. Auch daß der Satz meistens dreistimmig durchgeführt ist, entspricht Pachelbels ordentlichem, maßvollem Wesen. Originelle Züge wären wohl kaum zu entdecken, und darum sind die Variationen doch kein vollwichtiges Zeugniß für Bachs augenblicklichen Entwicklungszustand. Dieses könnten nur Compositionen ablegen, welche in der überkommenen Form auch schon etwas von neuem Inhalt sehen ließen. Buttstedt, Walther und Andere haben wohl ihr ganzes Leben lang Stücke gemacht, die auch Pachelbel gemacht haben könnte; Bachs Verhältniß zu ihm kann unmöglich anders gewesen sein, als zu Böhm, Kuhnau und Buxtehude. Ja, je vertrauter er von Kindheit auf mit Pachelbels Weise war, desto eher mußte er sich selbständig in ihr bewegen lernen. Diese Selbständigkeit braucht natürlich nicht aus jedem, vielleicht rasch hingeworfenen Producte hervorzuspringen.

Fußnoten

1 Daß es Johann Ernst war, berichtet die Genealogie ausdrücklich. Eine Bestätigung ist das nähere Verhältniß, in welchem sich der Meister zu dem Sohne dieses Herzogs, Ernst August, befand, obgleich derselbe erst zur Regierung kam, als Bach Weimar längst für immer verlassen hatte.


2 Walther, Lexicon. Westhoff starb im Jahre 1705.


3 S. Anhang A. Nr. 9.


4 Olearius, Historia Arnstadiensis, S. 52, 55 und ff.


5 Arnstädter Consistorial-Protokolle vom 24. Nov. 1684.


6 Der Stifter hieß Johann Wilhelm Magen und starb am 11. Mai 1699. Acten, den Bau der Orgel in der Neuen Kirche betreffend, vom 1. Juli 1699 (fürstl. Archiv zu Sondershausen).


7 Acta, die Bestallung der Organisten zu Arnstadt betreffend, von 1670. Fol. 12, 22, 101, 102 (fürstl. Archiv zu Sondershausen).


8 a.a.O., Fol. 111.


9 Fol. 108. Zur richtigen Würdigung des Gehalts sei hier noch einmal daran erinnert, daß sein Nachfolger Johann Ernst Bach an derselben Stelle nur 40 Gülden, und als Organist an der Barfüßer- und Liebfrauenkirche noch im Jahre 1728 nicht mehr als 77 Gülden erhielt.


10 Olearius, a.a.O., S. 57.


11 Dann wurde an ihrer Stelle ein neues gewaltiges Werk als Ehrendenkmal für Sebastian Bach aufgeführt, jedoch mit möglichster Schonung und Verwerthung der alten Orgelstimmen. Die Anregung zu diesem würdigen Unternehmen, zu dem die Freunde Bachscher Kunst von nah und fern beigesteuert haben, ging von dem jetzigen Organisten Herrn H.B. Stade aus, der auch die Ausführung desselben mit Hingebung geleitet hat. Ganz vollendet ist das Werk noch nicht; es wäre zu wünschen, daß es kein Torso bliebe.


12 Die Begründungen hierfür werden im Verlaufe der Erzählung von selbst zu Tage treten.


13 Einiges über ihn auch im Waltherschen Lexicon.


14 S. das Nähere hierüber bei Gerber, N.L. IV, Sp. 384.


15 Diese »Sonderbare Invention: Eine Arie in einer einzigen Melodey aus allen Tonen und Accorden auch jederley Tacten zu componiren« u.s.w. soll nach Walther 1702 erschienen sein; das Exemplar auf der Bibliothek zu Königsberg i. Pr. trägt nach Jos. Müllers Katalog die Zahl 1703. Gesehen habe ich es nicht.


16 Hesse, Verzeichniß schwarzburgischer Gelehrten, Stück 18. Rudolstadt, 1827. Gerber, L. II, Sp. 673. Adlung, Anleit. zur mus. Gel. S. 116.


17 S. Anhang A. Nr. 10.


18 An diesem Tage zeigten sämmtliche Primaner der Schule die Aufführung eines solchen an (Acten des Raths-Archivs zu Arnstadt). Den Theater-Contract und ein Verzeichniß von Spielern hat im Wesentlichen mitgetheilt K. Th. Pabst im Arnstädter Gymnasialprogramm von 1846, S. 22. Ich konnte das interessante Actenstück nicht wiederfinden, und mußte mich ganz auf jene Schrift verlassen.


