Siebzehntes Kapitel.

Nachträgliches über Personen und Gesellschaft. Abschied von Bonn (1792).

Es würde ein glücklicher Tag für die sein, welche sich für die Geschichte von Beethovens Jugend interessieren, wenn je einmal ein Tagebuch oder eine Korrespondenz irgend eines Bonner Baron Grimm aus diesen letzten Jahren des kölnischen Kurfürstentums ans Licht kommen sollte. Denn dies fehlt allein, um uns zu befähigen, uns ein bestimmtes und lebendiges Bild von der dortigen Gesellschaft zu machen, uns in diese Zeit zurückzudenken und die geselligen Einflüsse nachzufühlen, die so günstig auf die jungen Männer einwirkten und so manche Charaktere von hohen geistigen und sittlichen Anlagen zur Entwickelung brachten, welche, während rundumher die größten Umwälzungen auszubrechen drohten, in so verschiedenen Sphären der Tätigkeit Beschäftigung fanden. Wenn man in den alten Hofkalendern sieht, wie viele der hohen Häuser aus anderen Teilen Deutschlands und aus den österreichischen Staaten in Bonn vertreten waren, so möchte man als gewiß annehmen, daß irgendwo in Familienarchiven solche Erinnerungen noch verborgen sein müssen. Könnte nicht England dem Bedürfnisse begegnen durch die Korrespondenz der honourable [275] Mrs. Bowater von old Dolby Hall bei Leicester, oder durch die irgend eines Gliedes der Familien Cressener oder Heathcote?1

Dr. Ennen, der Verfasser wertvoller Beiträge zur rheinischen Geschichte, versichert, daß eine große Masse von Erzählungen aus Bonn in der Korrespondenz enthalten sei, welche jetzt in dem Archive des auswärtigen Amtes zu Paris aufbewahrt wird, und daß er sich bestimmt erinnere, den Namen Beethoven in derselben gesehen zu haben. Im Jahre 1861 brachte der Verfasser drei Monate in jener Stadt zu mit dem vergeblichen Versuche, von dem auswärtigen Ministerium die Erlaubnis zu erhalten, zum Nutzen seiner Arbeit jene Korrespondenz zu durchforschen; auf ein zweites in aller Form vom amerikanischen Gesandten eingegebenes Gesuch um diese Erlaubnis erfolgte nicht einmal eine Antwort – ein eigentümliches Beispiel französischer Höflichkeit! Wir wollen hoffen, daß ein anderer Bittsteller unter andern Umständen glücklicher sein werde2.

Häufig ist Kurfürst Max Franz gepriesen worden wegen seines angenommenen Schutzes und seiner Gunstbezeigungen an den jungen Beethoven. Indessen ist schon dargetan worden, daß mit Ausnahme des »gnädigen Verweises« bei der Gelegenheit, als der Sänger Heller von dem Knaben zum Gegenstande des Mutwillens gemacht worden war, alle die Tatsachen und Anekdoten, auf welche diese Lobpreisungen gegründet sind, entweder Mißverständnisse sind oder sich auf eine weit spätere Periode, als die angenommene, beziehen. Die Anstellung von Beethoven als Kammermusikus (1789) war kein auszeichnendes Zeichen der Gunst, da dies ein halbes Dutzend anderer junger Leute seines Alters gleichzeitig mit ihm erlangten; daß er zum Hofpianisten gemacht wurde, war eine natürliche Sache, denn wen hatte er zum Nebenbuhler? Wäre er in irgend einem größeren Maßstabe ein Günstling des Erzbischofs gewesen, was war dann für ein Bedürfnis vorhanden, daß er nach Wegelers[276] Erzählung von Waldstein »mit der größten Schonung seiner Reizbarkeit manche Geldunterstützung« erhielt, »die meistens als eine kleine Gratification vom Churfürsten betrachtet wurde«? Eine allgemeine Bemerkung möge hier Platz finden, welche auch zur Entscheidung dieses Punktes beiträgt; nämlich, daß Beethovens Widmungen seiner bedeutenderen Werke sein Leben hindurch regelmäßig an Personen gerichtet waren, von denen er Unterstützungen in Geld empfangen hatte oder zu empfangen hoffte. In einem bemerkenswerten Falle, wo ihm eine solche Widmung nichts einbrachte, vergaß oder vergab er das Versäumnis niemals. Wenn er wirklich fühlte, daß Maximilian in irgend einem einzelnen Falle großmütig gegen ihn gewesen, warum hat er ihm nie ein Werk gewidmet? Warum hat Beethoven in seiner ganzen Privatkorrespondenz, seinen Privataufzeichnungen und mitgeteilten Unterhaltungen, welche für dieses Werk durchforscht worden sind, ihn niemals erwähnt, weder mit Ausdrücken der Dankbarkeit noch in irgend einer anderen Weise? Wir müssen daher jeden Gedanken, seine Beziehungen zum Kurfürsten seien andere gewesen als die Bernhard Rombergs, Franz Ries' oder Anton Reichas, aufgeben. Er war Organist, Klavierspieler, Mitglied des Orchesters; für diese Dienste erhielt er seine Bezahlung gleich den übrigen. Wir haben keinen Beweis von Größerem, keine Andeutung von Geringerem.

Mit Waldstein freilich war die Sache eine andere. Der junge Graf, 8 Jahre älter als Beethoven, war direkt von Wien gekommen, wo seine Familienbeziehungen ihm den Zutritt zu den Salons der höchsten Adelsfamilien gewährten, und war vollständig bekannt mit dem Edelsten und Besten, was die kaiserliche Hauptstadt in der musikalischen Kunst bieten konnte. Selbst mehr als ein gewöhnlicher Dilettant, konnte er die Fähigkeiten des jungen Mannes beurteilen und wurde sein Freund. Wir haben gehört, daß er gelegentlich das bescheidene Zimmer in der Wenzelgasse zu besuchen pflegte, und daß er Beethoven dazu veranlaßte, die Musik zu seinem Ritterballett zu komponieren; wir werden sehen, daß er die künftige Größe Beethovens vorhersah, und vorausverkündigte, daß sein Name neben denen von Mozart und Haydn auf der Liste des Ruhmes stehen würde. Und Waldsteins Name befindet sich auch in der Reihe derer, welchen bedeutende Werke gewidmet sind.

