IX.

Nach den Mysterien bleiben, um den weiten Umkreis der Thätigkeit Bachs als Kirchencomponist während der Jahre 1723–1734 zu schließen, noch seine Motetten zu betrachten übrig. Die Beurtheilung derselben wird durch manche äußere Umstände erschwert. Mehre der Motetten sind verloren gegangen oder wenigstens verschwunden; manches läuft unter Bachs Namen um, was wahrscheinlich nicht von ihm herstammt; die wenigsten der unzweifelhaft echten existiren noch in Bachs Handschrift, zum Theil sind sie sogar sehr ungenügend überliefert; nur von einer einzigen kennen wir die Entstehungszeit.1 Diese einzige gehört aber in den Lebensabschnitt von 1723–1734, und da auch die meisten übrigen den Charakter höchster Reife tragen, so dürften sie ihr zeitlich nicht allzufern stehen.

Jedenfalls hat übrigens Bach sich nicht erst in Leipzig der Motettencomposition zugewendet. Wer sich schon so früh und so gründlich mit kirchlicher Gesangsmusik beschäftigte, wie er es in Mühlhausen und Weimar that, konnte an der Motette, dieser trotz aller Umbildungen und Mißhandlungen immer doch noch lebendigen und auch für die damalige kirchliche Praxis unentbehrlichen Form, nicht vorübergehen. Es ist sogar nicht unwahrscheinlich, daß sich in einer Motette »Unser Wandel ist im Himmel« eine solche frühe Composition Bachs erhalten hat. Der Text ist aus der Epistel des 23. Trinitatis-Sonntags genommen (Philipper 3, 20 und 21); die Composition zerfällt in zwei Fugen, deren erster ein kurzer homophoner Satz vorausgeht, zwischen beide Fugen ist die zweite Strophe des Chorals »Herr Gott, nun schleuß den Himmel auf« einfach vierstimmig gesetzt eingeschoben. Im Orgelbüchlein hat Bach dieselbe Melodie behandelt, obgleich in etwas veränderter Gestalt; dies würde aber gegen den weimarischen Ursprung nichts beweisen, da [426] Bach auch in der Leipziger Zeit von einer und derselben Melodie (z.B. »Warum sollt ich mich denn grämen«, »Helft mir Gotts Güte preisen«) verschiedene Formen zur Verwendung zieht. Der vierstimmige Satz des Chorals erinnert an den Stil der Lucas-Passion. In den Fugen sind die Stimmen hier und da etwas sorglos, auch wohl nicht ganz geschickt geführt, im allgemeinen aber bilden sie fließende, lebendig musikalische Stücke, eines Bach nicht unwürdig. Namentlich gilt dies von der zweiten Fuge; sie zeigt eine nahe Verwandtschaft mit dem Fugensatze »Herr, höre meine Stimme« aus der weimarischen Cantate »Aus der Tiefe rufe ich Herr zu dir«2. Nicht nur Tonart und Tempoüberschrift sind dieselben, der Charakter des Themas, die ganze durchgehende Bewegung haben eine auffallende Ähnlichkeit, und wie in der Cantate das »Flehen«, so wird in der Motette das »Wallen« in etwas handgreiflicher, Telemannscher Weise gemalt. Der Ausgang des in der Cantate vorhergehenden Satzes stimmt wiederum mit dem Schluß der ersten Fuge der Motette ziemlich überein. Einige Stellen derselben, wo der Singbass den Tenor überschreitet und doch als Grundlage der Harmonie gedacht werden muß, machen es wahrscheinlich, daß auf einen sechzehnfüßigen Basso continuo gerechnet ist.3

Im Cultus der Thomas- und Nikolai-Kirche zu Leipzig hatte die Motette ihren bestimmten Platz am Anfang des Früh- und Vesper-Gottesdienstes nach dem Orgelpraeludium. Außerdem wurde zuweilen an den hohen Festtagen unter der Communion eine Motette gesungen, immer geschah dies am Palmsonntag und Gründonnerstag. Nur wenn die Orgel nicht gespielt werden durfte blieb die Motette fort. Es waren auch außerkirchliche Veranlassungen zur Motettencomposition vorhanden, namentlich wurden sie durch Trauerfeierlichkeiten geboten, und eine der Bachschen Motetten verdankt in der That der Beerdigung des Rectors Johann Heinrich Ernesti (gest. [427] 16. October 1729) ihre Entstehung. Indessen hat Bach dieselbe, wie er es auch bei andern Gelegenheitsmusiken zu thun pflegte, später einem gottesdienstlichen Zwecke angepaßt. Die Stelle, welche die Motette im Cultus einnahm, bedingte natürlich ihre Ausdehnung; beträchtlich konnte sie nicht sein, da die Motette nur eine einleitende Bestimmung hatte. Viele der Bachschen Motetten sind aber in so gewaltigen Verhältnissen angelegt und mit so vollständiger Erschöpfung einer bestimmten kirchlichen Grundempfindung durchgeführt, daß sie zur Einleitung des Gottesdienstes nicht gedient haben können. Man muß sie vielmehr als Stücke ansehen, welche vor der Predigt anstatt der Cantate aufgeführt worden sind, und daß Bach dergleichen zuweilen gethan hat dürfen wir aus seinen eignen Worten schließen (s. S. 75).

