III.

Der Composition von Kirchencantaten gab sich Bach auch in dem letzten Abschnitte seines Lebens eine Reihe von Jahren hindurch noch mit Eifer hin. Indessen bemerkt man nur anfangs noch jene königliche Freigebigkeit, mit welcher er in den mittleren Leipziger Jahren aus einem unbegränzten Reichthum an musikalischen Formen schöpfte.1 Dann zieht er sich mehr und mehr in eine bestimmte Form der Choralcantate zurück, wird [544] schweigsamer und wenn er redet typischer in der Fassung. Er giebt zweien seiner größten kirchlichen Werke, der Johannes- und Matthäus-Passion, die letzte endgültige Form und bestellt sein Haus. Schließlich scheint er als kirchlicher Vocalcomponist ganz zu verstummen. Sein Lebenswerk ist gethan, er sieht dem Tode entgegen.

Die Cantate, mit welcher Bach das neue Jahr 1735 begrüßte, kann ich nachweisen. Das Jahr fand Europa in kriegerischem Aussehen. In Italien kämpften Franzosen, Sardinier und Spanier gegen die Österreicher, auch bedrängten die Franzosen die österreichischen Besitzungen am Rhein. Die kleinen Herren Deutschlands erfaßte eine Panik und schon flehte man im Gebiet von Reuß jüngere Linie in besonders angesetzten wöchentlichen Betstunden »bey diesen besorg- und gefährlichen Kriegs-Läuften« um die Gnade Gottes. Während dessen war nach Zähmung und Begütigung der widerspänstigen Polen im Reiche Augusts III. die Ruhe wieder hergestellt worden, und der König konnte nach seiner Ankunft in Warschau unter dem 16. December 1734 eine friedetriefende Proclamation erlassen. Wir sahen, daß Bach schon zum 7. October 1734 eine Geburtstags-Cantate für den König componirte2, in welcher er als Friedebringer gefeiert wurde. Von derselben Empfindung ist der Textverfertiger der Neujahrs-Cantate geleitet worden. Ihm erscheint Sachsen-Polen als eine sichere Insel, von welcher man dem sturmbewegten Meere ringsumher theilnahmevoll zusieht.


Tausendfaches Unglück, Schrecken,

Trübsal, Angst und schneller Tod,

Völker, die das Land bedecken,

Sorgen und sonst mehr noch Noth

Sehen andre Länder zwar,

Aber wir ein Segensjahr.


Während er so singt und den Herren preist, dessen mächtige Hand geholfen hat, bittet er zugleich Jesum den Friedefürsten, seines Amtes zu walten. So lange Bach in Leipzig wirkte, ist nur einmal, grade um den Anfang des Jahres 1735, eine Situation eingetreten, welche genau auf diese Schilderung paßt. In die schlesischen Kriege war Sachsen direct und durchgängig verwickelt. Daher [545] denn die Entstehungszeit der Cantate unzweifelhaft feststeht. Die Composition selbst hat mancherlei merkwürdiges. Sie gründet sich auf Vers 1, 5 und 10 des 146. Psalms, Strophe 1 und 3 des Ebertschen Kirchenliedes »Du Friedefürst, Herr Jesu Christ« und nur zwei madrigalische Texte. Von diesen kann der zweite »Jesu, Retter deiner Heerde« auch nur halb in Betracht kommen, da der Gesang des Tenors mit dem Fagott und Grundbass zur Contrapunktirung der Choralmelodie dient, welche von den Violinen und Violen gespielt wird. Sonach tritt der Choral dreimal auf: zuerst, als zweites Stück, vom Sopran allein gesungen und von Violinen und Bässen anmuthig umrankt; dann zu dem Tenorgesange in düsterer Färbung, als poetischer Inhalt wird hier die zweite Strophe des Kirchenlieds gedacht werden müssen; endlich als Choralfantasie für den Chor mit sämmtlichen Instrumenten. Der Psalmist kommt nicht weniger häufig zu Worte. Mit dem »Lobe den Herrn, meine Seele« beginnt die Cantate. Vers 10 ist eines jener Bass-Ariosos, welche schon auf der Gränze der Arie stehen und dergleichen wir als eigenthümlich Bachsche Neubildungen auch in den nächstvorhergehenden Jahren antrafen.3 Vers 5 ist gar zu einen einfachen Tenor-Recitativ benutzt; dies kam bei Bach bisher nicht vor, abgesehen von den nicht zu vergleichenden Mysterien, und bleibt auch überall bei ihm eine seltene Erscheinung. In der Cantate streiten sich gleichsam Bibelwort und Choral um die Herrschaft. Es ist in diesem Sinne bedeutungsvoll, daß dem ersten Chor nur eine geringe Ausdehnung (35 Takte) und keine thematische Entwicklung zugestanden wird; so kann er nicht ohne weiteres als richtungbestimmend für das Ganze angesehen werden. Im Schlußchore aber triumphirt nicht etwa der Choral. Während sonst die contrapunktirenden Singstimmen sich desselben Textes, wie der Cantus firmus zu bedienen pflegen, erfassen sie hier das letzte Wort des Psalms »Hallelujah«; also eine Vereinigung beider Elemente. In dem hier entwickelten Verhältniß liegt das Eigenthümliche des geistreichen Werkes.4

Unter dem Eindrucke der Kriegsereignisse am Rhein und in [546] Welschland ist auch die etwa vier Wochen später, am vierten Epiphanias-Sonntage (30. Januar 1735) aufgeführte Cantate »Wär Gott nicht mit uns diese Zeit« entstanden. Bekanntlich hat Luther den 124. Psalm zu einem dreistrophigen Liede umgedichtet. Dieses bildet den Kern des Textes, doch ist die zweite Strophe madrigalisch paraphrasirt.5 Die erste Strophe hat die Form des Pachelbelschen Orgelchorals. Die Chorstimmen bereiten fugirend vor und zwar mit sehr kunstvollen Beantwortungen in der Gegenbewegung, contrapunktiren dann auch mit ihren Themen gegen den Cantus firmus, welcher aber dem Horn und beiden Oboen zugewiesen ist. Diese neue Form zu begreifen – nicht technisch, denn da ist sie auf den ersten Blick klar, sondern sie durch die Phantasie zu einem innerlichen Erlebnisse nachzugestalten, möchte unter die schwierigsten Aufgaben gehören. Der nur gespielte Choral läßt für die subjectiven Nebenempfindungen den weitesten Raum. Tritt dazu ein Solo- oder Chorgesang mit eignen Worten und Melodien, so mischen sich zwei gegensätzliche Mächte, ein Subjectiv-Fließendes und ein Objectiv-Festes, von welchen aber ersteres, weil es das Kirchliche voller repräsentirt, die Oberhand behalten und den Anspruch des Objectiven erheben muß. Diese bunte Empfindungskreuzung ist die echteste Bachsche Romantik. Im vorliegenden Falle aber, da zwischen gespieltemCantus firmus und contrapunktirendem Gesang kein inhaltlicher Gegensatz besteht, läßt Bach in den subjectiven Raum der gespielten Melodie ein objectiver gestaltetes zwar eindringen, aber nicht bis zur gänzlichen Erfüllung. Diese würde stattfinden, wenn auch der Cantus firmus gesungen würde. Bach hat aber mit Fleiß auf halbem Wege innegehalten. Ansätze zu der gewagten Form finden sich schon im ersten Chor der Cantate »Es ist nichts gesundes an meinem Leibe«, insofern nämlich die gesungenen Fugenthemen [547] aus zwei Zeilen des gespielten Chorals gewonnen sind.6 Sehr bedeutend sind die beiden Arien, die erste durch ihre eckige Rhythmik ein wahres Charakterstück, die zweite eben so kunst- wie affectvoll und namentlich im zweiten Theile hinreißend durch den Ausdruck großartiger, immer trotziger sich aufrichtender Glaubenskraft.

Bach vollendete im März 1735 sein fünfzigstes Lebensjahr. Wie unvermindert kräftig jetzt immer noch der Schaffensdrang in ihm war, geht auch daraus hervor, daß aus keinem Jahre eine gleich große Zahl Kirchencantaten theils nachgewiesen theils wahrscheinlich gemacht werden können. Nicht weniger als zwanzig Cantaten seiner Composition scheint Bach in diesem Jahre gebracht zu haben. Unter ihnen sind allerdings mehre Überarbeitungen arnstädtischer, weimarischer und cöthenischer Werke, und die Cantate »Komm du süße Todesstunde«7 hat er wohl ganz unverändert gelassen, nur daß sie jetzt nicht dem 16. Trinitatis-Sonntage, sondern dem Feste Mariä Reinigung (2. Febr.) zu dienen hatte. Zum ersten Ostertage (10. April) griff er auf Compositionen seiner frühesten Jugend zurück (»Denn du wirst meine Seele nicht in der Hölle lassen«8, zum dritten Ostertage auf eine cöthenische Gelegenheits-Cantate (»Ein Herz, das seinen Jesum lebend weiß«9. Die Musik zum zweiten Ostertage (»Erfreut euch ihr Herzen«)10 verdankt ihren gefälligen Charakter dem Umstände, daß sie zwischen jenen beiden stehen sollte. Bach war es gegeben, sich leicht bis zu einem gewissen Grade in andre Stilarten, sowohl fremder Persönlichkeiten, als seiner eignen früheren Entwicklungsphasen hineinzuversetzen. Daß die Cantate »Erfreut euch ihr Herzen« der Cöthener Gelegenheitsmusik und ihrer Überarbeitung angeähnelt ist, lehrt die Vergleichung sofort. Eine mehr in die Breite als Tiefe gehende Behaglichkeit ist nicht das Einzige was sie gemeinsam haben. Stimmt doch der erste Chor der jüngern mit dem letzten Chor der älteren Composition auch in der Anlage genau überein; selbst die duettirenden Stellen, namentlich des Mittelsatzes, welche in der Gelegenheitscomposition durch den Text bedingt waren, hat Bach in der zweiten Ostercantate nachgemacht [548] Geist und Anmuth herrscht in beiden, wenn sie auch unter Bachs Ostermusiken eine hervorragende Stelle nicht beanspruchen können. Dem aufmerksamen Beobachter wird es nicht entgehen, daß der vorletzte Takt des Bass-Recitativs am Anfang des zweiten Theils der folgenden Arie wieder aufgegriffen wird. Dies, und das etwas unmotivirte Auftreten der Bewegung im Recitativ selber hat vielleicht einen äußerlichen Grund. Ein Blatt, auf welchem der erste Entwurf des Anfangs der Exaudi-Cantate für dasselbe Jahr steht, enthält außerdem folgende Skizze:


3.

Sie dürfte die erste Intention der Bassarie in der zweiten Oster-Cantate andeuten und vom Componisten, als er für die Hauptsache andern Sinnes geworden war, in obiger Weise nebensächlich aufgebraucht worden sein. Nur theilweise aus altern Compositionen zusammengesetzt sind zwei Pfingstcantaten: »Wer mich liebet, der wird mein Wort halten« und »Also hat Gott die Welt geliebt«. Jene geht auf die Cantate gleichen Anfangs zurück, welche Bach über einen Neumeisterschen Text in Weimar setzte.11 Zwei Stücke aus derselben hat er hineingearbeitet; daß das Ganze bedeutender geworden wäre als das ältere Werk, kann nicht behauptet werden. Tenor- und Alt-Arie haben einen merkwürdig äußerlichen, fast weltlich-virtuosischen Charakter; die Länge der Cantate steht zu ihrem Gehalt in keinem Verhältniß.12 Für die Arien von »Also hat Gott die Welt geliebt« mußte die vielbenutzte Gelegenheitsmusik »Was mir benagt, ist nur die muntre Jagd« den Stoff hergeben. Wie genial die Übertragung ist, aus welcher die entzückende Lieblichkeit der Sopran-Arie »Mein gläubiges Herze« hervorging, wurde schon an einer andern Stelle erörtert.13 Zu jeder der beiden Arien ist ein [549] neu componirter Chor gefügt, dessen Charakter durch sie be stimmt ist: mit der Sopranarie schließt sich der Anfangschor zusammen, eine vierstimmige Chorarie, deren Begleitung das Ganze zu einem reizvollen kirchlichen Siciliano macht; die Stimmung der Bassarie setzt die durch Posaunenklang umhüllte kräftige Schlußfuge fort.14 Diese Cantate ist eben so gehaltreich wie durchaus eigenthümlich. In allen fünf Übertragungen aber spielt der Choral theils keine, theils eine untergeordnete Rolle.