Die Dedikation der 24 Variationen über Venni Amore an die Gräfin Hatzfeld deutet an oder beweist vielmehr, daß Beethovens Verdienste in ihrem Hause bekannt und anerkannt waren. »Für Tonkunst und Tonkünstler«, schreibt Neefe (s. o.), »ist sie enthusiastisch eingenommen.«

[277] Wenn Beethoven überhaupt zu den Kreisen des hohen Adels Zutritt hatte, so konnte das nur in seiner Eigenschaft als Künstler geschehen, wie es bei Gyrowetz und anderen seiner Zeitgenossen in anderen Teilen Europas der Fall war; aber unter denen, welche durch den Zufall der Geburt nicht so hoch über ihm standen, bewegte er sich, als er sich dem Mannesalter näherte, wie ein Gleicher unter Gleichen.

In diesen letzten Jahren in Bonn, in welchen er zu Hause wenig Glück und Zufriedenheit finden konnte, war es seine Gewohnheit geworden, den Abend im Wirtshause zuzubringen. Der beliebteste Versammlungsort für die Professoren an der neuen Universität und für die jungen Leute, deren Erziehung und Stellung zum Hofe oder in der Gesellschaft derart war, daß sie willkommene Gäste waren, war zu jener Zeit das Haus am Markte, welches noch jetzt unter dem Namen Zehrgarten bekannt ist; und wie Frau Karth erzählt, pflegte auch Ludwig dorthin zu gehen. Ein großer Teil dieses Hauses war für Wohnungen, die dauernd vermietet wurden, eingerichtet, und es wird gesagt, daß Eugen Beauharnais mit Weib und Kindern einst auf dem ersten Stock desselben gewohnt habe. Die Eigentümerin des Hauses war die Witwe Koch, welche auch eine Tafel eingerichtet hatte für eine auserwählte Zahl von Kostgängern; ihr Name erscheint außerdem nicht selten im Bonner Intelligenzblatt in Anzeigen von Büchern und Musik. In dem Stammbuche Beethovens wird sie uns wieder begegnen. Von ihren drei Kindern (ein Sohn und zwei Töchter) war die schöne Barbara (die Babette Koch, welche in einem Briefe Beethovens erwähnt wird) die Schönheit von Bonn. Wegeler nennt uns, wo er sie preist (S. 58), zugleich die Namen verschiedener Mitglieder dieses Kreises, welche ohne Zweifel auch der junge Komponist oft in dem Hause antraf. Sie war »eine vertraute Freundin der Eleonore von Breuning, eine Dame, welche von allen Personen weiblichen Geschlechts, die ich in einem ziemlich bewegten Leben, bis zum hohen Alter hinaus, kennen lernte, dem Ideal eines vollkommenen Frauenzimmers am nächsten stand. Und dieser Ausspruch wird von Allen bestätigt, die das Glück hatten, ihr nahe zu stehen. Nicht nur jüngere Künstler, wie Beethoven, die beiden Romberg, Reicha, die Zwillingsbrüder Kügelgen u.s.w. umgaben sie, sondern geistreiche Männer von jedem Stand und Alter, wie D. Crevelt der Hausgenosse, der früh verstorbene Professor Velten, der nachherige Staatsrath Fischenich, der Professor, nachherige Domcapitular Thaddäus Dereser, der nachherige [278] Bischof Wrede, die Privat-Secretäre des Kurfürsten Heckel und Floret3, der Privat-Secretär des Oesterreichischen Gesandten Malchus, der nachherige Holländische Staatsrath von Keverberg, der Hofrath von Bourscheidt, der hier erwähnte Christoph von Breuning und viele Andere«. Um die Zeit, da Beethoven Bonn verließ und nach Wien zog, hatte die Gattin des Grafen Anton von Belderbusch, Neffen des verstorbenen Ministers, ihren Gatten verlassen und sich mit einem gewissen Freiherrn Lichtenstein verbunden; Babette Koch wurde engagiert als Gouvernante und Erzieherin der mutterlosen Kinder. Im Laufe der Zeit erwirkte der Graf eine Scheidung (nach französischem Rechte) von seinem untreuen Weibe und heiratete die Gouvernante am 9. August 18024. Doch blieb ein Schatten auf ihr in dieser katholischen Gegend, da die frühere Ehe des Grafen nicht durch den Papst für nichtig erklärt worden war.

Den meisten Genuß und Vorteil aber hatte Beethoven in dem Breuningschen Hause. Die Freundlichkeit der Mutter gegen ihn gab ihr das Recht und die Möglichkeit, ihn zur Erfüllung seiner Pflichten zu drängen und zu treiben; und diese Gewalt über ihn mit seinen hartnäckigen und leidenschaftlichen Launen besaß sie in höherem Grade, als irgend eine andere Person. Wegeler erzählt eine darauf bezügliche Anekdote. Zu Neujahr 1792 wurde Baron Westphal von Fürstenberg, »bisher im kurkölnischen Dienst, als Minister im Niederrheinischen und Westphälischen Kreise auch an den Höfen zu Cöln und Trier« angestellt5; sein Hauptquartier war Bonn. Er residierte in dem großen Hause, in welchem sich jetzt das Postamt befindet, unmittelbar hinter der Statue dessen, der damals als Musiklehrer in der Familie des Grafen engagiert wurde. Das Breuningsche Haus war nur einige Schritt davon entfernt und lag demselben in einem Winkel schräg gegenüber. Hier war nun Frau von Breuning zuweilen genötigt, ihre Autorität geltend zu machen und den jungen Mann zu zwingen, in seine Stunden zu gehen. Da er wußte, daß sie ihn beobachtete, ging er ut iniquae mentis asellus, aber zuweilen kehrte er an der Tür selbst wieder um und entschuldigte sich mit der Ausrede, es sei ihm heute unmöglich, eine Stunde zu geben, er wolle morgen deren zwei geben. In solchen und anderen Fällen, wo Schelten [279] mit ihm nichts fruchtete, zog die gute Frau die Schultern mit der Bemerkung, »er hat wieder seinen Raptus«; ein Ausdruck, den Beethoven nie vergaß. Es war das größte Glück für ihn, daß er in Frau von Breuning eine Freundin besaß, welche seinen Charakter völlig verstand, welche eine warme Zuneigung für ihn hegte, und welche daher auch als Friedensstifterin auftreten konnte und dies tat, sooft die Harmonie zwischen ihm und ihren Kindern getrübt war; in dem Streite mit ihrer Tochter unmittelbar vor seiner Abreise aus Bonn nahm sie nicht einmal Partei gegen ihn; er aber erkannte sein Unrecht ihr gegenüber und bat ernstlich um Verzeihung in dem Briefe, den wir weiter unten mitteilen werden; kurz, sie wendete ihren Einfluß auf ihn in aller Freundlichkeit an, um ihn zu zügeln, zurückzuhalten, zu leiten und zu bilden. Schindler ist Zeuge, daß Beethoven gerade für diese Seite ihrer mütterlichen Sorgfalt bis zum Ende seines Lebens die größte Dankbarkeit bewahrte. »Noch in späteren Tagen nannte er die Glieder dieser Familie seine damaligen Schutzengel und erinnerte sich gern der vielen von der Frau des Hauses erhaltenen Zurechtweisungen. ›Die verstand es, sagte er, die Insecten von den Blüthen abzuhalten.‹ Er meinte damit gewisse Freundschaften, welche der naturgemäßen Fortbildung seines Talents, wie auch des rechten Maßes künstlerischen Bewußtseyns bereits gefährlich zu werden begonnen und durch Lobhudelei die Eitelkeit in ihm erweckt hatten. Schon war er nahe daran, sich für einen berühmten Künstler zu halten, sonach lieber Jenen Gehör zu geben, welche ihn in diesem Wahn bestärkt, als Solchen, die ihm begreiflich gemacht, daß er noch alles zu lernen habe, was den Jünger zum Meister macht.« Dies alles ist treffend, in sich selbst durchaus wahrscheinlich und gehört zu der Kategorie von Tatsachen, in welchen Schindler ein glaubwürdiger Zeuge ist.