Die Motette Bachs wurzelt in seinen Cantaten und wie diese in seiner Orgelmusik. Hierdurch wird ihr besonderes Verhältniß zur Gattung gekennzeichnet. Mit der Motette des 17. Jahrhunderts steht sie nur in einem mittelbaren Zusammenhange. Diese bildete sich unter dem Einflusse der concertirenden Gesangsmusik und spiegelt die halbentwickelten Formen derselben im Einzelnen und Ganzen ziemlich vollständig zurück4. Soweit auch Bachs Cantaten sich auf dieselbe stützen, ist ein Gemeinsames vorhanden. Was aber Bach für seine Cantaten nicht gebrauchen konnte: die dramatischen Keime, wie sie in Schütz' und Hammerschmidts geistlichen Concerten und Madrigalen vorliegen, und auch in die gleichzeitige Motette Eingang fanden, davon sind auch seine Motetten frei. Wenn andrerseits in jener die Formen der Orgelmusik kaum mehr als andeutungsweise bemerkbar werden, so hat sich dieselbe hier mit ganzer Kraft geltend gemacht. Sie hat den Stil im ganzen bestimmt, die Eigenthümlichkeit der Melodiebildung, die überall auf die Gesetze der harmonischen Fortschreitung gegründete Polyphonie sind durch sie bedingt, sie hat im besondern bewirkt, daß der Choral seine volle Bedeutung zurück gewann. Bachs Cantaten haben sich uns als eine centrale Kunstform dargestellt, in welche alles einging was an lebensfähigen und fortbildungswürdigen Elementen in der musikalischen Formenwelt jener Zeit vorhanden war. Auch [428] die Motette ist durch die Bachsche Cantate aufgezehrt, dann aber aus derselben nicht sowohl neu herausgeboren als vielmehr nur wieder losgelöst worden. Weniger eine selbständige Kunstgattung, als ein Absenker der Bachschen Cantate steht sie da.

