Dreizehntes Kapitel.

Das Jahr 1805. Die Oper Leonore (Fidelio).

Das Leben eines Schriftstellers oder Komponisten verlangt, wenn er von der Beschäftigung mit einem großen Werke eingenommen ist, eine gewisse Leistung täglicher Arbeit, welche wenig hervortretende Momente für den Biographen darbietet. So war es mit Beethoven während der ersten zwei Drittel des Jahres 1805. Wir besitzen aus dieser Zeit nur wenige Briefe des Meisters, und die vorhandenen treten nach ihrem inneren Werte nicht besonders hervor. Ries war während der ganzen heißen Jahreszeit mit Lichnowsky in Schlesien abwesend und mußte bald nach seiner Rückkehr von Wien nach Bonn abreisen; infolgedessen fehlen uns seine Notizen für die vielleicht interessanteste Periode jener vier Jahre, während welcher der junge Mann Beethovens Unterricht genoß, der der Komposition von Leonore (Fidelio). Die Geschichte des Jahres 1805 ist zugleich die Geschichte dieses Werkes, und leider eine sehr unbefriedigende. Um den Faden dieser Geschichte weiter unten nicht zu unterbrechen, mögen die wenigen Ereignisse aus der ersten Hälfte des Jahres, die mit jener in keiner Verbindung stehen, zuerst mitgeteilt werden.

Schuppanzigh hatte einen Knaben von großem Talente für die Violine entdeckt und unterrichtet, Joseph Mayseder mit Namen (geboren am 16. Oktober 1789), der bereits in seinem 16. Jahre der Gegenstand großer Lobeserhebungen in der öffentlichen Presse war. Mit diesem jungen Manne als zweitem Violinisten, Schreiber »im Dienste des Fürsten Lobkowitz« als Bratschisten und dem älteren Kraft als Violoncellisten gab Schuppanzigh während des Winters 1804–5 Quartette »in einem Privathaus im Heiligenkreuzerhof auf die Art, daß der Zuhörer für vier Productionen immer fünf Gulden voranbezahlt«. Bis zu Ende April spielten sie Quartette von Mozart, Haydn, Beethoven, Eberl und Romberg, »zuweilen auch größere Stücke. Unter diesen gefiel vorzüglich das schöne Beethovensche Sextett aus Es, eine Komposition, [457] die durch schöne Melodieen, einen ungezwungenen Harmoniefluß und einen Reichthum neuer und überraschender Ideen glänzt«; so berichtet die Allg. Musik. Zeitung (VII S. 535) von dem Sextett für Blasinstrumente, welches später die Opuszahl 71 erhielt, jedoch nach Nottebohm spätestens 1796, und in seiner ursprünglichen Gestalt wahrscheinlich sogar bereits in Bonn komponiert war.

Bei dem großen Überfluß an Instrumental-Virtuosen von seltener Fähigkeit, die damals in Wien lebten, gereichte es der Kaiserstadt nicht eben zur Ehre, daß öffentliche Orchesterkonzerte, wenn wir von den Sommerkonzerten im Augarten absehen, eine Reihe von Jahren hindurch völlig aufgegeben waren. In ihrer Unzufriedenheit hierüber hatten die Bankiers Würth und Fellner (Fellner u. Komp. am Hohenmarkt) während des Winters 1803–4 »alle Sonntage Vormittags bei sich eine gewählte Gesellschaft (beinahe durchaus Dilettanten) versammelt zu Concerten, welche sich größtentheils auf vollstimmige Stücke, als Sinfonieen (unter diesen Beethovens erste und zweite), Ouvertüren, Concerte, beschränkten, und diese wirklich trefflich ausführten«. Unter diesen befanden sich auch »einige Ouvertüren von einem gewissen Grafen Gallenberg«; derselbe hat, wie es weiter heißt, »Mozart und Cherubini so sklavisch nachgeahmt oder vielmehr abgeschrieben, ist ihnen sogar bis auf die Tonarten und Modulationen so getreu gefolgt, daß man immer die Ouvertüre, nach welcher die seinige zugeschnitten war, mit der größten Bestimmtheit angeben konnte, und dieser gänzliche Mangel an Originalität beweist nach meiner Meinung mehr gegen Gallenbergs Talent, als es die verfehlteste, aber eigenthümliche Arbeit hätte thun können«. Diese Konzerte dirigierte Clement vom Theater an der Wien.

In dem gegenwärtigen Winter wurden sie erneuert, und neue Aufführungen von Beethovens zwei ersten Symphonien und des Konzerts in C-Moll (wobei Ries die Klavierstimme spielte1) bereiteten den Weg für »eine ganz neue Sinfonie – eine lange, für die Ausführung äußerst schwierige Komposition, eigentlich eine sehr weit ausgeführte, kühne und wilde Phantasie«; es fehlte in ihr, heißt es weiter, »gar nicht an frappanten und schönen Stellen, in denen man den energischen, talentvollen Geist ihres Schöpfers erkennen muß; sehr oft aber scheint sie sich ganz ins Regellose zu verlieren. Der Schreiber gehört gewiß zu Hrn. v. Beethovens aufrichtigsten Verehrern, aber bei dieser Arbeit muß er [458] doch gestehen, des Grellen und Bizarren allzuviel zu finden, wodurch die Uebersicht äußerst erschwert wird und die Einheit beinahe ganz verloren geht2.« Es war die erste, halb öffentliche Aufführung der Sinfonia eroica. Ihre erste wirklich öffentliche Darstellung fand im Theater an der Wien, an einem Sonntag Abend, den 7. April statt, wo sie den zweiten Teil eines Konzerts eröffnete, welches Clement zu seinem eigenen Vorteil gab. Das Programm zeigt sie in folgender Weise an: »Eine neue große Sinfonie inDis3 von Herrn Ludwig van Beethoven, zugeeignet Sr. Durchlaucht Fürsten von Lobkowitz. Auch wird der Verfasser dieselbe selbst zu dirigiren die Gefälligkeit haben.«

Czerny erinnerte sich, wie er Jahn erzählte, daß bei dieser Gelegenheit jemand von der Galerie rief: »Ich gäb' noch einen Kreuzer, wenn's nur aufhört.« In diesem Ausrufe haben wir den Schlüssel zu der Tonart, in welcher die Symphonie in den öffentlichen Berichten beurteilt wurde, welche jetzt zu den Kuriositäten der musikalischen Literatur gehören. So fand z.B. der oben angeführte Schriftsteller »auch diesesmal gar keine Ursache, sein schon früher darüber gefälltes Urtheil zu ändern. – Die Sinfonie würde unendlich gewinnen, wenn sich B. entschließen wollte, sie abzukürzen, und in das ganze mehr Licht, Klarheit und Einheit zu bringen«. Der Korrespondent des »Freimüthigen« teilt die Zuhörerschaft in drei Teile. »Die einen«, sagt er, »Beethoven's ganz besondere Freunde, behaupten, gerade diese Sinfonie sei ein Meisterstück, das sei eben der wahre Styl für die höhere Musik, und wenn sie jetzt nicht gefällt, so komme das nur daher, weil das Publicum nicht kunstgebildet genug sei alle diese hohen Schönheiten zu fassen; nach ein paar tausend Jahren aber würde sie ihre Wirkung nicht verfehlen. – Der andere Theil spricht dieser Arbeit schlechterdings allen Kunstwerth ab und meint, darin sei ein ganz ungebändigtes Streben nach Auszeichnung und Sonderbarkeit sichtbar, das aber nirgends Schönheit oder wahre Erhabenheit und Kraft bewirkt hätte. Durch seltsame Modulationen und gewaltsame Uebergänge, durch das Zusammenstellen der heterogensten Dinge, wenn z.B. ein Pastorale im[459] größten Style durchgeführt wurde, durch eine Menge Risse in den Bässen, durch drei Hörner u.a. d. könne zwar eine gewisse eben nicht wünschenswerthe Originalität ohne viele Mühe gewonnen werden; aber nicht die Hervorbringung des blos Ungewöhnlichen und Phantastischen, sondern des Schönen und Erhabenen sei es, wodurch sich das Genie beurkunde: Beethoven hatte selbst durch seine früheren Werke die Wahrheit dieses Satzes erwiesen. – Die dritte sehr kleine Partie steht in der Mitte; sie gesteht der Sinfonie manche Schönheiten zu, bekennt aber, daß der Zusammenhang oft ganz zerrissen scheint, und daß die unendliche Dauer dieser längsten, vielleicht auch schwierigsten aller Symphonieen selbst Kenner ermüde, dem bloßen Liebhaber aber unerträglich werde. Sie wünscht, daß H. v. B. seine anerkannten großen Talente verwenden möge, uns Werke zu schenken, die seinen beiden ersten Symphonieen aus C und D gleichen, seinem anmuthigen Septett aus Es, dem geistreichen Quintett aus D dur [C-Dur?] und anderen seiner früheren Compositionen, die B. immer in die Reihe der ersten Instrumentalcomponisten stellen werden. Sie fürchtet aber, wenn Beethoven auf diesem Wege fort wandelt, so werde er und das Publicum übel dabei fahren. Die Musik könne so bald dahin kommen, daß jeder, der nicht genau mit den Regeln und Schwierigkeiten der Kunst vertraut ist, schlechter dings gar keinen Genuß bei ihr finde, sondern durch eine Menge unzusammenhängender und überhäufter Ideen und einen fortwährenden Tumult aller Instrumente zu Boden gedrückt, nur mit einem unangenehmen Gefühle der Ermattung den Conzertsaal verlasse. Das Publicum und H. v. Beethoven, der selbst dirigirte, waren an diesem Abende nicht mit einander zufrieden. Dem Publicum war die Symphonie zu schwer, zu lang, und B. selbst zu unhöflich, weil er auch den beifallklatschenden Theil keines Kopfnickens würdigte. Beethoven im Gegentheile fand den Beifall nicht auszeichnend genug.«

Diese klare, kurzgefaßte und wertvolle Mitteilung über die widerstreitenden Meinungen der ersten Zuhörer der Eroica macht weitere Anführungen überflüssig; wir fügen nur noch eine Erzählung hinzu, die charakteristisch genug für den Meister ist, um wohl als wahr angenommen werden zu können. Als man nämlich Beethoven selbst gegenüber über die zu große Länge der Symphonie klagte, soll er im wesentlichen geantwortet haben: wenn er eine Symphonie schreibe, die eine Stunde dauere, so werde man sie wohl kurz genug finden. Er wies es entschieden zurück, irgend eine Änderung in dem Werke vorzunehmen, gab jedoch der öffentlichen Meinung soweit nach, daß er bei ihrer Veröffentlichung [460] auf den Titel der Symphonie eine Bemerkung des Inhaltes setzen ließ, daß sie, mit Rücksicht auf ihre große Länge, am besten im Anfang eines Konzertes gespielt werde, ehe das Auditorium ermüdet wäre4.

Beethoven war, obgleich heftig und gewaltsam in seinem Zorne, doch versöhnlicher Natur. So auch in dem Streit mit Artaria und Co. wegen des C-Dur-Quintetts, über den wir S. 262 ff. und im Anhang II berichtet haben. Nottebohm hat mit genügender Sicherheit die Tatsache festgestellt, daß die gestochenen Platten nicht, wie Ries berichtet, zerstört, sondern mit des Komponisten Zustimmung und sogar mit seinen Verbesserungen später weiter benutzt worden sind. Ein kurzer Brief, den er unterm 1. Juni 1805 an den Verleger richtete, zeigt, daß sein Zorn schon wieder besänftigt war, und scheint die Absicht anzudeuten, ihm das Verlagsrecht eines neuen Quintetts zu übertragen – eine Absicht, welche bei der drängenden Beschäftigung mit seiner Oper und vielleicht auch infolge der bald nachher erfolgenden Invasion der Franzosen unausgeführt blieb. Der Brief, im Besitze der Herren Artaria und Co., lautet so:


»An die Herren Artaria u. Kompagnie.


P. S.


Ich melde ihnen hiermit, daß die Sache wegen des [neuen] Quintetts schon zwischen mir u. Gr. Fries ausgemacht ist. Der Hr. Graf hat mir [heute] die Versicherung gegeben, daß er ihnen hiermit ein Geschenk machen will. Für heute ist es schon zu spät die Sache schriftlich zu machen, doch soll dies in den ersten Tagen der jetzt kommend en Woche geschehen. Für heute sei es ihnen nur genug mit dieser Nachricht. – Ich glaube hierdurch wenigstens ihren Dank verdient zu haben.


ihr ergebenster Diener

Ludwig van Beethoven.


