Neuntes Kapitel.

Unterricht bei Neefe. Erste Dienstleistung des Knaben. Früheste Versuche in der Komposition.

Christian Gottlob Neefe folgte auf die früher genannten Personen als Beethovens Musiklehrer. Wann sein Unterricht begann und endete, und ob es wahr ist, daß der Kurfürst ihn beauftragte und für seine Dienste in dieser Tätigkeit bezahlte, wie verschiedene Schriftsteller versichern, auch darüber fehlt die volle Sicherheit.

Neefe kam nach Bonn im Oktober 1779, erhielt das »Decret zur Anwartschaft auf die Hoforganistenstelle« am 15. Februar 1781 und war so dauernd für den kurfürstlichen Dienst engagiert. Sowohl die Unzulänglichkeit und Unregelmäßigkeit des früheren Unterrichts, als der große Ruf Neefes, welchen die Ereignisse, die ihn bewogen hatten, in Bonn zu bleiben, vor dem dortigen Publikum in das hellste Licht gesetzt hatten, mußten es für Johann van Beethoven äußerst wünschenswert machen, seinen Sohn der Sorge desselben anzuvertrauen. Wir könnten uns kaum darüber wundern, wenn etwa bewiesen werden könnte, daß dieser Entschluß schon vor dem Erlaß des Dekrets vom 15. Februar 1781 stattfand, und das schon damals, als der Knabe seinen Schulbesuch nahezu beendet hatte, er unter die förderliche Unterweisung Neefes kam.

Mag dies nun so gewesen sein oder nicht; es war mehr als jemals nötig, aus dem Talente des Knaben entsprechenden Vorteil zu ziehen, da der Vater seine Familie noch immer wachsen sah. Die Taufe einer Tochter, welche nach ihren Paten Anna Maria Klemmers dicta Kochs1 und Franz Rovantini Anna Maria Franziska genannt wurde, ist im Register von S. Remigius unter dem 23. Februar 1779 eingetragen, und ihr Tod unter dem 27. desselben Monats. Die Taufe von August Franziskus Georgius v. B., bei welchem wieder Franz Rovantini und neben ihm die Hofsängerin Helene Averdonck Pate standen, folgte ungefähr zwei Jahre später, am 17. Januar 1781. Diesmal war es kein Staatsminister und keine gräfliche Äbtissin, welche einem Kinde Johanns [147] van Beethoven den Namen gaben; Rovantini, eines der jüngsten Mitglieder des Orchesters (allerdings Verwandter und Hausgenosse der Familie), eine Frau Koch und die junge Kontraaltistin, deren musikalische Erziehung der Vater geleitet hatte, nehmen ihre Stelle ein. Vielleicht ein weiteres Zeichen, daß das Haupt der Familie in seiner sozialen Stellung bereits gesunken war.

Schlosser ist es, welcher erzählt, der Kurfürst habe Neefe aufgetragen, »die Ausbildung des jungen Beethoven sich zu einer besonderen Angelegenheit zu machen«. Wieviel Gewicht man dieser Angabe eines Mannes beilegen kann, welcher bald nach dem Tode des Komponisten eilig ein paar Seiten zusammenschrieb, die er mit dem alten Irrtum beginnt, das Jahr 1772 als Geburtsjahr anzugeben, und worin er Beethovens Vater Anton nennt, mag dem Urteile des Lesers überlassen bleiben. Daß die Erzählung möglicherweise ein Teilchen Wahrheit enthalten könne, soll nicht geleugnet werden; die Wahrscheinlichkeitsgründe sprechen alle dagegen. Gerade in jenen Jahren war Max Friedrich mit seinem Trick-Track, seinen Bällen, seinen neuen Operetten und Komödien und seiner Absicht, das Theater zu einer Schule der Sitten zu machen, vollauf beschäftigt (s. o., S. 72 fg.). Das einzige, was nach wahrscheinlicher, mit den sicheren Tatsachen übereinstimmender Vermutung als wahr angenommen werden kann, ist dieses, daß Johann van Beethoven sich entschlossen hatte, seinen Sohn zum Organisten ausbilden zu lassen, weil auf diese Weise seine Talente am sichersten zu einer Erwerbsquelle gemacht werden konnten. Die Hoffnung, daß er vielleicht van den Eedens Nachfolger werden könne, war zwar durch Neefes Anstellung geschwunden; aber Neefes zahlreiche anderweitige Beschäftigungen mußten einen Assistenten unumgänglich nötig machen, und auf eine solche Stelle konnte der Knabe sich wohl Aussicht machen. Wir werden im Laufe der Erzählung sehen, daß Beethoven niemals einen wärmeren, liebevolleren und für ihn wertvolleren Freund besaß als Neefe, der sich während seines ganzen Bonner Aufenthalts als solcher bewährte, und daß er in der Tat seine erste Anstellung durch Neefe erhielt. Allerdings wird es hier zum ersten Male ausgesprochen, daß diese Ehre Neefe und nicht einer anderen Persönlichkeit zu verdanken war. Er mußte die Notwendigkeit herannahen sehen, daß zu den Zeiten, wo seine Verpflichtungen bei der Großmannschen Gesellschaft ihn an der persönlichen Wahrnehmung des Amtes verhinderten, jemand den Dienst an der kleinen Orgel in der Kapelle versah; was war demnach natürlicher, ja selbstverständlicher, als daß er gern die Ausbildung der außerordentlichen Talente des jungen [148] Beethoven übernahm, ohne dafür eine andere Vergütung zu begehren als die gelegentliche Aushilfe, welche ihm der Knabe leisten konnte?

Wegeler sagt: »Neefe hatte wenig Einfluß auf den Unterricht unseres Ludwig; letzterer klagte sogar über Neefes zu harte Kritik seiner ersten Versuche in der Komposition.« Die erste dieser Behauptungen ist offenbar irrtümlich; im Jahre 1793 dachte jedenfalls Beethoven selbst anders hierüber. »Ich danke Ihnen«, schreibt er seinem alten Lehrer2, »für Ihren Rath, den Sie mir sehr oft bei dem Weiterkommen in meiner göttlichen Kunst ertheilten. Werde ich einst ein großer Mann, so haben auch Sie Theil daran; das wird Sie um so mehr freuen, da Sie überzeugt sein können« usw. In bezug auf die Klage über zu harte Kritik mag bemerkt werden, daß Neefe, unter den Einwirkungen der strengen Leipziger Schule gebildet, sehr wenig mit der Richtung zufrieden sein konnte, welche das junge Genie unter den ihn bisher umgebenden Einflüssen genommen hatte, und daß er sich bemühen mußte, ihr einen anderen Lauf zu geben. Er war selbst noch ein jüngerer Mann, und in seinem Eifer für den Fortschritt seines Zöglings mag er wohl seine kindlichen Kompositionen mit einer Strenge beurteilt haben, die, wenn auch in der Tat nicht mehr wie gerecht und vernünftig, doch mit dem urteilslosen Lobe anderer Lehrer im Widerspruch gestanden haben mag, so daß sie des Knaben Selbstschätzung verwundete und einen Stachel bei ihm zurückließ, namentlich wenn Neefe in verächtlichem Tone sprach, wie es öfter jüngere Männer in solchen Fällen tun. In einem Briefe, welcher weiter unten seine Stelle finden wird, verlangt Beethoven von den Kritikern »mehr Vorsicht und Klugheit besonders in Rücksicht der Produkte jüngerer Autoren. Mancher kann dadurch«, fügt er hinzu, »abgeschreckt werden, der es vielleicht weiter bringen würde.« Wahrscheinlich hat er einmal in einer Unterhaltung über diesen Punkt Wegeler gegenüber die Bemerkung gemacht, daß Neefe ihn in seiner Kindheit etwas zu streng beurteilt habe3.

[149] Doch wir wollen von dem breiten Gefilde der Hypothesen zu dem engen Pfade der Tatsachen zurückkehren.

Neefe schreibt von sich und der Großmannschen Gesellschaft: »An diesem Tage (20. Juni 1782) traten wir unsere Reise nach Münster an, wohin auch der Churfürst ging. Den Tag vorher ward mein Vorgänger, der Hoforganist van den Eeden, begraben. Ich erhielt aber Erlaubniß, daß ich meine Stelle durch einen Vikar verwalten lassen, nach Westphalen und von da nach Frankfurt zur Michaelmesse mitreisen durfte.« Dieser Vikar war, wie die Düsseldorfer Dokumente zeigen, kein anderer als Ludwig van Beethoven, damals gerade 111/2 Jahr alt.