Soweit sich bei der Unvollständigkeit des Materials ein Schluß wagen läßt entspricht auch die Aufeinanderfolge der betreffenden Vorgänge diesem Verhältniß. Der Name Motette findet sich bei Bach zuerst auf wirkliche concertirende Kirchenmusik angewandt, nämlich auf die Rathswechsel-Cantate von 1708; auch das Autograph der Cantate »Aus der Tiefe rufe ich Herr zu dir«, eben derjenigen also, an welche die Motette »Unser Wandel ist im Himmel« lebhaft erinnert, soll diese Bezeichnung führen. Der Grund ist zunächst im Texte dieser Werke zu suchen, doch wäre die Übertragung der Bezeichnung unerklärbar, wenn Bach nicht von dem Gedanken geleitet gewesen wäre, die Motettenform mit der concertirenden Musik zu verschmelzen.5 Wir begegnen sodann einem wirklich motettenartigen Choralsatze zuerst in den weimarischen Cantaten »Ich hatte viel Bekümmerniß« und »Himmelskönig, sei willkommen«,6 dann in dem ersten Zwischenstück des großen Magnificat (»Vom Himmel hoch«), dann in der Behandlung der vierten Strophe der Ostercantate »Christ lag in Todesbanden«, ferner in dem zweiten Satze der Cantate »Gottlob nun geht das Jahr zu Ende«7. Diesen letzteren hat man später als selbständiges Werk hingestellt, nachdem er in einer Weise überarbeitet war, daß der Continuo ganz wegfallen konnte.8 In der Folgezeit hat Bach auch die Cantaten »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir« und »Ach Gott vom Himmel sieh darein« durch[429] motettenartige Choralchöre eingeleitet9, welche ebenfalls hernach als selbständige Werke verbreitet worden sind10. Aber auch Bibelsprüche in Motettenform finden sich in den Cantaten. Ein solcher eröffnet die Weihnachts-Cantate »Sehet, welch eine Liebe«11, ein andrer »Wenn aber jener der Geist der Wahrheit kommen wird« steht in der Mitte einer Musik zum Sonntag Cantate (»Es ist euch gut, daß ich hingehe«). Durchaus in demselben Stil geschrieben ist nun auch alles das, was Bach an für sich bestehenden Motettencompositionen uns hinterlassen hat. Als Text dient entweder das Bibelwort allein, oder das Bibelwort in Verbindung mit dem Choral, oder es wird diesen beiden noch ein geistlicher Arientext hinzugefügt, endlich genügt auch wohl ein Arientext allein. Sämmtliche Texte sind deutsch. Da zum Eingange des Gottesdienstes auch noch während Bachs Zeit in Leipzig meistens lateinische Motetten gesungen wurden, so konnte er sich leicht angeregt fühlen solche ebenfalls zu componiren. Im Jahre 1767 hörte noch jemand im Weihnachts-Frühgottesdienst eine lateinische zweichörige Motette von Bach »mit tiefer Erschütterung seines ganzen Wesens« und meinte, nichts könne der Hoheit, Erhabenheit und Pracht, die darin herrsche, gleichkommen.12 Sie aber sind sämmtlich verloren gegangen. Für vier Stimmen gesetzt existirt jetzt nur noch eine einzige Motette, es ist der 117. Psalm »Lobet den Herrn, alle Heiden«,13 ein großartiges Werk, das nach alter Art in einem Zuge fortströmt, nur der abschließende Hallelujah-Satz sondert sich ab. Fünfstimmige Motetten giebt es zwei, sie haben beide einen Choral zum Hintergrunde, allerdings in sehr verschiedener Weise. In der einen sind die Worte aus Jesus Sirach 50, 24–26 componirt: »Nun danket alle Gott, der große Dinge thut an allen Enden, der uns vom Mutterleibe an lebendig erhält und thut uns alles gutes. Er gebe uns ein fröhliches Herz und verleihe immerdar Frieden zu [430] unserer Zeit in Israel. Und daß seine Gnade stets bei uns bleibe und erlöse uns, so lange wir leben.« Bekanntlich hat Martin Rinckart in den ersten beiden Strophen des Liedes »Nun danket alle Gott« diese Stelle versificirt. Das Kirchenlied ist es denn auch, was der Motette die Grundempfindung gegeben hat. Sie schließt nicht nur mit der einfach gesetzten dritten Strophe desselben ab, sondern durchwebt auch ihren ersten Abschnitt mit Anklängen an die erste Zeile der Kirchenmelodie. Dieses Verfahren dürfte die Vermuthung begründen, die Motette sei um das Jahr 1730 entstanden, da Bach es auch in den Cantaten liebte, Theile von Choralmelodien als freie Motive zu benutzen.14 Wie sehr er bei Composition der Motette in dem Gedanken an das Kirchenlied lebte, geht auch daraus hervor, daß er einmal, offenbar unwillkürlich, die Bibelworte mit den Liedworten vertauschte; er componirte nämlich: »der große Dinge thut an uns und allen Enden«, so heißt es in der That bei Rinckart, aber nicht bei Jesus Sirach.15 Die andre fünfstimmige Motette zeigt uns Johannes Francks tiefinniges Lied »Jesu meine Freude« in allen sechs Strophen. Ihre musikalische Darstellung ist natürlich eine mannigfaltige. Die erste und letzte Strophe sind in ihrer Harmonisirung übereinstimmende vierstimmige Sätze »simplici stilo«, wie Bach derartige Gebilde selbst zu nennen pflegte16, obgleich die unteren Stimmen reiches Leben und überschwängliche Innigkeit athmen. Zu derselben Setzart müssen auch die fünfstimmige zweite und die vierstimmige vierte Strophe gerechnet werden, obgleich die Unterstimmen, namentlich in der vierten Strophe, ein noch individuelleres Leben merken lassen und auch prägnante malerische Züge enthalten. Die fünfte Strophe ist aus der Grundtonart E moll heraus nach A moll gesetzt, da Bach den Cantus firmus in den Alt legen wollte; zwei Soprane und Tenor contrapunktiren mit meist selbständig erfundenen Tonreihen, die aber zu jeder Zeile verschiedene sind, so daß doch im Ganzen eine andre Form entsteht als diejenige, welche wir Choralfantasie nannten und in den Cantaten häufig angewendet finden. Ganz frei ist die dritte Strophe behandelt, welche die Choralzeilen nur im allgemeinen als Motiv nimmt, [431] ohne sich an deren Melodieschritte und Ausdehnung streng zu binden. Auch wechseln imitatorischer und homophoner Stil, ja selbst das Unisono wird nicht gescheut um ein Bild zu vollenden, das an Kraft, Mannigfaltigkeit und Eigenthümlichkeit in Bachs Motetten nicht seines gleichen hat. An ihm tritt die früher schon erwähnte Ähnlichkeit mit Buxtehudes Choralcantate »Jesu meine Freude« am greifbarsten hervor,17 freilich kommt die weiche und zahme Grundempfindung des älteren Künstlers gegen diese trotzige Kraft und wilde Kampfeslust nicht auf. Zwischen die sechs Choralstrophen hat nun Bach auf Grund von Römer 8, v. 1, 2, 9, 10 und 11 freierfundene fünf- und dreistimmige Tonbilder eingefügt, deren erstes in Bezug auf den musikalischen Stoff wieder mit dem letzten übereinstimmt.18 In ihnen predigt er mit apostolischer Glaubenseifrigkeit die Bedeutung des Erlösungswerkes Christi. Die dem dogmatischen Gehalte des Textes entsprechende, kirchlich allgemeiner gehaltene Empfindungsweise dieser Sätze erfährt in den Choralstrophen jedesmal die directe Anwendung auf das Glaubensleben des Christen. So erscheint in dem großartigen Werke der Kern des protestantischen Christenthumes verkörpert. Die Lehre Luthers in ihrer ganzen Strenge und Reinheit bringt Bach mit der Macht innerster Überzeugung zum Ausdruck. Aber er verbindet mit der dogmatischen Bestimmtheit und Schärfe die innigste persönliche Hingabe an Christus. Wie sich in ihm die kirchlichen Parteien seiner Zeit, Orthodoxie und Pietismus, aufheben, tritt aus keinem andern seiner Werke prägnanter hervor. Selbst wenn wir nichts weiter über Bachs Stellung zu den kirchlichen Streitigkeiten wüßten, so müßte die aufmerksame Betrachtung dieser Motette hinreichen, um das Richtige zu erfassen.19 Sie ist darum recht ein Werk »für jede Zeit«, an keinen bestimmten Tag des Kirchenjahres gebunden. Die äußere Veranlassung für sie gab indessen doch vielleicht der achte Trinitatis-Sonntag, dessen Epistel ebenfalls dem 8. Capitel des Römerbriefs entnommen ist. Natürlich war sie nicht für die Einleitung [432] des Gottesdienstes gedacht, sondern als Ersatz für die concertirende Kirchenmusik zwischen der Lection des Evangeliums und der Predigt.20