Stephan von Breuning wurde ein so guter Violinspieler, daß er gelegentlich im kurfürstlichen Orchester mitspielte. Als er herangewachsen und der Altersunterschied zwischen Beethoven und ihm unmerklicher geworden war, wurde die Bekanntschaft zwischen ihnen eine sehr intime. Frau Karth erzählt, daß er ein häufiger Besucher des Hauses in der Wenzelgasse gewesen sei, und hat noch eine lebendige Erinnerung an den »Lärm, den sie mit ihrer Musik über ihr zu machen pflegten«. Als sie einst, noch als kleines Kind, während der Abwesenheit ihrer Mutter die Tür verschlossen hatte und eingeschlafen war und beim Rufen der Mutter nicht wach wurde, geriet letztere in Furcht und rief Ludwig und Stephan, welche die Tür aufbrachen. Derartige Einzelheitenen müssen nicht [280] lange vor Beethovens Abreise geschehen sein, da der junge Breuning erst im August 1792 sein 18. Jahr vollendete.

Lenz, der jüngste der Breuningschen Söhne, war erst 15 Jahre alt, als sein Lehrer Bonn verließ, aber wenige Jahre nachher wurde er von neuem Beethovens Schüler in Wien; er wurde ein guter Klavierspieler. Für ihn scheint der Komponist eine warme Zuneigung gehegt zu haben, und zwar eine solche, welcher der Unterschied von 7 Jahren in ihrem Alter eine besondere Zärtlichkeit geben konnte.

Man hat vermutet, daß Beethoven eine Zeitlang eine wärmere Empfindung als bloße Freundschaft für Eleonore von Breuning gefühlt habe; es hat sich indes bei unseren Nachforschungen nicht die geringste Andeutung gefunden, die einen solchen Gedanken unterstützte. Es darf mit ziemlicher Sicherheit behauptet werden, daß Beethoven zu keiner Zeit ein derartiges Gefühl für Eleonore gehegt habe.

Beethovens merkwürdige Fertigkeit im Improvisieren war häufig im Breuningschen Hause Gegenstand der Bewunderung; die Phantasie mag uns ein anmutiges Bild der Szene in dem großen vorderen Zimmer des Erdgeschosses an einem Abende ausmalen, die Canonici Kerich und Breuning, die Mutter und ihre Kinder, ein paar Freunde und Mitglieder der Kapelle als Zuhörer und den jungen Mann am Klavier. Wegeler erzählt eine hier passende Anekdote. »Als Beethoven einst im Breuningschen Hause phantasirte, (wobei ihm häufig aufgegeben ward, den Charakter irgend einer bekannten Person zu schildern,) drang man dem Vater Ries6 eine Violine auf, um ihn zu begleiten. Nach einigem Zögern gab dieser nach und so mag wohl damals zum ersten Mal von zwei Künstlern zugleich phantasirt worden sein.«

Beethoven hatte, wie alle Männer von originellem und schöpferischem Genius, eine entschiedene Abneigung gegen die mühsame Arbeit, die Elemente seiner Kunst trägen Geistern und ungeschickten Fingern einzuzwängen. »Sie glücklicher Mann!« sagte einst Mozart zu dem jungen Gyrowetz. »Ach, könnte ich mit Ihnen reisen, wie froh wäre ich! – Sehen Sie, da muß ich itzt noch eine Stunde geben, damit ich mir etwas verdiene!« Daß sein Widerwille jedoch ein ungewöhnlicher gewesen sei, wie Wegeler sagt, tritt nicht hervor. Frau von Bevervörde, eine seiner Bonner Schülerinnen, versicherte Schindler, daß sie niemals über ihren Lehrer zu klagen gehabt habe, weder hinsichtlich der Regelmäßigkeit seiner Stunden, [281] noch der Methode seines Unterrichts7. Ebensowenig hat sich aus den Wiener Überlieferungen irgend etwas ergeben, was jene Bezeichnung rechtfertigte8. Die Erfahrung von Ries würde hierher nicht passen, denn seine Beziehungen zu Beethoven waren jenen des kleinen Hummel zu Mozart ähnlich; er er hielt unentgeltlich Unterricht, wie ihn der Meister in seinen Mußestunden zu geben sich aufgelegt fühlte; er beanspruchte keine regelmäßige, systematische Unterweisung in festgesetzten Stunden. Die gelegentliche Versäumnis einer Stunde bei Baron Westphal, welche in der oben mitgeteilten Erzählung angeführt wird, kann noch aus anderen Gründen erklärt werden, als aus dem ungewöhnlichen Widerwillen gegen das Unterrichtgeben. Beethoven stand 1791/92 gerade in dem Alter, in welchem das Verlangen nach Zerstreuung frisch und stark ist; er war sich bewußt, Fähigkeiten zu besitzen, die noch nicht völlig entwickelt waren; sein Weg war verschieden von dem der übrigen jungen Leute, mit denen er im Verkehr stand, und welche nach allen uns zu Gebote stehenden Andeutungen nur wenig Glauben an das Ziel hatten, welches er sich erwählt hatte; er muß die Notwendigkeit eines anderen Unterrichts oder jedenfalls einer besseren Gelegenheit gefühlt haben, seine Fähigkeiten mit denen anderer zu vergleichen, sich selbst mit einem höheren Maßstabe zu messen, die Wirkung seiner Kompositionen in einer anderen Sphäre zu erproben und sich die Beruhigung und Gewißheit zu verschaffen, daß sein Trieb zur Komposition ein wahrer und daß seine Abweichungen von dem betretenen Wege nicht wild und launisch waren. Waldstein, wie wir aus Wegeler wissen, und wie seine eigenen Worte bestätigen, hatte Vertrauen auf ihn und seine Werke, und ein anderer, Fischenich, wie wir sehen werden, gleichfalls; aber was mochte man von ihm und seinen Kompositionen wohl sagen in der Stadt Mozarts, Haydns, Glucks? Fügen wir hinzu die Unruhe des jungen Mannes, dem die gewohnte Übung seiner Pflichten, welche schon seit langer Zeit für ihn den Reiz der Neuheit größtenteils verloren haben mußten, zum Überdruß geworden war, und das natürliche Verlangen desselben nach der großen Welt, nach einem weiteren Felde der Tätigkeit, nach einer Ermutigung zu höherem Fluge, nach würdigeren Genossen, nach der Möglichkeit, seinen Platz als Mann unter Männern einzunehmen: so haben wir die genügende Erklärung für [282] jene Abneigung. Alle jungen Männer von Talent machen diese Erfahrung durch, und die Einförmigkeit täglich wiederkehrender Pflichten wird ihnen oft beinahe unerträglich.