Im Laufe des folgenden Winters bereitete Neefe jene wertvolle und interessante Korrespondenz mit Cramers Magazin vor, welches bereits so häufig erwähnt wurde (s. o., S. 92 und 96). In diesem begegnet uns die erste gedruckte Mitteilung über Ludwig van Beethoven; sie ist für das Urteil und das Gemüt ihres Verfassers gleich ehrenvoll. Neefe schreibt am 2. März 17834:

»Louis van Betthoven, Sohn des obenangeführten Tenoristen, ein Knabe von 11 Jahren, und von vielversprechendem Talent. Er spielt sehr fertig und mit Kraft das Clavier, ließt sehr gut vom Blatt, und um alles in einem zu sagen: Er spielt größtentheils das wohltemperirte Clavier von Sebastian Bach, welches ihm Herr Neefe unter die Hände gegeben. Wer diese Sammlung von Präludien und Fugen durch alle Töne kennt, (welche man fast das non plus ultra nennen könnte), wird wissen, was das bedeute. Herr Neefe hat ihm auch, sofern es seine übrige Geschäfte erlaubten, einige Anleitung zum Generalbaß gegeben. Jetzt übt er ihn in der Composition, und zu seiner Ermunterung hat er 9 Variationen von ihm fürs Clavier über einen Marsch in Mannheim stechen lassen. Dieses junge Genie verdiente Unterstützung, daß er reisen könnte. Er würde gewiß ein zweiter Wolfgang Amadeus Mozart werden, wenn er so fortschritte, wie er angefangen.«

[150] Der Mann, welcher sich so einsichtig und liebevoll über das Genie des Knaben ausspricht und ihm seine Zukunft prophezeit, sollte wirklich so wenig Einfluß auf dessen Entwickelung gehabt haben?

Über den Inhalt des Unterrichts bei Neefe sind wir nicht näher unterrichtet und im wesentlichen auf die eben angeführten Worte Neefes und auf Beethovens Kompositionen aus jener Zeit angewiesen, insofern sich in der Folge derselben ein Fortschritt erkennen läßt, der auf bestimmte Unterweisung hindeutet5. Selbstverständlich unterrichtete er ihn im Klavierspiel und hat mit demselben zweifellos, wenn es auch nicht ausdrücklich gesagt wird, die weitere Anweisung im Orgelspiel verbunden, schon um ihn für seine Vertretung mehr zu befähigen. Was die theoretische Belehrung betrifft, die er selbst bezeugt, so können wir hier nur Bezug nehmen auf Gustav Nottebohms maßgebende Untersuchung in dem trefflichen Buche: »Beethovens Studien6«. Der Generalbaß, zu welchem ihm Neefe Anleitung gab, umfaßte nach damaligem Sprachgebrauche die Lehre von der Bezifferung und von der Harmonie. Mit der ersteren ist Beethoven wahrscheinlich sehr zeitig und vielleicht schon vor Neefes Unterricht bekannt gewesen, was man aus früheren Aufzeichnungen von Beethovens Hand, aus seiner fleißigen Übung des Orgelspiels sowie aus dem Umstande schließen darf, daß er schon 1782 Neefe bei der Hoforgel vertreten konnte. In der Harmonielehre fußte Neefe, seinem eigenen bei Hiller empfangenen Unterricht folgend, auf den Lehrbüchern, welche Rame aus Lehre von der Umkehrung der Akkorde in der Gestalt des leichtverständlichen Schematismus des Aufbaues von Dreiklängen und Septimenakkorden auf alle Stufen der Tonleiter angenommen hatten (Sorges Vorgemach musikalischer Komposition 1745–47, Marpurgs Handbuch beim Generalbaß und der Komposition 1755–60 und Kirnbergers »Die wahren Grundsätze zum Gebrauch der Harmonie« 1773), wohl mit Bevorzugung des neuesten derartigen Werkes, Kirnbergers »Kunst des reinen Satzes« 1774–79, welches durch Einarbeitung der Hauptlehrsätze von J. J. Fux' Gradus ad Parnassum (1725, deutsch von Mizler 1742) eine Art Mittelstellung zwischen der Lehre vom »strengen Satz« und dem herkömmlich für die Praxis des Akkompagnements schulenden Generalbaß vorstellte und den »reinen Satz« als einen neuen Terminus zu Ansehen[151] brachte. Daß Beethoven Kirnbergers Schriften kannte, wird durch Aufzeichnungen von ihm sichergestellt; daß er sich mit der Theorie der Ausweichungen beschäftigte, zeigen die 1789 geschriebenen Präludien durch alle Durtonarten, welche sich als Ergebnisse einer ihm gestellten Aufgabe darstellen. Wenn Neefe sagt: »jetzt übt er ihn in der Composition«, so ist dabei nicht an selbständige Kompositionen zu denken, sondern an Übungen in der Setzkunst, zu welchen der einfache Kontrapunkt, die Lehre von der Nachahmung und Fuge u.a. gehörten. Beethovens Kompositionen vor und nach dem Unterricht bei Neefe zeigen, wie Nottebohm nachweist, den Unterschied deutlich; die von ihm erwähnten Variationen enthalten noch keine Spur kontrapunktischer Stimmführung; eine zweistimmige Fuge für Orgel, wahrscheinlich 1783 geschrieben, beweist zwar Kenntnis der Form und Geschmack in der Ausführung, aber noch wenig technisches Geschick; auch die Sonaten von 1783 bieten in diesen technischen Dingen noch keinen bemerkenswerten Fortschritt. Aber schon in den Klavier-Quartetten von 1785 und in den späteren Bonner Kompositionen wird in der Handhabung der Nachahmungen und der sicherer werdenden Stimmführung der Einfluß der Lehre immer deutlicher erkennbar. Wir werden auf alle diese Kompositionen noch zurückkommen.

Außer der technischen Anleitung kommt es auf die Muster an, welchen der Knabe folgte. Wenngleich ihm auch hierbei sein Lehrer auf Grund seines weiteren Überblickes zur Hand sein konnte, so war doch auch ohnedies für den Knaben in dem häuslichen Musiktreiben und dem vielen, was er zu hören Gelegenheit hatte, eine reiche Quelle der Einwirkung geboten. Insbesondere lagen ihm für die Formen der Sonate und der Variation zahlreiche Vorbilder vor. Die dreisätzige Sonate in ihrer kurzen, gedrungenen Form war vornehmlich durch Karl Philipp Emanuel Bach ausgebildet, und es leidet keinen Zweifel, daß der junge Beethoven mit den Werken desselben bekannt war. Ob dies erst durch Neefe vermittelt wurde, der nach seiner eigenen Mitteilung Bach eifrig studierte, wird sich nicht feststellen lassen; vermutlich lernte er ihn schon zu Hause kennen. Die einzige Erwähnung von Beethovens Vater durch Ludwig in allen vom Verfasser eingesehenen Manuskripten (ein oder zwei offizielle Dokumente ausgenommen) findet sich auf einer unvollendeten Abschrift einer Bachschen Kantate (Morgengesang am Schöpfungstage), auf welcher von seiner Hand zu lesen ist: »Von meinem teuren Vater geschrieben.« Czerny berichtet, daß sein Unterricht im Klavierspiel bei Beethoven 1801 mit dem Studium der Klavierschule und der Klavierwerke [152] K. Ph. E. Bachs begonnen habe. Bachs »Versuch über die wahre Art das Klavier zu spielen« war eins der Werke, welche Beethoven 1809 bei Zusammenstellung seiner Materialien für den Kontrapunkt vorzugsweise benutzte, und so hat er auch in späterer Zeit Bachs Sonaten immer besonders geschätzt.

Die Hinweisung auf Sebastian Bachs Wohltemperiertes Klavier dürfen wir Neefe besonders verdienstlich anrechnen, namentlich weil er dem jungen Genie hierdurch ein Gegengewicht gegen den verflachenden Geschmack bot, welchen manche Kompositionen jener Zeit zeigten, an denen er schon nach seinen äußeren Verpflichtungen nicht vorbeigehen konnte. Durch das Spiel der Bachschen Präludien und Fugen, welche er auch in der Folgezeit noch viel übte, hat er nicht nur reiche Belehrung, sondern auch ein Muster der Nachahmung gewonnen, wie manche folgende Arbeiten (so das Präludium in F-moll) erkennen lassen. Zu seinem maßgebenden Vorbilde ist freilich Bach nicht geworden; das blieb im wesentlichen Mozart. Es ist ein bemerkenswertes Zeugnis für Neefes Einsicht und richtige Würdigung des jungen Genius, daß er ihn mit Mozarts frühem Ruhme in Vergleichung zog. Daß der junge Beethoven mit Mozarts Kompositionen schon im Vaterhause bekannt geworden war, darf als sicher angenommen werden. Seit 1784 hatte er fortgesetzt Gelegenheit, die neueren und größeren Werke desselben gleich kennen zu lernen, und der Einfluß derselben auf sein eigenes Schaffen ist seitdem fast überall nachzuweisen. Daß Neefe ihn hierbei unterstützt hat, darf wohl angenommen werden, wenn auch bestimmte Zeugnisse darüber fehlen. Überhaupt aber bot ihm weiterhin das Bonner musikalische Leben und seine eigene Beteiligung daran Gelegenheit genug, die bedeutendsten Kompositionen der gleichzeitigen deutschen, italienischen und französischen Meister für Bühne, Konzert und Kirche kennen zu lernen und daraus Vorbilder für sich selbst zu gewinnen, wobei man nicht immer auf Neefes Hinweisung zu schließen braucht.