Die noch übrigen vier Motetten sind für Doppelchor gesetzt. Unter ihnen befindet sich die oben schon erwähnte, welche Bach zur Beerdigung des Rector Ernesti componirt hat. Sie besteht aus zwei Abschnitten über Römer 8, v. 26 und 27; nur der erste ist doppelchörig gestaltet, der zweite eine vierstimmige Fuge. Später hat Bach noch die dritte Strophe des Chorals »Komm heiliger Geist, Herre Gott« angefügt; darnach ist also die Motette wohl zum Pfingstfeste benutzt, doch könnte sie auch dem vierten Trinitatis-Sonntage gedient haben, dessen Epistel der Text entnommen ist. Eine andre dieser Motetten beginnt mit einem Tonstück über Psalm 149, v. 1–3 (»Singet dem Herrn ein neues Lied«), das nicht weniger als 151 Takte faßt. Dann folgt die dritte Strophe des Chorals »Nun lob mein Seel«, zwischenspielartig unterbrochen von Sätzen des ersten Chors, denen ebenfalls ein zusammenhängender Text zu Grunde liegt; derselbe ist nach dem metrischen Schema des Ristschen Liedes »O Ewigkeit, du Donnerwort« gedichtet, aber in der Composition wird die zugehörige Choralmelodie nicht berücksichtigt. Nun kommt ein neuer Doppelchor über Ps. 150, v. 2, und endlich eine vierstimmige Schlußfuge über v. 6 desselben Psalms. Das Werk ist offenbar eine Neujahrsmusik.21 Eine dritte Motette[433] »Fürchte dich nicht, ich bin bei dir« hat Jesaias41, v. 10 und 43, v. 1 zum Texte; zu letzterem Verse wird der Satz wieder vierstimmig, so zwar daß die drei untern Stimmen ihn als Fugato durchführen, während der Sopran die zwei letzten Strophen des Gerhardtschen Liedes »Warum sollt ich mich denn grämen« singt. Das für die Worte »Denn ich habe dich erlöset« erfundene chromatische Hauptthema des Fugato weist auf den Kreuzestod Christi hin. Der innigen Melodie des Chorals hat Bach von der drittletzten Strophe an eine eigenmächtige Abänderung zu Theil werden lassen; als ihre Tonart erscheint nunmehr E dur, während sie in A dur beginnt. Hierdurch wird sie noch viel entschiedener, als im Weihnachts-Oratorium22, in das Gebiet des Mixolydischen hineingezogen. Der Schmerz über Christi Leiden verschmilzt so mit der demüthigen Hingabe an die Person des Erlösers zu einem Empfindungsbilde, das dem vorher ausgedrückten Gottvertrauen eine tiefe, echt protestantische Begründung giebt. Von seiten der Form angesehen haben wir hier wieder eine Choralfantasie, wie sie Bach in seiner Orgelmusik ausgebildet hatte. Darin liegt aber zugleich auch, daß Sopran und untere Stimmen sich nicht als zwei dramatische Factoren gegenübertreten, sondern ihr poetisch-musikalischer Inhalt in eine allgemeinere kirchliche Empfindung aufgelöst ist. Daß sich durch diese Behandlungsart und Anschauung Sebastian Bach von seinem Oheim Johann Christoph, der zum Theil denselben Bibeltext und ebenfalls mit eingeflochtener Choralmelodie zu einer Motette gestaltet hat, scharf unterscheidet, ist früher schon auseinandergesetzt worden.23 Zu [434] der letzten der doppelchörigen Motetten endlich hat Bach einen geistlichen Arientext benutzt und sich hier selbst des Chorals enthalten. Der Text besteht aus zwei Strophen, sie lauten:


Komm Jesu, komm, mein Leib ist müde,

Die Kraft verschwindt je mehr und mehr,

Ich sehne mich nach deinem Friede,

Der saure Weg wird mir zu schwer;

Komm, komm, ich will mich dir ergeben,

Du bist der rechte Weg, die Wahrheit und das Leben.


Drum schließ ich mich in deine Hände

Und sage Welt zu guter Nacht,

Eilt gleich mein Lebenslauf zu Ende,

Ist doch der Geist wohl angebracht;

Er soll bei seinem Schöpfer schweben

Weil Jesus ist und bleibt der wahre Weg zum Leben.


Diese Worte dürfte der unbekannte Dichter zum Zwecke der Composition eigens gemacht haben. Dem Gemeindegesange können sie nicht bestimmt gewesen sein, weil ihr Metrum zu keiner der bis 1750 entstandenen protestantischen Choralmelodien paßt. Auch ist die in Arienform gehaltene Musik zur zweiten Strophe augenscheinlich Bachsche Originalcomposition. Die erste Strophe wird in doppelchöriger Behandlung entwickelt und bietet ein ebenso großartiges wie tief rührendes Bild innigsten Sterbeverlangens.24

