XIV.

[952] Joh. Phil. Kirnbergers Erläuterungen zum dritten Theil der »Clavierübung«109.


(Zu Seite 613.)


Entwickelung

einiger in Herrn. Joh. Seb. Bachs Liedern vorkommenden Ausweichungen und Transpositionen.

Auf der 30sten Seite der Bachschen Liedersammlung befindet sich das Lied:


Dieß sind die heil. 10 Gebot'.

Dieses Lied ist Mixolydischer Tonart, mithin G dur ohne fis und statt deßen f. In das F kann man in diesem Modo ordentlich ausweichen, welches weder in der Lydischen Tonart |: unser F: | noch in der Jonischen Tonart |: unser C dur :| angeht, weil dessen Untersecunde vom Hauptton nur um einen halben Ton statt einen ganzen tiefer ist; überdem ist auch in C dur kein B und in F dur kein ~E als Untersecunde, denn C dur hat H, und F dur hat E als wesentliche Untersecunde.

Vom 25ten zum 26ten Takte ist nach F dur ausgewichen, und bleibt in F dur bis zum 36 Takte.

Anmerkung. Gewöhnlicherweise gehet man in einem Dur Modo es [952] sey Jonischer oder Lydischer Tonart in die Oberquinte mit der großen Terz als von C dur nach G dur, und von F dur nach C dur.

In der Mixolydischen Tonart |: unser G :| darf man nicht vom Hauptton G dur in deren Oberquinte D dur gehen, sondern man muß vielmehr den Uebergang nach D moll machen, weil F in der Mixolydischen Tonleiter die eigentliche Terz von D ist.

Die Ausweichung nach D moll geschieht in diesem Liede vom 39 zum 40ten Takte.

Anmerkung. Weil der Mixolydische Modus kein Untersemitonium zum Leitton hat, folglich auch keinen Oberdominanten-Accord mit der großen Terz, durch welchen ein Hauptschluß gemacht werden könnte: so wird am Ende mit dem Dreiklange von der Unterdominante zum Hauptton geschloßen; als


14.

Die Ausweichung nach D moll auf der 35 Seite [Takt 1–19] mixolydischer Tonart, kömmt in verschiedenen Stellen vor, und am Ende wird in der Baßstimme von C nach dem Hauptton G der Schluß gemacht.

Das Lied: Wir gläuben all an einen Gott etc. auf der 37 Seite ist dorischer Tonart, und in seinem eigentlichen Ton D moll gesetzet, in welchem die große Sexte H wesentlich und die kleine Sexte B zufällig ist.

Seite 39 ist eben dieses Lied in dem nämlichen Modo anzutreffen, allein um einen Ton höher ins E transponirt; und um diesen Modum zu erhalten ist vor c ein €, so daß eben so, wie vom D die große Sexte H war, hier cis die große Sexte von E wird; ohngeachtet gewöhnlicher weise nur fis in der Vorzeichnung beim E moll vorkömmt.

Der folgende Choral: Vater unser im Himmelreich ist auch dorischer Tonart ins E transponirt, welches an dem vorgezeichneten Zeichen Cis kenntbar wird.

Seite 46 ist eben dieses Lied in seinem eigentlichen Tone D ohne B gesetzet, nämlich mit der großen Sexte H vom Hauptton D.

Das Lied Seite 47: Christ unser Herr zum Jordan kam etc. ist auch dorischer Tonart; aber um einen Ton tiefer ins C transponirt, welches sogleich am Anfange an der Vorzeichnung zu ersehen ist. Denn gewöhnlich ist in C moll ein ~ vor H, E und A: hier ist aber A die natürliche wesentliche große Sexte, und A mit ~ vorgezeichnet als ~A die kleine Sexte vom Hauptton zufällig.

Eben dieser Choral ist Seite 50 in der dorischen Tonart in seinem eigentlichen Tone D gesetzet. Er schließt am Ende nicht im Hauptton, sondern in deßen Oberdominante A mit der großen Terz cis.

Das Lied: Aus tiefer Noth schrei ich zu dir etc. Seite 51 ist phrygischer Tonart E mit der kleinen Terz, mithin moll.

Anmerkung. Dieser Modus zeichnet sich von den zwei andern Molltonarten als dorisch und aeolisch, darin aus, daß deßen Obersecunde vom Hauptton eine kleine Secunde ist; als E F; wohingegen im Dorischen D E und im Aeolischen A H große Secunden sind.

Die beiden letzten Tonarten als D moll und A moll unterscheiden sich [953] wieder darin von einander, daß man von der dorischen Tonart ins E moll ausweichen kann, weil dieses E eine zum weichen Dreiklang gehörige kleine Terz und perfekte Quinte von E G H hat.

Von A moll |: äolisch :| kann man nicht ins H ausweichen, weil das H keine perfekte Quinte in seiner Scala hat.

In der dorischen Tonart kann man nicht um einen halben Ton höher ins ~E dur, in der aeolischen nicht um einen halben Ton höher ins B dur ausweichen, wohl aber im Phrygischen von E ins F dur.

Eben dieser Choral ist Seite 54 in dem nämlichen Modo gesetzet, aber um einen ganzen Ton höher ins Fis statt E transponirt.

Die in der Vorzeichnung vorkommenden Töne geben die phrygische Tonart zu erkennen, denn eigentlich hat ein Moll Modus ein Fis Gis vorgezeichnet, hier ist gleichwol G und dieses fis verhält sich zu G wie sich E zu F verhält.

Das Lied: Jesus Christus unser Heiland Seite 56 ist gleichfalls dorischer Tonart. Seite 60 ist der nämliche Choral ins F transponirt.

Anmerkung. An der Vorzeichnung erkennet man die dorische Tonart, weil vor D kein ~ steht, sondern hier d die wesentliche große Sexte von F ist: Kommt hingegen D mit ~ vorgezeichnet vor, so ist es als kleine Sexte vom Haupttone zufällig.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1880., S. 952-954.
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