Jedenfalls wird man anzunehmen haben, daß Neefe, seinem ganzen Charakter entsprechend, bei der Unterweisung des jungen Genies mit gewissenhafter Sorgfalt und »so gut er konnte« auch methodisch vorging. Wenn der Unterricht trotzdem lückenhaft blieb, so war dies in der Begrenztheit von Neefes eigenem Wissen und Können begründet. Hatte er doch, nach seinem eigenen Geständnis, eine eigentliche Schule in der Komposition selbst nicht durchgemacht, wenn ihn auch der Verkehr mit J. A. Hiller vielfach gefördert hatte. Nach seiner Stellung beim Theater [153] und seiner ganzen Geistesrichtung huldigte auch er dem Streben nach größerer Einfachheit und Verständlichkeit der Musik; in den schwierigeren polyphonen Formen war er selbst nicht sattelfest und konnte sie daher auch nicht überliefern; das hat Beethoven erst in Wien bei Albrechtsberger nachholen müssen. Dagegen brachte er dem jungen Künstler ein anderes Moment, welches für die Entwicklung gerade dieses Talentes nur günstig sein konnte. Seinen philosophischen Studien entsprechend liebte er es, die Erscheinungen in der Musik auf das seelische Leben des Menschen zu beziehen7, und hat nach dieser Seite hin gewiß nachdrücklich auf Beethovens Kunstanschauung eingewirkt. Vielleicht hat er auch durch Hinweisungen auf geschmackvolle Wendungen in Melodie und Harmonie, auf Mannigfaltigkeit bei Wiederholungen eines Gedankens u.a. jenen kritischen Sinn geweckt, den wir später bei Beethoven in so hohem Grade ausgebildet finden. Ob wir noch weiter gehen und mit Nottebohm sogar eine Einwirkung auf Beethovens sittlichen Charakter annehmen sollen, ist bei dem gänzlichen Fehlen von näheren Nachrichten über die persönlichen Beziehungen zwischen beiden bedenklich; undenkbar ist es nicht, daß der schon durch die Stellung bedingte fortgesetzte Verkehr mit einem persönlich achtbaren und für seine Kunst begeisterten Manne, gegenüber den weniger erfreulichen Eindrücken des Elternhauses, auch in menschlicher Hinsicht für Beethoven von Bedeutung gewesen ist. In Fischers Erinnerungen, wie noch hinzugefügt sei, wird auch Neefe und seine Frau unter den Personen genannt, welche im Beethovenschen Hause verkehrten. –

Die Mitteilung Neefes an Cramers Magazin erwähnt nun auch die Komposition, welche für uns als Beethovens erstes Werk gelten muß, die Variationen über einen Marsch von Dreßler (Ges.-Ausg. Serie XVII Nr. 166); die Worte des Berichts, der am 2. März 1783 geschrieben ist, lassen erkennen, daß das Werk ganz kurz vorher gedruckt worden ist8. Die Gräfin Wolff-Metternich, welcher sie gewidmet [154] sind, war die Gattin des Konferenzministers und Ober-Appellations-Gerichts-Präsidenten Johann Ignaz Graf von Wolf-Metternich zu Burgau und Gracht, welcher am 15. März 1790 in Bonn gestorben ist9; sie war also vermutlich eine Gönnerin und Beschützerin des jungen Künstlers, und die Bekanntschaft mag dem Knaben durch Neefe vermittelt worden sein. Neefe wird die Variationen aus mehreren bereits fertigen Kompositionen als besonders bemerkenswert ausgewählt haben. Dieselben sind, auch wenn nicht darauf stände: par un jeune amateur, als solche anzusehen, welche von jedem Unterricht unabhängig und daher gewiß vor dem Verkehr mit Neefe entstanden. Sie zeigen keine Spur von Anwendung besonderer Regeln der Setzkunst, von Nachahmung oder kontrapunktischer Stimmführung; die Form der Variation, für welche dem Knaben jedenfalls zahlreiche Muster vorlagen, wird auf Grund guter Beobachtung mit Geschick und klarer Gestaltung angewendet. Entweder wird die Melodie in einfachster Weise, doch nicht ohne Feinsinn figuriert, oder die Bewegung der Begleitung wird verändert, wobei eine gleichmäßige Fertigkeit beider Hände erstrebt wird. Man sieht, welche Anforderungen der Knabe hinsichtlich der Technik an sich selbst stellte; manche Züge derselben kehren in seinen späteren Werken wieder. Die Erfindung reicht nicht wesentlich über jene Figurierung der Melodie oder über die langsamere und schnellere Bewegung hinaus, und mehrfach erlahmt sie bei den Abschlüssen, wie man sich auch sonst des Eindruckes der Eintönigkeit nicht erwehren kann; am freiesten bewegt er sich in der letzten, in Dur gesetzten Variation. Aber ist jenes überhaupt ein Tadel bei dem 11 jährigen Knaben? Dem könnte man jedenfalls andere Betrachtungen gegenüberstellen. [155] Bemerkenswert für den Geschmack des Knaben ist schon die Wahl des pathetischen Mollthemas; bemerkenswert aber überhaupt die Schlichtheit der Bearbeitung, die Abwesenheit aller gesuchten Künstelei, die Abkehr von jeder Trivialität, die feste Gestaltung des Figurenwerks, sowie eine gewisse Gegensätzlichkeit in Ausdruck und Bewegung; es wird keinem schwer fallen, Beethoven auch in diesem Erstlingswerke zu erkennen. Verheißungsvoll beginnt er sein Schaffen mit der Variationen-Form, für welche er immer eine besondere Vorliebe behalten und in welcher er späterhin mehrfach seine herrlichsten Offenbarungen niedergelegt hat.

Ein weiteres, dieser frühen Zeit angehöriges Werk ist eine zweistimmige Fuge für Orgel in D »in geschwinder Bewegung« (Serie XXV, Nr. 309). Eine bei Artaria befindliche Abschrift derselben trägt die Aufschrift: »Verfertigt von Ludwig van Beethoven im Alter von 11 Jahren.« Gewiß stammt sie aus der ersten Zeit dieser Übungen im mehrstimmigen Satze, kann aber eine systematische Unterweisung noch nicht zur Grundlage haben. Der junge Künstler zeigt allgemeine Kenntnis der Form, Fähigkeit, das Thema angemessen einzuführen, zu zerlegen, weiter zu führen, Nachahmungen zu verwenden, alles aber so, daß Anlehnung an Vorbilder bei seinem Talente dies ebensogut zuwege bringen konnte, wie planmäßiger Unterricht, welchen einzelne Unebenheiten unwahrscheinlich machen. Nach Nottebohms Vermutung spielte Beethoven diese Fuge bei seiner »Erprüfung« als zweiter Hoforganist10. Diese Prüfung mußte, wenn sie in einer derartigen Probe bestand, vor dem Frühjahr 1784 erfolgt sein. Da nun das Alter (wie in Neefes Nachricht) auf 11 Jahre angegeben wird, so werden wir mit Rücksicht auf die Versuche, den Knaben jünger darzustellen, als er war, die Fuge dem Jahre 1783 zuzuweisen haben11.

[156] Wir nehmen den Faden der Erzählung wieder auf. Seit dem Erscheinen von Wegelers Notizen hat man immer angenommen, daß Beethoven 1785 seine Anstellung für die Orgel durch Max Franz erhielt, um ihm eine pekuniäre Unterstützung zu geben, ohne sein Gefühl des Stolzes und der Unabhängigkeit zu verletzen. Die Stelle als Neefes Gehilfe war jedoch keineswegs eine Sinekure; obgleich sie ihm nicht viel Arbeit machte, brachte sie doch manche Unbequemlichkeit mit sich. Die alte Orgel war bei dem Brande von 1777 zerstört worden, und ein kleines Kammer-Instrument nahm noch ihre Stelle ein. Durch die fortwährend wiederkehrende Notwendigkeit, bei dem Gottesdienst zugegen zu sein, wurde die Stellung eine beschwerliche. An allen Sonn- und regelmäßigen Feiertagen, sagt der Hofkalender, ist hohe Messe um 11 Uhr vormittags und Vesper um 3, zuweilen um 4. Die Vespern sollen in capellis solennibus durchaus von den Musikern des kurfürstlichen Hofes gesungen werden. Die mittleren Vespern werden von der Hofgeistlichkeit und den Musikern im Choral gesungen, mit Ausnahme des Magnifikat, welches mit Musik aufgeführt wird. An allen Mittwochen in der Fastenzeit soll das Miserere von der Kapelle um 5 Uhr nachmittags, und an allen Freitagen das Stabat mater gesungen werden; jeden Samstag um 3 Uhr nachmittags die Litanei am Altar unserer lieben Frau von Loretto. Jeden Tag das ganze Jahr hindurch sollen zwei Messen gelesen werden, die eine um 9, die andere um 11; an Sonntagen die letztere um 10.

Dieses Programm gab wenigstens dem Organisten etwas zu tun; und als Neefe am 20. Juni 1782 nach Münster reiste, ließ er seinem Schüler keine bloße Sinekure zurück. Vor dem Schlusse der Theatersaison des nächsten Winters (1782–84) war der Lehrer gezwungen, den Knaben noch für weitere Hilfeleistung in Anspruch zu nehmen.