Die zwischen Ostern und Pfingsten liegenden Sonn- und Festtage scheint Bach im Jahre 1735, vielleicht nur mit Ausnahme des Sonntags Quasimodogeniti, sämmtlich mit neuen Cantaten versehen zu haben. Zum Himmelfahrtsfeste liegen, ein seltener Fall, sogar zwei Cantaten vor: in der That waren ja für diesen Tag zwei concertirende Musikwerke nöthig. Bemerkenswerth ist zunächst die Beschaffenheit der Texte. Aus den tiefausgefahrenen Gleisen madrigalischer Reimerei wendet sich der Dichter häufiger zur Liedstrophe zurück und baut ungewöhnlichere, anmuthige Formen. Das Bibelwort tritt öfter ein, als sonst. Die Empfindung ist durchweg tiefer und reiner, als durchschnittlich in den früheren madrigalischen Cantaten, manchmal erhebt sie sich zu wirklich erbaulicher Kraft. Gern möchte man wissen, ob sich hier ein neuer Textdichter zeigt, oder ob Bach, nachdem er mit dem Durchcomponiren ganzer Kirchenlieder deutlich sein Mißbehagen an dem wennauch verwendbaren, so doch leeren Wortkram Picanders kundgegeben hatte, dessen Talent durch seinen ernsten Geist zu veredlen vermocht hat. Den größesten Theil der Himmelfahrts-Cantate »Gott fähret auf mit Jauchzen« (von der Sopran-Arie an) bildet ein sechsstrophiges, geschickt gestaltetes und einer gewissen Wärme nicht entbehrendes Gedicht.15 Die erste Arie der dritten Pfingst-Cantate »Er rufet seine Schafe mit Namen« stützt sich auf anmuthige, in die Strophenform des Kirchenlieds »Ach Gott und Herr« gefaßte Worte.16 Die übereinstimmende [550] Anordnung der Texte zu Cantate (»Es ist euch gut, daß ich hingehe«)17, Rogate (»Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen«)18, Himmelfahrt (»Gott fähret auf«) und zum dritten Pfingsttag (»Er rufet seine Schafe mit Namen«), in welchen sowohl am Anfang wie in der Mitte ein Bibelspruch angebracht ist, läßt schon erkennen, daß dieselbe Dichterhand thätig war.19 Bach seinerseits, der bei den Überarbeitungen durch den Charakter der älteren Musikstücke immerhin beengt war, hier aber frei aus dem Vollen schöpfen konnte, hat eine Reihe Compositionen von seltener Schönheit geschaffen. Was er schon früher vereinzelt versuchte: eine neue Form für das Bibelwort im Sologesang, welche aus dem üblichen Arioso mit contrapunktirendem Generalbass durch Hinzutritt concertirender Instrumente zu der reicheren Arienform hinüberstrebte, aber doch in erkennbarer Verschiedenheit von ihr verharrt, das ist in diesen Cantaten mit schönstem Gelingen weiter geführt. Nichts läßt sich denken, was der Bedeutsamkeit des heiligen Schriftwortes und zugleich dem Bedürfniß nach persönlichster Belebung desselben in vollkommenerer Weise genügte, als die köstlichen Bass-Gesänge, mit denen die Compositionen zu Misericordias (»Ich bin ein guter Hirt«)20. Cantate (»Es ist euch gut, daß ich hingehe«) und Rogate (»Bisher habt ihr nichts gebeten«) anheben. Das Arioso mit bloßem Generalbaß wird darum auch in diesen Cantaten nicht aufgegeben. Darüber hinaus finden sich aber auch einige Bibelstellen rein recitativisch behandelt, was in der eigentlichen Kirchencantate sonst nicht Bachs Gebrauch ist. Zweimal wird sogar schlankweg mit einem solchen Recitativ begonnen; so in der Exaudi-Cantate »Sie werden euch in den Bann thun«.21 Eine große Freiheit der Gestaltung im Ganzen und Einzelnen ist überhaupt diesen Cantaten eigenthümlich. An ihr hat die abweichende Form der Texte natürlich ihren vollen Antheil. Da die Worte nicht immer mit Rücksicht auf das italiänische Arienschema gedichtet waren, mußte der [551] Componist vermittelnde Wege gehen. Dabei kamen denn allerhand geistvolle Abwandlungen der üblichen Form zu Tage. Die kleinere Himmelfahrts-Cantate »Auf Christi Himmelfahrt allein«22 – für deren zusammenhangslosen und offenbar eilfertig zusammengestoppelten Text aber das allgemein gespendete Lob nicht gilt – bietet die originelle Erscheinung, daß eine Arie sich gänzlich ins Recitativ verläuft, dabei aber insoweit doch ihren Charakter wahrt, als nach Beendigung desselben das Anfangs-Ritornell der Arie das Ganze abschließt. Viele der Sologesänge stehen mit ihrer herrlichen Melodiefülle, ihrer zarten Innigkeit und überraschenden Farbenmischung, mit ihrem Schwung und großartigem Pathos unter Bachs allerhöchsten Leistungen dieser Art. Auf die Zahl angesehen treten die Chöre zurück. Choräle kommen meistens nur als einfache Schlußstücke vor; nur die kleinere Himmelfahrts-Cantate beginnt mit einer Choralfantasie, und in der Misericordias-Musik steht eine solche in der Mitte, beschäftigt aber allein den Sopran. Wo indessen freie Chöre vorkommen, sprühen sie von charakteristischem Leben. Auch in ihnen überall jene geniale Freiheit und Kühnheit der Form. Auf Jubilate beginnt Bach mit einem Chor »Ihr werdet weinen und heulen, aber die Welt wird sich freuen«,23 in welchem die Gegensätze des Weinens und der Freude mit durchdringender Kraft gestaltet und hernach zu einer Doppelfuge verbunden werden, dann leitet er hinüber zu einem Bassrecitativ, nach welchem der anfängliche Satz mit anderm Text weiter geführt wird. Die große Himmelfahrtsmusik »Gott fähret auf«, welche in den drei ersten Sätzen einen mehr oratorienhaften, hernach einen kirchlich erbaulichen Charakter trägt, bietet ein Tonbild der Auffahrt Christi von großartiger malerischer Bewegtheit im Ganzen und Einzelnen: alles strebt aufwärts, die Gestalt verschiedener Themen sowohl als der Bau der Fuge im ganzen, und ein Hauptthema schmettert wie Posaunenklang hinein. Eigen ist, wie Bach den Chorsatz eröffnet: durch ein kurzes feierliches Instrumentaladagio, welches das erste Fugenthema praeludirend andeutet. Ins Allegro gelangt hört man das Thema und sein Contrasubject zuerst sich instrumental entwickeln, bis denn nach vollster musikalischer Vorbereitung der Chor unter Trompeten- und [552] Paukenschall hereinbraust. In der Cantate »Es ist euch gut, daß ich hingehe« nimmt der einzige große Chor die Mitte des Werkes ein. »Wenn aber jener der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten« ist sein biblischer Text. Unmittelbar an ein Secco-Recitativ sich anschließend tritt er ein, und redet wie die Jünger am Pfingstfeste, begeistert und überwältigend. Bei dem alle Schranken durchbrechenden Fugenthema:


3.

empfindet man, daß »des Herrn Wort ist wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt.«24

Was sonst noch an Cantaten mit frei erfundenen Hauptchören vorliegt, ist nicht eben viel, denn die Choralcantate gelangt während der letzten Periode ins entschiedene Übergewicht. In Werken, die sich mit Zuversicht in die zeitliche Nähe der vorher geschilderten setzen lassen, tritt ebenfalls der Zug zu neuen, tiefsinnig verschlungenen und scharf charakterisirten Gestaltungen hervor. Der zum Reformationsfeste des Jahres 1735 verordnete Predigttext – es wurde, da der 31. October auf Montag fiel, am 30. October, dem 21. Trinitatis-Sonntage gefeiert – bestand aus Psalm 80, 15–20. Die in diesem Abschnitte vorkommenden Worte »Siehe darein und schilt, daß des Brennens und Reißens ein Ende werde« lassen die Kriegsereignisse des Jahres 1735 deutlich anklingen. Auch im Text der Cantate »Gott der Herr ist Sonn und Schild« athmen die Zeilen


Denn er will uns ferner schützen,

Ob die Feinde Pfeile schnitzen

Und ein Lästerhund gleich billt


eine besondere Erregtheit, die sich aus dem allgemeinen Charakter des Reformationsfestes nicht genügend erklären läßt. Die Musik entbehrt gleichfalls nicht der kampfschildernden Züge. In dem Duett »Gott, ach Gott, verlaß die Deinen nimmermehr« beschäftigen[553] sich die vereinigten Violinen nicht mit einer contrapunktirenden Begleitung, wie es sonst bei Bach Regel ist. Sie wollen etwas besonderes sagen, schlagen den Boden, wie ungeduldige Kriegsrosse, und fahren ungezügelt zwischen den Gesang hinein. Eine Ähnlichkeit mit dem zweiten Satze der Cantate »Ein feste Burg«25 ist nicht zu verkennen; außerdem verdient es Beachtung, daß bei der Übertragung dieses Satzes in die G dur-Messe die Begleitung gänzlich geändert ist. Im Eingangschor hat ebenfalls ein Hauptthema einen trotzig pochenden und aufbrausenden Charakter. Bei dem Entwurf des Chors wurde Bach von der Idee der Concertform geleitet, indem er zwei stark contrastirende Gedanken aufstellte und mit einander wechseln ließ. Das Eigenthümlichste daran, und für Bach so sehr bezeichnende ist aber, wie der Chor an das instrumentale Tonstück sich krystallisch nach und nach ansetzt. Anfangs giebt er zu dem zweiten Hauptgedanken mit den Worten »Gott der Herr ist Sonn und Schild« nur den weitgespannten harmonischen Hintergrund, verständlich symbolisirend, daß aller Kampf im Namen Gottes geführt werde. Hernach verdichtet sich jener Hauptgedanke zu einem Fugenthema. Die tiefsinnigen Verbindungen, welche sonst noch das mächtige Stück bis hinab auf die Bewegungen der Pauke durchziehen, können hier nicht verfolgt wer den. Die poetische Bedeutung aber des ersten Hauptgedankens wird im dritten Stücke völlig klar; hier singt unter seiner Begleitung der Chor in einfach prächtigen Harmonien »Nun danket alle Gott.«26

Zu derselben Zeit mit der ersten Aufführung des Oster-Oratoriums, also wahrscheinlich 1736, brachte Bach eine Cantate auf den zweiten Ostertag (2. April 1736): »Bleib bei uns, denn es will Abend werden.«27 Das Fest-Evangelium enthält die gemüthvolle Erzählung von den zwei Jüngern, welche nach Emmaus wandern in bekümmerten Gesprächen über Christi Tod. Unerkannt gesellt sich Christus zu ihnen. Als sie das Ziel ihres Ganges erreicht haben, stellt er sich als wolle er von ihnen scheiden. Sie aber bitten: »Bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich [554] geneiget.« In dem Hauptchor wird ein aus mehren Themen kunstreich gewobener Satz von innig bewegtem, aber doch mildem Ausdruck eingeschlossen durch zwei langsame Abschnitte, deren sehnsuchtsvolles einfältiges Wesen mit rührender Gewalt ergreift. Eine solche Dreitheiligkeit, die aus der ruhigeren Empfindung zur stärkeren Erregtheit übergeht und dann wieder zur anfänglichen Gemüthsstimmung zurückfuhrt, ist in Bachs Cantaten-Chören neu; denn die in Ouverturenform gesetzten Chöre lassen sich wegen des ganz verschiedenen Charakters jener Form nicht vergleichen.28 Außerdem ist der Chor durch eine intensive Naturstimmung ausgezeichnet und in dieser Beziehung von uns auch schon früher herbeigezogen worden.29 So eigen klingen im Mittelsatze die langgezogenen Töne »Bleib bei uns« durch das Stimmengespinnst hindurch und über demselben hin, als hörte man ferne Rufe über das dämmernde Feld. Lange, tiefdunkle Schatten fallen in das Bild des Anfangs und Schlusses; Bach selbst hat gesorgt, daß wir seine Absicht nicht mißverstehen können, da er dasselbe Tonmittel auch in der Tenorarie einer weltlichen Cantate gebraucht, wo es die Worte zu illustriren gilt: »Frische Schatten, meine Freude, sehet wie ich schmerzlich scheide.«30 Die abwärts strebende Bewegung mancher Partien stimmen das Gemüth wie das Niedersinken der Nacht. Auch an verschiedenen Stellen der von edler Sehnsucht getränkten Altarie wird das Hereinbrechen der Finsterniß durch Klang und Harmonienfolgen seltsam schaurig dargestellt. Mochte Bach geglaubt haben, es sei nun nach dieser Richtung genug geschehen, oder veranlaßten ihn andre Dinge – das schöne, namentlich für Vesper-Gottesdienste beliebte Abendlied »Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ«, welches die Mitte der Cantate bildet, läßt als Bachsche Composition einiges an Tiefe zu wünschen. Wie in einem Orgeltrio singt der Sopran den Cantus firmus, während Generalbass und ein Violoncello piccolo contrapunktiren. Letzeres ent wickelt seine Tonreihen aus der ersten Choralzeile, ergeht sich dann aber bald in merkwürdigen Sprüngen, Arpeggien und Läufen. Am Schlusse, wo man die Wiederkehr desselben [555] Chorals erwartet, steht die zweite Strophe von »Erhalt uns Herr bei deinem Wort«, was wohl durch die lehrhafte Wendung, welche der Text hernach nimmt, veranlaßt ist. Jedenfalls hält gegenüber der ergreifenden Schönheit der ersten beiden Stücke das übrige nicht Stand.

Die Cantaten »Es wartet alles auf dich« (7. Trinitatis-Sonntag)31 und »Wer Dank opfert, der preiset mich« (14. Trinitatis-Sonntag)32 sind für die Messen in G moll und G dur benutzt worden. Sie müssen also vor deren Entstehungszeit geschrieben sein und diese ist um 1737. Auf das Evangelium von der Speisung der Viertausend Bezug nehmend preist der Hauptchor der ersten Cantate mit den Worten des Psalmisten (Ps. 104, 27 und 28) die Güte Gottes, der mit unerschöpflichen Gaben alle Creatur ernährt. Der Chor ist großartig entworfen und reich ausgeführt, nur für den Gegenstand auffällig düster. Im Verlaufe des Werkes, das sich zu einer umfassenden Darlegung von Gottes Wohlthaten erweitert, wird dieser Ton auch nicht festgehalten. Über Worte der Bergpredigt (Matth. 6, 31 und 32) entwickelt sich eines jener Bass-Ariosos, die schon an der Gränze der Arie stehen, voll des lehrhaften Eifers, der Bach so schön kleidet. Die Alt- und Sopran-Arie aber wogen so goldig und quellend entgegen, wie der Segen reifender Saatfelder. Es ist in ihnen etwas von der warmen, schönen Sinnlichkeit, die erst Mozart ganz entfalten sollte. Hinreißend ist in der Sopranarie das Un poco allegro im 3/8 Takt, in welchem rhythmisch verändert auch das Hauptthema des Adagio wiederauftaucht. Die alterthümliche Weise des Danklieds »Singen wir aus Herzensgrund« leitet wieder mehr in die Stimmung des Hauptchors zurück. Die Cantate »Wer Dank opfert« besingt ebenfalls die Macht und Güte Gottes, aber durchweg in helleren Farben. In einer prachtvollen Fuge strömt der Jubelgesang des Hauptchores dahin. Die Mitte der Cantate thut sich durch ein Stückchen erzählenden Bibelwortes hervor, von welchem die Betrachtung einen neuen Ausgang nimmt. Ebenso ist es in der Himmelfahrts-Musik »Gott fähret auf mit Jauchzen.«

[556] In die Zeit von 1738–1741 fallen noch drei Cantaten mit freien Hauptchören, welche mehr oder weniger aus Überarbeitungen hervorgegangen sind. Eine Musik auf das Johannisfest »Freue dich, erlöste Schaar« wird auf den 24. Juni 1738 zu setzen sein. Sie gründet sich auf die weltliche Cantate »Angenehmes Wiederau«33, und giebt einer wohligen Stimmung Ausdruck, welche weniger zu dem dogmatischen Charakter des Festes paßt, als zu der Jahreszeit, in welcher es gefeiert wurde. Ungefähr in dieselbe Zeit, vielleicht schon in den Spätherbst 1737 gehört eine umfangreiche Brautmessen-Musik »Gott ist unsre Zuversicht.« Alle Hauptstücke ihres zweiten Theils sind der Weihnachts-Cantate »Ehre sei Gott in der Höhe« entnommen.34 Der große Anfangschor ist sehr wohllautend, leicht faßlich und doch gehaltvoll. Eine bezaubernde Süßigkeit, wie sie nur in Bachschen Hochzeits-Cantaten vorkommt, liegt in den weitgespannten Melodien der Alt-Arie. Die Aufschrift In diebus nuptiarum, welche das Werk trägt, deutet wohl auf eine weitläufige, solenne Feier, vermuthlich für hochgestellte Personen. Aus einer Hochzeitscantate endlich, welche nur noch unvollständig erhalten ist, aber ein sehr bedeutendes und interessantes Werk gewesen zu sein scheint, hat Bach etwa 1740 oder 1741 eine Pfingst-Cantate »O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe« gebildet.35 Sie enthält zwei Chöre und zwischen kurzen Recitativen in der Mitte eine Alt-Arie »Wohl euch ihr auserwählten Seelen.« Die Übertragung wird fühlbar an der Kürze des schließenden Chors, der in der Trauungs-Cantate diesen Zweck nicht hatte. Ebenso an der Arie, welche die bräutliche Stimmung in keinem Theile verkennen läßt. Von allem was Bach in diesem Sinne schrieb steht sie mit ihrem keuschen und berauschenden Duft, ihrem Klangzauber, ihren wonnigen Melodien unbedingt am höchsten und wohl als ein schlechthin unerreichbares da. Auch um die prachtvolle Blume des ersten Chors[557] schwebt ein Schein von menschlichen Liebesflammen, der bei Bachs Reinheit und Idealität freilich für die Pfingstbestimmung nicht gradezu störend wird, aber sich doch erst unter dem ursprünglichen Zwecke des Chores ganz verstehen läßt.