Wien den ersten Juni (Samstag) 1805.«5


[461] Um dieselbe Zeit kam Ignatz Pleyel, geboren 1757, das vierundzwanzigste Kind eines Schulmeisters in Rupperstal, einem wenige Meilen von Wien entfernten Dorfe, ein Lieblingsschüler Haydns und gerade damals nächst seinem Lehrer der am weitesten bekannte und populärste der lebenden Instrumentalkomponisten, von Paris zurück, um nach vieljähriger Abwesenheit die Stätte seiner Jugend wiederzusehen. Er brachte seine letzten neuen Quartette mit, »welche [wie Czerny schreibt] bei dem Fürsten Lobkowitz vor einer großen und hohen Gesellschaft aufgeführt wurden. Zum Schlusse wurde der auch anwesende Beethoven ersucht, etwas zu spielen. Wie gewöhnlich ließ er sich unendlich lange bitten, und wurde endlich fast mit Gewalt von den Damen zum Clavier gezogen. Unwillig reißt er vom Violinpult die noch aufgeschlagene 2te Violinstimme des Pleyelschen Quartetts, wirft sie auf den Pult des Fortepiano und beginnt zu phantasiren. Noch nie hatte man ihn glänzender, origineller und großartiger improvisiren gehört, als an jenem Abend. Aber durch die ganze Improvisation gingen in den Mittelstimmen wie ein Faden oder Cantus firmus die an sich ganz unbedeutenden Noten durch, welche auf der zufällig aufgeschlagenen Seite jenes Quartetts standen, während er die kühnsten Melodieen und Harmonieen im brillantesten Concertstyle darauf baute. Der alte Pleyel konnte sein Staunen nur dadurch zeigen, daß er ihm die Hände küßte. Nach solchen Improvisationen pflegte Beethoven in ein laut schallendes vergnügtes Lachen auszubrechen.«

Obgleich, wie betont (S. 418), zweifelhaft ist, ob Beethoven seine Wohnung im Theater auch nur zeitweilig verloren hat, so wohnte doch sein Bruder Karl unter den neuen Verhältnissen nicht mehr bei ihm, sondern bezog eine eigene Wohnung auf dem Hohen Markt. Ludwig aber behielt seine Wohnung im Pasqualatischen Hause neben der im Theater. Das Adreßbuch der Hauptstadt für 1805 gibt seine Adresse im Theatergebäude an, und dort empfing er seine Besuche; im Pasqualatischen Hause pflegte er sich für die Arbeit einzuschließen, und befahl seinem Diener, niemanden, wer es auch sei, vorzulassen. Im Sommer zog er nach Hetzendorf, und dort arbeitete er seine Oper aus, in derselben gabelförmigen Linde [462] im Schönbrunner Garten sitzend, wo er vier Jahre früher den Christus am Ölberge komponiert hatte. So hatte er also wieder drei Wohnungen zu gleicher Zeit.

Ehe Beethoven nach Hetzendorf übersiedelte, ungefähr um die Mitte Juni, hatte er die Musik zu seiner Oper vollständig skizziert. Dies ist hinlänglich sichergestellt durch eine jener wunderlichen Bemerkungen, die er auf leere Stellen jedes Manuskripts, welches er gerade vor sich hatte, zu machen pflegte. Diesmal schrieb er folgendes: »am 2ten Juni. Finale immer simpler alle Claviermusik ebenfalls – Gott weiß es – warum auf mich meine Claviermusik immer den schlechtesten Eindruck macht, besonders wenn sie schlecht gespielt wird.«

Diese Worte stehen mitten zwischen Skizzen zum Schlußchor der Oper; sie sind auf die obere, äußere Ecke von S. 291 des Skizzenbuchs der Leonore geschrieben, welches jetzt im Besitze des Herrn Paul Mendelssohn in Berlin ist.


Das Skizzenbuch der Leonore6.


Da die Bemerkungen, welche vor längeren Jahren mit Erlaubnis des Besitzers aus diesem interessanten Bande gemacht waren, sich weniger vollständig erwiesen, als für dieses Werk wünschenswert gewesen wäre, so hatte Herr Mendelssohn auf Bitten des Herrn Jos. Joachim die große Gefälligkeit, dasselbe dem Verfasser zu einer neuen vollständigen Untersuchung seines Inhalts zur Verfügung zu stellen. Die Aufgabe, die Skizzen zu identifizieren, war eine im höchsten Grade mühevolle und ermüdende; doch mit Hilfe der ausgezeichneten Ausgabe der Oper von Jahn ist Ausdauer und Geduld beinahe vollständig von Erfolg gekrönt worden. Natürlich gibt dem Buche schon die Eigenschaft eines Autographs und eines Denkmals von Beethovens unermüdlichem [463] Fleiße ein großes Interesse; der hauptsächlichste Wert dieses Manuskripts liegt jedoch in dem Einblicke, welchen der Musiker in des Meisters Art und Weise zu komponieren erhält. Es liegt außerhalb der Absicht dieser Biographie, hier eine Analyse der Skizzen zu dem genannten Zwecke zu versuchen. Aber auch für den Biographen hat das Buch seinen Wert; die überraschende Bestätigung einer schon früher von dem Verfasser gehegten Meinung, daß zwei hergebrachte Annahmen über die Komposition der Oper irrtümlich sind, belohnt vollständig die Mühe, dasselbe durchstudiert zu haben. Erstens nämlich hat ein falsch verstandener Satz in Jahns Aufsatz »Leonore oder Fidelio«7 den Glauben hervorgerufen und ihm Verbreitung verschafft, daß Beethovens »kühner Enthusiasmus für der Menschen Wohl und ihre Rechte« ihn veranlaßt habe, seine Skizzen für die Oper mit dem »zweiten Finale mit seinem hymnischen Character« zu beginnen. Das Skizzenbuch indes, wenn es überhaupt etwas beweist, beweist dies, daß Beethoven mit dem Anfang begann und alle Hauptnummern in der Ordnung vornahm, wie sie in Sonnleithners Text stehen; daß die Schlußchöre zuletzt skizziert wurden, und endlich, daß dieses Skizzenbuch zufällig in der Mitte des Gefangenenchors, dem ursprünglichen zweiten Finale, beginnt, weil die vorhergehenden Studien fehlen. Der Band enthält die ersten Skizzen von Nr. 11–18, 15a, 17a und 18a (Anhang) von Jahns Ausgabe; Nr. 1 und 5 sind ebenfalls vorhanden, doch nicht in den Originalskizzen; Nr. 2, 3, 4, 6, 7, 8, 9 und 10 fehlen entweder vollständig oder treten nur fragmentarisch in nachträglichen Gedanken auf, wie Nr. 9 auf S. 51, wo Beethoven oben auf der Seite geschrieben hat »im Duette zwischen P und R« und gleich darunter: »dann schleich ich« mit einer Andeutung (vier Takte einstimmig) für die Begleitung. Nachträgliche Gedanken für das Duett »Um in der Ehe« (Fidelio und Marcelline) stehen auch auf S. 23 und 344 und so vielleicht noch ein oder zwei andere; aber nicht mehr. Die Skizzen zu Fidelios Rezitativ »Ach brich noch nicht« und zu der Arie »Komm Hoffnung« (Nr. 11), welche sich gegen Ende des Bandes finden, scheinen von der aufgestellten Regel in bemerkenswerter Weise abzuweichen; wenn dies aber wirklich die ersten Skizzen sind, so erklärt sich ihr Auftreten nach den Schlußszenen durch zwei Bemerkungen von Beethovens Hand auf S. 344: »Duetto mit Müller [Marcelline] und Fidelio für sich«, und »Arie für Fidelio, ein andrer Text, der mit ihr einstimmt«. [464] Diese Bemerkungen zeigen deutlich, daß bezüglich des Duetts eine Änderung der anfänglichen Absicht eingetreten war, sowie daß die schöne Arie »Komm, Hoffnung« ursprünglich nicht in Sonnleithners Text gestanden hatte.

Der zweite hergebrachte Irrtum, den das Skizzenbuch vollständig widerlegt, ist der, daß die schönsten Stellen in der Oper eine Art unmittelbaren musikalischen Ergusses von Gefühlen und Empfindungen seien, welche durch die unglücklichen Liebesaffären des Komponisten hervorgerufen oder zu einem hohen Grade von Lebhaftigkeit gesteigert worden waren. Von der ersten Seite dieses Manuskripts bis zu der letzten findet sich nichts, welches irgendwie den Eindruck einer solchen Unmittelbarkeit machte. Jede Nummer, wie sie jetzt vollendet in der Partitur steht, war das langsame Ergebnis einer fortdauernden Arbeit und eines unverdrossenen Studiums.

Jahn sagt (Ges. Schr. S. 244): »Ich habe nicht wenige Skizzen Beethovens zu prüfen Gelegenheit gehabt, mir ist aber kein Fall bekannt, wo man nicht anerkennen müßte, daß das, was er gewählt – auch wirklich das Schönste sei, oder wo man bedauern möchte, daß das von ihm Verworfene nicht zur Ausführung gekommen ist.« Er hätte mit Wahrheit noch hinzufügen können, daß einige der ersten niedergeschriebenen Gedanken zu Stücken, die jetzt zu den Edelsteinen der Oper gehören, in solchem Grade gewöhnlich und trivial sind, daß man sie kaum Beethoven zuschreiben möchte, wenn sie nicht in seiner eigenen Handschrift daständen. Die kurze allgemeine Beschreibung, welche Jahn von dem Inhalte dieses Manuskripts gibt, bedarf in keiner Weise einer Berichtigung, mit Ausnahme einer einzigen Stelle, wo er sich vielleicht etwas zu sehr auf sein Gedächtnis verließ und die, wie wir glauben, irrige Meinung erkennen läßt, daß auch die Arie der Marcelline hier zuerst skizziert sei. »Die Skizzen«, sagt er S. 243, »sind natürlich sehr verschiedener Art. Zum Theil sind es gänzlich von einander abweichende Versuche denselben Text musikalisch auszudrücken, und manche Nummern, wie die Arien Marcellines und Pizarros, das Grabduett, einzelne hervortretende Stellen erscheinen Anfangs mit ganz anderen Motiven als in der Oper. – – Anderemale sind ganze Stücke in einem Zuge so hingeschrieben, wie sie dann im Wesentlichen geblieben sind.« Diese Worte lauten etwas zu entschieden, wenn nicht vielleicht Jahn die Arien Roccos und Marcellinens im Sinne hatte. »Daneben geht dann aber diese unermüdliche Detailarbeit, die gar nicht aufhören kann, nicht blos einzelne Motive und Melodien, sondern die kleinsten Elemente derselben hin und [465] her zu wenden und zu rücken und aus allen denkbaren Variationen die beste Form hervorzulocken. Man staunt über dieses unaufhörliche Versuchen und begreift nicht, wie aus solchem musicalischen Bröckelwerk ein organisches Ganze werden könne. Vergleicht man aber das fertige Kunstwerk mit dem Chaos der Entwürfe, so wird man immer wieder von der tiefsten Bewunderung vor dem schöpferischen Geiste ergriffen, der die Idee seiner Aufgabe so klar angeschaut, Grundlage und Umriß der Ausführung so fest und sicher gefaßt hat, daß unter alle dem Suchen und Versuchen im Einzelnen doch das Ganze aus seiner Wurzel naturgemäß herauswächst und sich entwickelt. Und machen diese Skizzen nicht selten den Eindruck unsicheren Schwankens und Tastens, so wächst nachher wieder die Bewunderung vor der wahrhaft genialen Selbstkritik, die, nachdem sie Alles geprüft, schließlich mit souveräner Gewißheit das Beste behält.«

In den für die Biographie gemachten Notizen aus dem Skizzenbuche der Leonore zeichnete sich der Verfasser 18 verschiedene Anfänge zu Florestans Arie »In des Lebens Frühlingstagen«, und zehn zu dem Chore »Wer ein holdes Weib errungen« auf; andere wurden übergangen, weil sie unleserlich oder wenig mehr als Wiederholungen waren. Die Studien zu jenem wunderbaren Jubelausbrüche: »O namenlose Freude« sind zahlreich; die ersten Takte des Duetts sind jedoch in allen dieselben, da sie Beethoven aus einer »alten Oper« genommen hatte.

Der Leser stelle sich einen Band von 173 Blättern oder 346 Seiten Notenpapiers in Quartformat vor, mit 16 Notensystemen auf jeder Seite, wie es Beethoven so viel zu Skizzenbüchern gebrauchte. Das Buch ist nur durch seinen Inhalt, seinen Einband und seine große Ausdehnung von vielen anderen verschieden, und wie deutlich erkennbar ist, rührt dieser letztere Unterschied ohne Zweifel daher, daß es, wie bemerkt, (S. 463) aus zwei Skizzenbüchern zusammengebunden ist. 50–60 von den 346 Seiten sind von Skizzen zu den Sonaten Op. 54 und Op. 57, dem Tripelkonzert Op. 56 und dem Quartett Op. 59 Nr. 1 eingenommen. Einige Seiten sind gänzlich, andere teilweise leer. Mit Rücksicht auf diese kann man berechnen, daß 250 volle Seiten mit Beethovens Skizzen zu Teilen seiner Oper in einer Ausdehnung von etwa 116 bis 120 Seiten in Jahns Ausgabe der Leonore angefüllt sind. Die Zahl der Systeme auf jeder Seite von Jahns Ausgabe beträgt durchschnittlich nicht weniger als 16, von denen aber 6–8 der Klavierbegleitung angehören; der Charakter der Notenschrift ist ein großer, die Zwischenräume weit und der Text nirgendwo gedrängt. Auf dem größten Teile der [466] Beethovenschen Seiten gilt jedoch jede Notenzeile für sich allein, und besondere Systeme für Instrumente kommen verhältnismäßig selten vor. Oft sind die Noten so eng gedrängt, daß kein Versuch gemacht ist, den Text darunter zu schreiben; ganze Zeilen und Sätze sind durch einzelne Worte bezeichnet, sowie Worte durch einzelne Buchstaben. In den Duetten und anderen mehrstimmigen Stücken sind die ersten Skizzen ohne Ausnahme auf einzelne Systeme geschrieben, und da die Namen der Personen zuweilen ausgelassen sind, so bildet der Text infolgedessen oft ein seltsames Gemisch von Unsinn, wenn man ihn so liest, wie er geschrieben ist; aber noch ehe eine dieser Nummern ganz zu Ende geführt ist, finden sich eine oder zwei Seiten, auf denen jede Stimme auf ihrem eigenen, besonderen Systeme erscheint und das Duett (oder Terzett) beinahe schon dieselbe Gestalt erhält, die es in dem vollendeten Werke hat.