»Im Jahre 1784«, schreibt die Witwe Neefe (Allg. M. Z. I, S. 360), »wurde meinem seligen Manne die einstweilige Direction über Kirchen- und alle andere Musik bei Hofe übertragen, weil der Churfürstliche Kapellmeister L. auf einige Monate verreiste.« Das Datum ist unrichtig, denn [157] Lucchesis Bitte um Urlaub wurde am 26. April 1783 gewährt (s. o., S. 62). So mit Geschäften überhäuft, konnte Neefe nicht länger die Theaterproben am Klavier leiten, und Ludwig, jetzt 12 Jahre alt, wurde auch Cembalist im Orchester. In jenen Tagen war jedes Orchester mit einem Klavier versehen, an welchem der Dirigent die Aufführung leitete, indem er aus der Partitur spielte. Hier war also zum Teil der Ursprung jener wunderbaren Fertigkeit, mit welcher Beethoven in späteren Jahren seine Zuhörer in Staunen setzte, indem er die schwersten und verwickeltsten Partituren vom Blatte las und spielte. Die Stellung als Cembalist war eine ebenso ehrenvolle wie verantwortliche. Das Duell zwischen Händel und Mattheson12 beruhte auf dem Umstande, daß ersterer das Klavier nicht bei einer bestimmten Gelegenheit vor dem Schlusse der Oper verlassen wollte. Gaßmann setzte den jungen Salieri an das Klavier der kaiserlichen Oper, weil er darin das beste Mittel sah, ihn zu dem großen Dirigenten zu bilden, der er nachher geworden ist. Das war auch der hohe Ehrenplatz, den man Haydn gab, als er in London war. Für Beethoven war es der Platz, an welchem er, wie Mosel von Salieri sagt, »was er zu Hause aus Büchern und Partituren lernte, dort praktisch sich eigen machen könne«. Überdies war es die Stelle, in welcher er schon als Knabe die populären französischen, italienischen und deutschen Opern des Tages zum Überdruß hören konnte, und wo er fühlen lernte, daß etwas Höheres und Edleres gefordert werden mußte, um die tieferen Gefühle des Herzens zu rühren; eine Stelle, welche, wenn der Kurfürst zehn Jahre länger gelebt hätte, der Welt vielleicht noch einen weitern nicht nur großen, sondern fruchtbaren, ja unerschöpflichen Opernkomponisten gegeben haben würde.

Die Verpflichtungen des Cembalisten kamen ohne Zweifel für diese Saison durch die Abreise des Kurfürsten nach Münster (im Mai oder Juni) zu ihrem Ende, und er gewann dadurch Zeit für andere Arbeiten, zu welchen auch die Komposition gehörte.

Ein Lied, »Schilderung eines Mädchen«, wurde in Boßlers »Blumenlese für Liebhaber« von 1783 (Speyer) gedruckt mit der Angabe »von Herrn Ludwig van Beethoven, alt eilf Jahr13«. Es ist durchaus kindlich und anspruchslos; die schlichte Melodie macht nicht den Eindruck, als sei sie durch den albernen Text, der auch dem Knaben nichts sagen [158] konnte, hervorgerufen14; nur an einer Stelle könnte man die Spur eines beabsichtigten Ausdrucks vermuten. Die Deklamation der Worte ist nicht musterhaft; der Schluß bietet eine rhythmische Unebenheit. Das Lied ist, wie in älterer Zeit üblich, nur auf zwei Systeme geschrieben; die Begleitung geht vollständig mit der Melodie und hat daneben kurze Zwischenspiele. An diesem kleinen Stücke ist Neefes Unterricht gewiß unbeteiligt; doch wird er den Druck vermittelt haben.

Ein namenloses Rondo in C-dur, welches in der genannten Sammlung auf jenes Lied folgt, ist nach des Verfassers Vermutung15 ebenfalls von Beethoven. Diese Vermutung ist durch Max Friedländer sozusagen zur Gewißheit erhoben; derselbe hat das Rondo in dem Jahrbuche der Musik-Bibliothek Peters für 1899 (S. 68f.) herausgegeben und besprochen. Das Stück folgt unmittelbar auf die »Schilderung eines Mädchen«; dieser ist der Name Beethovens beigefügt, dem Rondo nicht, während sonst alle Stücke des Jahrgangs mit Namen bezeichnet sind. In ganz gleicher Weise ist in einem späteren Jahrgange der Blumenlese einem Liede von Schmittbauer ein nicht mit Namen bezeichnetes Klavierstück beigefügt, welches sich anderweitig ebenfalls als eine Komposition Schmittbauers herausgestellt hat (nach Friedländers freundlicher Privatmitteilung an den Herausg.). Diese äußere Gewähr wird durch den Charakter des Stückes bekräftigt; der Zuschnitt der Melodie und ihre Fortsetzung, die Modulation, die Klavierpassagen, alles ist den Arbeiten jener frühen Zeit entsprechend; die Einschiebung des Mollsatzes mit dem schönen Übergange nach Es (mit neuer Melodie), und dann wieder der Rückgang nach C, zeigt in solchem Maße die Eigenart und die ungewöhnliche Begabung des jungen Künstlers, daß man nur an Beethoven denken kann. Kleine Unebenheiten können den Gesamteindruck nicht schwächen. Nach Friedländers Darlegung darf man wünschen, daß das Stück in einem Nachtrage der Gesamtausgabe Aufnahme finde.

[159] Ein wichtigeres Werk, welches vor dem Schlusse des Jahres 1783 durch Boßler veröffentlicht wurde, mit einer hochtönenden Widmung an Max Friedrich, sind die drei Sonaten für Pianoforte, nach dem Titel »verfertiget von Ludwig van Beethoven, alt 11 Jahr16«. Der Leser wird urteilen, ob es nicht vielmehr 12 heißen müsse. Folgendes ist die dem Werke vorgesetzte Widmung:


»Erhabenster!


Seit meinem vierten Jahre begann die Musik die erste meiner jugendlichen Beschäftigungen zu werden. So frühe mit der holden Muse bekannt, die meine Seele zu reinen Harmonieen stimmte, gewann ich sie, und wie mirs oft wohl däuchte, sie mich wieder lieb. Ich habe nun schon mein eilftes Jahr erreicht; und seitdem flüsterte mir oft meine Muse in den Stunden der Weihe zu: ›Versuch's und schreib einmal deiner Seele Harmonieen nieder!‹ – Eilf Jahre – dacht ich – und wie würde mir die Autormiene lassen? und was würden dazu die Männer in der Kunst wohl sagen? Fast ward ich schüchtern. Doch meine Muse wollt's – ich gehorchte, und schrieb.

Und darf ich's nun Erlauchtester! wohl wagen, die Erstlinge meiner jugendlichen Arbeiten zu Deines Thrones Stufen zu legen? und darf ich hoffen, daß Du ihnen Deines ermunternden Beifalles milden Vaterblick wohl schenken werdest? – O ja! fanden doch von jeher Wissenschaften und Künste in Dir ihren weisen Schüzzer, großmüthigen Beförderer, und aufsprießendes Talent unter Deiner holden Vaterpflege Gedeihen. –

Voll dieser ermunternden Zuversicht wag ich es mit diesen jugendlichen Versuchen mich Dir zu nahen. Nimm sie als ein reines Opfer kindlicher Ehrfurcht auf und sieh mit Huld

Erhabenster!