In der Entwicklung einer gewöhnlichen Motette herrschte der Grundsatz, die einzelnen Abschnitte oder Zeilen des Textes in fugirter Art durchzuarbeiten, ohne daß jedoch kürzere homophone Sätze ausgeschlossen gewesen wären. Bei doppelchörigen Motetten [435] dagegen geschah die Entwicklung durch das Alterniren der Chormassen, welche als geschlossene Ganze einander gegenübertraten und nur bei Hauptcadenzen sich zu vereinigen pflegten. Hierdurch wurde der Raum für thematische Durchführungen sehr beschränkt, es giebt viele vortreffliche Motetten des 17. Jahrhunderts, die garnichts derart aufweisen. Auch Sebastian Bach hat diesen Grundsatz befolgt. Mit jener durchdringenden Schärfe, die allen Erscheinungen bis auf den tiefsten Grund ging und sie bis in die letzten Consequenzen verfolgte, hat er niemals, wie es bei altern Componisten häufig zu finden ist, seine Sängerschaar in einen höhern und tiefern Chor getheilt, auch nur selten und in ganz besondrer Weise eine mehr als vierstimmige Fuge angebracht. Jenes führte leicht die Gefahr mit sich, daß die Chöre zu einer Masse zusammenflössen; eine Fuge mit gleichmäßiger Betheiligung aller Stimmen bedeutete eine bewußte Verleugnung des waltenden Gestaltungsprincips, war nicht sowohl eine Vereinigung zu einem Ganzen, als eine Auflösung von zwei Factoren in acht. Wo einmal bei Bach ein fugirter Satz vorkommt, an dem sich alle acht Stimmen betheiligen, wie in »Komm Jesu, komm« von Takt 44–57 und in »Der Geist hilft« von Takt 76–84 und 124 ff., geschieht es immer so, daß die einzelnen Stimmen der Chöre in Responsion gesetzt sind. Das Eigenthümliche von Bachs Stil tritt in den doppelchörigen Motetten am deutlichsten hervor, weil er hier am andauerndsten zur Homophonie gezwungen war. Ich behalte den üblich gewordenen Ausdruck bei, nur um die Negation der imitatorischen Schreibart anzudeuten. Ein geringeres Maß von melodischer Bewegtheit der einzelnen Stimmen soll er nicht bezeichnen. Eben diese, welche in den homophonen Partien nicht weniger auffallend ist als in den fugirten, kündet am untrüglichsten den Ursprung des Bachschen Motettenstiles. Aus dem Wesen der Singstimme, welche auch in den einfachsten Bewegungen und hauptsächlich in ihnen der unmerklich vermittelten verschiedensten Stärkegrade, Färbungen und Nuancen fähig ist, sind diese Tonreihen nicht geschöpft, sondern aus der Vorstellung eines Organs, das die Gefühlsdynamik nur durch die wechselnden Grade äußerlicher Bewegtheit innerhalb einer unveränderlichen Tonstärke zur lebendigen Erscheinung bringen kann. Orgelartig sind die auf und ab und durcheinander fluthenden Gänge vielfach sogar bis in das einzelnste [436] ihrer Gestalt hinein. Der Mangel im melodischen und rhythmischen Ausdrucksvermögen führt bei der Orgel naturgemäß zu einem stärkeren Hervortreten der lediglich harmonischen Wirkungen. Wenn Johann Christoph Bach und andre seiner Zeit durch homophone Sätze wirken wollen, so tritt, wie einfach sie auch immer sei, in der Oberstimme eine Melodie dennoch stets faßbar hervor. Bei Sebastian Bach finden sich Partien, die wie der Anfang der Motette »Singet dem Herrn« nur als melodisch gekräuselte Harmonien-Fluthen verständlich werden. Die erstaunliche Kühnheit der Stimmenführung hat in dieser Anschauung ihre Begründung und einzige Berechtigung. Die großen mit sicherster Logik entwickelten harmonischen Verhältnisse gewähren die festen Ausgangs- und End-Punkte, zwischen welchen die einzelnen Stimmen in rücksichtslosem Drange sich ausleben. Reibungen und Zusammenstöße, ja gelegentlich selbst Überschreitungen der elementaren Regeln der Stimmführung – man sehe die Octavenfortschreitungen der äußersten Stimmen in Takt 26–27 der Motette »Singet dem Herrn« – werden nicht gescheut, wenn nur die harmonische Folge im großen verständlich ist. Man soll merken, daß überall Leben und Bewegung herrscht, aber von der deutlichen Wahrnehmung, wie die Bewegung sich vollzieht, hängt die Wirkung der Bachschen Motetten an vielen Stellen keineswegs ab. Stimmenverbindungen, wie diese:


9.

25


oder:


9.

26


[437] hätte Bach sonst nicht geschrieben. Ebenso bringt er klangliche Steigerungen auf orgelgemäßem Wege hervor. Die vierstimmigen Fugen, Choräle oder Arien am Schlusse der doppelchörigen Motetten repräsentiren gleichsam das volle Werk. Wenn in der vom ersten Chore ausgeführten Fuge »Die Kinder Zion sein fröhlich« aus »Singet dem Herrn« zur Verstärkung der Thema-Einsätze allmählig mehr und mehr Stimmen des zweiten Chors zutreten, so ist dies einigermaßen dem Verfahren zu vergleichen, im Fortgang eines Orgelstückes ein verstärkendes Register nach dem andern zuzuziehen.