Aus den vorstehenden Bemerkungen kann man sich einen Begriff machen von den unzähligen Wiederholungen von Phrasen und Sätzen des Textes, mit jeder möglichen Form der Melodie vereinigt, welche dazu gehören, einen so großen Raum auszufüllen. Einem Rezitativ oder einer Arie durch alle ihre verschiedenen Gestaltungen zu folgen, ist über die Maßen ermüdend, und die beinahe endlosen Studien zu einem Duett oder Terzett bringen einen beinahe zur Verzweiflung. Die beste Erläuterung dieses Punktes bildet vielleicht jene Szene in Jahns Ausgabe Seite 102–4, welche zwischen dem Duett Roccos und Fidelios und der Arie Pizarros mit dem Soldatenchor steht, da sie die kürzeste, dabei eine in sich abgeschlossene und in ihrer Struktur einfache Abteilung der Oper ist und vier der Personen des Stückes in sich begreift. Es ist die Szene mit folgendem Texte:


Marcelline: »Ach Vater eilt, ach ihr verweilt!«

Rocco: »Was hast du denn? was ist geschehen?«

Marc.: »Voll Zorn folgt mir Pizarro nach,

Du bist verloren!«

Rocco: »Gemach, gemach.«

Leonore: »Er kommt ja schon, so eilet fort.«

Rocco: »Ich gehe schon, nur noch ein Wort.«

Marc.: »Du weißt ja, wie er tobet, und kennest seine Wuth.«

Leon: »Wie mir's im Innern tobet, empöret ist mein Blut.«

Rocco: »Erst hat er mich gelobet und jetzt ist er in Wuth.«

Pizarro: »Noch immer zaudert ihr? Noch immer seid ihr hier?«

M., L., R.: »Ihr müßt – weil ihr – ach verzeiht –«

[467] Pizarro: »Fort, eilig fort, sonst findet ihr den Lohn.«

M., L., R.: »Ach verzeiht – ja, wir gehorchen schon.«


Zum erstenmal erscheint ein Teil dieses Textes auf Seite 32 des Skizzenbuches, wo die Worte »erst hat er mich gelobet« mit einigen Noten an der Spitze der Seite stehen, ohne Zusammenhang mit irgendetwas auf dieser oder einer der folgenden Seiten. Zweimal innerhalb der 18 folgenden Seiten, auf denen das Ende des Duetts skizziert ist, erscheinen die Worte »o Vater eilt«, um den Zusammenhang zwischen dem Duett und der Szene zu bilden, welche wir eben betrachten. Auf Seite 51 und 52 sowie auf dem größten Teile von 54 und 55 skizziert Beethoven diese Szene; dann geht er für 22 Seiten zu einer anderen über und notiert nur einmal eine Andeutung für eine Stelle in Roccos Rolle. Seite 78 kehrt er zu derselben zurück und verläßt sie nicht wieder, bis in der Mitte von Seite 82 die Skizzen zu Ende gehen Das heißt also: es sind acht volle und acht zum Teil gefüllte Seiten von Skizzen vorhanden für weniger als drei Seiten gedruckter Noten, wie sie sich im Klavierauszuge finden, oder für 22 Zeilen Vokalmusik, von denen elf zur Hälfte oder zu zwei Dritteln leer sind. Der Text auf Seite 80 (wobei die Silben und Worte, welche der Komponist unter den Noten ausgelassen hat, durch .... bezeichnet sind) lautet also:

»O Vater eilt was hast du. ach ihr verw ws ist geschehen, mir folgt in zorn Pizarro. du bist verloren gemach ÷ so eilet fort ich gehe schon nur noch ein wort er kommt ja schon du weißt ja wie er tobet du kennest seine ........ noch immer zaudert ihr noch immer sind sie hier ihr müßt nicht mehr ein Wort weil ihr fort eilig fort sonst findet ihr den Lohn ihr müßt fort eilig fort weil ihr sonst findet ihr den Lohn er kommt ja schon ..... O Vater .......... Einst hat ........... (3 Takte Instrumentalnoten) O Vater eilet was hast du. Ach ihr verweilt was ist geschehn mir folgt in zorn Pizarro nach du bist verloren gemach ÷ so eilet fort ich gehe schon nur noch ein Wort er kommt ja schon. Du weißt ja wie er tobet, du kennst seine Wuth was ist geschehn – du weißt ja wie er tobet du kennst seine Wuth er kommt ja schon du weißt ja wie er tobet du kennest seine.«

Das alles steht auf einer einzigen Seite!

Der Inhalt des Skizzenbuchs ist folgender:

Seite 1–7. Ohne Vorbereitung beginnt es mit ».... Gruft der Kerker eine Gruft« aus dem Gefangenenchore, welcher ununterbrochen bis zum Ende von Seite 7 fortgeführt ist.

[468] S. 8–20, Skizzen zu Sonaten.

S. 21, 22, Chor der Gefangenen.

S. 23, Duett zwischen Marcelline und Fidelio (Jahn Nr. 10).

S. 24–30, Chor der Gefangenen.

S. 31 ist leer, mit Ausnahme von sechs Takten, einer Andeutung zum Soldatenchore in Nr. 12 (Jahn S. 106).

S. 32–42, Duett zwischen Rocco und Leonore (Jahn S. 95–102).

S. 43–52, dasselbe, und die folgende Szene (Jahn S. 102–104).

S. 53–66. Vom Eintritte der Marcelline (»Ach, Vater, eilt«) bis zum Ende des ursprünglichen ersten Aktes, hauptsächlich aber auf die Szene zwischen Pizarro und den Soldaten bezüglich (Jahn S. 102 bis 113). Diese Reihe von Skizzen wird S. 61 in folgender Weise unterbrochen:

Im Duetto zwischen P und R


Dann schleich ich,


worauf einige Takte Noten folgen, die einen nachträglichen Gedanken zu dem Duett zwischen Pizarro und Rocco (Jahn Nr. 9) enthalten. Es ist nicht bekannt, ob die Skizzen zu demselben noch erhalten sind.

S. 67, Chor der Gefangenen.

Gewissen Andeutungen zufolge hatte Beethoven die Absicht, das Duett »Um in der Ehe froh zu leben« nach dem Gefangenenchore folgen zu lassen. Doch

S. 68 zeigt uns eine Änderung dieser Absicht. Sie beginnt mit den Schlußtakten des »Duetto«, wie dieselben überschrieben sind, und dann ist geschrieben »Finale

Marcelline«, und es folgen die Worte »O Vater eilt«.

Noch eine andere bemerkenswerte Änderung der anfänglichen Absicht wird in diesem Zusammenhange hervortreten.

S. 70–81 nebst einem Teile von S. 82 enthält das Duett zwischen Leonore und Rocco: »Nun sprecht«, und die folgende Szene »O Vater eilt« usw., und damit ist der ursprüngliche zweite Akt vollendet.

Der übrige Teil von S. 82 führt uns in den Kerker. Die wenigen Textesworte verdienen es, hier angeführt zu werden:


»In des Lebens Frühlingstagen«, dann hier nichts weiter.

»Laß mich nur wieder Kräfte haben, wir werden bald zu Ende sein.«

»In des Lebens Frühlingstagen«

»Sage deinem Herzen sage Florestan hat recht gethan.«

[469] »Nur hurtig fort, es währt nicht lang er kommt herein, er kommt herein.«


S. 83–93. Der Hauptteil des Textes, und sogar fast alle eigentlich so zu nennenden Skizzen gehören zur Arie des Florestan; doch begegnen uns zwei sehr merkwürdige Unterbrechungen, abgesehen von zufälligen Nachträgen zu dem vorhergehenden Finale und kurzen vorläufigen Andeutungen zu den folgenden Nummern. Eine dieser bemerkenswerten Unterbrechungen ist das unerwartete Auftreten von Teilen der Arie »O, wär' ich schon mit dir vereint« auf S. 89–91, die andere das von Teilen von Roccos Goldarie. Es bedarf nur geringer Aufmerksamkeit auf Beethovens Art und Weise,. Gesänge und Arien zu skizzieren, um zu sehen, daß wir in keinem dieser Fälle die ursprünglichen Skizzen vor uns haben; der Grund ihres Erscheinens liegt auf der Hand, nämlich um sie unmittelbar mit der Arie des Florestan zusammenzustellen, zu dem Zwecke, sie zu vergleichen und des richtigen Kontrastes in Melodie und Begleitung sich zu versichern.

S. 94–97 sind fast leer; sie enthalten nur die Andeutungen einiger Instrumentaleffekte und einen Gedanken zur Arie des Pizarro.

S. 98–110, die Arie Florestans. Bei der großen Menge von musikalischen Gedanken des verschiedensten Charakters, die hier aufgezeichnet sind, erscheint es fast unglaublich, daß eine so einfache und, rührende Arie und zwar eine, welche sich ganz wie eine einzige glückliche Eingebung darstellt, je aus diesen Skizzen hervorgehen konnte, oder daß der Komponist der Gefahr entging, in dieser Fülle seiner schöpferischen Kraft unterzugehen.

S. 112–131, Duett zwischen Leonore und Rocco im Gefängnisse (Jahn Nr. 14).

S. 132–135 leer, ausgenommen drei Takte Musik mit dem Worte »sterbe« auf S. 133.

S. 136–143, Tripelkonzert Op. 56.

S. 144–145. Wiederum das Duett zwischen Leonore und Rocco: »Nun sprecht, wie gings?«

S. 146–147. Auf jeder dieser Seiten hat Beethoven eine Strophe von Marcellinens Arie mit einer neuen Melodie aufgeschrieben; doch offenbar von keiner von beiden befriedigt, setzt er unter die zweite die ersten paar Takte der wohlbekannten Arie und läßt sie so. Wir sehen nichts weiter davon.

S. 148–179, Florestans Arie, das Duett und Terzett im Kerker [470] (Jahn Nr. 12, 13 und 14) und eine nachträglich unterdrückte Arie. Es erweist sich als unmöglich, den Text bestimmt genug zu entziffern, um zu entscheiden, ob dies, wie es sehr wahrscheinlich ist, ein Teil von Florestans Arie war, oder eine anfangs für Leonore bestimmte, welche aber, wie wir sehen werden, einem neuen Texte Raum gab. S. 166 ist für Beethoven charakteristisch. Einige der unmittelbar vorhergehenden Seiten sind dem »Gruben-Duett« (Nr. 14) gewidmet, und hier haben wir am Anfang der er sten Strophe das Wort »Ende«, dem noch einige Takte Musik folgen zu den Worten »nur hurtig fort, nur frisch gegraben, es währt nicht lang«; dann lesen wir mit großer Schrift: »Bestes Ende von der Arie vom Graben.«

S. 180–182. Das Urteil Don Fernandos über Pizarro, gedruckt von Jahn im Anhang zu seiner Ausgabe der Leonore, Nr. 18a.

S. 183–203, größtenteils Skizzen zu Instrumental-Kompositionen, u.a. zu dem Quartett Op. 59 Nr. 1. Am Rande von S. 183 stehen die Worte »Schwann Mantel«; hatte vielleicht Beethoven im Schwan nach dem Essen seinen Mantel vergessen? S. 188 findet sich die Anmerkung: »Nel Terzetto gegen das Ende immer mehr pianissimo« mit so großen Buchstaben, daß sie der Beachtung nicht leicht entgehen konnten. Daß diese Instrumentalskizzen wirklich in dieses Skizzenbuch gehören und nicht vom Buchbinder irrtümlicherweise hineingebunden sind, wird durch das gelegentliche Vorkommen kurzer Stellen, die zum letzten Finale der Oper gehören, bewiesen.

S. 204. »Bestes tutti

Letztes bestes tutti zu der Arie vom Graben.«

S. 205–206. Thema zu einem Marsche, der später nicht benutzt wurde, und ferner Skizzen »zu der Arie vom Graben«.

S. 207 geht Beethoven zu dem großen Quartett Nr. 16: »Er sterbe!« über; beim wirklichen Beginne jedoch ändert er seine Absicht und wendet sich zu Florestans Arie zurück, deren erste Strophe er vollständig ausschreibt, mit einer Melodie, welche wenigstens die Grundlage der schließlich angenommenen bildet, und mit Skizzen zu einer Begleitung.

S. 208–226. Nachdem ihm nun Florestans Arie aus dem Sinne, nimmt der Komponist ernstlich das große Quartett, die Rettungsszene (Jahn 132–141), in Angriff. Die einzige wichtige Unterbrechung findet sich S. 214, wo einigen Notenzeilen die Worte »Zum Concert« vorhergehen und zum Schluß folgende Worte stehen: Cadenza im Rondo colli[471] stromenti di fiato sempre sostenen [sie], denen eine Notenpassage mit dem Zusatze come una fantasia folgt.