auf sie herab und ihren jungen Verfasser

Ludwig van Beethoven.«


Diese Widmung stammte wohl so nicht aus der Feder des Knaben; Neefe wird dabei reichlich das Seinige getan haben, wenn er sie nicht etwa ganz geschrieben hat. Die Sonaten, die erste größere Komposition [160] Beethovens, haben ihr Vorbild in den dreisätzigen Klaviersonaten Ph. E. Bachs17, welcher die Form ausgebildet hatte, und welchem dann Haydn, Mozart und andere gleichzeitige Komponisten folgten. Unter diesen befand [161] sich Neefe, welcher 1774 eine Anzahl Klaviersonaten veröffentlicht und die erste Sammlung Ph. E. Bach gewidmet hatte. Man wird doch wohl annehmen dürfen, daß er sie dem jungen Beethoven zum Spielen gegeben hat, und bei der Vergleichung der Beethovenschen mit den Neefeschen Sonaten ergibt sich, bei aller Selbständigkeit des inneren Gehalts, im Aufbau, der Behandlung von Melodie und Begleitung und selbst in der Klaviertechnik eine ganz auffallende Verwandtschaft. Auch Haydnsche und Mozartsche Kompositionen dieser Art hat er gewiß schon gekannt; doch regt sich erkennbar schon die eigene Individualität. Die Melodien sind alle fest und klar geformt, manchmal für das Alter überraschend kühn und kräftig, dann wieder weich und anmutig. Auch in der Modulation beweist er nicht nur gute Kenntnis seiner Vorbilder, sondern selbständige Handhabung der Erfordernisse; hält er sich auch von kühnen Versuchen zurück, so zeigt sich doch auch hier schon in manchen kleinen Zügen der eigene Geist; nur vereinzelt wird man kleinen Ungeschicklichkeiten begegnen. Mehrfach versucht er sich in der Imitation, wohl nicht ohne den Einfluß des Lehrers. Die rhythmische Gestaltung ist meist klar und korrekt, doch finden sich in dieser Hinsicht auch Unebenheiten. Die Form der Sätze ist die überlieferte; er wendet dieselbe nach dem herkömmlichen Schema sicher und mit gutem Verständnisse an, macht keine langen Entwicklungen und Übergänge, sondern bringt in knapper Gestaltung, was er sagen will. In den ersten Sätzen läßt er den zweiten Teil wie den ersten beginnen, von ausgedehnten Durchführungspartien oder ausgedehnten Abschlüssen ist keine Rede. Hervorzuheben ist hier der erste Satz der zweiten Sonate in F-moll; er läßt sie mit einem langsamen Einleitungssatz beginnen, welcher schon ganz an das edle Pathos späterer Jahre erinnert, und läßt später diesen Einleitungssatz, ehe das Thema wiederkehrt, nochmals erklingen; man denke an die wenn nicht gleiche, doch ähnliche Erscheinung in der Sonate pathétique. Auch im übrigen zeigt die Sonate jenen Zug des Ernstes und der Energie schon vorgebildet, der aus Beethovens weiterem Schaffen bekannt ist. Zu ihr bildet dann die dritte (D-dur) durch die Anmut und Frische in Erfindung und Gestaltung einen hübschen Gegensatz. Auch die langsamen Sätze gestaltet er in den beiden ersten Sonaten zweiteilig gleich dem ersten Satze, nur entsprechend kürzer; in der dritten bringt er an dieser Stelle ein Menuett mit Variationen, ähnlich behandelt wie jene früher besprochenen, nur seiner und selbständiger in der Figurierung; zu bemerken ist die synkopierte Bewegung in der Mollvariation, welche sich ähnlich bei Neefe findet. Der letzte Satz hat [162] in der ersten Sonate Rondoform, die am Schlusse nicht ganz geschickt behandelt ist; in den beiden andern ist der Schlußsatz zweiteilig; reizend ist namentlich der der dritten Sonate. Besonderen Wert legt er offenbar auf das klaviertechnische Moment; wir erkennen, was er selbst leistete und von andern forderte. Das reiche Figurenwerk, in harmonischen Gängen und freier gestalteten Passagen bestehend und auf beide Hände verteilt, fordert größte Genauigkeit und Klarheit der Darstellung und Sauberkeit des Vortrages; darauf deutet der junge Meister selbst hin, wenn er den Wechsel von Legato und Staccato stets genau angibt, Dinge, auf welche er später noch in seinen Studien großen Wert legte18. Aber auch im übrigen fordert er bedachtsamen, geschmackvollen Vortrag. Eine Bemerkung sei hier nicht unterdrückt. So wohl gesetzt das Figurenwerk im einzelnen ist, so kann man sich doch an manchen Stellen des Eindrucks nicht erwehren, als trete dasselbe um seiner selbst willen auf und wachse nicht organisch aus dem Gedanken des Stückes hervor. Aber auch wenn man das zugibt, und wenn man dann zuweilen ein Stocken der musikalischen Phantasie, eine Leerheit der harmonischen Gestaltung, eine Steifheit in manchen Übergängen, auch wohl hin und wieder überlieferte Phrasen und Neigung zu den philiströsen Verzierungen der älteren Schule zu finden glaubt, so wird man doch bei einem Erstlingswerk damit nicht scharf ins Gericht gehen, vielmehr auch darin das Kindlich-Naive dieses ersten Auftretens erkennen dürfen. Die Sonaten bleiben ein bemerkenswertes Zeugnis nicht nur für die früh entwickelte Erfindungsgabe und den sicheren Formensinn, welcher schon den Knaben kennzeichnet, sondern auch für den Ernst in Verfolgung seiner künstlerischen Aufgabe. Ohne Streben nach kühner Neuerung, nach Auffallendem und Überraschendem tritt er schlicht und unbefangen auf den Plan; er gibt sich, wie er ist, ohne irgendwie mehr scheinen zu wollen. –

Wir kehren einen Augenblick zu Beethovens Familienangelegenheiten zurück. Der Sommer 1783 hatte neue Sorgen gebracht. Das Kind Franz Georg, jetzt gerade 21/2 Jahre alt, starb am 16. August. Das war ein neuer Schlag des Mißgeschickes, der das Herz des Vaters verwundete zu einer Zeit, in welcher auch seine pekuniären Verlegenheiten immer größer wurden. Er verlor damals seine Stimme; in einem im folgenden Sommer verfaßten Bericht wird er als ein Mann »von ziemlicher Aufführung« charakterisiert.

[163] Waren die Geschäfte Neefes in der letzten Saison mühsam gewesen, so wurden sie in der folgenden, 1783–84, noch lästiger. Diese Saison war die erste nach dem neuen Kontrakte, nach welchem der Kurfürst alle Kosten des Theaters übernahm, und eine Frau, Madame Großmann, die Leitung erhielt. Es war in jeder Beziehung wichtig für Sänger, Schauspieler und alle dabei Beteiligten, daß das Ergebnis dieses Unternehmens für den Unternehmer befriedigend ausfallen möge; und da die Oper mehr nach seinem Geschmacke war als das gesprochene Drama, so war Neefes Aufgabe um so viel schwieriger. Außer seiner Tätigkeit als Kapellmeister an Stelle des noch abwesenden Lucchesi mußte er alle Vormittage bei der »Singprobe«, von welcher Frau Großmann an Hofrat Tabor schreibt, zugegen sein; es gab immer neue Musik zu prüfen, zu arrangieren, abzuschreiben, zu komponieren, sowie andere Dinge, auf die er sein Augenmerk richten mußte; kurz, er hatte alles zu tun, was man nur einem Theaterkapellmeister mit 1000 Gulden Gehalt aufbürden konnte.

Es kam daher eine geschäftige Zeit für seinen jungen Gehilfen, welcher noch nicht als Mitglied der Hofmusik angestellt war, nicht einmal als Akzessist (der letzte Organist-Akzessist war Meuris, 1767, s. o., S. 53), und folglich noch kein Gehalt von Hofe bezog. Doch hatte er bereits mehr wie das gewöhnliche Prüfungsjahr vollendet, dem die Kandidaten unterworfen waren, und seine Talente wie seine Fertigkeit waren bekannt genug, um seine Bitte um eine Anstellung zu unterstützen. Sein Bittgesuch hat sich nicht gefunden, wohl aber der Bericht, welcher darüber an den geheimen Rat erstattet wurde. Er hat folgende Aufschrift:


»Bonn den 29. Febr. 1784.


Obristhofmeister Graf v. Salm, in Betr. des um die Adjunction auf den Hoforganisten supplicirenden Ludwig van Betthofen ist der unmaßgebigen Meinung, daß ihm diese Gnade zu verleihen, auch eine geringe Zulage zu seinem einsweiligen Unterhalte ggst auszuwerfen sey.«


und lautet folgendermaßen:


»Hochwürdigster Erzbischof und Kurfürst

gnädigster Herr Herr!


Ew. Kurfürstl. Gnaden haben gnädigst geruhet auf die von dem Ludwig van Betthoven an Höchstdieselbe unterm 15ten dieses unterthänigst überreichte Bittschrift meinen gehorsamsten Bericht abzufoderen.

[164] Zu gehorsamster deßen Befolgung ohn Verhalte unterthänigst, wasgestalten des Supplikanten Vatter bereits 29 und Groß-Vatter in die 46. Jahr Ew. Kurfürstl. Gnad. und höchst Dero Vorfahrn gedienet, Supplikant auch nach vorgegangener gnugsamen Erprüfung und gefundenen sattsamen Fähigkeit zu der Hof-Orgel, welche er bei oft überkommender Abweßenheit des Organisten Neffe bald zu der Comoedienprob, bald sonsten ohnehin öfters tractiret, und führohin in solchem Fall tractiren wird, Ew. Kurfürstl. Gnad. auch für deßen Besorgniß und etwaiger Subsistenz (welche sein Vatter ihm länger herzureichen ganz außer stand ist) die gnädigste Zusage gethan, daß bei des unterthänigst-ohnzielsezlichen dafürhaltens, daß in Rücksicht ob angeführten Ursachen Supplicant wohl verdiene mit der Adjunction zu der Hof-Orgel nebst einer kleinen von Ew. Kurfürstl. ihm mildest Beizulegenden Zulage begnädiget zu werden.

Zu Ew. Kurfürstl. Gnad. Höchsten Hulden empfehle mich unterthänigst, und harre in tiefester Erniedrigung


Ew. Kurfürstl. Gnad.


Unterthänigst-trew gehorsamster


Bonn 23. Feb. 1784.Sigismund Altergraff zu

Salm und Reifferscheid.«


Darauf wurde verfügt:


»Ad sup.


Ludwig van Beethoven


auf erstatteten ghsten Bericht,

Beruhet des Supplicanten

unthgste Bitte.


Urkund. p.Bonn den 29. Febr. 1784.«


Auf dem Umschlage heißt es noch einmal:


»Ad Sup.