Schon früher ist nachgewiesen worden, daß Bach auch Instrumentalwerke für Kirchen-Cantaten ausnutzte, und zwar nicht nur als Sinfonien sondern auch zu Sologesängen.36 Zwei Cantaten liegen vor, in denen aus Instrumentalsätzen gar Chöre gemacht sind, eine Weihnachts-Cantate »Unser Mund sei voll Lachens«37 und eine Jubilate-Musik »Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen.«38 Ähnlich wie im Gloria der A dur-Messe ist der Chor in das Instrumentalstück hineingebaut, ohne daß dieses wesentlich verändert wurde. Zu der Weihnachts-Musik hat Bach die Ouvertüre einer Orchesterpartie in D dur benutzt.39 Wir wissen nicht sicher, wann diese entstand; doch macht ein Vergleich mit der C dur- und H moll-Partie es wahrscheinlich, daß Bach sie nicht schon in Cöthen, sondern erst in Leipzig schrieb, als ihm die Direction des Musikvereins auch solche Aufgaben wieder nahe brachte. Da wir aus der Zeit von 1723–1734 bereits drei Cantaten zum ersten Weihnachtstage von ihm besitzen und er auch die Leitung des Musikvereins erst 1729 übernahm, so ist es unwahrscheinlich, daß er die Cantate »Unser Mund sei voll Lachens« vor 1734 componirt hat.40 Nur das fugirte Allegro der Ouverture ist mit erstaunlicher Meisterschaft zum Chor umgebildet; die Grave-Sätze bilden Vor- und Nachspiel. Ähnlich hat Bach die Form in der Cantate »Preise Jerusalem den Herrn« und auch in der Choral-Cantate »In allen meinen Thaten« verwendet,41 während er anderswo (»Nun komm der Heiden Heiland«, »Höchsterwünschtes Freudenfest«, »O Ewigkeit, du Donnerwort«) den Chor auch am Grave sich betheiligen läßt.42 Der pompöse Charakter der französischen Ouverture machte sie für eine Weihnachtsmusik wohl geeignet, wenngleich nicht zu leugnen ist, daß durch die Beschränkung des Chors auf das Allegro dieses ein [558] Übergewicht erhält, das mit der Idee der Form nicht im Einklange steht. Es findet sich außerdem in der Cantate das Virga Jesse floruit des Magnificat43 auf die Worte des »Ehre sei Gott in der Höhe« übertragen. Die übrigen Solostücke, welche sämmtlich neu componirt zu sein scheinen, sind von hervorragendem Werth, und drücken, namentlich die Alt-Arie, eine tiefe männliche Empfindung aus, welche man so in den früheren Leipziger Cantaten nicht finden dürfte. Ganz dasselbe gilt von der Cantate »Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen«. Ein Vergleich der von obligater Orgel begleiteten Alt-Arie »Ich will nach dem Himmel zu« mit der Arie »Willkommen will ich sagen« aus der Cantate »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende«44 dürfte dies deutlich machen. Die Arien haben sehr viel Ähnlichkeit, auch in der Gesangsbesetzung und Begleitung, aber der Überschwang der Todessehnsucht erscheint hier mehr nach Innen gezogen. Als Instrumentalstück ist für die Cantate das nämliche D moll-Concert benutzt, welches Bach schon der Cantate »Ich habe meine Zuversicht« als Einleitung vorausschickte, nachdem das Rückpositiv der Thomas-Orgel selbständig spielbar gemacht worden war.45 Hier aber dient zur Sinfonie nur der erste Satz, in das Adagio ist der Hauptchor so hineingefügt, daß der Part des concertirenden Soloinstrumentes unbeeinträchtigt nebenher geht – eine That virtuoser compositorischer Gewandtheit.

Von den vier Cantaten zum Trinitatis-Feste, welche sich erhalten haben, ist noch eine unerwähnt geblieben, über deren Entstehungszeit nichts genaueres zu ermitteln war. Sie wird aber schon deshalb, weil während der Jahre 1723–1732 nicht weniger als drei jener Cantaten entstanden sind (»Höchsterwünschtes Freudenfest«, »O heilges Geist- und Wasserbad«. »Gelobet sei der Herr«), in eine spätere Zeit zu setzen sein, und ihre musikalische Beschaffenheit stimmt zu dieser Vermuthung. Ganz besonders der Hauptchor, dessen energievolle Charakteristik ihn zu einem würdigen Seitenstücke der Chöre »Herr deine Augen sehen nach dem Glauben«, »Ihr werdet weinen und heulen«, »Gott fähret auf mit Jauchzen« und anderer macht. Bei aller rein musikalischen Schönheit bietet doch [559] die Cantate als Ganzes ein unlösliches Räthsel. Nach dem Evangelium schleicht sich Nikodemus, ein vornehmer Pharisäer, bei Nacht zu Jesu, um sich von ihm belehren zu lassen. In diesem Vorgange erkennt der Textdichter ein Beispiel schwächlichen Kleinmuths und leitet daher seine Dichtung mit dem Bibelspruch ein »Es ist ein trotzig und verzagt Ding um aller Menschen Herze«. Wenn es nun, meint er weiter, der Christ eben so mache, und Jesus nicht öffentlich zu suchen wage, so geschehe es im Gefühl der Scham über die eigne Unzulänglichkeit. Aber in der Hoffnung auf Errettung durch den Glauben dürfe man Muth fassen. Der Gedankengang wird Bach so klar gewesen sein, wie uns; es ist deshalb unbegreiflich, warum er sich durch seine Musik in den entschiedensten Widerspruch zu ihm gesetzt hat. Nicht auf die Verzagtheit legt er im ersten Chore den Nachdruck sondern auf den Trotz. Und ein titanischer Trotz ist es, der in dem furchtbar energischen Fugenthema gegen den Himmel stürmt. Das Stück an sich ist eine Meisterleistung höchsten Ranges, aber sein Charakter hebt jeden innern Zusammenhang mit dem Folgenden auf. Im schroffen Gegensatze hierzu steht die gavottenartige erste Arie. Sie ist als Musikstück höchst reizvoll, aber sie paßt nicht einmal zu ihrem eignen Text, welcher von der Schüchternheit des Christen gegenüber dem gotterfüllten, wunderwirkenden Jesus handelt. Wenn nun auch im weiteren Verlaufe das Verhältniß zwischen Text und Musik ein angemesseneres wird, so ist doch eine harmonische Gesammtwirkung unmöglich gemacht. Verböte es nicht die Beschaffenheit des Autographs, so würde man eine Übertragung der ersten beiden Stücke muthmaßen. So aber bleibt nur übrig, den Widerspruch einfach aufzuzeigen.46

Wie in dieser Trinitatis- und der vorher beschriebenen Weihnachts-Musik sich außer zu Anfang auch in der Mitte ein Bibelspruch findet – eine Form, deren häufige Wiederkehr grade in den Cantaten dieser Zeit man schon bemerkt haben wird –, so auch in den beiden letzten, die uns als mit freien Hauptchören versehen noch zu berühren übrig sind. »Brich dem Hungrigen dein Brod« gehört dem ersten, »Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist« dem achten Trinitatis-Sonntage[560] an.47 Die Ähnlichkeit beider hinsichtlich der musikalischen Disposition und des Geistes, in welchem sie ausgeführt sind, fällt in die Augen. Der Chor der ersteren Cantate, über zwei schöne Verse des Jesaias (58, 7 und 8) gesetzt, führt dem Sinne nach mehr noch jenen Bergpredigt-Spruch aus »Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen«, wie denn auch die Cantate mit der sechsten Strophe der versificirten Seligpreisungen ausklingt.48 Ein ergreifendes Bild christlicher Liebe, wie sie mit zarter Hand und wehmüthige Theilnahme im Blick die Leiden der Brüder lindert, hieraus den schönsten Lohn des Lebens erwerbend. Die eigenthümliche zwischen Flöten, Oboen und Geigen getheilte Begleitung – zusammenhängend findet man sie T. 17 ff. – ergab sich Bach zunächst wohl aus der Vorstellung vom Zerbrechen des Brodes. Wie wenig er aber hierbei auf kleinliche Spielerei ausging, zeigt sich aus dem Verlauf, wo zu ganz andern Worten die Begleitung sich fortsetzt. Sie verleiht dem Stück einen eigen zarten und schwebenden Anstrich; dies war es was Bach hauptsächlich wollte. An der Spitze des zweiten Theils der Cantate steht der Spruch Ebräer 13, 16: »Wohlzuthun und mitzutheilen vergesset nicht, denn solche Opfer gefallen Gott wohl«. Er wird vom Bass in der bekannten Weise gesungen. Die beiden Arien haben einen liebevoll geschäftigen, freundlichen Ausdruck. Das Evangelium des Sonntages handelt vom reichen Mann und armen Lazarus. – Dagegen ist die ganze andre Cantate eine mächtige protestantische Predigt über die Pflichten, deren Erfüllung Gott von den Christen fordert, damit sie einst vor seinem Gerichte bestehen. Ein strenger Charakter ist allem aufgeprägt; dem Hauptthema des ersten Chors, welches immer wieder auf denselben Fleck schlägt, fehlt sogar ein Zug von orthodoxer Härte nicht. Aber keine unfruchtbare Erstarrung in überkommenen Dogmen liegt ihr zu Grunde, sondern lebendige Begeisterung für ein erhabenes Ziel, welche sich brausend durch das Bette des weitgeformten Chores ergießt.

Ein gewaltiger Torso einer Kirchen-Cantate ist uns noch erhalten in einem Doppelchor mit reichster Instrumentalbegleitung [561] über die Worte Offenbarung Johannis 12, 10 (»Nun ist das Heil und die Kraft«).49 Ein Torso muß er heißen, da es offenbar ist, daß er in der vorliegenden Gestalt keinerlei kirchliche Verwendung gefunden haben kann. Den Platz der regelmäßigen Kirchenmusik konnte er nicht einnehmen, dazu ist er zu kurz; als Motette konnte er der concertirenden Begleitung wegen nicht gelten; ihn unter der Communion aufgeführt zu denken verbietet natürlich der Inhalt. Andre Gelegenheiten aber gab es nicht. Sicherlich bildete er den Eingang einer vollständigen Michaelis-Cantate, auch darf angenommen werden, daß er ein Orchestervorspiel hatte. Das reckenhafte Stück mit seiner zermalmenden Wucht und seinem wilden Siegesjubel ist aber auch für sich ein unvergängliches Denkmal deutscher Kunst.50