S. 227. Diese Seite ist besonders interessant. Das Duett »O namenlose Freude« erscheint hier zum ersten Male; die wohlbekannten ersten Takte waren der »alten Oper« entnommen (s. Nottebohm, I. Beethoveniana S. 86), wurden jedoch ohne Text hingeschrieben, da Beethoven sich noch nicht darüber entschieden hatte, wie die Worte »O namenlose Freude, mein Mann an meiner Brust« einer Musik angepaßt werden sollten, welche für folgendes Versmaß komponiert war: »Nie war ich so froh wie heute, niemals fühlt' ich diese Freude.« Der Gegenstand wird fürerst nicht über diese Seite hinaus fortgesetzt; die beiden folgenden Seiten 228 und 229 sind leer.

S. 230–237. Da die Grundgedanken zu dem Duett festgestellt waren, so ist die nächste Aufgabe in der Reihenfolge, die Erkennungsszene zu entwerfen, welche zwischen dem Abgange von Pizarro und Rocco und dem Duett in der Mitte liegt. Es ist die Stelle, welche gedruckt ist bei Jahn im Anhange S. 192–194. Die Arbeit und Mühe, welche diese drei Seiten Rezitativ dem Komponisten machten, kann nur nach einer Prüfung dieser acht Seiten von Skizzen gebührend gewürdigt werden. Die szenischen Bemerkungen: »Leonore noch ohne Bewußtsein« usw., wie sie bei Jahn stehen, finden sich hier alle vollständig. Auch schweift der Komponist nicht von seiner Aufgabe ab – sofern unsere Notizen richtig sind – mit Ausnahme eines einzigen Beispiels. Es kam ihm nämlich am Ende von S. 234 in den Sinn, wie er die Worte »O namenlose Freude« der alten Melodie anpassen könne: er schickte eine Note vorher und teilte das Wort:


13. Kapitel. Das Jahr 1805

S. 238–242 enthalten zum Teil dasselbe, hauptsächlich aber das Duett »O namenlose Freude«. Ein später verworfener Gedanke erscheint am Schlusse von S. 240:


13. Kapitel. Das Jahr 1805

13. Kapitel. Das Jahr 1805

[472] S. 243 ist leer.

S. 244–287. Man muß sich erinnern, daß in der ursprünglichen Gestalt der Oper die Szenen des letzten Finales sämtlich im Gefängnis spielten, und nicht, wie es 1814 von Treitschke geändert wurde, im Hofe des Gefängnisses – eine Änderung zum Schlechteren, wie wir glauben. Jedenfalls kann nunmehr die sehr wirksame Stelle, welche das Finale eröffnet (Jahn S. 149–152), nicht gespielt werden. Diese und das Urteil über Pizarro (bei Jahn im Anhange), mit dem begleitenden Chore, füllt fast ausschließlich diese 44 Seiten.

S. 288–295 Schlußchor: »Preis't mit hoher Freude Gluth«, von welchem wir einige vorläufige Gedanken auf den vorhergehenden Seiten gefunden haben. In der Mitte dieser Skizzen (S. 291) steht jene in unserem Texte (S. 463) mitgeteilte Bemerkung: »Am 2ten Juni« usw.

So waren die Skizzen bis ans Ende des ursprünglichen Textes geführt worden; doch waren sie keineswegs beendigt. Neue Gedanken zu früheren Szenen und Zusätze zum Texte gaben dem Komponisten noch viel zu tun.

S. 298–309 erscheinen wiederum die letzten Szenen des Finales.

S. 310–319 ist Florestans Arie mit teils neuen, teils sehr veränderten Melodien Gegenstand der Skizzen.

S. 320. Hier wird das Melodrama – Rocco und Fidelio im Gefängnis – skizziert; dasselbe wurde jedoch erst im Jahre 1814 ausgearbeitet.

S. 321–333, wiederum das Finale mit neuen Motiven zu den Worten: »Wer ein holdes Weib errungen, stimm' in unsern Jubel ein.«

S. 334–340. Hier ist eine vollständig neue Arie skizziert, welche erläutert wird durch zwei Bemerkungen, die Beethoven auf S. 344 geschrieben hat, eine jener letzten sechs Seiten, die offenbar nicht an ihre richtige Stelle gebunden sind. Diese Bemerkungen lauten: »Duetto mit Müller und Fidelio für sich«, und »Arie für Fidelio, ein andrer Text der mit ihr einstimmt«. Dieser »andere Text« füllt diese Seiten; und er ist jener von dem Rezitativ und der Arie, welche in Jahns Ausgabe dem »Duett mit Müller8 und Fidelio« folgen, nämlich das Rezitativ »Ach, brich noch nicht«, und die Arie »Komm, Hoffnung«.

[473] S. 341–346. Diese verkehrt gebundenen Seiten enthalten Instrumentalskizzen und Bemerkungen für die Oper, welche mit einigen Andeutungen zu Szenen des ersten Aktes schließen. –


Die Ur-Leonore.


Durch die Bemühungen Otto Jahns, Gustav Nottebohms und Erich Priegers ist es möglich geworden, die Umwandlungen, welche das Werk von seiner ersten Aufführung bis zu seinen Drucklegungen erfahren hat, einigermaßen zu übersehen. Durch das rätselhafte Verschwinden bzw. die Entwendung mehrerer Partituren war es ungemein schwierig geworden, festzustellen, in welcher Gestalt das Werk 1805 (Fidelio, dreiaktig), 1806 (Leonore, zweiaktig) und 1814 (Fidelio, zweiaktig) über die Bühne gegangen ist, da die Angaben über Weglassung bzw. Einfügung einzelner Nummern durchaus unzulänglich und nicht frei von Widersprüchen waren. Da gelang es Otto Jahn, um 1850 aus Stimmen eine Partitur der zweiten Bearbeitung (1806) herzustellen; einen Klavierauszug derselben gab er Ende 1853 bei Breitkopf und Härtel heraus, auch bereits mit Andeutung von Abweichungen gegenüber der Gestalt von 1805. Nach einem weiteren halben Jahrhundert hat dann Erich Prieger auch das Material für eine Wiederherstellung der Originalgestalt des Werkes von 1805 zusammengebracht, dasselbe in Partitur gesetzt und im Klavierauszuge bei Breitkopf und Härtel herausgegeben, vor allem auch seine Aufführung zur Zentenarfeier im Berliner Kgl. Opernhause bewirkt. Dem Vorworte Priegers zum Klavierauszuge entnehmen wir zum Teil die folgenden Angaben.

In Druck erschienen zunächst 1807 bei Breitkopf und Härtel in Leipzig drei Nummern der zweiten Bearbeitung (1806): das später gestrichene Terzett in Es-Dur »Ein Mann ist bald genommen«, das Kanon-Quartett und das Duett »Gut, Söhnchen, gut«; erst 1810 folgte ein Klavierauszug derselben Bearbeitung im gleichen Verlage, aber ohne Ouvertüre und ohne Finales. Von den Ouvertüren erschien zuerst 1810 bei Breitkopf und Härtel in Partitur die große in C-Dur Nr. III, mit welcher die Oper 1806 gegeben worden; die C-Dur Nr. II, mit welcher die Aufführung 1805 stattfand, gab Ende 1853 O. Jahn bei Breitkopf und Härtel heraus (in Leipzig aufgeführt 27. Jan. 18539). Die »erste« C-Dur, Ouvertüre, die Haslinger [474] als Op. 138 aus dem Nachlaß herausgab, ist doch wirklich die allererste, diejenige, welche nach Schindlers Bericht (3. Aufl. I. 127) nur einmal bei Lichnowsky probiert und als zu einfach zurückgelegt wurde, deren Eigentumsrecht aber nichtsdestoweniger Haslinger sofort erwarb. Zwar wies Nottebohm (I. Beeth. [1872] S. 60 ff.) Skizzen der Ouvertüre zusammen mit solchen der C-Moll-Symphonie auf und folgerte, daß die Ouvertüre in der Zeit zwischen April 1807 und Dezember 1808 komponiert sein müsse (das. S. 70). Aber in der 1880 veröffentlichten Analyse des Skizzenbuchs von 1803 (zwischen Oktober 1802 und April 1804) stellte er selbst (S. 79) das Vorkommen von Skizzen zur Leonore zwischen denen der Eroica fest, was beweist, daß Beethoven schon 1803 an der Oper gearbeitet hatte, und »daß diese Arbeit, als die Aufführung der Paerschen Oper [3. Oktober 1804] bekannt wurde, schon so weit vorgerückt war, daß an ein Liegenlassen derselben nicht mehr zu denken war«. Damit brach aber die Beweisführung, daß Op. 138 erst 1807–8 geschrieben sein müsse, in sich zusammen, und man wird nicht umhin können, mit Kalischer (»Die Anzahl der Leonoren-Ouvertüren Beethovens«, Vossische Zeitung 8. Juni 1890) Schindlers Bericht Glauben zu schenken (Biographie [1860] II. 42), daß sich Haslinger (Steiner u. Co.) seit Jahren im Besitz des Manuskripts der ersten Ouvertüre zu Leonore befand, »die 1805 nach einem Probeversuch beseitigt worden war«, und daß Beethoven 1823 (also zu einer Zeit, wo Schindler Beethovens Vertrauter war) deren endliche Veröffentlichung forderte, die aber Haslinger mit den Worten ablehnte: »Wir haben jene Manuskripte gekauft und bezahlt, folglich sind sie unser Eigenthum und können wir damit thun, was wir wollen.« Es bleibt nur das eine problematisch, was Haslinger zu der Angabe veranlassen konnte, daß er das Manuskript in einem Packet Tänze, das er aus dem Nachlaß Beethovens erworben, gefunden habe. Kalischer macht dazu auf einen Brief Fanny Hensels an Rebekka Dirichlet aufmerksam, den dieselbe 1836 nach dem Düsseldorfer Musikfest unter Mendelssohn geschrieben (s. Hensel »Die Familie Mendelssohn« II. S. 9):

»Ach Beckchen! Eine Ouvertüre zur Leonore haben wir kennen gelernt; ein neues Stück. Sie ist notorisch nie gespielt worden, sie gefiel Beethoven nicht, und er legte sie zur Seite. Der Mann hat keinen Geschmack gehabt! Sie ist so sein, so interessant, so reizend, wie ich wenig Sachen kenne. Haslinger hat eine ganze Auflage gedruckt und giebt sie nicht aus. Vielleicht thut ers nach diesem Erfolg.« Das ist wohl in der Tat geschehen; doch hatte Haslinger das Werk schon am 7. Februar [475] 1828 in einem Konzert Bernhard Rombergs und auch anderweit spielen lassen. Seyfrieds »Beethovens Studien im Generalbaß« usw. (1832) setzt diese Ouvertüre in Beziehung mit der 1807 projektierten aber nicht erfolgten Prager Aufführung der Oper: »Für die Prager Bühne entwarf Beethoven eine neue minder schwierige Ouvertüre, welche der nachmalige k. k. Hofmusikalienhändler Haslinger in der Auktion erstand«, wozu der Verleger (Haslinger) anmerkt: »Diese Ouvertüre ist bereits in Partitur und Orchesterstimmen gestochen und wird nebst anderen Arrangierungen hiervon noch im Laufe dieses Jahres erscheinen.« Auch Nottebohm hatte, geleitet von der Überzeugung, daß die Skizzen des Werkes in das Jahr 1807 gesetzt werden müßten, angenommen, daß er dasselbe für die Prager Aufführung bestimmt hatte und ist wohl dabei durch die Notiz Seyfrieds stark beeinflußt gewesen; diese entbehrt aber angesichts der komplizierten Geschichte des in Händen Haslingers befindlichen Manuskripts der Glaubwürdigkeit und ist vielleicht ganz auf das Konto Haslingers zu setzen, der die Wahrheit wohl nicht sagen mochte, weil er fürchtete, den Marktwert des Werkes dadurch zu verringern10. Auf alle Fälle bleibt aber problematisch, wie das Manuskript wieder in Beethovens Hände zurückgelangt sein sollte, so daß es von Haslinger aus dem Nachlaß abermals gekauft werden konnte.