Lud. van Betthoven.


beruhet.Sig. Bonn den 29. Febr. 1784.«


Die Notwendigkeit der Sache, die warme Empfehlung Salm-Reifferscheids, außerdem wahrscheinlich auch des Kurfürsten eigene Kenntnis von der Fähigkeit des Kandidaten und vielleicht die in der Dedikation der Sonaten liegende Schmeichelei (denn in jener Zeit waren [165] Dedikationen nur halb verkleidete Bewerbungen um Gunstbezeugungen) waren hinreichende Beweggründe für Seine Durchlaucht, den jungen Organisten wenigstens in der Stellung zu befestigen, welche ihm Neefes Wohlwollen schon seit beinahe zwei Jahren angewiesen hatte. Die Meinungen über die Bedeutung des Wortes »beruhet« sind verschieden19; aber so viel ist gewiß, daß Beethoven nicht erst im Jahre 1785 durch Max Franz auf Ansuchen des Grafen Waldstein als zweiter Hoforganist angestellt wurde, sondern im Alter von 13 Jahren, früh im Frühjahre des Jahres 1784 durch Max Friedrich und auf sein eigenes durch den Einfluß Neefes und Salm-Reifferscheids unterstütztes Bittgesuch20. Die Anstellung war erfolgt, über die Besoldung aber noch nichts bestimmt, als ein Ereignis eintrat, welches eine völlige Umwandlung in den Theaterverhältnissen Bonns mit sich brachte: der Kurfürst starb am 15. April, und die Theatergesellschaft wurde mit einem Gehalte für 4 Wochen entlassen. Da war nun kein ferneres Bedürfnis nach einem zweiten Organisten vorhanden; und es war wenigstens ein Glück für den neuen Gehilfen, daß sein Name (in den unten mitzuteilenden Berichten) vor die Augen von Max Friedrichs Nachfolger als stehendes Mitglied der Hofmusik trat, wenn auch »ohne Gehalt«. Lucchesi kehrte nach Bonn zurück; Neefe hatte nichts zu tun, als seine Orgel zu spielen, Musikstunden zu geben und seinen Garten vor der Stadt zu pflegen; es dauerte längere Zeit, ehe eine Verkettung von Umständen eintrat, welche den ökonomischen Max Franz veranlassen konnte, einen Adjunkten des Organisten anzustellen. Es traf sich demnach glücklich, daß durch einen der letzten Regierungsakte21 des hingeschiedenen Kurfürsten dem jungen Beethoven die Stelle gesichert war.

[166] Im Zusammenhange mit den biographischen Angaben fordert die Wohnungsfrage noch eine kurze Betrachtung. Die würdige Witwe Karth (wie früher bemerkt, im Jahre 1780 geboren) wußte sich keiner Zeit ihrer Kindheit bis zum Tode Johanns van Beethoven zu erinnern, in welcher er und seine Familie nicht in der Wohnung über der ihrer Eltern, Wenzelgasse 476, gewohnt hätten. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, daß schon zu der Zeit, in welcher möglicherweise bei einem Kinde sich Erinnerungen bilden können, die Familie diese Wohnung innehatte, falls andere Angaben entgegenstehen. Im Februar 1784 fand die große Rheinüberschwemmung statt, deren Schrecken in der Erinnerung der Bonner lange fortgelebt haben. Diese erlebte die Familie Beethoven noch in der Rheingasse. Der Fischersche Bericht erzählt ausdrücklich und diesmal ersichtlich aus bestimmter Familienerinnerung, daß Frau van Beethoven den Bewohnern Mut zugesprochen habe, daß aber, als die Sache schlimm wurde, die Familie auf Leitern und Brettern in das Hinterhaus nach der Giergasse gerettet worden sei22. Ein Musiker Philippart (s. o., S. 64), der auf der Stockenstraße in der goldenen Kette wohnte, habe sie so lange bei sich aufgenommen, bis sie die Wohnung wieder beziehen konnten. Ludwig und Kaspar hätten noch oft von dieser Überschwemmung erzählt. Die weiteren Erzählungen Fischers lassen aber Verwirrung des Gedächtnisses erkennen. Im Jahre 1785, erzählt er, habe sein Vater der Familie Beethoven wegen der durch das viele Musizieren verursachten Unruhe23 die Wohnung gekündigt, sie habe ein anderes Haus in der Rheingasse bezogen, sei aber nach ungefähr einem Jahre aus Anhänglichkeit wieder zurückgekehrt. Am 15. Mai 1788 sei sie zum letzten Male ausgezogen, und zwar in die Wenzelgasse, um ein billigeres Quartier zu erhalten. Den Irrtum in der Zeitbestimmung gibt Fischer unbewußt selbst zu, wenn er sagt, daß Frau van Beethoven in letzterem Hause gestorben sei. Sie starb, wie wir noch anzuführen haben, am 17. Juli 1787; Frau Karth aber hatte sie als Kind von der holländischen Reise erzählen hören. Also hatte die Familie doch schon einige Zeit vorher dort gewohnt. Jener Auszug von 1785 aus dem Fischerschen Hause dürfte daher der letzte gewesen sein, wenn wir überhaupt auf [167] die Chronologie bei Fischer etwas geben wollen; die übrigen Umzüge müßten dann, wenn sie wirklich stattgefunden haben, früher anzusetzen sein24.

Wir haben noch der Kompositionen aus dem Jahre 1784 zu gedenken, wenn wir auch dadurch schon in die folgende Regierungszeit hinübergreifen. In der »Neuen Blumenlese für Klavierliebhaber« von 1784 (Speier beim Rat Boßler), T. I, S. 18, 19 erschien ein Rondo für Pianoforte in A-dur »dal Sigre van Beethoven«25, ein anmutiges, in der Form klar gestaltetes Stück, welches in den Motiven und einzelnen klaviertechnischen Zügen schon gesteigerte Reise und selbständigen Zug verrät. Dieselbe brachte T. II, S. 44 ein Lied (Arioso) »An einen Säugling. Von Hrn. Beethoven«, Text von Wörths26, ein kurzes, schlichtes Strophenlied mit Vor- und Nachspiel; auch hier geht die Begleitung ganz mit der Singstimme, auf den Ausdruck einer besonderen, durch den Text hervorgerufenen Stimmung ist es nicht abgesehen, und nur zweimal scheint er Worte der ersten Strophe durch die Musik hervorheben zu wollen; im ganzen scheint er nur zu dem poetisch nicht bedeutenden Texte eine wohlklingende Musik geben zu wollen, deren Fortgang stellenweise nicht ganz geschickt gesetzt ist.

Wichtiger als diese kleinen Arbeiten ist ein Klavierkonzert in Es-dur, welches in Abschrift im Besitze von Dr. Prieger in Bonn sich befand27 (früher in der Artariaschen Sammlung) und von Knabenhand die Aufschrift trägt: un Concert pour le Clavecin ou Fortepiano composé par Louis van Beethoven agé de douze ans. Da Beethoven in jenen Jahren regelmäßig um mindestens ein Jahr jünger angegeben wird, als er war – in den Sonaten 1783 nennt er sich elfjährig – so ist das Konzert in das Jahr 1784 zu setzen. Vorhanden ist nur die Klavierstimme, doch sind die Vor- und Zwischenspiele des Orchesters an den betreffenden Stellen, für Klavier übertragen, beigefügt. Aus den Angaben in denselben scheint hervorzugehen, daß das Orchester ein kleines war und nur aus dem Streichquartett, Flöten und Hörnern bestand. Die Stimme ist von Beethoven revidiert, es sind Vortragszeichen beigefügt und einzelne Stellen gestrichen. Nachdem das Werk lange Zeit unbekannt geblieben [168] war28, ist es endlich in neuester Zeit im Supplement der großen Gesamtausgabe durch Guido Adler veröffentlicht worden29.

»Klavierkonzerte spielt Herr v. Beethoven«, heißt es in einem Berichte über das Personal der Hofmusik aus dem Jahre 1791; da er sich schon früh bei Hofe produziert hatte, können wir uns leicht erklären, daß er auf Grund seiner steigenden Fertigkeit zu der späteren Stellung berufen wurde. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er gerade in diesem Jahre des Regierungswechsels (1784) das Konzert schrieb, um sich bei dem neuen Kurfürsten einzuführen.

Auf Geltendmachung technischer Fertigkeit ist das Werk denn auch vorzugsweise gerichtet; musikalisch zeigt es gegenüber den Sonaten keinen wesentlichen Fortschritt. Der erste Satz bringt in dem Vorspiele ein ganz frisches, festlich klingendes Thema, dem nach kurzer Entwickelung ein zweites sanfteres folgt, etwas an Mozart anklingend; alles einfach, die Knabenhand zeigend, rhythmisch nicht immer gewandt. Die Solostimme führt sich dann nicht, wie man es sonst gewohnt ist, mit dem Thema ein, sondern bringt ihre eigenen, vorwiegend in lebhaften Passagen sich ergehenden Motive; nur nach dem ersten Ritornell nimmt sie kurz das Thema desselben auf. Auch in dem Figurenwerk verfolgen wir klare, übersichtliche Gedanken, die vielleicht vom Orchester, welches hier nicht angegeben ist, noch mehr ins Licht gestellt werden. Von Interesse ist es, zu sehen, was der Knabe mit seinen kleinen Händen damals leisten konnte; wir begegnen rasch eilenden Passagen, in Tonleitern, gebrochenen Akkorden und freieren Figuren bestehend; die linke Hand wird für dieselben ebenfalls stark in Anspruch genommen, auch Läufe in Doppelgriffen finden sich, und es wird große Geläufigkeit und Treffsicherheit gefordert, während gesang- und gemütvoller Vortrag getragener Stellen weniger verlangt wird. Im Modulieren sehen wir noch wenig Übung; Ausweichung in die Molltonart und manche bei Beethoven spätere beliebte Harmonien, so die übermäßigen Quintsextakkorde, finden wir angewandt. Die Vorbereitung der Kadenz ist die allgemein übliche, von Mozart her allbekannte. Das Larghetto bringt eine schlichte, wohlklingende Melodie ohne besondere Eigenart; auch hier geht die Solostimme nur ausnahmsweise auf dieselbe ein, während sie im übrigen wieder ganz ihre eigenen Gedanken ausführt [169] und sich in ausgedehntem Passagenwerk ergeht, dessen Vortrag Geläufigkeit und Zartheit fordert. Einmal scheint es ihm selbst zuviel geworden zu sein, da er eine längere Stelle bei der Revision streicht30. Der letzte Satz entspricht wohl am meisten den Forderungen, welche wir an den musikalischen Inhalt stellen. Hier beginnt das Klavier mit einem lebhaften, munteren Thema, welches dann vom Orchester aufgenommen wird und der Rondoform entsprechend nach verschiedenen Seitensätzen immer wiederkehrt. Zur Beurteilung des belebten Figurenspiels vermißt man sehr die Kenntnis der Orchesterbegleitung. Melodisch bringt der Satz fast zuviel, noch gegen den Schluß tritt ein Nebenthema außer den übrigen ziemlich unorganisch auf. Ein gewichtiges Seitenthema in Es-moll mahnt überraschend an spätere Beethovensche Eigenart; es stimmt beinahe überein mit dem E-moll-Thema, welches in derG-dur-Romanze (op. 40) als Gegensatz auftritt. Der Schluß mit dem Hauptthema ist etwas abgebrochen.