Solocantaten, welche in die spätere Leipziger Zeit fallen könnten, sind nur äußerst wenige vorhanden. Ein Dialogus zwischen Jesus und der Seele für den zweiten Weihnachtstag (»Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet«)51 gehört in die Gattung derjenigen Compositionen, die mehr geistliche Hausmusik vorstellen als Kirchenmusik. Von christfestlicher Empfindung findet sich garnichts darin, und wäre nicht die Bestimmung ausdrücklich angegeben, so würde niemand an Weihnachten denken. Anders steht es mit einem Werke auf den dritten Christtag, »Süßer Trost, mein Jesus kommt«52. Wie tief und umfassend Bach auch im Weihnachts-Oratorium, in einzelnen Arien früherer Cantaten53 die kirchliche Feststimmung ausgedrückt hatte, diese Cantate beweist, daß das Thema von ihm noch nicht erschöpft war. Die unschuldige Weihnachtsseligkeit hat hier einen eigen verklärten Charakter angenommen. Wie ein Friedensengel über der nächtlichen Stadt schwebt die silberhelle Sopranstimme mit ihren langgezogenen, einfachen, seligen Melodien, [562] durch welche eine Oboe zarte Gewinde schlingt. Der Mittelsatz der ersten Arie hat andern Takt und Zeitmaß, eine Form, die Bach in der Leipziger Zeit nicht selten anwendet54. Die zweite Arie wiegt sich anmuthig in tieferen Regionen; der Weihnachtschoral »Lobt Gott ihr Christen allzugleich« schließt das schöne kleine Werk. Ein andrer, für den ersten Epiphanias-Sonntag componirter Dialogus (»Liebster Jesu, mein Verlangen«)55 ist da durch für uns besonders interessant, daß Bach in dem Duett »Nun verschwinden alle Plagen« einen Gedanken weiterführt, den er schon in einer früheren Cantate auf denselben Epiphanias-Sonntag vorgebracht hatte56. Diesem Dialogus haben wir eine Cantate auf den zweiten Epiphanias-Sonntag, »Meine Seufzer, meine Thränen« an die Seite zu stellen57. Es bezeichnet die Ärmlichkeit und einseitige Richtung der damaligen kirchlichen Poesie, daß man dem Evangelium von der Hochzeit zu Cana, dessen anschauliche Schilderung durchaus einen edel-heiteren Grundton hat, kein andres Motiv abgewinnen konnte, als das unzählig oft benutzte: Jesus hilft dem in seiner Noth verzagenden Sünder. Mehr oder minder variiren alle hervorragenden Cantatendichter der Zeit diesen einen Gedanken. Die drei Cantaten, welche Bach für den Sonntag componirte58, sind ebenfalls sämmtlich auf diesen Grundton gestimmt. Am hartnäckigsten wird die Empfindung der Noth, des »Ächzens und erbärmlichen Weinens« um Rettung aber in der vorliegenden Musik festgehalten. Bis auf den Schlußchoral kaum ein Sonnenblick in diese trübe, dicht umwölkte Welt. Ein fester verschlungenes Netz von Trauertönen, wie in den Arien für Bass und Tenor, hat Bach nie gesponnen. Es scheint nicht möglich, daß diese Vereinigung von tiefer, spontaner Empfindung und ausbündiger Künstlichkeit je übertroffen werden könnte. Seinem natürlichen Kunstgefühle folgend hat der Meister der Choralfantasie, welche die beiden Arien trennt, einen etwas milderen und schlichteren [563] Charakter gegeben. Die Sechzehntelbewegungen der Violinen fächeln Kühlung, obwohl der Text des Chorals dieser Auffassung widerspricht, und daher auch eine wirkliche Beruhigung des Gemüths nicht erreicht wird. Bach liebte in Schmerzen zu schwelgen, ihm waren derartige Cantatendichtungen willkommene Aufgaben. Man sieht aber aus diesem Werke wieder, wie die selbstgenügsame Musik sich leise von ihrem Urgrunde, der Kirche zu lösen beginnt. Ein solches Werk paßte doch gewiß nicht in einen Gottesdienst, der die Christen dem Evangelium gemäß durch den Gedanken erbauen sollte, daß Christus mit den Seinen Gemeinschaft hält, sie mit seinen Gaben labt, fröhlich ist im Kreise fröhlicher Menschen. Selten genug kommt es allerdings vor, daß man von einer Bachschen Kirchenmusik sagen muß, sie erfülle nicht ihre liturgische Bestimmung. In hohem Grade zweckentsprechend sind wieder die Cantaten auf den 25. Trinitatis-Sonntag »Es reifet euch ein schrecklich Ende« und auf Quasimodogeniti »Am Abend aber desselbigen Sabbaths«. Erstere ist ein mächtig ergreifendes Stück trotz der sparsam aufgewendeten Mittel59. Letztere wird durch eine liebliche Sinfonie eingeleitet, welche, die Form eines ersten Concertsatzes in geistreicher Verbindung mit der dreitheiligen Arienform darbietend, irgend einer weltlichen Instrumentalcomposition entnommen sein muß60. Auch der Anfang der Alt-Arie scheint auf einer Entlehnung zu beruhen. Das Duett zwischen Sopran und Tenor behandelt eine Choralstrophe: »Verzage nicht, o Häuflein klein«, aber nur den Text; die Musik ist frei erfunden. Hier treffen wir Bach wieder auf dem Wege, den wir ihn mit den Cantaten »Gelobet sei der Herr«, »In allen meinen Thaten« und andern einschlagen sahen61. Jede von all diesen Solocantaten ist unter verschiedene Stimmen vertheilt; auch stehen am Schluß vierstimmige Choräle. Nur die Cantate »Meine Seele rühmt und preiset« singt der Tenor allein, und sie hat keinen Choral. Sie gehört also mit den Gesangswerken »Ich habe genug«, »Widerstehe [564] doch der Sünde« und andern62 in dieselbe Gattung. Da ihr, obgleich an der Echtheit nicht zu zweifeln ist, doch einstweilen jede ältere diplomatische Grundlage fehlt, so erwähne ich sie hier nur abschließend63. –

Wir gelangen zu derjenigen Cantatenform, in welcher Bachs kirchliche Schaffenskraft endlich ausläuft und zu Kühe kommt. Es darf allerdings nicht vergessen werden, daß ein Theil seiner Kirchencantaten verloren gegangen ist. Da unter diesen sich gewiß auch solche befunden haben werden, die in Leipzig componirt worden sind, so könnte sich, kämen sie wieder zu Tage, das Verhältniß der Gruppen, in welchen die verschiedenen Formen sich darstellen, wohl noch etwas verschieben. Immerhin ist durch eine große Anzahl gleichgestalteter, gleichzeitiger Werke sicher zu erweisen, daß Bach in der letzten Lebensperiode mit einer selbst bei ihm sonst nicht vorkommenden Stetigkeit in einer und derselben Form verharrte. Diese Form ist die Choralcantate.

Es muß nochmals daran erinnert werden, daß Bach um 1732 auf den Gedanken kam, Kirchenlieder durchzucomponiren; so nämlich, daß nur bei einigen Strophen die zugehörige Melodie beibehalten wurde, andre Strophen aber ohne weiteres zu Texten für Recitative und Arien dienen mußten64. Ich nannte diese Cantaten Übergangs- oder abschweifende Bildungen, welche auf oder an dem Wege zu höheren Formen lagen. Solche Bildungen haben vereinzelt auch noch in andrer Weise stattgefunden: ein Choral wurde als Mittelpunkt gedacht, wurde aber bald musikalisch bald poetisch nicht voll als solcher ausgeprägt. In einer Cantate auf den 19. Trinitatis-Sonntag65 tritt er im Hauptchore nur instrumental auf. Der Chor entwickelt in Imitationen die Worte Römer 7, 24 »Ich elender [565] Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?« Den Instrumenten ist ein selbständiger zwölftaktiger Gedanke zugetheilt, welcher sich immer von neuem abspielt, derart wie wir es bei dem Choral »Was Gott thut, das ist wohlgethan« der Cantate »Die Elenden sollen essen« kennen gelernt haben66. Dazu blasen Trompete und Oboen den Choral im Canon der Quinte; am Schluß wiederholt die Trompete allein nochmals die beiden ersten Zeilen, sodaß in der Form der musikalischen Frage geschlossen werden kann. Um den vollen poetischen Sinn zu fassen, muß man die der Choralmelodie zugehörigen Worte wissen. Sie lauten:


Herr Jesu Christ, ich schrei zu dir

Aus hochbetrübter Seele,

Dein Allmacht laß erscheinen mir

Und mich nicht also quäle.

Viel größer ist die Angst und Schmerz,

So anficht und turbirt mein Herz,

Als daß ichs kann erzählen.


Den Schluß der Cantate macht dann die einfach vierstimmige zwölfte Strophe. In der Mitte aber begegnet uns noch eine zweite Choralmelodie: die vierte Strophe von »Ach Gott und Herr« in einem vierstimmigen Satze, der an modulatorischer Kühnheit das Unglaubliche wirklich macht. Die madrigalischen Mittelstücke stehen zum Choral in keinerlei Beziehung. Unter ihnen ist die Tenorarie in rhythmischer und modulatorischer Hinsicht ein apartes, besonders interessantes Musikstück. – Eine andre, dem 15. Trinitatis-Sonntage gehörende, Cantate verwendet die drei ersten Strophen des Hans Sachs'schen Liedes »Warum betrübst du dich, mein Herz«67. Die ersten beiden Strophen, welche einander fast unmittelbar folgen, sind von frei gedichteten madrigalischen Recitativen durchzogen, wie wir dieses schon in den Cantaten »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende«, »Herr wie du willst, so schicks mit mir« und anderwärts gehabt haben. Daß aber den ersten drei Zeilen der ersten Strophe jedesmal ein kurzes Tenor-Arioso über die betreffenden Worte des Kirchenlieds vorausgeschickt wird, darin tritt die Richtung hervor, [566] welche Bach mit den obenerwähnten, ganz über Kirchenlieder gesetzten Cantaten einschlug. Die Tonreihen der Arioso-Stellen sind dem Haupt-Motive nachgebildet, aus welchem das Instrumentalstück sich aufbaut, das sich so anläßt als sollte der ganze Satz eine Choralfantasie werden. Aber dazu kommt es nicht; so oft der Chor eintritt, beschränken sich die Instrumente auf die einfachste Begleitung. Auch ist es dem Wesen der Choralfantasie entgegen, daß jede der drei ersten Zeilen vor dem Anheben des Gesanges von der ersten Oboe vorgespielt wird. Eine gewisse Buntheit und Unruhe ist auch der zweiten Choralstrophe eigen. Anfänglich zeigt sie sich im einfachsten vierstimmigen Satze, dagegen werden die beiden letzten Zeilen reich und motivisch contrapunktirt, und – was fast das merkwürdigste ist – sie kehren nach einem Zwischenrecitativ beinahe genau so noch einmal wieder. Die dritte Strophe steht am Schlusse; sie ist eine wirkliche Choralfantasie, das instrumentale Tonbild freilich von einer Einfachheit, der man bei Bach in solchen Fällen nicht grade häufig begegnet. Indessen ist dieses, so wie das anspruchslose Wesen der vorhergehenden Choralsätze, wohl durch den Inhalt des Sonntags-Evangeliums bedingt worden: der gläubige Christ soll in kindlicher Unbekümmertheit die Sorge für das leibliche Wohl dem göttlichen Vater überlassen, gleich den Vögeln unter dem Himmel und den Lilien auf dem Felde. Was viel mehr der Cantate das Gepräge einer unfertigen Übergangsbildung giebt, ist die subjectiv-willkürliche Ausführung der ersten Choralstrophen und die seltsame Disposition des Ganzen. Ein Choralsatz am Anfange und Schluß mit madrigalischen Mittelstücken, oder drei verschiedene Choralformen zu Anfang, in der Mitte und am Ende mit madrigalischem Beiwerk sind verständlich; eine Form, die zwei buntgewirkte Choralsätze auf einander folgen läßt, dann eine madrigalische Bass-Arie bringt, und mit einer Choralfantasie abschließt, ist es weniger. Die Entstehungszeit dieser und der vorher besprochenen Cantate konnte nicht genauer ermittelt werden. Erstere muß aber vor der G dur-Messe geschrieben sein, da in ihr die Bass-Arie als überarbeitetes Stück wieder vorkommt.

Was man im strengsten Sinne Choralcantate nen nen kann, davon hat Bach in der ersten Leipziger Periode nur einzelne zerstreute Proben gegeben. Die Cantaten »O Ewigkeit, du Donnerwort« (F dur),[567] »Liebster Gott, wann werd ich sterben«, »Wer nur den lieben Gott läßt walten«, »Was Gott thut, das ist wohlgethan« (zweite Composition) und »Es ist das Heil uns kommen her« weisen die Form vollausgebildet auf. Nahe angränzend an dieselbe sind »Wachet auf, ruft uns die Stimme« und die am Anfang der letzten Periode stehende »War Gott nicht mit uns diese Zeit«. Die Hauptmasse der Choral-Cantaten möge nun zunächst hier zusammengestellt werden:


  • 1. Ach Gott vom Himmel sieh darein (2. Trinitatis-Sonntag).

  • 2. Ach Gott, wie manches Herzeleid (2. Epiphanias-Sonntag).

  • 3. Ach Herr, mich armen Sünder (3. Trinitatis-Sonntag).

  • 4. Ach lieben Christen seid getrost (17. Trinitatis-Sonntag).

  • 5. Ach wie flüchtig, ach wie nichtig (24. Trinitatis-Sonntag).

  • 6. Allein zu dir, Herr Jesu Christ (13. Trinitatis-Sonntag).

  • 7. Aus tiefer Noth schrei ich zu dir (21. Trinitatis-Sonntag).

  • 8. Christum wir sollen loben schon (2. Christtag).

  • 9. Christ unser Herr zum Jordan kam (Johannisfest).

  • 10. Das neugeborne Kindelein (Sonntag nach Weihnachten).

  • 11. Du Friedefürst, Herr Jesu Christ (25. Trinitatis-Sonntag).

  • 12. Erhalt uns Herr bei deinem Wort (6. Trinitatis-Sonntag).

  • 13. Gelobet seist du, Jesu Christ (1. Christtag).

  • 14. Herr Christ der einig Gottssohn (18. Trinitatis-Sonntag).

  • 15. Herr Gott, dich loben alle wir (Michaelisfest).

  • 16. Herr Jesu Christ, du höchstes Gut (11. Trinitatis-Sonntag).

  • 17. Herr Jesu Christ, wahr' Mensch und Gott (Estomihi).

  • 18. Ich freue mich in dir (3. Christtag).68

  • 19. Ich hab in Gottes Herz und Sinn (Septuagesimae).

  • 20. Jesu, der du meine Seele (14. Trinitatis-Sonntag).

  • 21. Jesu nun sei gepreiset (Neujahr).

  • 22. Liebster Immanuel, Herzog der Frommen (Epiphaniasfest).

  • 23. Mache dich, mein Geist, bereit (22. Trinitatis-Sonntag).

  • 24. Meinen Jesum laß ich nicht (1. Epiphanias-Sonntag).

  • 25. Meine Seele erhebet den Herren (Maria Heimsuchung).

  • [568] 26. Mit Fried und Freud ich fahr dahin (Maria Reinigung).

  • 27. Nimm von uns Herr, du treuer Gott (10. Trinitatis-Sonntag).

  • 28. Nun komm, der Heiden Heiland-H moll- (1. Advent).

  • 29. Schmücke dich, o liebe Seele (2. Trinitatis-Sonntag).69

  • 30. Was frag ich nach der Welt (9. Trinitatis-Sonntag).

  • 31. Was mein Gott will, das gscheh allzeit (3. Epiphanias-Sonntag).

  • 32. Wie schön leuchtet der Morgenstern (Maria Verkündigung).

  • 33. Wo Gott der Herr nicht bei uns hält (8. Trinitatis-Sonntag).

  • 34. Wohl dem, der sich auf seinen Gott (23. Trinitatis-Sonntag).

  • 35. Wo soll ich fliehen hin (19. Trinitatis-Sonntag).


Abgesehen von den Cantaten 3, 6, 16, 20, 27, 32, 33 und 34 gehören die übrigen siebenundzwanzig schon wegen ihres handschriftlichen Aussehens in einen und denselben engeren Zeitraum. Soweit sich genaueres über die Entstehungszeit sagen läßt, ist die Cantate »Du Friedefürst Herr Jesu Christ« unter ihnen die späteste, denn sie fällt auf den 15. November 1744. Zu den frühesten dagegen scheinen »Was frag ich nach der Welt«, »Wo soll ich fliehen hin«, »Ich freue mich in dir« und »Jesu nun sei gepreiset« zu gehören. Von diesen dürfte die erste für den 7. August 1735, die zweite für den 16. October 1735, die dritte für den 27. December 1735 und endlich die vierte für den 1. Januar 1736 geschrieben sein70.

Es handelt sich, wie man sieht, bei diesen fünf und dreißig Cantaten um eine Reihe der schönsten und größtentheils auch bekanntesten [569] protestantischen Choräle des sechzehnten und siebenzehnten Jahrhunderts. In welcher Weise diese benutzt sind und worin demnach das Wesen der eigentlichen Bachschen Choralcantate besteht, wäre, nachdem der Gegenstand bisher nur einige Male angestreift werden konnte, nunmehr vollständig zu zeigen.