Das Endergebnis der Rekonstruktion der Urgestalt von 1805 und [476] der ersten Umarbeitung von 1806 und ihrer Vergleichung mit der letzten Fassung von 1814, für welche die »Fidelio-Ouvertüre« E-Dur neu geschrieben wurde, ist nun die Feststellung, daß für die Aufführungen von 1806 hauptsächlich zum Teil sehr gewaltsame Ausmerzungen und Beschneidungen vorgenommen wurden, in welche zu willigen Beethoven schwer genug geworden sein wird (selbst in der Ouvertüre entdeckte schon Mendelssohn solche). Otto Jahn spricht sich darüber folgendermaßen aus (zum Schluß des Vorwortes seines Klavierauszugs): »Eine aufmerksame Vergleichung wird Jedem zeigen, daß im Allgemeinen die erste Bearbeitung nicht nur die längste sondern auch die größte war. Wenn es nicht zu leugnen ist, daß an einigen Stellen Längen durch die zweite Bearbeitung beseitigt worden sind, so stand doch Beethoven bei dieser Operation, die er gegen seine Überzeugung und Neigung vornahm, zu sehr unter dem Gebot des absoluten Kürzens. Mehrere Stücke sind dabei fast verstümmelt, und eine Anzahl kleiner Kürzungen von einem oder wenigen Takten hat doch dem Rhythmus, der Harmonie und dem Ausdruck Schaden gethan. Einige dieser Übelstände sind im ›Fidelio‹ wieder beseitigt, allein es ist zu bedauern, daß Beethoven bei dieser Bearbeitung nicht die erste zu Grunde gelegt hat.« Bedenkt man, wie Beethoven sein Lebenlang ältere Ideen immer neu umgoß und zu vollkommeneren Gestaltungen führte, so wird man gewiß begreiflich finden, daß er bei der Neubearbeitung nach 10 Jahren nicht auf die erste Form zurückgriff, sondern an allen Ecken und Enden Änderungen eingreifendster Art vornahm, so daß nach seiner eigenen Aussage »beinahe kein Musikstück sich gleich blieb« [Anzeige vom 28. Juni 1814), da es ihm Bedürfnis war, fast in allen Nummern »seiner jetzigen Unzufriedenheit einige Zufriedenheit anzuflicken« (Brief an Treitschke 14. Mai 1814). Den von Jahn befürworteten Versuchen, die von Beethoven wenn auch mit schwerem Herzen gestrichenen Nummern der Oper zurückzugeben, redet Prieger nicht das Wort, sondern bemerkt sehr besonnen: »Wo man das Experiment versuchte, ist man bald davon abgekommen. In der Tat ist ›Fidelio‹ ein abgeschlossenes Werk, das Beethoven in dieser Fassung der Nachwelt übergeben hat. Die Berechtigung, daran immer noch zu modeln und herumzudoktern, darf wohl allgemein bestritten werden.« Die ausgemerzten Nummern sind das Es-Dur-Terzett (Rocco, Marcelline, Jaquino) »Ein Mann ist bald genommen« und das C-Dur-Duett (Marcelline und Fidelio) »Um in der Ehe froh zu leben«; in der zweiten Bearbeitung (1806) gestrichen, aber in der dritten wiederhergestellt ist Roccos Arie »Hat man nicht auch Gold beineben«. Auf [477] die zahlreichen Umgestaltungen in den einzelnen Nummern soll hier nicht eingegangen werden; es sei aber wenigstens auf die sehr bedeutsame Umgießung der Vorbereitung der E-Dur-Arie (»Komm, Hoffnung«) hingewiesen, da statt des leidenschaftlich erregten »Abscheulicher, wo eilst du hin?« ein durch das matte E-Moll kontrastierendes schmerzlich klagendes Rezitativ vorausging, nach welchem der Eintritt des E-Dur belebend, anstatt wie in der nachherigen Gestalt beruhigend wirkt.

Es erscheint gewiß wie ein Akt kaltblütiger Grausamkeit, so unbarmherzig das romanhafte Gebäude zu zerstören, welches sich für eine Zeit von 30 Jahren auf dem sandigen Fundamente erhoben hatte, das Schindler in seiner Geschichte von der Gräfin Guicciardi gelegt hat, und worin vermittelst einer eingebildeten Verbindung die Oper Leonore einen beträchtlichen Bestandteil bildet. Facts are stubborn things, sagt das englische Sprichwort, und in diesem Falle sind die Tatsachen mit dem Roman unvereinbar. Es gibt eine alte Anekdote von einem Redner, welcher, als man ihm erzählte, daß seine Ansichten im vorliegenden Falle in direktem Widerspruche mit den Tatsachen ständen, antwortete: »Um so schlimmer für die Thatsachen!« Wir empfehlen sein Beispiel den Verfassern der Beethovenromane.

Das schöpferische Genie Beethovens, sein unermüdlicher Fleiß und der Ehrgeiz, mit Cherubini auf dessen eigenstem Felde zu wetteifern, erklären hinlänglich die ungewöhnlichen Vorzüge dieses Werkes, Mangel an praktischer Erfahrung in der Opernkomposition seine Mängel. Von Juni bis wahrscheinlich zum September lebte Beethoven in völliger Abgeschlossenheit zu Hetzendorf, eifrig beschäftigt, das Chaos des Skizzenbuches in die Ordnung und Schönheit der Partitur der Leonore umzuwandeln, woran er, wie er Schindler erzählte, in den schönen Sommertagen in dem Schatten von Schönbrunn sitzend, arbeitete. Diese Abgeschlossenheit wird für unsere Kenntnis nur unterbrochen durch die erste Begegnung mit Cherubini. Einstmals im Juli – denn Cherubini kam nach dem 5. jenes Monats nach Wien, und Vogler war am 28. in Salzburg – »waren bei Sonnleithner Cherubini, Beethoven und Vogler zusammen; alle spielten; Vogler zuerst und endlos, so daß die Gesellschaft darüber zu Tisch ging. Beethoven war voller Aufmerksamkeit und Verehrung gegen Cherubini«. So erzählt Jahn nach einer ihm von Grillparzer gemachten Mitteilung. Czerny erzählte ihm: »B. hat Cherubini 1805 nicht freundlich aufgenommen, worüber dieser sich später gegen Czerny beklagte.« Nach Grillparzers Aufzeichnungen (»Erinnerungen [478] an Beethoven« im 8. Bande der 1. Ausgabe seiner Werke) war aber Beethoven der einzige, welcher bei dem endlos improvisierenden Vogler bis zu Ende aushielt. Vgl. Kalischer »Grillparzer und Beethoven« (»Nord und Süd« LVI. 166).

Als zu Ende der Sommersaison Beethoven in die Stadt zurückkehrte, war seine Oper so weit fertig, daß mit den Proben begonnen werden konnte. Hier fand ihn Ries, der uns bei jener Gelegenheit die scherzhafte Szene des Wiedersehens beschreibt. »Er hatte mich wirklich lieb«, sagt er S. 116, »und gab mir davon einmal einen sehr komischen Beweis in seiner Zerstreuung. Als ich nämlich aus Schlesien zurück kam, wo ich auf Beethovens Empfehlung längere Zeit auf den Gütern des Fürsten Lichnowsky als Clavierspieler mich aufgehalten hatte, und in sein Zimmer trat, wollte er sich eben rasiren, und war bis an die Augen (denn so weit ging sein erschrecklich starker Bart) eingeseift. Er sprang auf, umarmte mich herzlich und siehe da, er hatte die Schaumseife von seiner linken Wange auf meine rechte so vollständig übertragen, daß er auch nichts davon zurückbehielt. Ob wir lachten? Auch mußte Beethoven wohl Privatnotizen von daher über mich haben; denn er kannte mehrere meiner jugendlichen Unbesonnenheiten, mit denen er mich jedoch nur neckte.«

Bei all seiner Freundlichkeit gegen Ries hatte Beethoven jedoch die Geschichte mit dem Andante favori (S. 449) weder vergessen noch vergeben. »Eines Tages (Notizen S. 102), wo eine kleine Gesellschaft nach dem Concerte im Augarten (Morgens um 8 Uhr) mit dem Fürsten [Lichnowsky] frühstückte, worunter auch Beethoven und ich waren, wurde vorgeschlagen, nach Beethoven's Haus zu fahren, um seine, dazumal noch nicht aufgeführte Oper Leonore zu hören. Dort angekommen, verlangte Beethoven auch, ich sollte weggehen, und da die dringendsten Bitten aller Anwesenden fruchtlos blieben, that ich es mit Thränen in den Augen. Die ganze Gesellschaft bemerkte es. Fürst Lichnowsky, mir nachgehend, verlangte, ich möchte im Vorzimmer warten, weil er selbst die Veranlassung dazu gegeben habe, und nun die Sache ausgeglichen haben wollte. Mein gekränktes Ehrgefühl ließ dies jedoch nicht zu. Ich hörte nachher, Lichnowsky wäre gegen Beethoven wegen seines Betragens sehr heftig geworden, da doch nur Liebe zu seinen Werken Schuld an dem ganzen Vorfalle und folglich auch an seinem Zorne sei. Diese Vorstellungen führten jedoch nur dahin, daß er nun auch der Gesellschaft nicht mehr spielte.«

[479] So geschah es, daß für Ries die einzige Gelegenheit, jemals die Musik zu Leonore-Fidelio in ihrer ursprünglichen Gestalt zu hören, verloren ging. In Bonn, welches jetzt unter französischer Herrschaft stand, war nämlich Ries der Konskription unterworfen, und es kam eine Mitteilung, daß er zur ersten Ziehung gehöre. »Er war daher«, wie das Harmonicon (1824, Nr. 15) sagt, »genöthigt, unverzüglich nach Hause zurückzukehren, denn sein Ungehorsam würde seinen Vater und seine Familie der Gefahr des Verderbens ausgesetzt haben. Da die Armee von Austerlitz damals im Anmarsch gegen Wien war, so konnte er keinen Paß erhalten, um direkt zurückzukehren, sondern war gezwungen, den Weg über Prag, Dresden und Leipzig zu nehmen. Der Tag für seinen Eintritt ins Regiment war schon bestimmt, unter der Strafe, als Deserteur erklärt zu werden; deshalb schickte er sich an, den mühsamen Weg von Wien nach Leipzig zu Fuß zu machen; denn da alle jene, welche vor der Annäherung der französischen Armee flohen, diese Richtung nahmen, so waren alle möglichen Mittel des Fortkommens von solchen in Beschlag genommen, welche mehr Macht, Einfluß und Geld hatten als unser junger Musiker.« Die Skizze im Harmonicon setzt irrtümlich Ries' Abreise aus Wien in den Dezember; Thayer korrigiert in seinem Handexemplar, ›Septembre‹.

Ehe Ries von Wien abreiste, bewies ihm Beethoven, der selbst nicht in der Lage war, ihm Geldunterstützung zukommen zu lassen, noch einmal seine freundschaftliche Gesinnung, indem er ihm folgenden Brief an die Fürstin Liechtenstein mitgab11.


»Verzeihen Sie, durchlauchtigste Fürstin! wenn Sie durch den Ueberbringer dieses vielleicht in ein unangenehmes Erstaunen gerathen. Der arme Ries, mein Schüler, muß in diesem unglückseligen Kriege die Muskete auf die Schulter nehmen, und – muß zugleich schon als Fremder in einigen Tagen von hier fort. – Er hat nichts, gar nichts, muß eine weite Reise machen. Die Gelegenheit zu einer Academie ist ihm unter diesen Umständen gänzlich abgeschnitten. – Er muß seine Zuflucht zur Wohlthätigkeit nehmen. Ich empfehle Ihnen denselben. Ich weiß es, Sie verzeihen mir diesen Schritt. Nur in der äußersten Noth kann ein edler Mensch zu solchen Mitteln seine Zuflucht nehmen.

In dieser Zuversicht schicke ich Ihnen den Armen, um nur seine Umstände [480] in etwas zu erleichtern; er muß zu Allen, die ihn kennen, seine Zuflucht nehmen.


Mit der tiefsten Ehrfurcht

L. van Beethoven


[Adresse] Pour Madame la Princesse Liechtenstein etc.


»Der Brief«, sagt Ries, »wurde (was Beethovens höchsten Zorn erregte) nicht abgegeben, doch verwahrte ich das auf ein kleines, ungleich beschnittenes Quartblättchen geschriebene Original als einen Beweis von Beethovens Freundschaft und Liebe für mich.«

»Als Ries zu Coblenz ankam«, fährt das Harmonicon fort, »stellte er sich unverzüglich vor der Conscriptions-Commission; und hier rettete ihn ein Umstand, den er immer als ein schweres Mißgeschick betrachtet hatte. In sehr früher Jugend hatte Herr Ries in Folge der Blattern die Sehkraft des einen Auges verloren, und wegen dieses Mangels wurde er als untauglich zum Dienen erklärt und freigelassen.« Drei Jahre verstrichen, ehe wir Ries in Wien wieder antreffen; den größeren Teil dieser Zwischenzeit brachte er in Paris in so entmutigenden Umständen zu, daß er ernstlich daran dachte, seinen Beruf zu verlassen. Ries' Op. 1 (zwei Klaviersonaten) trägt übrigens pflichtschuldigerweise die Widmung an seinen selbstlosen Lehrer. –

Im Theater an der Wien hatte keine der in dieser Saison neu aufgeführten Opern sich längere Zeit auf der Bühne behauptet, obgleich zwei derselben auf Texte Schikaneders, »Swetards Zaubergürtel«, komponiert von Anton Fischer, und »Vestas Feuer«, komponiert von Joseph Weigl, »mit ganz ungewöhnlicher Pracht an Dekorationen und Kleidungen« zur Aufführung kamen. Es war jetzt Herbst, und die Einnahmen deckten die Ausgaben des Theaters nicht. »Aus der Ferne«, sagt Treitschke, »wälzte sich das Ungewitter eines Krieges gegen Wien und raubte den Zuschauern die zum Genusse eines Kunstwerkes erforderliche Ruhe. Doch eben deswegen bot man das Möglichste auf, die sparsam besuchten Räume des Hauses zu beleben. Fidelio sollte das Beste thun und so ging die Oper unter keineswegs glücklichen Konstellationen am 20. November in Scene. – Nur die weiblichen Rollen konnte man durch Mlles. Milder und Müller genügend besetzen; die Männer ließen desto mehr zu wünschen übrig.«

Anna Milder war den 13. Dezember 1785 geboren zu Konstantinopel, wo ihr aus Salzburg stammender Vater und auch ihre Mutter bei dem Botschafter bedienstet waren und vollendete also gerade ihr 20. Jahr. Sie war jene Schülerin Neukomms, welcher Haydn einige [481] Jahre vorher gesagt hatte: »Liebes Kind! Sie haben eine Stimme wie ein Haus!« Schikaneder engagierte sie zuerst, und am 9. April 1802 begann sie ihre theatralische Laufbahn mit der Rolle der Juno in der Oper »Der Spiegel von Arkadien« von Süßmayer, der für sie eine neue, große Arie hinzukomponiert hatte. Beethoven hat die Partie des Fidelio für sie geschrieben. In späteren Jahren war dieselbe eine ihrer Hauptrollen; damals jedoch ließ ihre Darstellung, nach den gleichzeitigen Berichten zu urteilen, noch manches zu wünschen übrig, da es ihr eben auch an Bühnenerfahrung fehlte12.