Daß es in jener Zeit wie überall so auch in Leipzig gewöhnlich war die Motette mit der Orgel oder sonst einem unterstützenden Instrumente zu begleiten, ist an einer andern Stelle berichtet worden.27 Es ist die Frage, wie Bach sich diesem Gebrauche gegenüber verhalten hat. Wenn er seine Motette aus der Kirchencantate loslöste, ihren Stil in erkennbarster Weise dem Orgelstile nachbildete und kein Bedenken trug den Tenor durch den Bass übersteigen zu lassen, obgleich der Bass als continuirliche Grundstimme zu denken ist; wenn sich Choralstücke der Cantaten wie »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir« und »Ach Gott vom Himmel sieh darein« mit theilweise sogar selbständigem Generalbass unter dem Namen »Motetten« verbreiten durften, so scheint die Antwort auf die Frage um so weniger zweifelhaft, als sein Schüler Kirnberger das Mitgehen der Orgel ausdrücklich bezeugt. Wirklich findet sich auch zu dem Psalm »Lobet den Herrn alle Heiden« eine Orgelbegleitung angegeben und für die Motette »Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf« liegt sogar eine von Bach selbst geschriebene bezifferte Orgelstimme vor. Sie kann natürlich nur für den kirchlichen Gebrauch des Werkes bestimmt gewesen sein. Die Aufführung bei der Beerdigungsfeierlichkeit fand vor dem Trauerhause statt; hierzu mögen die ebenfalls vorhandenen andern Instrumentalstimmen: zwei Violinen, Bratsche, Violoncell für den ersten, zwei Oboen, Taille, Fagott für den zweiten Chor, verwendet worden sein, wobei es unbestimmt bleibt, ob diese neben der Orgel auch in der Kirche mitgewirkt haben, oder nicht. Die Orgelstimme ist sehr interessant. Einerseits liefert sie den vom Componisten selbst geführten Beweis, wie bequem sich einer doppelchörigen [438] Motette Bachs ein Generalbass anfügen läßt, ohne daß derselbe irgendwie selbständig wird: die Stimme enthält nur ein einziges Sechzehntel, welches nicht zugleich in den Singbässen vorhanden ist. Andrerseits macht auch die Bezifferung, welche bei figurirten Stellen nur den Grundharmonien unbekümmert selbst um erhebliche Reibungen nachgeht, deutlich, von welcher Anschauung beherrscht Bach seine Singstimmen führte. Sieht man auf das Verhältniß der beiden Singbässe zu einander, so erscheint es der Weise sehr ähnlich, wie Bach in den Cantatenchören dem Singbasse den Instrumentalbass zugesellt. Die Bässe beider Chöre an Stellen wo sie zusammentreten im Einklänge oder der Octave zu führen, war auch vor ihm üblich. Wie aber bei Bach sich manchmal der eine Bass auf kurze Weile von dem andern trennt um irgend eine bedeutendere Wendung auszuführen und dann wieder mit ihm zusammenfließt (s. »Singet dem Herrn« T. 122 ff.), wie er die figurirten Tonreihen desselben in vereinfachten Gängen mitmacht (s. das erstere der obigen Notenbeispiele, ferner »Fürchte dich nicht« T. 34, »Komm Jesu, komm« T. 60), wie sogar einmal von einem der Chöre der Bass allein eintritt, nur um eine vollständige Harmonie zu erzielen (s. »Fürchte dich nicht« T. 57), das alles zeigt weder Einheit noch Zweiheit in der Stimmführung; es ist ein freies Schalten mit den disponibeln Stimmen nach dem augenblicklichen Bedürfniß, das wir ebenso in der Behandlung des Continuo gegenüber dem Singbasse in den Cantatenchören bemerken. Freilich bildet hier der Continuo durch das ganze Stück die absolut grundlegende Stimme, während in den doppelchörigen Motetten diese Rolle bald dem einen, bald dem andern, bald auch beiden Bässen zufällt. Aber Bach konnte auf jene Schreibart doch nur gerathen, wenn ihm das Bild seiner begleiteten Cantatenchöre vorschwebte. Betrachtet man ferner die in den Motetten vorkommenden Fugensätze, so sind nicht wenige derselben derartig angelegt, daß nicht eine Stimme ganz allein mit dem Thema anhebt, sondern es wird durch andre Stimmen zugleich die stützende Harmonie hergestellt. So ist es in dem zweiten Abschnitte der Motette »Jesu meine Freude« (»die nicht nach dem Fleische wandeln«): gesungene Harmonien umgeben den Anfang der Fuge, aus welchen sich dann mehre und mehre reale Stimmen herausheben. In der Fuge »sondern der Geist selbst vertritt uns aufs [439] beste« aus der Begräbnißmotette wird das vom Sopran des ersten Chors angestimmte Thema durch, alle übrigen Stimmen desselben begleitet. Der Fuge »die Kinder Zion sein fröhlich über ihrem Könige« aus »Singet dem Herrn« stellt sich anfänglich der ganze zweite Chor in harmonischen Massen gegenüber, bis er nach und nach in den unwiderstehlich einherbrausenden Tonstrom hineingezogen und endlich ganz von demselben fortgerissen wird. Die Fugensätze der Cantaten pflegt aber Bach ebenfalls über oder in den begleitenden Harmonien des Generalbasses, auch wohl andrer Instrumente, aufzubauen. Es möge der Eingangschor der Cantate »Wer sich selbst erhöhet«28 verglichen werden und man wird ein ungefähres Gegenbild der zuletzt angeführten Motettenfuge haben. Man erkennt, wie die Eigentümlichkeiten von Bachs concertirender Musik bis in die Einzelheiten hinein sich in den Motetten wieder finden.

Trotzdem ist die Frage über die Begleitung der Bachschen Motetten hiermit noch nicht erledigt. Zwar wenn in Breitkopfs gedrucktem Verzeichniß von 1764 einige dieser Werke unter dem Titel »Motetten ohne Instrumente« aufgeführt sind, so beweist das wenig. Denn wie aus der folgenden Seite des Verzeichnisses zu ersehen ist, wurden unter diesem Titel auch Compositionen mit Begleitung der Orgel begriffen, der Plural »Instrumente« ist demnach in seiner genauesten Bedeutung zu nehmen. Auch daß bei den Bachschen Stücken die Orgel nicht ausdrücklich erwähnt wird, darf noch nicht veranlassen, ihre Mitwirkung in Abrede zu stellen, denn, wie früher gezeigt ist, verstand man sie sehr häufig als etwas selbstverständliches mit. Es handelt sich natürlich nicht darum, daß dieselbe nothwendige harmonische Ergänzungen zu gewähren gehabt habe. Die Frage ist nur, ob die Beschaffenheit des Vocalstiles nicht eine solche ist, daß er allein durch den Zutritt des Orgelklanges seine Berechtigung erhält. Schwerer wiegt schon der Umstand, daß unter den Originalstimmen der Motette »Singet dem Herrn«, die übrigens vollständig erhalten sind, eine Orgelstimme sich nicht findet. Und gewichtiger noch ist das Zeugniß Ernst Ludwig Gerbers, der 1767 eine doppelchörige Motette in Leipzig hörte und dabei bemerkt, daß [440] die Thomasschüler diese Bachschen Compositionen »ohne einige Begleitung abzusingen pflegten«. Dieser Ausdruck kann nicht mißverstanden werden und deutet zugleich auf eine schon länger herrschende Gewohnheit hin. Es stehen sich also in dieser Angelegenheit einander widersprechende Zeugnisse gegenüber.