Einer jeden Cantate liegt das betreffende ganze Kirchenlied zu Grunde. Bei längeren Dichtungen sind wohl einmal einige Strophen übersprungen; es ist dabei aber keine Schädigung oder Änderung des Gedankenganges eingetreten, sondern nur nach dem Grundsatze verfahren, nach dem gelegentlich ja auch beim Gemeindegesange diese und jene Strophe ausgelassen wird. Jedoch treten in ihrer Originalgestalt regelmäßig nur die erste und letzte Strophe auf, mit denen immer auch die Originalmelodie verbunden er scheint. Seltener thun sich im Verlaufe noch eine oder mehre Strophen des ursprünglichen Textes hervor, welchen dann ebenfalls die Kirchenmelodie als etwas unabtrennbares anhaftet. Übrigens sind die Strophen madrigalisch umgeformt und dienen so als poetischer Stoff für die freien concertirenden Solostücke. Um eine grundlegende Vorstellung von der auf diese Art entstandenen eigenthümlichen Poesie zu geben, sollen hier ein Kirchenlied und dessen madrigalische Paraphrase einander gegenüber gestellt werden.


Kirchenlied.


1.

Christ unser Herr zum Jordan kam

Nach seines Vaters Willen,

Von Sanct Johann's die Taufe nahm,

Sein Werk und Amt zu 'rfüllen;

Da wollt er stiften uns ein Bad,

Zu waschen uns von Sünden,

Ersäufen auch den bittren Tod

Durch sein selbst Blut und Wunden;

Es galt ein neues Leben.


2.

So hört und merket alle wohl,

Was Gott selbst heißt die Taufe,

Und was ein Christe glauben soll,

Zu meiden Ketzer-Haufe:

Gott spricht und will, daß Wasser sey,

Doch nicht allein schlecht Wasser,

[570] Sein heilges Wort ist auch dabei

Mit reichem Geist ohn Maßen,

Der ist allhier der Täufer.


3.

Solchs hat er uns beweiset klar

Mit Bildern und mit Worten,

Des Vaters Stimm man offenbar

Daselbst am Jordan hörte;

Er sprach: Das ist mein lieber Sohn,

An dem ich hab Gefallen,

Den will ich euch befohlen han,

Daß ihr ihn höret alle

Und folget seiner Lehre.


4.

Auch Gottes Sohn hie selber steht

In seiner zarten Menschheit;

Der Heilge Geist hernieder fährt

In Taubensbild verkleidet,

Daß wir nicht sollen zweifeln dran,

Wenn wir getaufet werden,

All drei Person'n getaufet han,

Damit bei uns auf Erden

Zu wohnen sich ergeben.


5.

Sein Jünger heißt der Herre Christ:

Geht hin, all Welt zu lehren,

Daß sie verlorn in Sünden ist,

Sich soll zur Buße kehren;

Wer gläubet und sich taufen läßt,

Soll dadurch selig werden,

Ein neugeborner Mensch er heißt,

Der nicht mehr könne sterben,

Das Himmelreich soll erben.


[571] 6.

Wer nicht gläubt dieser großen Gnad,

Der bleibt in seinen Sünden,

Und ist verdammt zum ewgen Tod

Tief in der Höllen Grunde;

Nichts hilft sein eigen Heiligkeit,

All sein Thun ist verloren,

Die Erbsünd machts zur Nichtigkeit,

Darin er ist geboren,

Vermag ihm selbst nicht helfen.


7.

Das Aug allein das Wasser sieht,

Wie Menschen Wasser gießen,

Der Glaub im Geist die Kraft versteht,

Des Blutes Jesu Christi,

Und ist für ihn ein rothe Fluth,

Von Christi Blut gefärbet,

Die allen Schaden heilen thut,

Von Adam her geerbet,

Auch von uns selbst begangen.


Cantatentext.


Chor.

Christ unser Herr zum Jordan kam

Nach seines Vaters Willen,

Von Sanct Johann's die Taufe nahm,

Sein Werk und Amt zu 'rfüllen;

Da wollt er stiften uns ein Bad,

Zu waschen uns von Sünden,

Ersäufen auch den bittren Tod

Durch sein selbst Blut und Wunden;

Es galt ein neues Leben.


Bass-Arie.

Merkt und hört, ihr Menschenkinder,

Was Gott selbst die Taufe heißt:

Es muß zwar hier Wasser sein,

Doch schlecht Wasser nicht allein,

Gottes Wort und Gottes Geist

Tauft und reiniget die Sünder.


Tenor-Recitativ.

Dies hat Gott klar

Mit Worten und mit Bildern dargethan,

Am Jordan ließ der Vater offenbar

Die Stimme bei der Taufe Christi hören;

Er sprach: Dies ist mein lieber Sohn,

An diesem hab ich Wohlgefallen,

Er ist vom hohen Himmelsthron

Der Welt zu gut

In niedriger Gestalt gekommen

Und hat das Fleisch und Blut

Der Menschenkinder angenommen;

Den nehmet nun als euren Heiland an

Und höret seine theuren Lehren.


Tenor-Arie.

Des Vaters Stimme ließ sich hören,

Der Sohn, der uns mit Blut erkauft,

Ward als ein wahrer Mensch getauft;

Der Geist erschien im Bild der Tauben,

Damit wir ohne Zweifel glauben,

Es habe die Dreifaltigkeit

Uns selbst die Taufe zubereit.


Bass-Recitativ.

Als Jesus dort nach seinen Leiden

Und nach dem Auferstehn

Aus dieser Welt zum Vater wollte gehn,

Sprach er zu seinen Jüngern:

Geht hin in alle Welt

Und lehret alle Heiden,

Wergläubet und getaufet wird auf Erden,

Der soll gerecht und selig werden.


Alt-Arie.

Menschen glaubt doch dieser Gnade,

Daß ihr nicht in Sünden sterbt,

Noch im Höllenpfuhl verderbt;

Menschenwerk und Heiligkeit

Gilt vor Gott zu keiner Zeit;

Sünden sind uns angeboren,

Wir sind von Natur verloren,

Glaub und Taufe macht sie rein,

Daß sie nicht verdammlich sein.


Chor.

Das Aug allein das Wasser sieht,

Wie Menschen Wasser gießen,

Der Glaub allein die Kraft versteht

Des Blutes Jesu Christi,

Und ist für ihn ein rothe Fluth,

Von Christi Blut gefärbet,

Die allen Schaden heilet gut,

Von Adam her geerbet,

Auch von uns selbst begangen.


Wie man sieht schließt sich hier der madrigalische Text, von kleinen Kürzungen und Erweiterungen abgesehen, ganz genau an die Urform an. Die Gedanken sowohl als auch zum Theil die sprachlichen Wendungen und einzelnen Worte sind dieselben geblieben. Das Kirchenlied erscheint ohne wesentliche Änderungen nur gleichsam in einer Umhüllung. In derselben Weise sind alle andern Cantatentexte gestaltet, nur ist der Anschluß bald strenger bald freier. In den Cantaten z.B. »Ach Gott vom Himmel sieh darein«, »Ach Herr, mich armen Sünder«, »Erhalt uns Herr bei deinem Wort«, »Liebster Immanuel, Herzog der Frommen«, »Schmücke dich, o liebe Seele«, »Wo soll ich fliehen hin«, folgt die madrigalische Umformung dem Grundtext mit bemerkenswerther Genauigkeit. Anderwärts, wie in »Christum wir sollen loben schon«, »Mache dich, mein Geist, bereit«, »Nimm von uns Herr, du treuer Gott«, »Nun komm, der Heiden Heiland«, »Wie schön leuchtet der Morgenstern«, »Herr Christ der einig Gottssohn« gebärdet der Dichter sich ungebundener, zuweilen sogar sehr frei, doch läßt sich an gewissen Schlagworten [572] die Paraphrase immer wieder als solche erkennen. Nur ausnahmsweise und an unwichtiger Stelle kommen selbständig erfundene Einschaltungen vor, so zum Bass-Recitativ von »Ach lieben Christen seid getrost« und »Das neugeborne Kindelein«, zum Alt-Recitativ von »Mit Fried und Freud« und »Wohl dem, der sich auf seinen Gott«. Auch das Alt-Recitativ der Cantate »Du Friedefürst, Herr Jesu Christ« ist frei gedichtet; dies hat seinen Grund offenbar in dem durch die Kriegsereignisse von 1744 bestimmten besondern Charakter des Werks. Waren die betreffenden Kirchenlieder nur kurz, so mußte eine größere Menge von Worten aufgewendet werden, um die nöthige Anzahl von Arien und Recitativen herauszuschlagen. Dies ist z.B. in »Meine Seele erhebet den Herren« geschehen71. Manchmal hat der Dichter in solchen Fällen die Strophen in je zwei Hälften zerlegt: die Alt-Arie der Cantate »Ich freue mich in dir« stützt sich auf die erste Hälfte der zweiten, die Sopran-Arie auf die erste Hälfte der dritten Strophe, die beiden letzten Hälften wurden für die nachfolgenden Recitative verwendet. Bei der Cantate »Jesu nun sei gepreiset« mußte gar sämmtliches Madrigalische – zwei Arien und zwei Recitative – aus der mittleren Strophe entwickelt werden. In der Cantate »Mit Fried und Freud« scheint der erste Arientext aus der Anfangsstrophe gezogen zu sein, obgleich diese vorher in ihrer Originalgestalt gesungen wird. Dagegen kommen bei sehr strophenreichen Liedern auch Zusammendrängungen vor. In »Ach Gott, wie manches Herzeleid«, sind Strophe 7–10 für das Tenor-Recitativ, in »Mache dich, mein Geist, bereit« Strophe 3–6 für das Bass-Recitativ verarbeitet. Das stärkste in dieser Beziehung wird innerhalb der Cantate »Ach wie flüchtig« geleistet, allwo das Alt-Recitativ sieben Strophen (3–9) in ebensovielen Zeilen abthut. Daß auch zuweilen Auslassungen gewagt worden sind, wurde oben schon bemerkt; ein Beispiel dazu bietet ebenfalls die Cantate »Ach Gott, wie manches Herzeleid«, wo nach dem Tenor-Recitativ die[573] Strophen 11–14, dann noch Strophe 17 und vorher schon 4 und 5 übersprungen worden sind.

Eine besondere Art der Paraphrase tritt dort ein, wo die Choralstrophe mit Recitativen umflochten ist. Entweder nämlich wird der Choral, bald ein- bald mehrstimmig, gesungen, und es schieben sich dann recitativische Gebilde zwischen die Zeilen, oder er wird von Instrumenten gespielt und eine Singstimme recitirt dazu. Dies kommt weder am Anfange noch Ende einer Cantate vor, pflegt dagegen zuweilen im Verlaufe derselben zu geschehen. Ich nenne beispielsweise die Cantaten »Ach Gott, wie manches Herzeleid«. »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir«, »Das neugeborne Kindelein«, »Gelobet seist du, Jesu Christ«, »Ich hab in Gottes Herz und Sinn«. Hier steht die Recitativ-Dichtung mit der betreffenden Choralstrophe in keiner engeren Beziehung, sondern geht nur allgemein von den Gedanken derselben aus. Ist schon überhaupt jede Umschreibung eine Art von Erläuterung, so hier ganz besonders. In der lockern madrigalischen Form ließen sich gewisse erwünschte Hinweise leicht anbringen. Nicolais Lied »Wie schön leuchtet der Morgenstern« war nicht ursprünglich auf das Fest Mariä Verkündigung gedichtet. Sollte es diesem dienen, so war es angemessen, das anzuzeigen. Daher im Tenor-Recitativ, welches die zweite Strophe umschreibt, die Erwähnung des Engels Gabriel. Außerdem laufen noch einige Anklänge an die erste Strophe mit unter, was übrigens nicht hier allein geschieht. Die Tenor-Arie »Jesus nimmt die Sünder an« aus der Cantate »Herr Jesu Christ du höchstes Gut« phantasirt über die vorher wörtlich gebrachte vierte Strophe frei weiter und mischt zugleich einige Anspielungen auf das Sonntags-Evangelium vom Pharisäer und Zöllner ein. Wer die Texte der Choralcantaten genauer studirt und mit ihren Urbildern vergleicht, wird oft bemerken, wie der Dichter mit den Bildern, Gedanken und Worten eine Art von Versetzspiel ausführt, das manchmal etwas artiges und anregendes hat, oft aber auch nur den Eindruck des Mechanischen macht. Um von diesem Verfahren wenigstens innerhalb des Rahmens einer und derselben Strophe eine Vorstellung zu geben, führe ich noch die vierte Strophe des Liedes »Ach Gott vom Himmel sieh darein« und ihr madrigalisches Gegenstück an.


[574] Darum spricht Gott: Ich muß auf sein,

Die Armen sind zerstöret,

Ihr Seufzen dringt zu mir herein,

Ich hab ihr Klag erhöret.

Mein heilsam Wort soll auf dem Plan

Getrost und frisch sie greifen an

Und sein die Kraft der Armen.


Daraus ist folgender Recitativ-Text gemacht worden:


Die Armen sind verstört,

Ihr seufzend Ach, ihr ängstlich Klagen,

Bei soviel Kreuz und Noth,

Wodurch die Feinde fromme Seelen plagen,

Dringt in das Gnadenohr des Allerhöchsten ein.

Darum spricht Gott: Ich muß ihr Helfer sein,

Ich hab ihr Flehn erhört;

Der Hülfe Morgenroth,

Der reinen Wahrheit heller Sonnenschein

Soll sie mit neuer Kraft,

Die Trost und Leben schafft,

Erquicken und erfreun.

Ich will mich ihrer Noth erbarmen,

Mein heilsam Wort soll sein die Kraft der Armen.


Die Mache der Choralcantaten-Texte ist durchweg zu sehr dieselbe, als daß man nicht annehmen sollte, sie rührten auch von demselben Dichter her. Picander besaß im Umformen eine große Leichtigkeit. Er hat uns diese schon mehrfach an seinen eignen Poesien bewiesen. Daß er auch Kirchenlieder geschickt nachzubilden wußte, zeigen die »Erbaulichen Gedanken«. Die Strophenlieder dieser Sammlung sind großentheils nichts anderes als Compilationen; Originalität fehlte ihm auf diesem Gebiete fast gänzlich, aber er compilirte so gewandt, daß doch einige der Dichtungen in den kirchlichen Gebrauch übergingen72. Und für einen Text wenigstens können wir ihn als Urheber nachweisen. Man erinnert sich, daß er seiner Zeit das Michaelislied aus den »Erbaulichen Gedanken« für[575] Bach zu der Cantate »Es erhub sich ein Streit« umformte73. Aus diesem Material hat er behufs der Michaelis-Cantate »Herr Gott, dich loben alle wir« wieder einiges benutzt, indem er die zweite Strophe des Liedes und den Schlußchoral der Cantaten-Dichtung zum Text der Tenor-Arie der letzteren Cantate zusammenschweißte.