Louise Müller, welche die Marcelline sang, »hat sich schon [im April 1805] in einigen Jahren zu einer geschmackvollen recht braven Sängerin gebildet, wenn sie gleich nicht von einer sehr ausgezeichneten Stimme unterstützt wurde«. Sie wurde nach Castellis Meinung »eine gar liebliche Schauspielerin und brave Sängerin, besonders im heiteren Fache«.

Demmer, ausgebildet in Köln [etwa unser alter Bekannter von Bonn?]13 besaß nach einem Berichte aus dem Jahre 1799, in welchem er zu Frankfurt am Main sang, »eine fest ausdauernde Stimme und viel Höhe, besonders aber spielte er etwas komische Tenorrollen vortrefflich. Am besten waren ihm gelungen Arien, die wenig Geläufigkeit und mehr Tragen im Vortrage erforderten«. Castelli lobt ihn; doch alle gleichzeitigen Berichte bedauern, daß er der Partie des Florestan, für welche er damals bestimmt wurde, nicht gewachsen war.

Sebastian Meyer, verschwägert mit Mozart, der musikalische Reformator dieses Theaters, »war als Sänger nicht bedeutend, aber ein wackerer Schauspieler«, wie Castelli berichtet, welcher mit ihm genau bekannt war. Schindler erzählt eine Anekdote von ihm in bezug auf die ihm übertragene Rolle des Pizarro, welche offenbar von Beethoven herrührt, und welche die hohe Meinung erkennen läßt, die er von seinen Fähigkeiten hatte. »Er pflegte«, sagt er (I, S. 132), »bei Mozart zu schwören, und überhaupt sich Alles zuzutrauen. In Beziehung nun auf dieses große Selbstvertrauen faßte Beethoven den Vorsatz, ihn von solcher Schwäche zu curiren«, zu welchem Zwecke folgende Stelle in der Arie des Pizarro14


13. Kapitel. Das Jahr 1805

13. Kapitel. Das Jahr 1805

[482] dienen sollte. Hier »bewegt sich die Singstimme über einem von allen Streich-Instrumenten ausgeführten Octavengang, so zwar, daß der Sänger bei jedem zu singenden Ton einen Vorschlag der kleinen Secunde vom Orchester zu hören bekommt. – Der Pizarro von 1805 vermochte trotz allem Krümmen und Gesticuliren dem gefährlichen Hinderniß nicht auszuweichen, zumal die schadenfrohen Spieler da unten die Malice gehabt, die kleine Secunde durch einen Accent noch mehr hervortreten zu machen; somit mußte der wuthschnaubende Pizarro die ganze Stelle hindurch am Bogen der Spieler hängen bleiben. Das verursachte Gelächter. Darüber erhob aber der in seiner Einbildung verletzte Sänger ein Geschrei und warf mit Ingrimm dem Componisten unter andern auch die Worte an den Kopf: ›Solchen verfluchten Unsinn hätte mein Schwager nicht geschrieben.‹«

Weinkopf (Don Fernando) hatte eine reine, ausdrucksvolle Baßstimme; doch war seine Partie zu kurz und unbedeutend, um auf den Erfolg oder den Fall der Oper Einfluß zu üben.

Caché (Jaquino) war nach Castelli ein guter Schauspieler, »welcher sich aber mitunter auch in der Oper verwenden lassen mußte, weil Regisseur Meyer recht gut wußte, daß in der komischen Oper ein gutes Spiel oft besser wirke als eine gute Stimme. Seine Singpartieen mußten ihm gewöhnlich eingegeigt werden, bevor man ihn zu einer Probe ließ.«

Rothe (Rocco) war als Schauspieler und Sänger so untergeordnet, daß sein Name in keiner der bekannten Quellen der Wiener Theatergeschichte zu finden ist.

[483] Man wird der Mitteilung Treitschkes gern Glauben schenken, daß die Aufführung mit beträchtlichen Schwierigkeiten verbunden war. Seine früher angeführten Worte, sowie auch gewisse Äußerungen Beethovens aus einer um einige Monate späteren Zeit lassen erkennen, daß die Oper mit vieler Mühe auf die Bühne gebracht wurde, und daß man die Unzulänglichkeit der Sänger nicht einmal durch ausreichende Proben auszugleichen suchte. Seyfried schreibt: »Die Oper studirte ich selbst nach seiner Angabe mit dem Sänger-Personale ein, hielt alle Orchesterproben und leitete persönlich die Vorstellungen.« In jenem Jahre war Seyfried noch jung, talentvoll, ehrgeizig und voll Eifer, und ließ es von seiner Seite gewiß nicht an Mühe fehlen, Erfolg zu erringen.

Indem wir von den Proben sprechen, kommt uns einer jener jugendlichen Zornausbrüche ins Gedächtnis, welcher dabei vorfiel, und welchen einige von Beethovens Freunden mit einem Lächeln vorübergehen ließen, während andere daran ernstlichen Anstoß nahmen. Hofsekretär Mähler erinnerte sich, daß bei einer der Generalproben das dritte Fagott fehlte, worüber Beethoven wütete und tobte. Lobkowitz, der gegenwärtig war, behandelte die Sache leicht; zwei Fagotte seien anwesend, meinte er, die Abwesenheit des dritten möchte wohl keinen großen Unterschied machen. Darüber wurde der Komponist so entrüstet, daß, als er beim Nachhausegehen über den Lobkowitz-Platz kam, er sich nicht enthalten konnte, sich umzuwenden und in das große Tor des Palastes hineinzurufen: »Lobkowitzscher Esel!« Jedermann macht natürlich die Mühe und Arbeit, die er bei einem Werke gehabt, zum Maßstabe seines Wertes. Das Skizzenbuch hat uns belehrt, welches mühsame Studium Beethoven auch den bedeutungslosesten Stellen der Leonore zuwendete. Jeder Takt war ihm deshalb doppelt teuer: und wer die Wichtigkeit weniger Noten des Kontrafagotts nicht einsehen konnte, war in seinen Augen »ein Esel«. Diese Betrachtung führt uns noch eine andere Seite der »keineswegs günstigen Constellation« vor Augen, nämlich die Schwierigkeiten, die der Meister mit den Sängern zu überstehen hatte.

Jeder Chorsänger weiß aus Erfahrung, welchen Einfluß oft die Änderung weniger Noten auf die leichte Ausführbarkeit eines Vokalmusikstückes üben kann. In einer Arie oder einem Konzertstücke kann eine Stelle, gering fürs Auge und auch fürs Ohr, wenn sie auf einem Instrumente gespielt wird, die beabsichtigte Wirkung des Ganzen vernichten, weil sie der Stimme nicht wohl angepaßt ist. In solchen Fällen ist der Komponist, wenn er nicht selbst Gesangeskundiger und dadurch [484] imstande ist, die wirkliche Schwierigkeit zu begreifen, leicht zu der Annahme geneigt, daß die Klagen der Sänger sich auf bloße Grillen, auf verkehrten Geschmack und Widerspruchsgeist gründen. Daher weist er es zurück, Änderungen vorzunehmen, und doch könnte oft ein geringes Opfer in dem musikalischen Gedanken durch die gesteigerte Lebendigkeit und Wirkung der Aufführung doppelt belohnt werden. Es gab in der Tat in der Vokalpartitur der Leonore solche Gründe des Anstoßes.

Schindler macht über diesen Punkt einige verständige Bemerkungen (in der 3. Aufl.), und dieselben werden bestätigt durch seine Erzählung von den Unterhaltungen mit Cherubini und Anna Milder. In dem Jahre seines häufigen Verkehrs mit Beethoven und auch später noch war die Leonore ein Werk, über dessen Ursprung und Geschichte er sich eifrig Mühe gab, Genaueres zu erfahren. Daher ist die Geschichte dieses Werkes15, wie er sie schließlich ausgeführt hat, bei weitem befriedigender, als andere seiner Berichte, die anspruchsvoller auftreten. Selbst seine Bezeichnung der kleinen C-Dur-Leonorenouvertüre Op. 138 als der ersten, welche die erste Auflage im Anschluß an Nottebohm16 als Mißverständnis qualifizierte, ist durch weitere Studien Nottebohms (vgl. S. 475) bestätigt worden. Wir beschränken uns auf Anführung einiger Stellen aus seiner Erzählung

»Es ist außer Zweifel«, sagt er (S. 134), »daß Beethoven, zunächst durch natürliche Richtung seines Genius zur Instrumentalmusik, als der Phantasie den freiesten Spielraum gewährend, hingedrängt, aber auch noch von den Einwirkungen des Pianoforte so stark befangen war, daß ihm jede Einschränkung als die größte Schwierigkeit bei der Composition für Singstimmen erscheinen mußte. Die Gewohnheit, sich den Eingebungen der Phantasie frei zu überlassen, eingeschränkt allein durch die Gesetze der Harmonie, des Rhythmus und Kenntniß der Natur der Instrumente, diese Gewohnheit, in Verbindung mit noch einem zweiten, dem Unvermögen, selber einen guten Ton hervorzubringen, – das zusammen läßt errathen, welchen Kampf Beethoven beim Ausarbeiten dieser Opern-Partitur mit sich selber zu bestehen gehabt.«

»Bei Anhörung des Fidelio wollte Cherubini zu dem sicheren Schluß gelangt sein, daß dessen Autor sich bis dahin noch viel zu wenig mit dem Studium der Gesangskunst befaßt habe, woran Salieri, der einstige [485] Führer in dieser Abtheilung, nicht Schuld gewesen, denn auch Cherubini will von diesem gehört haben, wie es ihm mit seinem Schüler ergangen. Der um volle zehn Jahre ältere französische Meister erlaubte sich demnach, dem Wiener das Gesangswesen nachdrücklich anzuempfehlen und ließ zu diesem Zwecke die Schule des Pariser Conservatoirs kommen, um sie ihm zu verehren.« Dieses Exemplar (fügt Schindler in der Anmerkung bei) hat sich bis in die letzten Lebenstage unsers Meisters in seiner kleinen Bibliothek erhalten, aber auch die deutsche Übersetzung – – stand daneben. –

»Was war es wohl«, (heißt es ferner) »das die Sänger zu Klagen veranlaßt und verdrießliche Conflicte für alle Theile herbeigeführt hat? Beethoven's Hartnäckigkeit, das Geschriebene für gut und singbar zu halten, diese war der Stein des Anstoßes, den weder bescheidene Vorstellungen noch diplomatische Unterhandlungen zu beseitigen im Stande gewesen.

Von den Sängern in dieser Oper zu Wien war es zuletzt Frau Milder-Hauptmann, die dem Verfasser 1836 in Aachen über jene Vorgänge Mittheilungen gemacht. Sie sagte unter anderem aus, daß auch sie, hauptsächlich wegen der unschönen, unsingbaren, ihrem Organ auch noch widerstrebenden Passagen im Adagio der Arie in E dur, harte Kämpfe mit dem Meister zu bestehen gehabt, – jedoch vergeblich, bis sie 1814 entschieden erklärte, mit jener so gestalteten Arie nicht wieder die Bühne betreten zu wollen. Das wirkte.«

Übrigens waren die Gemüter der Wiener, abgesehen von dem kleinen Kreise des Schauspielhauses, damals durch wichtigere Dinge beschäftigt und in Unruhe versetzt, als durch eine neue Oper im Theater an der Wien mit Musik von Beethoven. Am 20. Oktober war Ulm gefallen; am 30. rückte Bernadotte, auf seinem Marsche an die Donau und dieselbe entlang, in Salzburg ein. Wien war unbeschützt; der Adel, die großen Bankiers und Kaufleute, überhaupt alle, deren Vermögen und Beruf es ihnen gestattete, und darunter gerade die Klassen der Gesellschaft, in welchen Beethoven sich bewegte, welche seine Musik zu schätzen wußten, und auf deren Beifall seine Oper sicher rechnen konnte, flüchteten aus der Hauptstadt. Am 9. November reiste die Kaiserin ab; am 10. hatten die französischen Armeen die Dörfer, welche wenige Meilen westlich von Wien liegen, erreicht und besetzten dieselben; »am 13. Nov. um 11 Uhr Mittags«, erzählt Hormayr, »zog ganz unvermuthet der feindliche Vortrab, Murat und Lannes an der Spitze, 15000 Mann [486] von allen Waffengattungen, in Schlachtordnung mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel, von der Mariahülser Linie beim Burgthor hier ein, durch die Stadt, über den Kohlmarkt, Graben und Stephansplatz zum Rothen Thurm, die Bürgerwachen salutirend und befremdet über die stille, jedoch nicht die geringste Furcht verrathende Haltung der Einwohner«. Am 15. erließ Bonaparte seine Proklamation von Schönbrunn, wo er sein Hauptquartier genommen hatte. Murat bezog den Palast des Erzherzogs Albert, General Hulin jenen des Fürsten Lobkowitz. Am 23. gibt die Wiener Zeitung in ihrem Leitartikel ein rosenfarbiges Bild von der Lage der Stadt und verbindet damit ein gewaltiges Lob des Eroberers und eine lächerlich bittere Tirade gegen England. Aber während der Okkupation verschwand der österreichische Adler von der Spitze des offiziellen Journals – es war jetzt das Organ Bonapartes.