Vielleicht hatte aber gerade damals Beethovens »Raptus« einen ganz andern Ursprung; vielleicht war Jeannette d'Honrath oder Fräulein von Westerholt die unschuldige Ursache desselben, zwei junge Damen, deren Namen Wegeler aus der Zahl derer, für die, wie er sagt, sein Freund zu verschiedenen Zeiten eine vorübergehende, aber um nichts weniger glühende Neigung empfand, aufbewahrt hat. Die erstere war aus Köln, von wo siegele gentlich nach Bonn kam, um ein paar Wochen bei Eleonore von Breuning zuzubringen. »Sie war eine schöne, lebhafte Blondine, von gefälliger Bildung und freundlicher Gesinnung, welche viele Freude an der Musik und eine angenehme Stimme hatte. So neckte sie unsern Freund mehrmals durch den Vortrag eines damals bekannten Liedes:


Mich heute noch von Dir zu trennen

Und dieses nicht verhindern können,

Ist zu empfindlich für mein Herz!


Denn der begünstigte Nebenbuhler war der österreichische Werbehauptmann in Köln, Carl Greth, welcher die d'Honrath heiratete und als Feldmarschall-Lieutenant, Inhaber des Infanterie-Regiments Nr. 23, Commandant von Temeswar etc., den 15. October 1827 starb.« (Wegeler S. 42.) In einem von Beethovens Konversationsbüchern aus dem Jahre 1823 kann man in Schindlers Handschrift die Worte lesen: »Capt. v. Greths Adresse, Commandant in Temeswar.«

Die Leidenschaft für Fräulein d'Honrath wurde verdunkelt durch eine auf sie folgende Schwärmerei für die »schöne und artige« Fräulein von Westerholt. In den Hofkalendern dieser Jahre steht als »Hochfürstlich Münsterischer Obrist-Stallmeister, Se. Excellenz der Hochwohlgeborene Herr Friedrich Ludolph Anton Freyherr von Westerhold-Giesenberg, kurkölnischer und Hochstift-Münsterischer Geheimrath«9. Von diesem Manne erzählt Neefe (Spaziers Berliner Mus. Zeitung 19. Okt. 1793): »er selbst bläst Fagott, und in seinen Bedienten hat er eine artige Hauskapelle, besonders von blasenden Instrumenten.« Derselbe hatte zwei Söhne, von welchen der eine ein Meister auf der Flöte war, und zwei Töchter. [283] Die ältere derselben, Maria Anna Wilhelmine – die zweite war noch ein kleines Kind.– war am 24. Juli 1774 geboren, heiratete am 24. April 1792 zu Telgte in Westfalen den Freiherrn Friedrich Clemens von Elverfeldt, genannt von Beverförde-Werries10, und starb am 3. November 1852. Sie war vorzügliche Klavierspielerin; Neefe hörte in Münster »die feurige Mad. v. Elverseldt eine schwere Sonate von Sardi (Giuseppe Sarti) mit einer Geschwindigkeit und Genauigkeit, daß man sie bewundern mußte« spielen.

Daß Beethovens Talent in dieser musikalischen Familie erkannt und geschätzt wurde, kann uns nicht wundernehmen. Er wurde Lehrer der jungen Dame; und da der Oberstallmeister Graf Westerholt den Kurfürsten bei seinen Reisen nach Münster zu begleiten hatte, wo er auch ein Haus besaß, so ist auch, einer Tradition der Familie zufolge, der junge Beethoven einmal bei der Familie in Münster gewesen, und zwar vor der Verheiratung der jungen Dame, also um das Jahr 1790. Sie und keine andere war es, für welche Beethoven damals erglüht war. Diesmal war seine Leidenschaft heftig; auch verheimlichte er sie nicht; vierzig Jahre später erzählte Bernhard Romberg noch Anekdoten von dieser »Werther-Liebe« (Wegeler Not. S. 43). Und sie war auch, wie wir jetzt erkennen, jene Frau von Beverförde, welche Schindler (s. o. S. 261) in ihren späteren Jahren durch Rombergs Vermittelung kennen lernte; er war nur über ihren Familiennamen im Irrtum. Daß Beethoven für die Familie auch als Komponist tätig war, hat der Herausgeber aus zuverlässiger Quelle erfahren und wird weiter unten noch zur Erwähnung kommen11.

[284] Unsere entschiedenen Zweifel, daß Beethoven irgend ein solches Gefühl, wie für die genannten jungen Damen, für Eleonore von Breuning gehegt hätte, haben wir schon ausgedrückt; die bei Wegeler gedruckten Briefe an sie aus Wien und andere noch ungedruckte Korrespondenzen bestätigen diesen Zweifel durch ihren ganzen Charakter. Daß aber zwischen ihnen eine wirklich warme Freundschaft bestand und bis zum Ende seines Lebens fortdauerte, mit einer einzigen Unterbrechung unmittelbar vor seiner Abreise aus Bonn, über deren Veranlassung nichts bekannt ist, steht fest. Unter den wenigen Erinnerungszeichen an Jugendfreundschaften, die er aufbewahrte, befand sich folgender Gruß an ihn zu seinem zwanzigsten Geburtstage, von einem Blumenkranze umgeben:


»Zu B.'s Geburtstag von seiner Schülerin.