Der junge Künstler hat in diesem Konzerte, bei noch nicht vollständig entwickelter Erfindungs- und Gestaltungskraft, ersichtlich dem Geschmacke der Zuhörer entgegenkommen, vor allem aber seine Technik zeigen wollen; diesem Zwecke war die musikalische Darstellung untergeordnet. Daß er Mozartsche Werke entsprechender Art kannte, darf man wohl annehmen; eine unmittelbare Anlehnung an Mozartsche Konzerte aus jüngeren Jahren [170] läßt sich nicht erkennen, und man kann denselben auch im übrigen dieses Beethovensche nicht an die Seite stellen. Beethoven hat das Konzert vermutlich ein oder auch mehrere Male gespielt, hat aber wohl gewußt, weshalb er es nicht herausgab und auch später kaum noch Gebrauch mehr davon machte.

Ein dreistimmiger Satz von vier Seiten, gleichfalls früher in der Sammlung von Artaria, ohne Titel, Datum und Bemerkung irgendwelcher Art, ist, nach dem Charakter der Handschrift zu urteilen, ebenfalls eine Komposition aus dieser Periode31. –

Die Witwe Karth erinnerte sich vollkommen Johanns van Beethoven als eines großen, schönen Mannes mit gepuderten Haaren32; nach der Beschreibung von Ries und Simrock (an Dr. Müller) war Ludwig »als Knabe kräftig, fast plump organisirt von Körper«33. Wie leicht malt sich die Phantasie dieselben aus, den stattlichen Mann, wie er durch die Straßen Bonns zur Kapelle oder zur Probe ging, mit dem kleinen Knaben an seiner Seite, und den befriedigten Ausdruck des Vaters in dem Gefühle, daß das Kind die Stellung und die Verpflichtungen eines Mannes erfüllte.

Fußnoten

1 So bei Hesse, a. a. O. S. 214. Der Verfasser schrieb Kocks. War es vielleicht die Wirtin aus dem Zehrgarten? Ein Klemmer findet sich unter denen, welche sich in Beethovens Stammbuch verewigten. Anm. d. Herausg.


2 Spaziers Berlinische Mztg. 1793, 26. Okt.


3 Man versteht erst vollkommen sowohl den Tadel Neefes, als Beethovens widerstrebende Aufnahme desselben, wenn man den Gegensatz der »strengen Leipziger Schule«, d. h. überhaupt der konservativen norddeutschen, auch die »Berliner« genannten, und der neue Töne anschlagenden süddeutschen (Mannheimer und nachher Wiener) begriffen hat, wie ihn die gedruckt und handschriftlich verbreitete Literatur beider belegt. Beethoven war in die neue Richtung bereits so stark hineingewachsen und fühlte sich mit Mozart und Haydn so sehr auf einem Boden, daß Neefe auf heftigen Widerstand stoßen mußte. Um so mehr ist es demselben aber Dank zu wissen, daß er Beethoven mit Seb. Bachs Wohltemperiertem Klavier (das damals nur in Abschriften existierte) vertraut gemacht hat. Beethoven wurde dadurch zwar in keiner Weise aus der eingeschlagenen Richtung gedrängt, wohl aber in der durch seine Veranlagung gegebenen Neigung zur Vertiefung und Potenzierung des Ausdrucks bestärkt. Das bedeutsamste Zeugnis von Beethovens Studium des Bachschen Stils ist das 1787 komponierte Präludium in F-moll. Dagegen sind die zweistimmige Orgelfugette in D-dur und die zwei gewaltsamen Durchpeitschungen des Quintenzirkels mit je einer thematischen Figur ganz offenbar richtige Schularbeiten, die höheren Wertes entbehren. H.R.


4 Jahrg. 1, S. 394.


5 Vgl. G. Nottebohm in der gleich (Anm. 2) zu nennenden Schrift. D. H.


6 Beethovens Studien. Erster Band. Beethovens Unterricht bei J. Haydn, Albrechtsberger und Salieri. Von Gustav Nottebohm. Leipzig und Winterthur, Rieter-Biedermann. 1873.


7 Nottebohm, a. a. O. S. 17.


8 Der Titel der ersten, bei J. M. Götz in Mannheim erschienenen Ausgabe lautete: Variations pour le Clavecin sur une Marche de Mr. Dresler, composées et dediées à son Excellence Madame la Comtesse de Wolfmetternich, née Baronne d'Assebourg, par un jeune amateur Louis van Beethoven, agé de dix ans. 1780. So nach Nottebohm in dem von ihm besorgten Thematischen Verzeichnis S. 154. Da seine Notizen zu Thayers chronol. Verzeichnis die Jahreszahl 1780 nicht enthalten, so ist sie dort wohl irrtümlich beigefügt. In dem Verzeichnis delle Sinfonie etc., che si trovanno in manoscritto nella officina di Breitkopf in Lipsia, steht unter den Sachen von 1782, 1783 und 1784: Variations de Louis van Beethoven, age de dix ans, Mannheim, worauf das Thema folgt. Das Fischhoffsche Manuskript sagt: »im 10ten Jahre seines Alters, ohne noch Unterricht in der Composition erhalten zu haben, schrieb B. Variationen über ein Thema von Dreßler, die zuerst in Mannheim bei Götz aufgelegt wurden«. Bei der systematischen Herabsetzung seines Alters um 1–2 Jahre führt auch das wiederholte »10 Jahr.« oder »im 10. Jahr« auf das Jahr 1782. Ernst Christoph Dreßler war Opernsänger in Kassel. Vgl. Nohl I, S. 95, 372, Gerber im älteren Lexikon, Meusels Miscellaneen Heft 20 (1784). Gerber gibt als Datum seines Todes den 6. April 1779; doch ist sein Name noch in Forkels musik. Almanach von 1782 S. 140 verzeichnet. [Heute, wo wir über die gewaltige Ausdehnung und den großen Einfluß der Musik der Mannheimer Schule orientiert sind, gewinnt es eine besondere Bedeutung, daß der erste deutsche Hauptverleger des Mannheimer Nachwuchses, Johann Michel Götz in Mannheim, als Erster ein Werk Beethovens druckte. H.R.]


9 Diese Mitteilungen verdankt der Herausgeber der Güte seines Freundes, Herrn Dr. A. Bischof, Standesbeamten in Bonn.


10 S. u. den Bericht Salm-Reifferscheids vom 29. Febr. 1784.


11 Die von dem Verfasser an dieser Stelle und in seinem chronologischen Verzeichnisse (2) aufgenommenen Bagatellen für Klavier (Op. 33) müssen aus der Zahl der frühen Kompositionen ausgeschieden werden. Die Aufschrift des Originalmanuskripts: »Des Bagatelles, par Louis van Beethoven. 1762.« hat keine Beweiskraft, da eines der Stücke erweislich erst um 1802 komponiert, ein anderes zwischen 1799 und 1301 entworfen ist (vgl. Nottebohm, ein Skizzenbuch Beethovens, S. 12 und 40, Zweite Beethoveniana S. 250). Dazu kommt, daß die Handschrift nicht die jener früheren Jahre ist, sondern (nach Nottebohm) in die Zeit von 1860 bis 1804 weist und der von Op. 28 ganz ähnlich ist. [Die Jahreszahl 1802 ist aber sogar auf dem Autograph ganz deutlich erkennbar erst nachträglich in 1782 umgeändert. H.R.] Wir können daher den Charakter jener Kompositionen, welcher entschieden auf eine spätere Zeit hinweist, hier ganz außer Betracht lassen, sowie auch die Frage, ob er vielleicht Motive aus seiner Knabenzeit benutzt hat. Wäre das der Fall – was aber nicht festzustellen ist –, dann könnte man in jener Jahreszahl eine Hindeutung darauf finden wollen. Uns ist wahrscheinlicher, daß Beethoven sich geirrt hat. Anm. d. Herausg.


12 Chrysander, Händel Bd. I, S. 104.


13 Gesamtausgabe von Br. & H. S. XXIII, Nr. 228.


14 Hier die Worte des unbekannten Dichters:


»Schildern willst Du, Freund, soll ich

Dir Elisen?