Durch Bachs Kunstschaffen zieht sich die Tendenz, alles was den Formen an Nebensächlichem und Überflüssigem anhaftet abzustoßen, die Ausdrucksmittel auf das unerläßlich nothwendige zu beschränken, das materielle in möglichstem Grade zu vergeistigen. Es war diese Tendenz, welche ihn veranlaßte in den Violin- und Gamben-Sonaten mit obligatem Clavier die Generalbass-Harmonien fast gänzlich auszumerzen, Sonaten und Suiten gar für Violine und Violoncell allein ohne jegliche Begleitung zu schreiben. Seine Vorgänger componirten Motetten lieber mit selbständigem Continuo als ohne einen solchen. Von ihm selber liegt einstweilen nur ein einziges Werk vor, bei welchem der Continuo wenigstens theilweise zur Vervollständigung nothwendig ist; es ist der Psalm »Lobet den Herrn alle Heiden«, die Motettensätze, welche ursprünglich Cantaten angehören, kommen hier nicht in Betracht. Im übrigen wird alles zur Zeichnung des Tonbildes erforderliche von den Singstimmen allein geleistet. Es ist nun wohl denkbar, daß Bach sich von jener spirituellen Neigung soweit führen ließ, seinen Motetten auch die Beimischung derjenigen Tonqualität und somit diejenige Klangfarbe zu entziehen, in welcher ihr Stil eigentlich wurzelt. Er hätte damit nichts anderes gethan, als was bei den Solosonaten für Violine und Violoncell geschehen ist, deren Stil ebenfalls weniger im Wesen dieser Instrumente als in dem des Claviers und der Orgel begründet ruht. Hierbei muß man sich nur eines gegenwärtig halten, daß Bachs Phantasie durchaus im Orgelklange lebte und er beim Hören der unbegleiteten Motetten, wie der Sonaten, jedenfalls zu ihrer klanglichen Erscheinung dasjenige viel lebendiger hinzuempfand, was ihnen ursprünglich das Leben gegeben hatte und abgetrennt von ihnen nur noch als ein feiner Dunstkreis um sie schwebt. Mit Sicherheit können die Motetten ihre Wirkung allein unter Orgelbegleitung thun. Ohne diese wird die richtige Würdigung derselben zunächst von der Leichtigkeit, mit der ihre technischen Schwierigkeiten überwunden werden, und von dem Grade abhängen, bis zu [441] welchem die Singstimmen den ruhigen Fluß der Orgelmusik sich aneignen können, dann aber auch davon, in wie weit es dem Hörer gelingt, seine Phantasie mit der Orgelstimmung ganz zu erfüllen und aus ihr zu ergänzen, was den Tonwerkzeugen selbst unerreichbar bleibt.

Übrigens sind Bachs Motetten die einzigen unter seinen Gesangscompositionen, welche zu keiner Zeit völlig aus dem Musikleben verschwunden waren. Die Thomascantoren nach ihm haben sie stets in Ehren gehalten und sie singen lassen, wenn auch gewiß nicht immer mit Vorliebe. Rochlitz erinnerte sich aus seiner Thomanerpraxis namentlich an die Motetten »Singet dem Herrn«, »Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf« und »Sei Lob und Preis mit Ehren«, freilich mit einigermaßen gemischten Empfindungen, denn die Schwierigkeit dieser Werke hatte dem Knaben manche Pein verursacht.29 Als Mozart 1789 nach Leipzig kam, ließ ihm der Cantor Doles die Motette »Singet dem Herrn« vorsingen, und entzückte ihn damit so sehr, daß er alles durchstudirte, was damals die Thomasschule noch an Bachschen Motetten besaß. Dann kam eine Zeit, wo es schien, als würde Bach wieder zu allgemeinerer Schätzung gelangen, »das Rad des Geschicks hatte die Speiche des ehrwürdigen Vaters, die eine Weile weit unten gewesen, wieder hinauf, ja auf den höchsten Punkt gebracht.«30 Es war die Zeit, welche Forkels Schrift über Bach hervorrief; sie ging allerdings rasch vorüber. Doch daß man die Motetten auch nachher nicht vergaß, bezeugt ihre von Schicht 1802 und 1803 besorgte erste Veröffentlichung durch den Stich. Außerhalb Leipzigs scheinen sie sich wenigstens in Sachsen einigermaßen verbreitet zu haben, was natürlich war, da ein guter Theil der sächsischen Cantorenstellen von früheren Alumnen der Thomasschule besetzt gehalten wurde. In Zittau sang Marschner als Knabe Bachsche Motetten unter Friedrich Schneider als Chorpräfectem, und in einem handschriftlichen Choralbuch des sächsischen Dorfes Nieder-Wiesa vom Ende des vorigen Jahrhunderts [442] findet sich gar der Text der Motette »Komm Jesu, komm« mit einer neu erfundenen Melodie versehen und zum Choral umgewandelt.31

Fußnoten

1 S. Anhang A, Nr. 49.


2 S. Band. I. S. 445.


3 In Stimmen, die um 1800 geschrieben sein mögen, in der Bibliothek der Leipziger Singakademie. Überschrift: »Motetto di Bach«. Auf demselben Bogen steht noch »Ecce quomodo moritur« von Gallus und »Tristis est anima mea« von Kuhnau. Obgleich also ein Vorname nicht hinzugefügt ist, so steht doch außer Zweifel, daß wenigstens der Schreiber der Stimmen, deren Vorlage im Musikalienarchiv der Thomasschule befindlich gewesen sein wird, Sebastian Bach gemeint hat.


4 S. Band I, S. 53 ff.


5 S. Band I, S. 341 und 444. Die Benennung Motette überliefert für die Cantate »Aus der Tiefe« der Autographen-Katalog von Aloys Fuchs, der sich abschriftlich auf der Leipziger Stadtbibliothek befindet.


6 S. Band I, S. 527 f. und 533.


7 S. S. 206, 223 und 265 dieses Bandes.


8 Handschriftlich auf der Amalienbibliothek im Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin, Nr. 24 und 31. Aufschrift: »Choral. | Sey Lob und Preiß mit Ehren. | vom Herrn | Bach.« Statt der ersten Strophe von »Nun lob, mein Seel, den Herren« ist hier also die fünfte Strophe untergelegt. Durchgreifende Änderungen sind an mehren Stellen vorgenommen, namentlich ist die Schlußpartie eine ganz andre geworden. Man möchte deshalb Bach selbst als Über arbeiter annehmen, wenn nicht verschiedene Züge bedenklich machten.