Glück und langes Leben

Wünsch ich heute Dir,

Aber auch daneben

Wünsch ich etwas mir!


Mir in Rücksicht Deiner

Wünsch ich Deine Huld,

Dir in Rücksicht meiner

Nachsicht und Geduld.


1790 Von Ihrer Freundin u. Schülerin

Lorchen v. Breuning12


Ein anderes war eine Silhouette des Fräulein von Breuning. Auf eine Anspielung darauf in einem Briefe Beethovens an Wegeler (1826) sagt der letztere (Not. 52): »Die Silhouetten sämmtlicher Glieder der Familie von Breuning und der näheren Freunde des Hauses wurden in zwei Abenden von dem Mahler Neesen in Bonn verfertigt; daher kam [285] ich in den Besitz derjenigen von Beethoven, welche sich hier abgedruckt findet. Beethoven mag damals im 16ten Jahre gewesen sein13.« –

Zu der Frage über Beethovens Empfänglichkeit für zarte Neigungen müssen wir wiederum Wegeler zitieren. »Die Wahrheit, wie mein Schwager Stephan von Breuning, wie Ferdinand Ries, wie Bernhard Romberg, wie ich sie kennen lernte, ist: Beethoven war nie ohne eine Liebe, und meistens von ihr in hohem Grade ergriffen.« Und weiter: »Diese Liebschaften (mit den Damen Honrath und Westerholt) fielen jedoch in das Uebergangsalter und hinterließen ebensowenig tiefe Eindrücke, als sie deren bei den Schönen erweckt hatten. In Wien war Beethoven, wenigstens so lange ich da lebte, immer in Liebesverhältnissen und hatte mitunter Eroberungen gemacht, die manchem Adonis, wo nicht unmöglich, doch sehr schwer geworden wären.« (Notizen S. 42, 43.)

Ein Rückblick auf einige der letzten Kapitel zeigt, daß Beethovens Leben die meiste Zeit nach 1789 ein sehr geschäftiges war, daß aber die häufige Abwesenheit des Kurfürsten (die man aus den Zeitungen jener Tage erkennt) zu Mergentheim, Münster, Wien, in verschiedenen Badeorten, zu Frankfurt (bei Gelegenheit der Krönungen seines Bruders Leopold und seines Neffen Franz) und zu Besuchen seiner Nachbarn, der Kurfürsten von Trier und Mainz, manche Periode von ansehnlicher Dauer übrigließ, während deren er, abgesehen von den Zusammenkünften des Orchesters für Proben und Übungen, vollständig über seine Zeit gebieten konnte. Dadurch hatte er viele freie Tage und Wochen, die er der Komposition, dem Musikunterricht, dem geselligen Verkehr, Besuchen zu Kerpen und an anderen Orten der Umgegend und seiner großen Neigung, in den Feldern und auf den Gebirgen herumzuschweifen, und so auch der Ausbildung seiner leidenschaftlichen Liebe zur Natur in diesen schönen Rheingegenden widmen konnte. Wie oft mag ihn seine Phantasie in späteren Jahren, wenn er in den lieblichen Tälern und weit ausgedehnten Waldungen des Wienerwaldes Begeisterung sammelte, in die Schatten des Siebengebirges und in die Schluchten und Höhen des Ahrtales hinübergeführt haben!

Die neuen Verhältnisse zu Vater und Brüdern in seiner Eigenschaft als tätiges Haupt der Familie waren derart, daß sie seinen Geist von der Sorge um dieselben befreiten. Seine Stellung in der Gesellschaft [286] war überdies eine solche geworden, auf die er mit Recht stolz sein durfte, da er sie in der Tat keinen zufälligen Umständen, sondern allein seinem Genie und seinem edlen persönlichen Charakter verdankte. Von Krankheit in diesen Jahren hören wir nichts, mit Ausnahme von Wegelers Bemerkung (N. 11): »Als der berühmte Orgelspieler Abbé Vogler in Bonn spielte [1790 oder 1791], saß ich bei Beethoven am Krankenbette«; sicherlich ein bloß vorübergehendes Unwohlsein, sonst würde ihm Wegeler in seiner späteren Bemerkung über seines Freundes Gesundheit eine ausführlichere Notiz gewidmet haben. So waren dies also glückliche Jahre, trotz gewisser charakteristischen und niedergeschlagenen Ausdrücke in Beethovenschen Briefen, die weiter unten mitgeteilt werden müssen, und Jahre einer tätigen geistigen, künstlerischen und sittlichen Entwickelung.

Doch genug ist bereits über diesen Punkt gesagt oder vermutet worden. Er war in reichlicher Weise vorbereitet für eine höhere Sphäre der Tätigkeit, hatte sich lange und glühend danach gesehnt, und die Zeit war endlich gekommen.

Daß wahrscheinlich im Juli 1792 Haydn vorgeschlagen worden sei, Beethoven zum Schüler anzunehmen, ist erwähnt worden; doch geschah dies wohl nicht durch den Kurfürsten, der zur Zeit von Haydns zweitem Besuche ohne Zweifel in Frankfurt bei der Krönung seines Neffen, des Kaisers Franz war (14. Juli). Dem unermüdlichen Karajan (J. Haydn in London S. 53) war es unmöglich, genau zu bestimmen, wann der Komponist London verließ oder Wien erreichte; doch steht fest, daß er noch nach dem 1. Juli in ersterer Stadt war, und in letzterer vor dem 4. August. Welche Verabredungen auch zwischen dem Schüler und dem Meister getroffen sein mögen, sie waren der Zustimmung des Kurfürsten unterworfen, und hier wird sich wohl Waldstein zum Vorteil seines Schützlings bemüht haben. Jedenfalls war das Resultat günstig, und die Reise wurde festgesetzt. Vielleicht hätte Haydn, wenn er Maximilian in Bonn gefunden hätte, den jungen Mann gleich mitgenommen; jetzt vergingen noch einige Monate, bis sein Schüler folgen konnte.