Man irrt auch gewiß nicht mit der Annahme, daß zu dieser neuen Text-Art Bach selbst die Veranlassung gab, denn sein eignes Vergnügen konnte an ihr ein Dichter unmöglich finden. Daß Bach gegen die stroherne Poesie der gewöhnlichen Cantaten-Texte mit der Zeit einen Widerwillen empfand, ist begreiflich. Daß es aber sein mißliches habe, Kirchenlied-Strophen zu Recitativ- und Arien-Texten zu verwenden, mußte er auch bald merken. Die Widerspänstigkeit des Baus der Strophe gegen freie musikalische Behandlung war noch das geringere Übel. Für die feinere Empfindung bestand zwischen dem modernen Einzelgesange und der Kirchenliedstrophe ein fast eben so starker innerer Gegensatz, wie zwischen jenem und dem Bibelspruch. Was von Seiten der Musik geschehen konnte um die Kluft zu überbrücken, war durch die Richtung welche Bach seinem Kirchenstil gegeben hatte gewiß geschehen. Um die Überbrückung perfect zu machen mußte aber von der andern Seite ihm entgegengearbeitet werden. Durch die madrigalische Paraphrase wurde eine vermittelnde poetische Form hergestellt, die für ihren Zweck unübertrefflich genannt werden muß. Sie hielt den Zusammenhang mit dem Kirchenlied fest und ermöglichte einen gediegenen, angemessenen poetischen Inhalt. Zugleich ergab sie sich williger den vorhandenen musikalischen Ausdrucksformen. Dadurch aber, daß immer wenigstens Anfangs- und Endstrophe des Chorals, zuweilen auch noch mittlere Strophen in Wort und Melodie unangetastet stehen blieben und also die Grundfesten des Werkes bildeten, stellten sich die madrigalischen Stücke auch im Ganzen als leichtere aber aus demselben Stoffe gemachte Zwischenglieder dar.

In den Cantaten, welche Bach früher über unveränderte Kirchenlieder schrieb, hatte er zuweilen mit Anklängen an die Melodie ein phantastisches Spiel getrieben. In dieser Beziehung ist er jetzt zu strengeren, kirchlichen Grundsätzen zurückgekehrt. Die Choralmelodie [576] ist etwas heiliges und unberührbares. Die Kirchenmusik soll sich um dieselbe als festen Punkt krystallisiren, aber sie soll nicht selbst in die Bewegung des Gestaltungsprocesses hineingezogen werden. Höchstens ist eine Verbrämung und Umspielung derselben zu gestatten. Wo die Melodie im Zusammenhange eines subjectiveren Ergusses auftritt, wird solches manchmal in der That als das stilvollere erscheinen. Hauptsächlich die mittleren Partien der Choralcantaten bieten interessante Beispiele, wie Bach diesen Grundsatz befolgt hat. Hier stößt man nicht selten in madrigalischen Stücken auf vereinzelte Zeilen der Choralmelodie. Sie sind immer vollkommen ausgeprägt und mit bewunderungswürdiger Kunst in den freien Fluß des Stückes eingefügt. Nur einmal habe ich bemerkt, daß eine solche Melodiezeile auf fremde Worte gesungen wird. In der Tenorarie der Cantate »Herr Jesu Christ, du höchstes Gut« wird Takt 41–43 und Takt 52–55 zu den Worten »dein Sünd ist dir vergeben« zweimal die letzte Zeile der Melodie in ausgeschmückter Form vernehmlich. Es geschah wohl, weil der Text der Arie nur in ganz lockerer Beziehung zu einer Strophe des Kirchenlieds, der vierten, steht; durch diese musikalische Anspielung wurde die Arie fester an das maßgebende Kirchenlied geknüpft. Bemerkenswerth aber ist, daß die Worte keine frei erfundenen madrigalischen, sondern der Bibel entnommen sind74. Im übrigen schließt sich die Melodiezeile stets an den zugehörigen Text der betreffenden Strophe, welcher vom Dichter in die madrigalische Paraphrase eingeflochten war. Gleich das Duett derselben Cantate bietet hierzu Beispiele. Es ist über die siebente Strophe componirt, deren erste, dritte, fünfte und siebente Zeile wörtlich benutzt sind75; ihnen gesellen sich die betreffenden Melodiestücke, die dann immer sofort durch freie Erfindungen weiter geführt werden. Ähnlich schließt das Bass-Recitativ von »Schmücke dich, o liebe Seele« mit der fast wörtlich herübergenommenen letzten Zeile der achten Strophe ab; dazu in ein melismatisches Arioso aufgelöst die letzte Melodiezeile. Für die Kunst, eine gegebene Tonreihe ausdrucksvoll zu umspielen, [577] wer den diese Melodiefragmente Musterbilder höchsten Ranges bleiben. Die zwei Anfangstakte des Alt-Recitativs der Cantate »Ach Herr mich armen Sünder«, welches mit den Worten der vierten Strophe beginnt »Ich bin von Seufzen müde«, zeugen von einer ebenso genialen Umbildungskraft wie unvergleichlichen Tiefe der Empfindung. Nicht weniger Takt 44–47 der Tenor-Arie in derselben Cantate, wo der Gesang statt einen Secundenschritt abwärts zu thun plötzlich in die Septime hinaufschlägt. Das Bass-Recitativ der Cantate »Jesu, der du meine Seele« läuft aus in die wörtlich beibehaltene zweite Hälfte der zehnten Strophe:


Dies mein Herz, mit Leid vermenget,

So dein theures Blut besprenget,

So am Kreuz vergossen ist,

Geb ich dir, Herr Jesu Christ.


Zu einer seufzenden, durchaus selbständigen Begleitung der Saiteninstrumente variirt die Singstimme die vier letzten Melodiezeilen zu einem Gefühlserguß inbrünstigster Hingabe. Manchmal treten auch die Fragmente in ihrer natürlichen Einfachheit auf. In dem Duett der Cantate »Nimm von uns Herr« geschieht dies schon am Anfang, und nachher wiederholentlich, in der Alt-Arie der Cantate »Ach Gott vom Himmel sieh darein« geschieht es von Takt 55–59. Es macht auf den Verstehenden eine ganz eigne, durchschauernde Wirkung, wenn im Gewoge fremder Weisen unerwartet die allbekannten Töne des Chorals ans Ohr schlagen; eine Empfindung, wie wenn durch Wolken die Sonne dringt und auf einen Augenblick alles mit Licht übergießt, zur Gewähr gleichsam, daß sie obgleich zeitweise verborgen, als Lebenspenderin doch gegenwärtig sei. Zweimal werden solche Fragmente nicht nur vorübergehend eingeführt, sondern erweisen sich als Hauptpotenz eines ganzen Stückes. In der Cantate »Herr Jesu Christ, wahr' Mensch und Gott« befindet sich ein Bass-Gesang, welchem Bach den Namen »Recitativ und Arie« gegeben hat. Die »Arie« hat man sich in Takt 13 beginnend zu denken. Der Name wurde wohl der geschlosseneren Construction des Textes wegen gewählt und weil eine anfängliche musikalische Periode am Ende wiederkehrt, freilich zum Theil in andrer Tonart. In dem Texte, der übrigens hier wirklich poetisch ist, werden die sechste und siebente Strophe paraphrasirt und aus der sechsten die [578] erste, dritte und vierte Zeile wörtlich benutzt. Ihnen analog auch die melodischen Partien; zur vierten Zeile erscheint die Melodie melismatisch zerdehnt (Takt 33–37), zur ersten und dritten einfach, aber häufiger wiederholt und vom Instrumentalbasse imitirt. Und dieses eben stellt sich als der Hauptgedanke der ganzen »Arie« dar, mit welchem lebhaft bewegte Perioden im Sechsachteltakt und frei erfundenen Inhalts wechseln. Ebenfalls eine »Arie« für Bass bietet die Cantate »Nimm von uns Herr, du treuer Gott«. Sie ersetzt die vierte Strophe: »Warum willst du so zornig sein?« Ein aufgeregtes Vorspiel schildert gleichsam den Zorn. Dann intonirt der Bass im Andante die Anfangszeile mit der zugehörigen Melodie. Mit dem dritten Takte bricht aber der lebhafte Instrumentalsatz wieder herein, an dem sich nun in entsprechender Weise auch der Gesang betheiligt. Noch einmal unterbricht ihn die gemessene Bewegung der Choralmelodie, dann fluthet er in der parallelen Durtonart weiter. Als er sich aber nach Arienweise zur Haupttonart zurückwenden will, ergreifen die Instrumente die Choralmelodie. Sie begnügen sich nun nicht mehr mit der ersten Zeile; über den erregten Gängen des Sing- und Generalbasses schwimmt sie als vollständiges Ganze dahin, als sei sie durch die gesungenen Ansätze des Eingangs geweckt worden, und habe nur auf die Gelegenheit gewartet sich als Hauptsache geltend zu machen. Eine in diesen Cantaten mehrfach vorkommende Form: Choralmelodie in den Instrumenten und dazu Recitativ über frei erfundene Worte in der Singstimme, ist hier durch Bachs unerschöpfliche Kraft mit der Arie zu einer gänzlich neuen Form combinirt.

So erhält der Hörer innerhalb der madrigalischen Paraphrasen auch zahlreiche musikalische Mahnungen an die Quelle, der all dies scheinbar freie Kunstspiel entströmt. Doch hat sich Bach nicht so sehr von derselben abhängig gemacht, daß er überall wo der Dichter eine wörtliche Entlehnung einstreute dieser mit der zugehörigen Choralmusik secundirte. Es kommen in den Cantaten »Allein zu dir, Herr Jesu Christ«, »Herr Gott dich loben alle wir«, »Ich freue mich in dir«, »Jesu, der du meine Seele«, »Mache dich, mein Geist, bereit«, »Wo Gott der Herr nicht bei uns hält« manche wörtliche Reminiscenzen vor, welche vorübergehen ohne melodische Reflexe zu erzeugen. Da diese Umdichtungen eine vermittelnde Form bilden [579] sollten, so mußte es Bach auch unverwehrt sein, je nach seinem Ermessen sich mehr der frei musikalischen oder der kirchlich bedingten Seite zuzuneigen.

Die beiden Grundsäulen der Choralcantate, die erste und die letzte Strophe, haben insofern überall dieselbe Gestalt, als diese immer einfach gesetzt, jene immer zu einem großen Tonbilde ausgeführt ist. Wie diese Anordnung, welche das musikalisch bedeutsamere zuerst, das bescheidenere zuletzt bringt, aufgefaßt werden muß, habe ich schon früher dargelegt76; sie giebt von dem grundkirchlichen Geiste, von dem Bachs Phantasie erfüllt war, das deutlichste Zeugniß. Daß die Instrumente sich dem Gange der Singstimmen schlichtweg anschließen zeigt gleichfalls an, wie die ganze Fülle des individuellen Lebens endlich zu ihrem Urquell fromm und demüthig zurückströmt. Und auch dieses ist bedeutungsvoll, daß Bach gern die obere, melodieführende Stimme durch möglichst viele Instrumente verstärkt; sie tritt dann in einer Weise hervor, die rein musikalisch genommen etwas unverhältnißmäßiges hat, aber das Gefühl von ihrer hohen symbolischen Bedeutung drängte den Künstler auch zu einem starken äußeren Mittelaufwande. Die Fälle, wo beim Schlußchoral einige Instrumente etwas selbständigeres auszuführen haben, sind ganz vereinzelt. In den Cantaten »Gelobet seist du, Jesu Christ«, »Herr Gott dich loben alle wir« und »Wie schön leuchtet der Morgenstern« wirken die Gänge der Homer und Trompeten mehr nur coloristisch77; die fanfarenartigen kurzen Ritornelle in »Jesu nun sei gepreiset« greifen auf den Anfangschor zurück, und haben wenigstens insofern keinen selbständigen Werth.

Was die großen Choralchöre am Anfange betrifft, so lehrt eine Übersicht, daß Bach die für diesen Zweck geeigneteste Form ein für allemal gefunden zu haben glaubte. Der Drang nach neuen, mannigfaltigen Bildungen, der ihn sonst beherrschte, ist fast geschwunden. Bei weitem die meisten dieser Chöre sind Choralfantasien. [580] Motettenartige Tonsätze kommen nur vor in den Cantaten »Ach Gott vom Himmel sieh darein«, »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir« und »Christum wir sollen loben schon.« Diese grandiosen Stücke zeigen, zu welcher Höhe noch die Motettenform emporwachsen konnte, nachdem sie in den neuen fruchtbaren Boden der Bachschen Cantate verpflanzt worden war78. Die sogenannte Pachelbelsche Choralform findet sich in voller Reinheit nur in der Cantate »Ach Herr, mich armen Sünder«; wie bei Bach auf dieser Stufe seiner Entwicklung selbstverständlich, mit einheitlicher Contrapunktirung. Die Schwierigkeit, dasselbe Motiv festzuhalten und zugleich doch jede einzelne Zeile praeludirend vorzubereiten, löste er in den Orgelcompositionen gern dadurch, daß er das contrapunktirende Motiv und die betreffende vorbereitende Tonreihe gleichzeitig einführte. Der große Orgelchoral »Jesus Christus unser Heiland« bietet dazu ein schönes Beispiel79. Hier hat er sich die Aufgabe dadurch erschwert, daß er als Contrapunkt durchweg die verkleinerte erste Melodiezeile in rechter und umgekehrter Bewegung benutzt. Aber auch darin fand seine überreiche Phantasie noch nicht Genüge: er bringt außerdem die vorbereitenden Melodiestücke in immer andern und fremderen Tonarten. Die Art, den Pachelbelschen Choral mit einem und demselben musikalischen Gedanken contrapunktirend auszustatten, steht auf dem Übergange zur Form der Choralfantasie80. Es kann demnach nicht auffallen, daß wir in den Choralcantaten »Nun komm der Heiden Heiland«, »Wohl dem, der sich auf seinen Gott« und »Wie schön leuchtet der Morgenstern« Formen begegnen, die halb dieses, halb jenes sind. In der ersten wird nur die Anfangszeile, welche mit der Endzeile übereinstimmt, vorbereitend eingeführt; in der zweiten gestaltet sich aus der ersten Zeile ein nunmehr fast unabhängig entwickeltes Tonbild, nur indem es [581] vor der fünften Zeile einen Anklang an dieselbe aufnimmt mahnt es noch deutlich an die Pachelbelsche Form; in der letzten geschieht dasselbe dadurch, daß vor dem Cantus firmus der zweiten und fünften Zeile die Melodie mit dem durchgehenden Motiv vereinigt vorbereitend auftritt81. Eine Mischform in andrer Beziehung bietet »Jesu nun sei gepreiset«; hier ist der Eingangschor am Anfang und Ende Choralfantasie, in der Mitte nimmt er theils eine frei phantasirende, theils eine motettenartige Gestalt an.