Gerade in dieser unglücklichsten aller Perioden wurde Beethovens Oper aufgeführt, am 20., 21. und 22. November. Der Theaterzettel lautete:


K. auch K. K. pr. Schauspiel a. d. Wien.

Neue Oper.

Heute Mittwoch den 2. November 1805

wird in dem k. auch k. k. priv. Schauspielhaus an

der Wien gegeben

zum erstenmal

Fidelio

oder

Die eheliche Liebe.

Eine Oper in 3 Akten. Frey nach dem Französischen

bearbeitet von Joseph Sonnleithner.

Die Musik ist von Ludwig van Beethoven.


Personen


Don Fernando, MinisterHr. Weinkopf.

Don Pizarro, Gouverneur

eines StaatsgefängnissesHr. Meier.

Florestan, ein GefangerHr. Demmer.

Leonore, seine Gemahlin,

unter dem Namen FidelioDlle. Milder.

Rocco, KerkermeistHr. Rothe.

Jaquino PförtnerHr. Caché.

WachehauptmannHr. Meister.

Wache Volk.


Die Handlung geht in einem spanischen Staatsgefängnisse, einige Meilen von Sevilla vor.


Die Bücher sind an der Kasse für 15 kr. zu haben.


[487] Preise der Plätze.


Fl.kr.

Große Loge10–

Kleine Loge430

Erstes Parterre und erste

Gallerie–42

Erstes Parterre und erste

Gallerie ein gesperrter Sitz–56

Zweite Gallerie–30

Zweite Gallerie ein

gesperrter Sitz–42

Zweites Parterre und dritte

Gallerie–24

Vierte Gallerie–12


Die Logen und gesperrten Sitze sind bei dem Kassier des K. auch

K. K. National-Theaters zu haben.


Der Anfang um halb 7 Uhr.


Eine hübsche Überraschung bereitete Beethoven sein Freund Stephan von Breuning durch ein kurzes Gedicht, welches er drucken und bei der zweiten Aufführung im Theater verteilen ließ. Wegeler hat uns dasselbe aufbewahrt (S. 64 der Notizen):


Sei uns gegrüßt auf einer größern Bahn,

Worauf der Kenner Stimme laut Dich rief,

Da Schüchternheit zu lang zurück Dich hielt!

Du gehst sie kaum, und schon blüht Dir der Kranz,

Und ältre Kämpfer öffnen froh den Kreis.

Wie mächtig wirkt nicht Deiner Töne Kraft;

Die Fülle strömt, gleich einem reichen Fluß;

Im schönen Bund schlingt Kunst und Anmuth sich,

Und eigne Rührung lehrt Dich Herzen rühren.


Es hob, es regten wechselnd unsre Brust

Lenorens Muth, ihr Lieben, ihre Thränen;

Laut schallt nun Jubel ihrer seltnen Treu,

Und süßer Wonne weichet bange Angst.

Fahr' muthig fort; dem späten Enkel scheint

Ergriffen wunderbar von Deinen Tönen,

Selbst Thebens Bau dann keine Fabel mehr.


Über die Umstände bei der Aufführung lassen wir den Berichterstatter in Kotzebues »Freimüthigem« reden und ihn seine Ansicht über das neue Werk aussprechen.


»Aus Wien, den 26. Dec. 1805.


Das Einrücken der Franzosen in Wien war für die Wiener eine Erscheinung, an die man sich anfangs gar nicht gewöhnen konnte, und es herrschte einige Wochen lang eine ganz ungewöhnliche Stille. Der Hof, die Hofstellen, die meisten großen Güterbesitzer hatten sich wegbegeben; [488] statt daß sonst das unaufhörliche Gerassel der Kutschen betäubend sich durch die Straßen wälzt, hörte man jetzt selten einen Wagen schleichen. Die Gassen waren größtentheils von französischen Soldaten bevölkert, welche im Ganzen gute Mannszucht hielten. In der Stadt selbst wurden beinahe durchaus Officiers einquartiert; die Gemeinen hatte man in die Vorstädte gelegt.

Natürlich war es, daß man wenig an Zeitvertreib dachte, wo die Sorge für die Erhaltung so mächtig wirkte, und die Furcht vor möglichen Collisionen und unangenehmen Auftritten so Manchen und Manche zu Hause erhielt. Auch waren die Theater anfangs ganz leer; nach und nach erst singen die Franzosen an, das Schauspiel zu besuchen, und sie sind es noch jetzt, welche die größte Anzahl der Zuseher ausmachen.

Man hat in den letzteren Zeiten wenig neues von Bedeutung gegeben. Eine neue Beethovensche Oper: Fidelio, oder Die eheliche Liebe, gefiel nicht. Sie wurde nur einigemale aufgeführt und blieb gleich nach der ersten Vorstellung ganz leer. Auch ist die Musik wirklich weit unter den Erwartungen, wozu sich Kenner und Liebhaber berechtigt glaubten. Die Melodieen sowohl als die Characteristik vermissen, so gesucht auch manches darin ist, doch jenen glücklichen, treffenden, unwiderstehlichen Ausdruck der Leidenschaft, der uns in Mozartschen und Cherubinischen Werken so unwiderstehlich ergreift. Die Musik hat einige hübsche Stellen, aber sie ist sehr weit entfernt ein vollkommenes, ja auch ein gelungenes Werk zu sein. Der Text, von Sonnleithner übersetzt, besteht aus einer Befreiungsgeschichte, dergleichen seit Cherubinis Deux Journées in die Mode gekommen sind.«

In der »Zeitung für die elegante Welt« liest man ebenfalls einen Brief über die Franzosen in Wien von F-b-t, worin sich ein Wort über die neue Oper findet. »Abends besuchte ich das Theater, und hier fühlte ich zum ersten Male, daß nicht alles wie vorher war. Man gab Fidelio, eine neue Oper von Beethoven. Das Theater war gar nicht gefüllt, und der Beifall sehr gering. In der That ist der dritte Act sehr gedehnt, und die Musik, ohne Effect und voll Wiederholungen, vergrößerte die Idee nicht, die ich nach Beethoven's Cantate mir von seinem Talente zur Gesangescomposition gebildet hatte; daß doch so viele, sonst gute Componisten gerade an der Oper scheitern, bemerkte ich ganz leise meinem Nebenmanne, dessen Mienen mein Urtheil zu billigen schienen. Er war ein Franzose und suchte die Ursache darin, daß die dramatische Composition die höchste Kunststufe sei, und auch sonst eine ästhetische Ausbildung [489] fordere, die man, wie er höre, bei deutschen Musikern selten finde. – Ich zuckte die Achseln und schwieg.«

Die Leipziger Allg. Mus. Ztg. berichtete unterm 8. Januar 1806 über die Aufführung (Nr. 15, 237 ff.): »Das merkwürdigste unter den musikalischen Produkten des vorigen Monates war wohl die schon lange erwartete Beethoven'sche Oper: Fidelio oder Die eheliche Liebe. Sie wurde am 20. November zum ersten Male gegeben, aber sehr kalt aufgenommen. Ich will etwas ausführlicher darüber sprechen. Wer dem bisherigen Gange des Beethoven'schen sonst unbezweifelten Talentes mit Aufmerksamkeit und ruhiger Prüfung folgte, mußte etwas ganz anderes von diesem Werke hoffen als gegeben wurde. Beethoven hatte bis jetzt so manchesmal dem Neuen und Sonderbaren auf Unkosten des Schönen geopfert; man mußte also vor allem Eigenthümlichkeit, Neuheit und einen gewissen originellen Schöpfungsglanz von diesem seinem ersten theatralischen Singproducte erwarten – und gerade diese Eigenschaften sind es, die man am wenigsten darin antraf. Das Ganze, wenn es ruhig und vorurtheilsfrei betrachtet wird, ist weder durch Erfindung noch durch Ausführung hervorstechend. Die Ouvertüre besteht aus einem sehr langen, in alle Tonarten ausschweifenden Adagio, worauf ein Allegro aus C dur eintritt, das ebenfalls nicht vorzüglich ist und mit andern Beethoven'schen Instrumentalcompositionen – auch nur z.B. mit seiner Ouvertüre zum Ballett Prometheus keine Vergleichung aushält. Den Singstücken liegt gewöhnlich keine neue Idee zu Grunde, sie sind größtentheils zu lang gehalten, der Text ist unaufhörlich wiederholt und endlich auch zuweilen die Charakteristik auffallend verfehlt – wovon man gleich das Duett zum 3. Akte aus G dur nach der Erkennungsszene zum Beyspiel anführen kann. Denn das immer laufende Accompagnement in den höchsten Violinaccorden drückt eher lauten, wilden Jubel aus, als das stille, wehmüthigtiefe Gefühl, sich in dieser Lage wiedergefunden zu haben. Viel besser ist im ersten Akte ein vierstimmiger Canon gerathen und eine effektvolle Diskantarie aus F dur (lies: E dur), wo drey obligate Hörner mit einem Fagotte ein hübsches, wenn auch zuweilen etwas überladenes Accompagnement bilden. Die Chöre sind von keinem Effekte und einer derselben, der die Freude der Gefangenen über den Genuß der freyen Luft bezeichnet, ist offenbar mißrathen. Auch die Aufführung war nicht vorzüglich. Dem. Milder hat trotz ihrer schönen Stimme doch für die Rolle des Fidelio viel zu wenig Affekt und Leben, und Demmer intoniret fast immer zu tief. Alles das zusammen genommen, auch wohl zum Theil [490] die jetzigen Verhältnisse machten, daß die Oper nur dreymal gegeben werden konnte.«

Beethoven wünschte den ursprünglichen Titel der Oper »Leonore« beizubehalten, und die Theaterdirektoren sind von jener Zeit an bis zum heutigen Tage streng getadelt worden, daß sie darauf beharrten, ihr den Titel »Fidelio« zu geben und denselben beizubehalten. Auch bei den Wiederholungen 1806 hieß das umgearbeitete Werk auf dem Titel »Fidelio«, obgleich das neue Textbuch den Namen »Leonore« trug. Es geschah das wohl zur Vermeidung von Verwechselungen mit Paers Oper.

Dr. Henry Reeve aus Norwich in England, einer der frühesten Mitarbeiter der Edinburgh Review, kam als junger Mann von 25 Jahren nach Wien und befand sich daselbst zur Zeit der ersten französischen Invasion. Herr George Grove sendete uns folgenden Auszug aus seinem Tagebuche. »Donnerstag, den 21. November [1805]. Ich ging ins Wieden Theater in die neue Oper ›Fidelio‹, Musik von Beethoven. Die Geschichte und der Plan des Stückes ist ein trauriges Gemisch von schlechten Handlungen und romantischen Situationen; die Arien, Duette und Chöre verdienen jedes Lob. Die verschiedenen Ouvertüren, denn es ist zu jedem Act eine Ouvertüre vorhanden, scheinen zu künstlich gearbeitet zu sein, um allgemein zu gefallen, namentlich wenn man sie zum erstenmale hört. Verwicklung und Schwierigkeit ist der Charakter von Beethovens Musik, und es erfordert ein sehr geübtes Ohr, oder eine häufige Wiederholung desselben Stückes, um seine Schönheiten zu verstehen und zu schätzen. Dies ist die erste Oper, welche er überhaupt componirt hat, und sie wurde stark applaudirt. Exemplare eines Lobgedichtes wurden zu Ende des Stückes von der oberen Gallerie herabgestreut. Beethoven saß am Klavier und dirigirte die Aufführung selbst. Er ist ein kleiner, dunkler, noch jung aussehender Mann, trägt eine Brille und sieht Hrn. König ähnlich. Nur wenig Zuhörer waren anwesend; der gegenwärtige Zustand der öffentlichen Angelegenheiten trug die Schuld daran, sonst wäre jedenfalls das Haus in allen Theilen gefüllt gewesen.«

Ein junger Mann, welcher seine Studien an der Universität zu München gemacht hatte, Joseph August Röckel (geb. 28. August 1783 zu Neuenburg vorm Walde in der Oberpfalz, gest. 19. September 1870 zu Köthen) war eine Zeitlang Privatsekretär beim bayrischen Geschäftsträger zu Salzburg gewesen. Die Annäherung der französischen Armeen nach dem Falle von Ulm machte seine Stellung und seine Aussichten sehr unsicher. Eben damals kam ein Agent von Baron Braun dorthin, um [491] einen jungen, frischen Tenor als Nachfolger Demmers zu suchen, dessen Fähigkeit in der letzten Zeit schnell abnahm. Es wurde jenem Herrn erzählt, daß der junge Röckel gerade die gewünschten Fähigkeiten besitze Nach einer Mittagsgesellschaft, zu welcher er eingeladen war, ohne daß man ihm bezüglich des Grundes die geringste Andeutung gemacht hatte, wurde er aufgefordert, in einem kleinen improvisierten Vokalkonzerte eine Hauptrolle zu übernehmen. Seine Stimme und sein Vortrag befriedigte völlig, und schließlich wurde ihm zu seiner äußersten Überraschung ein förmlicher Antrag gestellt, nach Wien überzusiedeln und ein Engagement an der Bühne anzunehmen. Obgleich er nicht sehr geneigt war, diesen Schritt zu tun, beriet er sich doch mit seinem Vorgesetzten; und nachdem sie den unglücklichen Zustand der öffentlichen Angelegenheiten zu München besprochen hatten, versicherte ihn dieser, das (Anerbieten sei ihm von Gott gesendet, und riet ihm, dasselbe unter allen Umständen anzunehmen. So geschah es, daß Röckel im Herbst 1805, statt im diplomatischen Korps von Bayern sein Avancement zu suchen, erster Tenor beim Theater an der Wien wurde, und nachdem er in verschiedenen Rollen mit einem in Anbetracht seiner noch mangelnden Erfahrung bedeutenden Erfolge aufgetreten war, wurde ihm für die in Aussicht genommene Wiederaufnahme des Fidelio die Rolle des Florestan übertragen. Diese Einzelheiten verdankt der Verfasser den Angaben Röckels selbst, welcher sie ihm bei einer Unterhaltung, die er am 5. April 1861 zu Bath in England mit ihm hatte, mitteilte. Weiteres enthielt ein Brief, den Röckel wenige Wochen vorher (26. Febr. 1861) an den Verfasser geschrieben hatte, und zwar in gutem Englisch, was bei einem Manne von diesem Alter, dessen Muttersprache die deutsche war, gewiß bemerkenswert ist. Derselbe folgt hier in deutscher Übertragung.