Wir müssen hier noch kurz die Frage erörtern, woher die Geldunterstützung kam für eine so kostspielige Reise und den Aufenthalt in Wien. Der gutherzige Neefe vergaß nicht, das Ereignis in sehr schmeichelhaften Worten zu erwähnen, als er im folgenden Jahre an Spaziers Berliner Mus. Zeitung schrieb (26. Okt. 1793): »Im November vorigen Jahres reiste Ludwig van Beethoven, zweiter Hoforganist und unstreitig jetzt einer der ersten Clavierspieler, auf Kosten unseres Kurfürsten (von Cöln) [287] nach Wien zu Haydn, um sich unter dessen Leitung in der Setzkunst mehr zu vervollkommnen.« In einer Note fügt er hinzu: »Da dieser L. v. B., mehreren Nachrichten zufolge, große Fortschritte in der Kunst machen soll und einen Teil seiner Bildung auch Hrn. Neefe in Bonn verdankt, dem er sich schriftlich dafür dankbar geäußert; so mögen, Hrn. N. Bescheidenheit mag dies erlaubt sein lassen, einige Worte hier angeführt stehen, da sie Hrn. B. zur Ehre gereichen: ›Ich danke Ihnen für Ihren Rath, den Sie mir sehr oft bei dem Weiterkommen in meiner göttlichen Kunst ertheilten. Werde ich einst ein großer Mann, so haben auch Sie Theil daran, das wird Sie um so mehr freuen, da Sie überzeugt sein können u.s.w.‹«

»Auf Kosten unseres Kurfürsten«, sagt Neefe, und ähnlich sagt auch Fischenich von Beethoven: »den nun der Kurfürst nach Wien zu Haydn geschickt hat«. Maximilian hatte also damals dem jungen Musiker eine ähnliche Gunst zu erweisen beschlossen, wie sie nicht lange vorher den Malern Kügelgen gewährt worden war14. Dies wird bestätigt durch Beethovens Einzeichnung des Empfangs von 25 Dukaten bald nach seiner Ankunft in Wien in dem kleinen vorher erwähnten Notizbuche, und die Äußerung seiner Unzufriedenheit, daß die Summe nicht 100 betrug. Ein Empfangsschein für sein Gehalt von 25 Tlr. für das letzte Quartal dieses Jahres, noch im Düsseldorfer Archiv befindlich, ist datiert vom 22. Oktober und scheint auf den ersten Anblick eine Vorausbezahlung aus besonderer Gunst zu beweisen; aber viele andere in derselben Sammlung zeigen, daß die Zahlungen gewöhnlich um den Anfang des zweiten Monats im Quartal gemacht wurden. Es findet sich noch ein Aktenstück in der Düsseldorfer Sammlung, undatiert, aber offenbar nur ein oder höchstens zwei Jahre nach Beethovens Abreise aufgesetzt, nach welchem wichtige Veränderungen in den Gehältern der kurfürstlichen Musiker gemacht werden sollten; in dieser Liste erscheint Beethoven nicht unter jenen, die von der Landrentmeisterei bezahlt wurden, sondern er soll aus der Schatulle 600 Gulden erhalten; eine Summe, welche den 100 Dukaten gleichkam, die er vergeblich erwartet hatte. Freilich wurden diese Veränderungen niemals ausgeführt; doch zeigt das Dokument die Absichten des Kurfürsten. Wie sollen wir, mit solchen Tatsachen vor Augen, Beethoven von dem Vorwurfe der Undankbarkeit gegen seinen Wohltäter befreien? Durch den [288] Umstand allein, daß, nach allem, was ersichtlich ist, die guten Absichten des Kurfürsten (ausgenommen eine später zu nennende Gehaltsvermehrung und die Übersendung der 25 Dukaten) niemals ausgeführt wurden, und der junge Musiker, nachdem er seine vierteljährliche Besoldung zwei- oder dreimal erhalten hatte, lediglich auf seine eigenen Hilfsquellen angewiesen war. Maximilians Rechtfertigung liegt in dem »Meere von Verwirrungen«, von dem er so bald überwältigt werden sollte15.

Daß die 100 Dukaten Beethoven nicht im voraus gegeben wurden, ehe er Bonn verließ, kann man sich leicht erklären. Im Oktober 1792 näherten sich die französischen Revolutionsarmeen dem Rheine. Am 22. rückten sie in Mainz ein; am 24. und 25. wurden die Archive und Kapitalien des Bonner Hofes eingepackt und rheinabwärts weggebracht. Am 31. erreichte der Kurfürst, begleitet vom Fürsten von Neuwied, Cleve auf seiner ersten Flucht aus seiner Residenz. Es war eine Zeit des Schreckens. Alle wichtigeren Städte der Rheingegend, Trier, Koblenz usw., selbst Köln, wurden von den höheren Klassen ihrer Bewohner verlassen. Vielleicht verdankte es Beethoven diesem Umstande, daß er gerade damals die Erlaubnis erhielt, Bonn zu verlassen und nach Wien zu reisen, anstatt daß er auf die Beendigung der bevorstehenden Theater- und Musiksaison hätte warten sollen. Da aber die Schatzkammer nach Düsseldorf gebracht worden war, so mußte er sich mit dem gerade ausreichenden Fonds zur Bestreitung seiner Reise nach Wien und dem Versprechen, daß ihm dorthin mehr solle geschickt werden, begnügen.

Die Abreise Beethovens wurde von seinen Freunden mit lebhafter Teilnahme begleitet, wie auch er selbst eifrig wünschte, die Erinnerung an die ihm lieb Gewordenen zu bewahren. Der Plan war nicht auf eine dauernde Abwesenheit gerichtet; nach Vollendung seiner Studien wollte er zurückkehren und dann weitere Kunstreisen unternehmen. Alles dies ergibt sich aus einem Stammbuch Beethovens aus diesen letzten Bonner Tagen, welches er treu aufbewahrt hat, und welches sich jetzt auf der Wiener Hofbibliothek befindet16. Die meisten der eingezeichneten Namen kennen wir auch sonst, manche vermissen wir. Der Gedanke an dieses [289] Stammbuch scheint in dem Kreise entstanden zu sein, welcher sich bei der Witwe Koch im Zehrgarten versammelte. Das Titelblatt ist mit einer Zeichnung geziert, in deren Mitte steht: »meinen Freunden«, am unteren Rande »Ludwig Beethoven«, außerdem an anderen Stellen die Namen Degenhardt und Koch. Koch selbst hat sich dann noch an 5. Stelle, am 24. Oktober 1792, mit mehreren Versen eingeschrieben. Witwe Koch schreibt sich am 1. November 1792, »Am Abend unseres Abschieds«, ebenfalls mit Versen ein, und ebenso die Tochter Mariane Koch am 24. Oktober. Von Freunden finden wir ferner Malchus (am 24. Oktober), dann Eleonore von Breuning (1. November) und einen der Brüder, vermutlich Christoph17. Die Verse des letzteren deuten unverkennbar auf eine beabsichtigte Reise nach England hin, wo ihm »eine Barde«, der schon in Albions Schutz geflohen sei, die Hand reiche – nach Nottebohms Vermutung vielleicht Salomon. Wie Neefe erzählte, hatte ihn Haydn bei seiner zweiten Reise dorthin mitnehmen wollen. Weiter, finden wir Richter, wahrscheinlich den Hofchirurgen dieses Namens; Joh. Jos. Eichhoff, welcher der Hoffnung auf Rückkehr bestimmten Ausdruck gibt; Degenhardt, für welchen Beethoven kurz vorher ein Flötenduett geschrieben hatte; Heinrich Struve aus Regensburg, »in Russisch Kaiserl. Diensten«; P. J. Eilender am 1. November, den Arzt Dr. Crevelt (am 1. Okt.), Klemmer am 1. November. Wegen aller dieser verweisen wir auf die Mitteilungen im Anhang (IX).