Einige weitere Chöre verrathen ihren Ursprung aus der vollentwickelten Pachelbelschen Form nur dadurch noch, daß das Tonbild, welches den Cantus firmus umgiebt und trägt, aus der ersten Choralzeile sein Motiv entnimmt. Sonst stehen sie schon durchaus auf dem Boden der freien Choralfantasie. In der Cantate »Erhalt uns Herr« werden nur die ersten drei Töne motivisch benutzt, in »Was frag ich nach der Welt« und »Wo soll ich fliehen hin« die ganze Zeile. Dasselbe gilt von der Cantate »Herr Jesu Christ, wahr' Mensch und Gott«. Hier wird aber das Ohr noch durch eine andre tiefsinnige Combination gefesselt. Die Cantate ist auf den Sonntag Estomihi geschrieben, welcher am Eingange der Passionszeit steht. Deshalb läßt Bach, während Chor und Instrumente ihre Hauptaufgabe erfüllen, von einzelnen Instrumenten den Choral »Christe, du Lamm Gottes« in gewissen Zwischenräumen stückweise hineinfügen und so die Passionsempfindung in der Seele des Hörers aufdämmern. Es erinnert dieses einigermaßen an das Tenor-Recitativ der Estomihi-Cantate »Du wahrer Gott und Davidssohn«82. Wie bedachtsam auf Nebenbezüge Bach auch in der feststehenden Form der Choralfantasie immer noch verfuhr, lehrt nicht weniger der Hauptchor von »Liebster Immanuel«. Dieses Kirchenlied, das wahrscheinlich von Ahasverus Fritsch gedichtet ist, gehört nebst der Melodie in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. Es hat trotz seiner schönen [582] Innigkeit etwas weltlich-spielendes an sich und die Melodie ist in die Form einer Sarabande gefaßt83. Bach hat diesen Charakter nicht unbeachtet gelassen, und daher sein Tonstück aus der ersten Melodiezeile mehr motivisch-homophon, als imitatorisch-polyphon entwickelt.

Die Anfangschöre aller übrigen Choralcantaten sind ganz freie Choralfantasien. Bei der Übertragung von dem Orgelgebiet auf das Gebiet der concertirenden Kirchenmusik hat der Stil nur diejenigen Abwandlungen erfahren, welche das verschiedene Tonmaterial forderte. Das selbständige Tonbild, welches den Empfindungsgehalt des Chorals erschöpfend darstellen soll, wird nicht mehr durch Orgelstimmen, sondern auf Grundlage der Orgel durch das Bachsche Orchester zur Erscheinung gebracht. Der Cantus firmus, welcher gespielt von der Bedeutsamkeit jenes Tonbildes erdrückt zu werden Gefahr lief, erscheint als Gesang in eine höhere, beherrschende ästhetische Sphäre gerückt. Vermittelnd zwischen dem Choralgesang und dem Instrumentenspiel stehen die übrigen Singstimmen des Chors. Manchmal unterstützen sie durch einfache Harmonien die melodieführende Stimme, welche meistens dem Sopran zuertheilt ist; häufiger noch wirken sie als Factoren des instrumentalen Satzes mit. Es versteht sich, daß dieser Satz seine Aufgabe nicht nur durch den größten rein musikalischen Reichthum, sondern auch durch tonbildliche Mittel löst. Als Muster eines in dieser Weise poetisirenden Orgelchorals ward früher einmal die Bearbeitung der Melodie »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig« aus dem »Orgelbüchlein« angeführt84. Er zählt zehn Takte. Man vergleiche mit ihm den ersten, 65 Takte langen Satz der betreffenden Choralcantate. Es ist dieselbe Gestaltungsweise, im Grunde auch dieselbe Form, nur Stufe um Stufe weiter gebildet bis zu einer Höhe, die freilich das Gemeinsame beider Formen kaum noch erkennen läßt. In ihren Umrissen haben diese Chöre etwas stereotypes. Sie offenbaren weniger einen aufstrebenden, als einen auf erreichtem [583] Hochgefild ruhig fortwandelnden Künstler; die unterscheidenden Merkmale liegen mehr in den Einzelbildungen. Ganz indessen war der kühne Gestaltungsdrang auch jetzt noch nicht gestillt. Der herrliche Eingangssatz der Cantate »Jesu, der du meine Seele«, welcher mit dem Crucifixus der H moll-Messe das Thema gemeinsam hat, giebt eine Choralfantasie in Form einer Ciacone. In der Cantate »Meinen Jesum laß ich nicht« wird die Choralfantasie mit der Form des Instrumentalconcerts verbunden. Auch in »Herr Jesu Christ, du höchstes Gut« und »Was mein Gott will, das g'scheh allzeit« tritt diese Absicht deutlich zu Tage, wenngleich nach Bachs verinnerlichender Methode hier nicht mehr ein Soloinstrument dem Tutti gegenüber gestellt ist. Dagegen bietet die Cantate »Christ unser Herr zum Jordan kam« einen ganz regelrechten Concertsatz und sogar ein Concerto grosso: das Concertino besteht aus Solovioline und zwei Oboi d'amore, Violinen, Bratschen und Bass mit Orgel machen das Tutti; zwischenhindurch wandelt der Choralchor, mit dem Cantus firmus im Tenor, seinen Weg, als ginge ihn all das Tonspiel garnichts an, und dennoch ist er auf das innigste mit ihm zusammen gewachsen. Man muß indessen gestehen, daß sich die Formideen hier in einer fast verwirrenden Weise verschlingen. Es genügt nicht nachzuweisen, wie dieses oder jenes allmählig geworden ist, immer mehre und verschiedene Lebenssäfte in sich aufgenommen hat, wie von andrer Seite her ein Fremdes ihm entgegenreifte, und wie sich das gesonderte endlich vereinigt hat. Ein Kunstwerk soll als Ganzes begriffen und lebendig nachempfunden werden. Eine jede Form trägt einen gewissen allgemeinen Stimmungsgehalt gleichsam als Seele in sich, der erfaßt sein muß, soll die Notwendigkeit der Form einleuchten. Wer nicht durch das Studium der Concerte jener Zeit sich mit der Stimmungswelt vertraut gemacht hat, in welcher jene Werke gleich Organismen athmen, wird nie verstehen können, was Bach mit jener Combination beabsichtigte. Sie wird ihm fremdartig und absurd vorkommen. Der eigenthümlich rüstige Muth der ersten Concertsätze, wie sie damals waren, scheint Bach geeignet erschienen zu sein, der kirchlichen Choralfantasie in diesen Werken eine besondere Färbung zu geben. Aber auch bei vollständig geglückter Nachempfindung nach dieser Richtung hin wäre man doch der Sache noch nicht an die Wurzel [584] gelangt. Die Choralfantasie überhaupt ist in der Choralcantate wieder von einer höheren und keineswegs einfachen Kunstidee abhängig.

Geht man dem Wesen der Choralcantate auf den Grund, so ist sie nichts anderes, als die vollständigste poetisch-musikalische Entfaltung eines bestimmten Kirchenliedes vermittelst aller Kunstmittel, welche sich Bach in einem reichen Leben unter gründlicher Ausnutzung aller Kunstelemente seiner Zeit und Vorzeit erworben hatte. Sein Bildungsgang beweist, daß er von der Orgelmusik, insbesondere vom Orgelchoral den Ausgang nahm, und die vielen verschiedenfältigen Kunstformen dadurch überwältigte und sich zueignete, daß er sie in den Orgelstil als den einzig kirchlichen seiner Zeit einschmolz. So geschah es mit den instrumentalen, so auch mit den vocalen Tonformen. Soweit letztere mit dem Choral zusammenhängen, waren sie indessen in Bachs Orgelmusik gleichsam latent. Das poetische Element, welches dem Orgelchoral wesentlich ist, drängte bei weiterem Ausbau desselben in die Vocalmusik naturgemäß hinüber. Jene Form will den Stimmungs- und Empfindungsgehalt eines Kirchenliedes, wie er sich dem Einzelnen im Kreise der Gemeinde offenbart, zum Ausdruck bringen. Mit immer größeren Mitteln, in immer weiteren Verhältnissen wird dieses versucht. Der Gesang erweist sich nöthig für die Melodie, um die überschwellende persönliche Empfindung dahin zurückzudämmen, wohin sie dem Kirchlichen gegenüber gehört. Nun ist ein vocal-instrumentales Tonbild da, aber es erschöpft nur eine Strophe des Chorals: das gespielte Tonwerk sog seine Nahrung aus dem Choral als Ganzem. Ein letzter zum höchsten führender Schritt blieb möglich: die Idee des Mit- und Ineinander der reinen Musik nach Maßgabe des Verhältnisses, welches die jetzt leibhaftig mitwirkende Poesie an die Hand gab, in eine Idee des Nacheinander umzuwandeln, und den ganzen Choral, der zum rein instrumentalen Tonbild gleichsam verdichtet war, in seinen einzelnen Strophen ausführlich zu behandeln. So mußte die Choralfantasie am Anfang wieder nur ein Theil des Ganzen werden; die Choralcantate an sich ist die volle Blüthenkrone, jene nur ein glänzendes Blatt derselben. Aber doch hat die Choralfantasie den Stil der ganzen Cantate bestimmt. Ein Werk wie die Ostermusik »Christ lag in Todesbanden«, welches durch alle [585] Strophen die Choralmelodie festhält und in dem Choral des »Orgelbüchleins« »Christ ist erstanden« ein instrumentales Vorbild hat, war nicht das Ziel, wohin die Entwicklung endlich strebte. Der starke persönliche Zug, welcher dem Protestantismus und Bach eigen ist, verlangte weiteren Raum um sich ausleben zu können. Die Choralcantate gewährt ihn. In den Recitativen und Arien kann sich die Persönlichkeit scheinbar ganz frei ergehen. Selbst die Schranken, welcher der Wortlaut des kirchlichen Gedichtes ihr setzt, werden durch die madrigalische Umformung erweitert, scheinen zuweilen ganz zu verschwinden. Manchmal bleibt nur die aus der Erinnerung an das Kirchenlied fließende Grundstimmung haften. Dann wird gelegentlich durch wörtliche Benutzung einer Textzeile das Gefühl des Zusammenhanges lebhafter erweckt; dann tritt gar ein Stück der Melodie hervor, nun die Melodie vollständig in einem Instrument, jetzt gar im Gesange, wenngleich von Recitativen umgeben und durchflochten; enger und enger zieht sich nun wieder der Kreis der Empfindung. Hat der Hörer nun, ehe er diese freieren Mittelpartien der Cantate durchwanderte, einen großen Choralchor in sich aufgenommen, und erreicht er als Ziel und Ergebniß endlich wieder denselben Choral, der je schmuckloser, einfacher er erscheint, um so nachdrücklicher zu ihm spricht, dann erfüllt ihn eine Empfindung, als sei nie ein Moment gewesen, wo er den Choral, seis äußerlich oder innerlich, nicht gehört habe. Wie in der Choralfantasie die Stimmen in selbständigstem Wirken sich entfalten, ja eine Welt für sich aufzubauen scheinen, und doch zur rechten Zeit durch die Töne des Cantus firmus wieder auf ihren Urgrund bezogen werden, genau so ist es mit der Choralcantate im Ganzen, nur daß eben die veränderten Kunstmittel veränderte Formverhältnisse bedingten.

In der Choralcantate tritt uns die letzte, denkbar höchste Entwicklung des Orgelchorals entgegen. Jenes zehntaktige Spielstückchen über die Melodie »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig« war der Keim, die gleichbenannte Cantate mit ihrer großen Choralfantasie, ihrem einfachen Schlußchoral, mit ihren Recitativen und weitausgeführten Arien ist die endliche Frucht. Das Verständniß für die Choralcantate kann sich folgerichtigerweise auch erst dem erschließen, der sich mit dem Wesen des Orgelchorals vollständig vertraut gemacht hat. Wie dieser setzt auch sie voraus, daß der [586] Hörer das betreffende Kirchenlied sammt der Melodie als ein innerlich Erlebtes in sich hegt. Während aber dort zunächst nur das feine Arom der Gesammtstimmung die nöthige Voraussetzung ist, in zweiter Reihe erst, daß man auch specielle Empfindungen und Einzelvorstellungen sich gegenwärtig erhält, wird hier eine genaue Kenntniß des Inhalts jeder einzelnen Strophe als unerläßlich gefordert. Schon die Wort- und Satzfügungen des madrigalischen Textes sind ohnedem manchmal nicht zu verstehen. Daß in der Bassarie der Cantate »Ach wie flüchtig« die verzehrenden Gluthen und wallenden Fluthen nicht bildlich gemeint sind, sondern an wirkliche Feuer- und Wassersnöthe zu denken ist, davon vergewissert man sich erst durch Vergleichung von Strophe 10 des Kirchenliedes. Die Worte der Bassarie der Cantate »Ich hab in Gottes Herz und Sinn«, welche sich so vernehmen lassen: »Das Brausen von den rauhen Winden macht daß wir volle Ähren finden«, sollen bedeuten, daß die Frucht der Saatfelder nicht ohne Wetterstürme völlig gedeiht; auch dieses lehrt mit Klarheit erst die entsprechende neunte Strophe. Was wichtiger ist: der Charakter der Musikstücke wird zuweilen durch Anschauungen bestimmt, die nicht in der madrigalischen Paraphrase, sondern nur im Urtext ausgedrückt sind. Wie kam Bach dazu, dem Duett der Cantate »Jesu, der du meine Seele« jenen idyllisch-zarten Charakter zu geben, da es sich doch um ein Hülfegebet der Schwachen und Kranken handelt? Die zweite Strophe des Kirchenlieds lautet:


Treulich hast du ja gesuchet

Die verlornen Schäfelein,

Als sie liefen ganz verfluchet

In den Höllenpfuhl hinein.


Wir bemerkten öfter, wie Bach einem matten oder abschweifenden Cantatentexte dadurch Kraft und Richtung gab, daß er durch ihn hindurch in die Grundbedeutung des Sonn- oder Festtages hinabgriff. Dieses Beispiel zeigt, wie er auch in den Choralcantaten nicht eigentlich die madrigalische Umdichtung componirte, sondern den Urtext in ihr. Und so sind diese Werke alle darauf berechnet, daß der Hörer ihnen folgt, das originale Kirchenlied stets vor Augen oder im Sinne. Der Kirchgänger jener Tage, der den gedruckten Text der Cantate neben sein Gesangbuch legte, that dies; oder er [587] bedurfte auch dieses äußeren Mittels nicht einmal, denn jene Kirchenlieder waren damals als Gemeingut in aller Gedächtniß. Man hatte sie unzählige Male in der Gemeinde gesungen, im häuslichen Leben sich daran erbaut, bei besonderen Erlebnissen aus einzelnen Strophen derselben Erhebung und Trost gezogen. Auf solche Hörer hat Bach gerechnet und rechnen diese Compositionen immer wieder, soll sich anders ihr Sinn und Inhalt erschließen, im Ganzen wie im Einzelnen.