Möchte Uzens Geist in mich

Sich ergießen.

Wie in einer Winternacht

Sterne strahlen,

Würde ihrer Augen Pracht

Oeser malen.«


15 Thayer, chronol. Verzeichnis S. 184.


16 »Drei Sonaten für Klavier dem Hochwürdigsten Erzbischofe und Kurfürsten zu Köln Maximilian Friedrich meinem gnädigsten Herrn gewidmet und verfertiget von Ludwig van Beethoven, alt eilf Jahr. Speier, in Rath Boßlers Verlage. Preis 1 fl. 30 Kr.« Der Verleger zeigt in Cramers Magazin »den 14. Weinmond 1783« an: »Louis van Beethoven, 3 Claviersonaten; eine vortreffliche Composition eines jungen Genies von 11 Jahren, dem Churfürsten von Cölln zugeeignet. 1 fl. 30.« Gesamtausgabe S. XVI, Nr. 156–158. Auf ein Exemplar der Sonaten hatte Beethoven geschrieben: »Diese Sonaten und die Variationen von Dreßler sind meine ersten Werke.« Damit meinte er nun wohl nur die gedruckten Werke. Vgl. Thayers chronol. Verz. S. 2 und 183. Anm. d. Herausg.


17 Um den drei Erstlingssonaten ihren rechten Platz in der Literatur zuzuweisen, muß man nicht die Kompositionen der norddeutschen Schule zum Vergleich heranziehen, sondern vielmehr die der Mannheimer und ihrer Nachfolger. Von Ph. Em. Bachs Stil unterscheidet sie das Fehlen der für diesen so charakteristischen häufigen starkgliedernden Halbschlußbildungen als Satzende. Die gesamte Thematik ist aber ganz ausgesprochen mannheimisch oder, wie die Norddeutschen sagten, »im italienischen gusto«. Legt man die Klavier-Violinsonaten von Filtz, Eichner, Edelmann, Schobert und Karl Stamitz neben diese drei Sonaten Beethovens, so erkennt man nicht nur sofort die innige Verwandtschaft, sondern man sieht dann auch, daß Beethovens Klavierstil aus der Ensemblemusik herausgewachsen ist und nicht aus der eigentlichen Solo-Klaviermusik. Mit Verwunderung aber wird man auch inne, wie schon der 13jährige Knabe sich (nicht überall, aber doch in der Mehrzahl der Sätze) über das Niveau seiner Zeitgenossen erhebt. Die ersichtliche Tendenz, den sonoren Vollklang der Baßlage auszubeuten, ist wohl auf eine Bekanntschaft mit Schoberts und Sterkels Musik zurückzuführen, die Einführung reicherer figurativen Elemente und weit ausholender Arpeggien weist auf Edelmann; das aber, was man vor Wiederentdeckung der Mannheimer als mozartisch definieren zu müssen glaubte, hat Beethoven ebenso wie Mozart von den Mannheimern übernommen: das singende Allegro, den arienhaften Schlußtriller, und vor allem die naiven Epiloge der Satzschlüsse. Die verschiedenartigen Elemente sind noch nicht ganz zu organischer Einheit verwachsen und treten nicht selten überraschend nebeneinander. Hie und da aber trifft uns auch bereits ein Blick aus den Glutaugen des echten, ureigenen Beethoven, so besonders in der F-moll-Sonate (Nr. 2), die im ersten Satz uns die in der Mitte wiederkehrende pathetische Einleitung der Sonate pathétique verkündet und sogar bereits das


9. Kapitel. Unterricht bei Neefe. Erste Dienstleistung des Knaben

zu Anfang des Allegro hat. Der erste Satz der dritten Sonate aber bringt in der nur kurzen Durchführung gar die Vorahnung einer wunderschönen Stelle in der Einleitung der A-dur-Sinfonie:


9. Kapitel. Unterricht bei Neefe. Erste Dienstleistung des Knaben

Auch das Unisono-Anfangsthema des Finale der F-moll-Sonate ist schon echter Beethoven, hat aber noch nicht das gespenstisch Huschende seiner späteren pp unisono-Themen. Natürlich hat das, was an den Frühwerken schon die werdende Eigenart andeutet, in erster Linie Anspruch auf Beachtung. H.R.


18 Vgl. Czerny bei Nottebohm, Zweite Beethoveniana S. 356f.


19 Nach anderen Dokumenten aus jener Zeit scheint das Wort allerdings eine Ablehnung zu enthalten. Doch machen gerade die Bonner Verfügungen im Düsseldorfer Archiv einen Unterschied zwischen »beruhet« und, »findet keine Statt«. Daher könnte jenes immerhin bedeuten: »bis auf weiteres zurückgelegt«. Anm. d. Herausg.


20 Der Verfasser stützt diese Annahme offenbar wesentlich auf den Umstand, daß Ludwig in der dem folgenden Kurfürsten eingereichten Liste der Hofmusiker angeführt ist. Dort heißt es aber nur, daß er kein Gehalt beziehe, jedoch während Lucchesis Abwesenheit die Orgel versehen habe. Das Dienstalter wird auf 2 Jahre angegeben, was auf das Jahr 1782 führen würde. Demnach möchte das Wahre sein, daß auf Beethovens diesmaliges Bittgesuch überhaupt nichts erfolgte, sondern daß er einfach in der Tätigkeit belassen wurde, welche er bereits längst wahrnahm. Ein Gehalt erhielt er jedenfalls noch nicht. Anm. d. Herausg.


21 Nach der vorherigen Bemerkung hatte wohl ein besonderer Akt nicht stattgefunden. Anm. d. Herausg.


22 Eine Familie Mertens wurde aus dem ersten Stock durch Boote gerettet, und so, wie der Verfasser von Herrn Mertens hörte, alle Bewohner des Hauses. Letzteres ist also nicht ganz genau. D. H.


23 Es sind oben (S. 142) die Konzerte für die Fremden erwähnt worden, welche den Knaben hören wollten. D. H.


24 Der Herausgeber (H. D.) hat in dieser Frage die frühere, offenbar unrichtige Darstellung des Verfassers ändern müssen, was dieser vermutlich selbst getan haben würde, wenn ihm die neue Bearbeitung möglich gewesen wäre.


25 Br. & H. Ges.-Ausg. Serie 18, Nr. 196.


26 Ebenda Serie 23, Nr. 229.


27 Jetzt in der Kgl. Bibliothek zu Berlin.


28 Der Verfasser hatte es im chronol. Verzeichnis unter Nr. 7 mit Angabe der Themen aufgeführt.


29 Br. & H. Ges.-Ausg. Serie 25, Nr. 310. G. Adler sprach über dasselbe in der Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 1888, S. 461. Anm. d. Herausg.


30 Gegen den Schluß (S. 17 der Ausgabe, nach dem 11. Takt) sind in der Ausgabe zwei Takte der Solopartie aus Versehen weggeblieben. Sie lauten so:


9. Kapitel. Unterricht bei Neefe. Erste Dienstleistung des Knaben

31 Nottebohm sprach in einem handschriftlichen Zusatze zu Thayers chronol. Verzeichnis Nr. 29 die Vermutung aus, daß mit dem obigen Satze vielleicht das unter dieser Nummer aufgeführte Stück für eine Spieluhr gemeint sei, welches dort als Duo bezeichnet ist, aber gewiß nicht für zwei Streich- oder Blasinstrumente geschrieben war. Wahrscheinlich hat jedoch Thayer das in dem Verzeichnisse von Artaria als Nr. 131 genannte Fragment einer Komposition für Klavier und Violine gemeint, welches dem Herausgeber (H. D.) durch die Güte des damaligen Besitzers Herrn Dr. Prieger vorlag, und welches in der Tat 4 Seiten und eine Zeile enthält (jetzt in der Kgl. Bibliothek zu Berlin). Es sind Teile von zwei Sätzen inA-dur (3/8 und 4/4). Das erste mit seiner raschen Bewegung in Sechzehnteltriolen (der Anfang ist verloren) scheint die Stelle eines Scherzo einzunehmen; von einem Trio in A-moll ist noch der Anfang vorhanden; dieser Satz scheint fertig gewesen zu sein. Das Fragment des anderen Satzes, ebenfalls ohne Anfang, bricht mit der Bezeichnung Da Capo ab, worauf noch einige skizzenartig angefügte Takte folgen. Seine Anlage ist nicht zu erraten; es war wohl ein letzter Satz. Das Ganze scheint Abschrift, nicht Autograph; jede weitere Bezeichnung fehlt. Die Motive, mehr noch die Modulation, klingen nach Beethoven; besonders die des 4/4-Stücks sind zum Teil gehaltvoll und eigenartig. Ob aber das Fragment von Beethoven herrührt, muß ungewiß bleiben. Anm. d. Herausg. [Über die für ein mechanisches Musikwerk geschriebenen Stücke Beethovens vgl. Bd. II2, S. 210. H.R.]


32 Etwas anders Fischer, s. o., S. 117.


33 Fischer: »Kurz gedrungen, breite Schultern, kurzer Hals, dicker Kopf, runde Nase, schwarzbraune Gesichtsfarbe; er ging immer etwas vornüber gebückt. Man nannte ihn im Hause als Jungen der ›Spangol‹[Spagnuolo].« – D. H.

Quelle:
Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben. Band 1, 3. Auflage, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1917.
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