Das Abschiedswort, welches ihm Graf Waldstein in dem Stammbuch widmet, hat für uns wohl das größte Interesse. Längst durch Schindler (I, S. 18) bekannt, kann es doch an dieser Stelle nicht fehlen.


»Lieber Beethowen.


Sie reisen itzt nach Wien zur Erfüllung Ihrer so lange bestrittenen Wünsche. Mozart's Genius trauert noch und beweinet den Tod seines Zöglinges. Bei dem unerschöpflichen Haydn fand er Zuflucht, aber keine Beschäftigung; durch ihn wünscht er noch einmal mit jemanden vereinigt zu werden. Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozart's Geist aus Haydn's Händen.


Bonn den 29t Octbr 1792.

Ihr wahrer

Freund Waldstein


[290] In ihrer etwas geschraubten Form enthalten diese Worte ebenso die klare Erkenntnis der genialen Kraft und das Vertrauen in Beethovens künftige Größe, wie andererseits die belehrende Mahnung, daß er seine Studien noch nicht als abgeschlossen ansehen dürfe.

Auffallend ist, daß keiner der musikalischen Genossen in dem Stammbuch auftritt. Sie werden in dem »Zehrgarten«-Kreise nicht verkehrt haben; zu anderen Vermutungen liegt wohl nicht genügende Veranlassung vor. Sie bewunderten ihn als Klavierspieler; als Komponisten schätzten sie ihn weniger, wohl weil sie ihn nicht verstanden. Das dürfen wir schließen aus der Ablehnung der Aufführung seiner Kantate und aus dem abfälligen Urteile B. Rombergs über seine Quartette (1804, s. Nohl I, S. 417). Auch mögen manche nicht frei von Neid gewesen sein, den sie nach Fischer ja auch den Vater fühlen ließen. Aber daraus auf weitere persönliche Mißverständnisse zu schließen, haben wir einstweilen keinen Grund.

Die Zeitangaben in dem Stammbuche beweisen, daß Beethoven am 1. November noch in Bonn war, und machen es wahrscheinlich, daß es der letzte Tag seiner Anwesenheit war. In Dutens Journal of Travels, übersetzt und vermehrt durch John Highmore (London, 1782), einen Bädeker oder Murray jener Zeit, geht die Postroute von Bonn nach Frankfurt a. M. den Rhein entlang über Andernach nach Koblenz, überschreitet hier den Fluß und führt von Ehrenbreitstein über Montabaur, Limburg, Würges (ein nassauisches Dorf) und Königstein, übereinstimmend mit der im Bonner Intelligenzblatt wenige Jahre später angegebenen Route; ihre Zeit betrug 25 Stunden 43 Minuten. Das war der Weg, den Beethoven mit einem unbekannten Begleiter einschlug. Wenn sie morgens um 6 von Bonn aufbrachen, konnten sie (nach Dutens und Highmore) in Koblenz gegen 3 Uhr nachmittags zu Mittag, in Limburg um 10 Uhr zu Abend essen und am anderen Morgen um 7 Uhr in Frankfurt sein.

Die ersten drei Seiten des oben angeführten Notizbuchs enthalten eine Aufzeichnung der Ausgaben der Reise bis nach Würges. Einer der Posten lautet: »Trinkgeld [Koblenz] weil der Kerl uns mit Gefahr Prügel zu bekommen mitten durch die hessische Armee führte und wie ein Teufel fuhr – – einen kleinen Thaler.« Diese Armee rückte aus Koblenz am 5. Nov. aus; aber an demselben Tage nahm ein französisches Corps, welches aus Mainz in die Gegend von Limburg vorgerückt war, Besitz [291] von Weilburg. Die Reisenden konnten daher nicht später als in der Nacht des 3. Nov. Limburg passiert haben. Daher war es der 2. oder spätestens der 3. November, an welchem Beethoven seiner Vaterstadt Lebewohl sagte und zu Ehrenbreitstein den Vater Rhein zum letzten Male sah.

Wir geben den Inhalt der drei Seiten des Notizbuches, welche dieser Reise gewidmet sind, im Anhange (X) und führen noch kurz die Gründe an, auf welche wir die Behauptung stützen, daß Beethoven einen Reisegefährten hatte. Dies ist an sich selbst wahr scheinlich und wird erwiesen 1. durch das Auftreten von zwei verschiedenen Handschriften; 2. durch den für die Postpferde bezahlten Preis so beträgt der erste Preis für 11/4 Station 50 Stüber, während der gewöhnliche Preis ein Gulden oder 20 Stüber für das Pferd für eine einzelne Person war; es waren demnach zwei Pferde, und noch 10 St. mehr für den zweiten Passagier; 3. durch das Wort uns bei der Aufzeichnung des Trinkgeldes zu Koblenz; 4. die Rechnungen hören zu Würges auf, aber sie wären natürlich in Wien fortgesetzt worden, hätte sie Beethoven nur aus Rücksichten der Sparsamkeit aufgeschrieben; und 5. die Bezahlung von 2 Gulden für Mittagessen und Abendessen ist sicherlich mehr, als ein junger Mann, nicht übermäßig mit Geld versehen, in jenen Tagen im Posthause ausgegeben haben würde.