Wer von dieser Stelle aus auf Bachs Leben zurückblickt, dem offenbart sich die Geschlossenheit seiner künstlerischen Entwicklung in greifbarster Gestalt. Von dem geistlichen Volkslied nahm er in früher Jugend seinen Ausgang und mit ihm endete er auch. Er wußte, daß alles, was er auf dem Gebiete der Kirchencantate schaffen durfte, innerlich mit dem Choral und den durch ihn bedingten Kunstformen zusammenhing. Es mußte ihm als das würdigste Ziel erscheinen, seiner Kraft diejenige Richtung zu geben, daß sie sich in einer Form auslebte, welche den Choral in seiner größtmöglichen künstlerischen Erweiterung darstellt. Wohl entbehren die Choralcantaten jener Mannigfaltigkeit der Gestalten, die in ihrem üppig aufquellendem Drange während der früheren und mittleren Lebensperiode zur höchsten Bewunderung hinreißt. Aber die gelassene Beherrschung aller Kunstmittel, der tiefe männliche Ernst, der ihnen aufgeprägt liegt, konnten nur als Frucht eines solchen überreichen Kunstlebens hervorgehen. Wenn man diese Werke in ihrer festen, charaktervollen Größe an sich vorüberziehen läßt, so wird einem zu Muthe, als wandle man nach einem leuchtenden Sommertage im Abendfrieden durch den stillen deutschen Hochwald.

Fußnoten

1 Vrgl. S. 306 und 266 ff. dieses Bandes.


2 S. S. 462 dieses Bandes.


3 S. S. 301 dieses Bandes.


4 Ich kenne die Cantate nur nach einer Abschrift der königlichen Bibliothek zu Berlin. Wo das Autograph sich befindet weiß ich nicht.


5 B.-G. II, wo unter Nr. 14 die Cantate veröffentlicht ist, steht S. 126 »Ja hätt es Gott nicht zugegeben«, offenbar verschrieben, weil sinnlos, aus »Ja hätte Gott es zugegeben«. Ausnahmsweise hat Bach bei dieser Cantate selbst die Jahreszahl 1735 angemerkt. – Das Papier der Stimmen ist dasselbe, wie dasjenige, auf welchem die zum Namenstage des Königs umgearbeitete Cantate »Vereinigte Zwietracht« geschrieben ist. Das Jahr paßt für die Aufführung dieser Musik sehr wohl; s. S. 459, Anmerk. 42 dieses Bandes.


6 S. S. 297 dieses Bandes.


7 S. Band I, S. 541 ff.


8 S. Band I, S. 225 ff.


9 S. S. 450 f. dieses Bandes.


10 B.-G. XVI, Nr. 66.


11 S. Band I, S. 505 ff.


12 B.-G. XVIII, Nr. 74.


13 S. Band I, S. 558 ff. – Die instrumentale Durcharbeitung des Bassthemas, welche in der autographen Partitur der weltlichen Cantate hinter dem Schlußchore steht, gehört nicht zu der Sopranarie »Wenn die wollenreichen Heerden« und ist auch durch keinen äußerlichen Hinweis mit ihr in Verbindung gebracht. Offenbar hat Bach, als er die Umarbeitung für die Pfingstcantate vornahm, diese zum Nachspiel derselben bestimmte Durchführung auf dem freigebliebenen Raum zuerst flüchtig entworfen.


14 B.-G. XVI, Nr. 68.


15 B.-G. X, Nr. 43.


16 Autographe Partitur und Originalstimmen der Cantate auf der königl. Bibliothek zu Berlin.


17 B.-G. XXIII, Nr. 108.


18 B.-G. XX1, Nr. 87.


19 Auch der Text zur Pfingstcantate »Wer mich liebet«, in welche gar drei Bibelsprüche eingefügt sind, verräth diese Hand.


20 B.-G. XX1, Nr. 85.


21 Autographe Partitur und Originalstimmen auf der königl. Bibliothek zu Berlin.


22 B.-G. XXVI, Nr. 128.


23 B.-G. XXIII, Nr 103.


24 In den Stimmen hat Bach beim ersten Eintritt d in e verwandelt, also aus dem Septimen- einen Sextenschritt gemacht – zuverlässig nur um den Einsatz zu erleichtern. Es dürfte für uns immerhin erlaubt sein, bei der ursprünglichen Lesart zu bleiben. – Über die Chronologie s. Anhang A, Nr. 55.


25 S. S. 300 dieses Bandes und Band I, S. 556.


26 B.-G. XVIII, Nr. 79. – S. Anhang A, Nr. 55.


27 B.-G. I, Nr. 6. – S. Anhang A, Nr. 48 und 56.


28 Unter den Sologesängen hat die Arie »Seligster Erquickungstag« aus der Cantate »Wachet, betet« eine solche Form; s. B.-G. XVI, S. 364 ff.


29 S. S. 391 dieses Bandes.


30 B.-G. XI2, S. 181.


31 Autographe Partitur und Originalstimmen auf der königl. Bibliothek zu Berlin; originale Instrumentalstimmen im Besitz des Herrn Professor Rudorff in Lichterfelde bei Berlin.


32 B.-G. II, Nr. 17.


33 S. S. 466 dieses Bandes und Anhang A, Nr. 48.


34 S. S. 272 dieses Bandes.


35 B.-G. VII, Nr. 34. – S. Anhang A, Nr. 47. – Ich bemerke hier beiläufig, daß im Jahre 1742 wegen Absterbens der Kaiserin-Wittwe Maria Amalia eine vierzehntägige Landestrauer angeordnet, und folglich zu Pfingsten und Trinitatis keine Kirchenmusik gemacht wurde. Schon deshalb kann also die Cantate »O ewiges Feuer« 1742 nicht aufgeführt sein.


36 S. S. 279 f. dieses Bandes.


37 B-G. XXIII, Nr. 110.


38 In einer neueren Handschrift auf der königlichen Bibliothek zu Berlin.


39 S. Band I, S. 748 ff.


40 S. Anhang A, Nr. 14.


41 S. S. 192 f. und 287 dieses Bandes.


42 S. Band I, S. 501 und S. 195 und 253 f. dieses Bandes.


43 S. S. 199 dieses Bandes.


44 S. S. 283 dieses Bandes.


45 S. S. 278 dieses Bandes.


46 Autographe Partitur auf der königlichen Bibliothek zu Berlin.


47 B.-G. VII, Nr. 39; B.-G. X, Nr. 45.


48 »Kommt laßt euch den Herren lehren«, angeblich von David Denicke.


49 B.-G. X, Nr. 50.


50 Nur in unvollständigen Stimmen hat sich eine Cantate erhalten, welche mit dem Chor beginnt »Ihr Pforten zu Zion, ihr Wohnungen Jacobs freuet euch«. Zion soll hier Leipzig vorstellen, und die Bestimmung der Musik war die Rathswahl. Näheres über die Entstehungszeit kann nicht angegeben werden. Die Trümmer dieser Cantate bewahrt die königliche Bibliothek zu Berlin.


51 B.-G. XII2, Nr. 57.


52 Originalstimmen auf der königlichen Bibliothek zu Berlin.


53 »Nun komm der Heiden Heiland«, s. Band I, S. 504; »Tritt auf die Glaubensbahn«, ebenda S. 554.


54 So z.B. noch in den Cantaten »Ihr Menschen, rühmet Gottes Liebe«, »Es wartet alles auf dich«, »Gott ist unsre Zuversicht«, »Am Abend aber desselbigen Sabbaths«, »Ach lieben Christen seid getrost«, »Ich freue mich in dir«.


55 B.-G. VII, Nr. 32.


56 S. S. 231 dieses Bandes.


57 B.-G. II, Nr. 13.


58 Außer dieser noch »Mein Gott, wie lang ach lange«, und »Ach Gott, wie manches Herzeleid« (A dur).


59 B.-G. XX1, Nr. 90. – Die angewendeten Instrumente sind in der autographen Partitur nicht angegeben. Sie können aber aus Breitkopfs Verzeichniß von Michaelis 1761 beigebracht werden. Es heißt dort wörtlich: à Tromba, 2 Violini, Viola, 4 Voci, Basso ed Organo.


60 B.-G. X, Nr. 42. In der autographen Partitur ist die Sinfonie und der erste Theil der Arie Reinschrift.


61 S. S. 288 dieses Bandes.


62 S. S. 303 ff. dieses Bandes.


63 Eine junge Handschrift, aus Professor Fischhoffs Nachlasse; ist auf der königlichen Bibliothek zu Berlin. – Ich bemerke noch im allgemeinen ausdrücklich, daß alle obigen Solocantaten nur vermuthungsweise in die spätere Leipziger Zeit gestellt werden. Es spricht aber für die Richtigkeit der Vermuthung einmal die negative Thatsache, daß sie keinerlei äußere Merkmale tragen, die sie einer früheren Periode zuzuweisen zwängen, sodann positiv ihre große innere Reife und Empfindungstiefe.


64 S. S. 285 ff. dieses Bandes.


65 B.-G. X, Nr. 48.


66 S. S. 185 dieses Bandes.


67 Autographe Partitur auf der königlichen Bibliothek zu Berlin. Veröffentlicht bei Winterfeld, Ev. K. III, Notenbeilage S. 145 ff.


68 Vrgl. über die benutzte Melodie Anhang A, Nr. 54. Die dort mitgetheilte Form weicht von der der Cantate nur unerheblich ab. Bedeutender sind die Verschiedenheiten bei der in Königs Harmonischem Liederschatz (Frankfurt a.M. 1738) S. 280 mitgetheilten Form (»O stilles Gotteslamm«).


69 In Breitkopfs Verzeichniß von Michaelis 1761, S. 23, als Communions-Cantate aufgeführt.


70 S. Anhang, Nr. 56. – Von 3, 33 und 34 sind überhaupt die Autographe nicht bekannt, sondern nur spätere Abschriften. Nach den Originalien veröffentlicht sind: 1 B.-G. I, Nr. 2; 2 B.-G. I, Nr. 3; 4 B.-G. XXIV, Nr. 114; 5 B.-G. V1, Nr. 26; 6 B.-G. VII, Nr. 33; 7 B.-G. VII, Nr. 38; 8 B.-G. XXVI, Nr. 121; 9 B.-G. I, Nr. 7; 10 B.-G. XXVI, Nr. 122; 11 B.-G. XXIV, Nr. 116; 12 B.-G. XXVI, Nr. 126; 13 B.-G. XXII, Nr. 91; 14 B.-G. XXII, Nr. 96; 15 B.-G. XXVI, Nr. 130; 16 B.-G. XXIV, Nr. 113; 17 B.-G. XXVI, Nr. 127; 19 B.-G. XXII, Nr. 92; 20 B.-G. XVIII, Nr. 78; 21 B.-G. X, Nr. 41; 22 B.-G. XXVI, Nr. 123; 23 B.-G. XXIV, Nr. 115; 24 B.-G. XXVI, Nr. 124; 25 B.-G. I, Nr. 10; 26 B.-G. XXVI, Nr. 125; 27 B.-G. XXIII, Nr. 101; 28 B.-G. XVI, Nr. 62; 30 B.-G. XXII, Nr. 94; 31 B.-G. XXIV, Nr. 111; 32 B.-G. I, Nr. 1; 35 B.-G. I, Nr. 5. – Die autographe Partitur von 18 besitzt Herr Ernst Mendelssohn-Bartholdy in Berlin, von 29 Trau Pauline Viardot-Garcia in Paris.


71 Hierbei ist freilich dem Dichter in dem auf Strophe 4 und 5 gegründeten Tenor-Recitativ eine arge Ungereimtheit passirt, wenn er in der Sucht Worte zu machen schreibt: »Die nacket, bloß und blind, Die voller Stolz und Hoffart sind, Will seine Hand wie Spreu zerstreun«. Die Armen und Kranken sind aber nicht stolz und hoffärtig, und sie will Gott nicht demüthigen, sondern stärken und erheben.


72 Koch, Geschichte des Kirchenlieds V, S. 500 f. (3. Aufl.) giebt an, daß die Lieder »Bedenke, Mensch, die Ewigkeit«, »Das ist meine Freude, daß, indem ich leide« und »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende, ob heute nicht mein jüngster Tag« noch jetzt gebräuchlich seien. Schon aus den Anfängen, die mit bekannten Kirchengesängen übereinstimmen, geht Picanders Unselbständigkeit hervor.


73 S. S. 238 ff. dieses Bandes.


74 Von Christus bei verschiedenen Gelegenheiten gesprochen; s. Matth. 9, 2; Luc. 7, 48.


75 Die dritte, im Originalausdruck nicht musterhaft, mit einer leichten Abänderung.


76 S. Band S. I, 494.


77 In den aufwärtsdringenden Trompetenbewegungen der Cantate »Herr Gott dich loben alle wir« liegt übrigens auch wohl eine poetische Bedeutung, die aus der vorhergehenden Arie und dem ähnlich ausgestatteten Schlußchorale der Cantate »Es erhub sich ein Streit« klar wird.


78 S. S. 428 ff. dieses Bandes. – Zu den motettenartigen Choralchören gehört auch der herrliche, B.-G. XXIV, Nr. 118 herausgegebene, Satz »O Jesu Christ meins Lebens Licht«, den aber eine selbständigere Begleitung von Blasinstrumenten auszeichnet. Der Satz ist vermuthlich bei einer Begräbnißfeierlichkeit im Freien aufgeführt und erst hernach für den Gebrauch im geschlossenen Raume eingerichtet worden. Entstanden ist er um 1737; s. Anhang A, Nr. 47.


79 S. Band I, S. 597 und 602 f.


80 S. Band, I, S. 599 f.


81 Auch dieses Motiv hängt mit der ersten Melodiezeile zusammen, insofern es deren erste beide Töne benutzt. Übrigens fällt auf, daß ganz dasselbe Motiv auch im Hauptchore von »Ach Gott, wie manches Herzeleid« verwendet wird. Ich glaube, daß die Cantate »Wie schön leuchtet der Morgenstern« unmittelbar nach dieser componirt worden ist, da Bach das Motiv noch im Ohre hatte.


82 S. S. 182 dieses Bandes.


83 Dies wurde schon zu Bachs Zeiten von gewisser Seite mißfällig bemerkt; s. Witt, Neues Cantional mit dem General-Bass. Gotha und Leipzig (1715). Vorrede.


84 S. Band I, S. 592 f.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1880..
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