9 B.-G. VII, Nr. 38 und I, Nr. 2.


10 In einer Handschrift Agricolas auf der Amalienbibliothek Nr. 37. 38. Dem Choralsatze »Aus tiefer Noth« folgt noch das in derselben Cantate befindliche Terzett.


11 S. S. 215 dieses Bandes.


12 Gerber, N.L. I, Sp. 222 f.


13 Er ist um 1821 in Partitur und Stimmen bei Breitkopf und Härtel in Leipzig erschienen. Als Vorlage soll Bachs Originalhandschrift gedient haben, welche aber bis jetzt nicht wieder aufzufinden gewesen ist.


14 S. S. 288 f. dieses Bandes.


15 Die Motette ist bisher nicht veröffentlicht. S. Anhang A, Nr. 50.


16 S. Band, I, S. 550, Anmerk. 34.


17 S. Band I, S. 305 ff.


18 Daß auch Michael Bach den Choral »Jesu meine Freude« zum Mittelpunkt einer Motette machte, ist Band I, S. 66 erwähnt. Es ist ein schlichtes, doppelchöriges Stück in einem Satze, welches aber Sebastian doch vielleicht im Sinne hatte, als er an die Composition ging; die Tonart ist hier wie dort E moll,


19 S. Band I, S. 363 ff.


20 Die Motette ist als Seb. Bachs Werk angezeigt in Breitkopfs Verzeichniß von Neujahr 1764, S. 5. Handschriftlich auf der Amalienbibliothek Nr. 10, 12 und 30. Es sind dies Copien mit mancherlei Schreibfehlern, die aber, weil die Prinzessin Amalia ihre Musikalien großentheils durch Vermittlung Kirnbergers sammelte, übrigens eine bedeutende Zuverlässigkeit haben. Veröffentlicht in Partitur bei Breitkopf und Härtel »Motetten von Johann Sebastian Bach« Nr. 5. Der Text hat hier mancherlei Modernisirungen erfahren; Bach hat das Gedicht treu in seiner Originalgestalt componirt, wonach Band I, S. 305, Anmerk. 41 zu berichtigen ist. Auch die Benennungen der einzelnen Stücke und Tempobezeichnungen sind mit Ausnahme des Wortes »Choral« über den Strophen 1, 2, 4, 6 und eines »Andante« über dem dreistimmigen Gesänge »So aber Christus in euch ist«, moderne Zuthaten.


21 Zu beiden Motetten befinden sich die Autographe auf der königl. Bibliothek in Berlin. Herausgegeben sind sie bei Breitkopf und Härtel als Nr. 1 und 6 der obengenannten Sammlung, aber mit unechten Tempobezeichnungen und vielen textlichen Entstellungen, welche wohl auf J.G. Schicht, Thomascantor von 1810–1823, zurückzuführen sind. Unter dem zweiten Abschnitt der letzteren Motette steht in der autographen Partitur: »Der 2. Versus ist wie der erste, nur daß die Chöre umwechseln und das 1ste Chor denChoral, das 2te die Aria singen«. Der zweite Vers sollte vermuthlich die vierte Strophe des Chorals sein, doch wird Bach gefunden haben, daß auf diese Weise der Satz zu lang werde, denn in den Originalstimmen findet sich die Umwechselung nicht. Freilich erscheint nun der Anschluß des folgenden Psalmverses innerlich weniger motivirt.


22 Vrgl. S. 414 dieses Bandes.


23 S. Band I, S. 92 f. – Angezeigt als Seb. Bachs Werk ist die Motette in Breitkopfs Verzeichniß von 1764, S. 5, herausgegeben in der Breitkopf und Härtelschen Sammlung als Nr. 2. Handschriftlich auf der Amalienbibliothek Nr. 15–17 nebst einer eigenhändigen Bemerkung Kirnbergers, die sich auf den Ursprung des benutzten Chorals bezieht.


24 Angezeigt als Seb. Bachs Werk in Breitkopfs Verzeichniß von 1764, S. 5, herausgegeben bei Breitkopf und Härtel als Nr. 4, aber mit umgedichtetem Texte. Die handschriftliche Partitur der Amalienbibliothek Nr. 18–21 muß aus Stimmen zusammengetragen sein, denn über dem Anfang steht Soprano Chorimi, was der gedankenlose Copist offenbar aus Soprano Chori I mi verlesen und zwecklos auch in die Partitur übertragen hat. In einer Handschrift der Gottholdschen Bibliothek zu Königsberg i. Pr. Nr. 13569 steht die Motette mit demselben Texte, nur lautet das erste Wort der zweiten Strophe »Drauf«, was wenn es das ursprüngliche wäre anzeigen würde, daß das Gedicht an sich mehr als zwei Strophen gezählt hätte. In einer andern daselbst befindlichen und von Schicht revidirten Handschrift steht der Text so wie in der Breitkopf-Härtelschen Ausgabe, man ahnt also, woher die Umdichtung stammt.


25 Motette »Singet dem Herrn« T. 72.


26 Motette »Komm Jesu, komm« T. 150 ff.


27 S. S. 109 ff. dieses Bandes.


28 B.-G. X, Nr. 47.


29 Rochlitz, Für Freunde der Tonkunst, II (Dritte Aufl.), S. 134 f. – Die Motette »Wie sich ein Vater erbarmet«, welche er außerdem noch nennt, ist nichts anderes, als der zweite Abschnitt von »Singet dem Herrn«. Es scheint, daß man dieses umfangreiche Werk damals nur stückweise vorgetragen hat.


30 Rochlitz, a.a.O. S. 130 f.


31 S. Jakob und Richter, Reformatorisches Choralbuch. Berlin, Stubenrauch. Zweiter Theil, Nr. 918.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1880..
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