Wir dürfen vermuten, daß die Genossen das Ende ihrer Reise gemeinsam erreichten und sich dann hinsetzten, rechneten und die Ausgaben verteilten. Die späteren Ausgaben sind von Beethovens Hand in Wien eingezeichnet, und es bleibt uns überlassen, uns seine Ankunft in Frankfurt und seine Abreise von dort über Nürnberg, Regensburg, Passau und Linz, in dem öffentlichen Postwagen, bis nach Wien auszumalen. Wir werden weiter unten Beweise finden, daß er in jener Stadt spätestens am 10. November anlangte, und daß Schindler (I, 19) demnach diese Reise mit jener ersten von 1787 verwechselt hat und überhaupt durchaus im Irrtum ist, wenn er sagt, »daß sie sehr langsam von Statten gegangen, darum die mitgenommenen Geldmittel schon auf der Hälfte des Weges erschöpft waren«.

Fußnoten

1 Dieser Appell des verehrten Verfassers scheint vergeblich geblieben zu sein. Anm. d. Herausg.


2 In den Jahren vor 1870 waren die Archive des auswärtigen Amtes in Paris für Fremde sozusagen unzugänglich. Seit jenem Jahre sind die Verhältnisse etwas geändert. Herr Charles Malherbe, Archivar der Pariser Oper und trefflicher Kenner unserer deutschen Musik, welchem der Herausgeber schon bei der Bearbeitung des Jahnschen Mozart wertvolle Aufschlüsse verdankte, hat die große Liedenswürdigkeit gehabt, die Korrespondenz des französischen Gesandten in Bonn mit seinem Minister aus den Jahren 1780 bis 1800 genau zu durchforschen und nichts darin gefunden, was sich auf Beethoven oder seine Familie bezöge. Die Versicherung Ennens dürfte daher eine irrtümliche sein. Anm. d. Herausg.


3 Sekretäre durch Dekret vom 19. Nov. 1790. (Floret, geboren zu Werl in Westfalen, wurde am 19. Nov 1700 Geheim-Sekretär [Düss. Arch.] und war nach Wurzers Memoiren später österreichischer Legationsrat. Anm. d. Herausg.)


4 Rhein. Antiqu. III. Bd., S. 7, 576–77.


5 Wiener Ztg. 12. Jan. 1792.


6 Franz Ries, damals noch nicht Vater in Wegelers Sinne.


7 Was über Frau von Bevervörde zu sagen ist, darüber auf den folgenden Seiten.


8 Man vergleiche, was hierüber L. Nohl, Bd. I, S. 248f. seiner Beethovenbiographie beibringt. Anm. d. Herausg.


9 Ursprünglich Freiherr von Boenen, nahm er auf Grund Kaiserlichen Diploms vom 27. Juli 1779 den Namen Graf Westerholt-Gysenberg an. Seine Frau war eine geborene Freiin von Westerholt. Anm. d. Herausg.


10 Diese letzteren Namen hatte er auf Grund der Adoption durch Freiherrn Friedrich Christian von Beverförde angenommen. Anm. d. Herausg.


11 Die obige Darstellung ist erweitert und ergänzt auf Grund einer sehr dankenswerten und freundlichen Privatmitteilung des Herrn Grafen Otto von Westerholt, Enkels des Oberstallmeisters von Westerholt und Neffen der Frau von Elverseldt-Beverförde, sowie nach Einsicht von Fahnes Geschichte der Kölnischen, Jülichschen und Bergischen Geschlechter (Köln und Bonn 1848, 1853) und Aander-Heydens Gesch. des Geschlechtes der Freiherrn von Elverfeldt (Elberfeld 1886). Thayer war nicht auf die Vermutung gekommen, daß Fräulein von Westerholt und Frau von Elverseldt dieselbe Person seien; das kann aber keinem Zweifel unterliegen; denn es findet sich keine andere Familie dieses Namens in den Stammtafeln, mit welcher Beethoven damals Beziehungen haben konnte. Daß Schindler in der Angabe des Familiennamens im Irrtum ist, geht daraus hervor, daß es eine Frau von Beverförde, geb. von Böselager, in der Zeit, von welcher Schindler spricht (den 30er Jahren) überhaupt nicht gegeben hat; ein noch lebender Enkel von ihr (geb. 1845) ist mit einer Frein von Böselager vermählt. Alle andern Angaben Schindlers, der Ort (Münster), die Erwähnung Bernhard Rombergs, die genaue Kenntnis von dem Wesen des jungen Beethoven, weisen auf jenen andern Namen hin und zeigen, daß er hätte schreiben müssen: Frau von Beverförde, geb. von Westerholt. Auch seine Mitteilung S. 33, daß die von Beethoven verehrte Dame die Jugendfreundin der Frau von Beverförde gewesen, kann die obigen zwingenden Tatsachen nicht entkräften; entweder hat sie Schindler die Wahrheit nicht mitteilen wollen, oder es liegt wieder eine Verwechslung Schindlers vor. Graf Westerholt teilte dem Herausgeber noch mit, daß eine große Anzahl von Musikalien, auf welche sein Vater (Graf Wilhelm, der oben genannte vorzügliche Flötenspieler) großen Wert gelegt habe, bei einem Brande zerstört worden seien, und daß darunter mutmaßlich auch Kompositionen von Beethoven gewesen seien; er habe jedenfalls solche für die Familie verfertigt. Anm. d. Herausg.


12 Aus dem Fischhofschen Manuskript.


13 Der Verfasser setzte hinzu: »oder wahrscheinlicher im 19ten.« Diese Annahme dürfte nicht nötig sein; das Bild selbst ist offenbar das eines Knaben. Anm. d. Herausg.


14 Ob der Kurfürst Beethoven nach Wien schickte, um sich in ihm einen künftigen Kapellmeister heranzuziehen, wie Nohl nach Seyfried angibt, dürfte zweifelhaft sein. Die Stelle war ja besetzt. Anm. d. Herausg.


15 Nach den zu Düsseldorf noch aufbewahrten Landrentmeisterei-Rechnungen bezog Beethoven von Wien aus das frühere Gehalt seines Vaters von Anfang 1793 bis zum März 1794. Er ließ dasselbe regelmäßig durch Franz Ries erheben und quittieren, wie die ebenfalls noch erhaltenen Quittungen beweisen. Anm. d. Herausg.


16 Wir teilen den vollständigen Inhalt desselben im Anh. IX mit und geben dort auch die nötigen persönlichen Erläuterungen. Anm. d. Herausg.


17 Beethoven hat also vermutlich den letzten Tag in Bonn zum Teil im Breuningschen Hause und im Zehrgarten zugebracht. Wegen des Bruders s. Anh. Anm. d. Herausg.

Quelle:
Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben. Band 1, 3. Auflage, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1917.
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