19 Opern-Aufführungen kommen in Weimar schon von 1697 an vor; einige Texte bewahrt die dortige großherzogl. Bibliothek, dazu auch das Manuscript eines Lustspiels »Von einer Bauren-Tochter Mareien, Um welche zwey Freyer, ein alter und ein junger geworben«, wo ebenfalls theilweise im thüringischen Dialekt gesprochen wird.


20 Salomo Franck (Geist- und weltliche Poesien I, S. 302; vergl. S. 306); die Musik war vielleicht von einem braunschweig-wolfenbüttelschen Componisten. Die Augustenburg ist später wieder abgetragen.


21 B.-G. II, Nr. 15.


22 Von der vierten Strophe hat Bach nur vier Zeilen componirt, und die fünfte fallen lassen.


23 S. Anhang A. Nr. 11.


24 S. Anhang A. Nr. 12.


25 Nach der Genealogie.


26 Ein Autograph desselben ist nicht bekannt. Ob daher der Titel in dieser italiänischen Fassung von Bach herrührt, mag unentschieden bleiben; er bediente sich jedoch in seiner frühesten Schaffensperiode gern italiänischer Ueberschriften.


27 »Musicalische Vorstellung | Einiger | Biblischer Historien, | In 6. Sonaten, | Auff dem Claviere zu spielen, | Allen Liebhabern zum Vergnügen | versuchet | von Johann Kuhnauen. | Leipzig, | Gedruckt bei Immanuel Tietzen | Anno MDCC.«


28 Mattheson, Der vollkommene Capellmeister. S. 130, §. 72.


29 Den ersten Theil derselben hatte Kuhnau 1689 veröffentlicht, richtete aber beim Erscheinen des zweiten eine neue Titel-Auflage für jenen her. Der erste enthält sieben Suiten (»Partien«) in Dur-Tonarten, der zweite sieben solcher in Moll-Tonarten, außerdem die genannte Sonate.


30 B.-G. II, Nr. 12.


31 B.-G. XVIII, Nr. 78.


32 B.-G. III, S. 318. – P.S. I, Cah. 4, Nr. 4.


33 P.S. I, Cah. 4, Nr. 6.


34 P.S. I, Cah. 13, Nr. 8.


35 Die Aufschrift, welche Joh. Peter Kellner dem im Besitz des Herrn F. Roitzsch befindlichen Manuscripte gegeben hat: Sonata clamat in Det Fuga in H moll, ist, wie so vieles von seiner Hand, flüchtig und ungenau. Daß der Name »Sonate« dem ganzen fünftheiligen Werke gelten muß, lehrt der Augenschein.


36 Die fast vollkommene Uebereinstimmung mit dem Andante-Thema aus Beethovens Pianoforte-Sonate Op. 28 wird jedem auffallen. An eine Reminiscenz ist hier natürlich nicht zu denken.


37 Mangelhaftes Italiänisch für: Tema all' imitazione della chioccia. Die Posthornfuge im Capriccio hat den Titel: Fuga all'imitazione della cornetta di Postiglione.


38 Mizler, Nekrolog, S. 167.


39 »Capriccio. In honorem Joh. Christoph. Bachii (Ohrdruf.) per Jh. Sb. Bach.« So auf einer Abschrift, welche von Aloys Fuchs herstammt und jetzt auf der königl. Bibliothek zu Berlin ist. Dasselbe mit geringen Abweichungen auf einer Handschrift von Bachs jüngerem Zeitgenossen Joh. Peter Kellner. – P.S. I, C. 13, Nr. 6.


40 P.S. V, C. 4, Nr. 5.


41 P.S. V, C. 4, Nr. 9. Griepenkerl in der Vorrede zu jenem Bande setzt sie auf Grund einer sehr alten Handschrift in die weimarische Zeit, womit er aber nur ihren ganz frühen Ursprung überhaupt bezeichnen will. Der Pedalgebrauch darin ist auch hier wieder ein sehr deutlicher Fingerzeig.


42 Im Besitz des Herrn Dr. Rust in Berlin; unveröffentlicht.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1873.
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