»Es war im December 1805 – das Opernhaus ›an der Wien‹ und beide Hoftheater Wiens standen zu jener Zeit unter der Intendanz des Baron Braun, des Hofbanquiers – als Herr Meyer, der Schwager Mozart's und Regisseur der Oper an der Wien, zu mir kam und mich zu einer Abendgesellschaft im Palaste des Fürsten Karl Lichnowsky, des großen Beschützers von Beethoven, einlud. Fidelio war schon einen Monat vorher an der Wien aufgeführt worden, unglücklicherweise gerade nach dem Einmarsche der Franzosen, als die eigentliche Stadt gegen die Vorstädte abgeschlossen war.

Das ganze Theater war von den Franzosen besetzt, und nur wenige Freunde Beethoven's wagten, die Oper zu hören. Diese Freunde waren [492] damals in jener Gesellschaft, um Beethoven zu bewegen, zu den Veränderungen seine Zustimmung zu geben, welche in der Oper vorgenommen werden mußten, um die Schwerfälligkeit des ersten Actes zu beseitigen. Die Nothwendigkeit dieser Verbesserungen war zwischen ihnen bereits anerkannt und festgestellt; Meyer hatte mich auf den bevorstehenden Sturm vorbereitet, wenn Beethoven hören würde, daß drei ganze Nummern im ersten Acte ausfallen müßten.

In der Gesellschaft waren zugegen Fürst Lichnowsky und die Fürstin, seine Frau, Beethoven und sein Bruder Caspar, [Stephan] von Breuning, [Heinrich] v. Collin, der Dichter, der Schauspieler Lange (ein anderer Schwager Mozart's), Treitschke, Clement, der Dirigent des Orchesters, Meyer und ich; ob Capellmeister v. Seyfried anwesend war, dessen bin ich nicht mehr ganz gewiß, doch möchte ich es glauben.

Ich war erst kurze Zeit vorher nach Wien gekommen und traf Beethoven dort zum ersten Male.

Da die ganze Oper durchgenommen werden sollte, so gingen wir gleich an's Werk. Fürstin Lichnowsky spielte auf dem Flügel die große Partitur der Oper, und Clement, der in einer Ecke des Zimmers saß, begleitete mit seiner Violine die ganze Oper auswendig, indem er alle Solos der verschiedenen Instrumente spielte. Da das ungewöhnliche Gedächtniß Clement's allgemein bekannt war, so war niemand außer mir darüber erstaunt. Meyer und ich machten uns dadurch nützlich, daß wir so gut wir konnten dazu sangen, er (Baß) die tieferen, ich die höheren Partien der Oper. Obgleich die Freunde Beethoven's auf den bevorstehenden Kampf vollständig vorbereitet waren, hatten sie ihn doch nie früher in dieser Aufregung gesehen, und ohne das Bitten und Flehen der sehr zartfühlenden, schwächlichen Fürstin, welche für Beethoven eine zweite Mutter war und von ihm selbst als solche anerkannt wurde, würden seine verbundenen Freunde wahrscheinlich in diesem auch für sie sehr zweifelhaften Unternehmen schwerlich Erfolg gehabt haben. Als aber nach ihren vereinten Bestrebungen, die von 7 bis nach 1 Uhr gedauert hatten, die Aufopferung von drei Nummern angenommen war, und als wir, erschöpft, hungrig und durstig, uns anschickten, durch ein glänzendes Souper uns zu restauriren, da war niemand glücklicher und fröhlicher als Beethoven. Hatte ich ihn vorher in seinem Zorne gesehen, so sah ich ihn nunmehr in seiner Laune. Als er mich ihm gegenüber angestrengt mit einem französischen Gerichte beschäftigt sah, und ich auf seine Frage: was ich da äße, antwortete: ich weiß es nicht! da rief er mit [493] seiner Löwenstimme aus: Er ißt wie ein Wolf, ohne zu wissen was! Ha! Ha! Ha! –

Die verurtheilten Nummern waren:

1. eine große Arie des Pizarro, mit Chor;

2. ein komisches Duett zwischen Leonore (Fidelio) und Marzelline, mit Violin- und Violoncellsolo;

3. ein komisches Terzett zwischen Marzelline, Jaquino und Rocco. Viele Jahre später fand Hr. Schindler die Partituren dieser 3 Stücke unter dem Abfall von Beethovens Musik und erhielt sie von ihm zum Geschenke.«

Es kann fraglich scheinen, inwiefern Röckels Gedächtnis ihn bei der Angabe der bei dieser Gelegenheit ausgefallenen Stücke nicht etwa getäuscht hat. Folgende Punkte scheinen uns bei dieser Frage beachtenswert. Einmal mußten sich die Einzelheiten dieser ersten und ungewöhnlichen Begegnung mit Beethoven natürlich dem Gedächtnisse des jungen Sängers sehr tief einprägen. Ferner waren die Nummern, welche fallen sollten, vorher von den dem Komponisten bei der Vereinbarung gegenüberstehenden Personen festgesetzt und ohne Zweifel Röckel bekannt gemacht worden. Auch waren Röckels Beziehungen zu Meyer derart, daß sie es im höchsten Grade unwahrscheinlich machen, daß er etwa Roccos Goldarie mit irgendeiner Arie des Pizarro mit Chor, welche zu Meyers Rolle gehörte, verwechselt hätte. Die beiden Arien gehörten zu dem ursprünglichen ersten und zweiten Akte, d.i. zu dem ersten Akte der Oper, wie sie Röckel kannte. Auch berichtet derselbe in dem obigen Briefe an den Verfasser nicht über die Stücke, welche bei der drei oder vier Monate später stattgehabten Aufführung wirklich ausgelassen wurden, sondern nur über die, welche wegzulassen Beethoven sich bei dieser Zusammenkunft mit großer Schwierigkeit bestimmen ließ. Nimmt man noch hinzu, daß die ihm gemachten Einwendungen sich nicht auf die Musik bezogen, sondern darauf, daß die betreffenden Stücke die Handlung verzögerten, und daß demnach die damals zustande gebrachte Entscheidung keineswegs eine endgültige war, sondern die Bedingung enthielt, daß die gewünschte Endentscheidung auch auf einem andern Wege erreicht werden könne; so wird man nicht ohne weiteres an eine Verwechselung in dem Berichte Röckels denken dürfen. Vielleicht könnte es sich aber sogar herausstellen, daß Beethoven, der zunächst klugerweise nachgegeben hatte, später doch noch das Spiel gewann und die sämtlichen verurteilten Stücke beibehielt.

[494] Zwei undatierte Briefe an Seb. Meyer, die O. Jahn veröffentlicht hat17, gehören der Zeit nach in die Tage der letzten Proben, während der »fatalen Krisis« der französischen Invasion.


1.


»Lieber Mayer! Das Quartett vom 3. Akt ist nun ganz richtig, was mit rothem Bleistift gemacht ist, muß der Copist gleich mit Dinte ausmalen, sonst verlöscht es!

Heute Nachmittag schicke ich wieder um den 1. und 2. Akt, weil ich den auch selbst durchsehen will.

Ich kann nicht kommen, indem ich seit gestern Kolikschmerzen – meine gewöhnliche Krankheit, habe. Wegen der Ouvertüre und den Anderen sorg Dich nicht; müßte es seyn, so könnte morgen schon alles fertig seyn. Durch die jetzige fatale Crisis habe ich soviele andere Sachen noch zu thun, daß ich Alles, was nicht höchst nöthig ist, aufschieben muß.

Dein Freund

Beethoven.«


2.


»Sei so gut lieber Mayer und schicke mir die blasende Instrumente von allen 3 Acten – und die Violinprim und Sekund sammt Violoncell – vom ersten und 2ten Act auch kannst du mir die Partitur schicken worin ich selbst einiges korrigirt, weil die am wichtigsten – der Gebauer soll mir diesen Abend gegen 6 Uhr seinen geheimen Sekretär schicken wegen dem Duett u.a.m.

ganz dein

Beethoven.«


Auch außerhalb des Theaterkreises haben wir aus diesen Monaten noch einige Hindeutungen auf Beethoven.

Der Violinspieler Pierre Baillot befand sich gerade vor der Invasion in Wien, auf seiner Reise nach Moskau. Ein gewisser E. B. berichtet in den Leipziger Signalen vom 21. Juni 1866, daß Anton Reicha mit Baillot ging, Beethoven zu besuchen. »Sie trafen ihn nicht in seiner Wohnung, sondern in einem durchaus nicht noblen Vorstadt-Gasthof [vielleicht dem mit dem Theater an der Wien zusammenhängenden?]. Das erste, was dem Franzosen auffiel, war, daß Beethoven gar nicht den bärbeißigen und finsteren Ausdruck hatte, wie er es nach den meisten Portraits erwartet hatte; ja er wollte sogar den Ausdruck von Gutmüthigkeit im Gesichte des Tonmeisters wahrnehmen18. Als die Unterhaltung [495] einigermaßen in Fluß gekommen war, tönte mit einem Male mitten in dieselbe ein furchtbares Schnarchen hinein. Es rührte von einem Kutscher oder Stallknecht her, welcher in einer Ecke des Gastzimmers sein Schläfchen machte. Beethoven betrachtete den Schnarcher einige Momente aufmerksam und brach dann in die Worte heraus:, Ich wollte, ich wäre so dumm wie dieser Kerl da!'«

Hatte er vielleicht gerade vorher einen Konflikt mit seinen Sängern gehabt?

Schindler beschließt seine Erzählung dieser fünf Jahre in Beethovens Leben sehr hübsch und treffend mit einer von des Meisters Hand ausgeschriebenen Stelle aus Christian Sturms Betrachtungen. Dieselbe ist aus zerstreuten Sentenzen genommen, welche sich S. 197 der neunten Ausgabe (Reutlingen 1827) finden. »Ich muß es zum Preise deiner Güte bekennen, daß du alle Mittel versucht hast, mich zu dir zu ziehen. Bald gefiel es dir, mich die schwere Hand deines Zornes empfinden zu lassen, und durch mannigfaltige Züchtigungen mein stolzes Herz zu demüthigen. Krankheit und andere Unglücksfälle verhängtest du über mich, um mich zum Nachdenken über meine Abweichungen zu bringen. – – – Nur das Einzige bitte ich dich, mein Gott, höre nicht auf an meiner Besserung zu arbeiten. – – Laß mich nur, auf welche Weise es wolle, zu dir kehren, und an guten Werken fruchtbar werden.« –

Die Publikationen dieses Jahres sind die leichten Sonaten (G-Moll, G-Dur) Op. 49, angezeigt vom Kunst- und Industriekontor am 23. Januar (vgl. S. 54 s.); das Trio (nach dem Septett) für Pianoforte, Violine oder Klarinette und Violoncello, Es-DurOp. 38, dem Dr. I. A. Schmidt gewidmet, ebendaselbst angezeigt am 23. Januar (vgl. S. 206 f.); die sechs Variationen für Klavier zu vier Händen, D-Dur (Lied mit Veränderungen »Ich denke dein«), ebendas. am 23. Januar (vgl. S. 209 f.); das Menuett für Klavier, Es-Dur, angezeigt ebenda am 30. Januar; das Präludium für Klavier, F-Moll, ebenda am 30. Januar; die Romanze für Violine mit Orchester, F-Dur, Op. 50, ebenda am 15. Mai (vgl. S. 378); die Sonate für Klavier Op. 53, dem Grafen Waldstein gewidmet, ebenda am 15. Mai (vgl. S. 448 ff.): das Lied »An die Hoffnung« Op. 32, ebenda am 18. September und die Arie Ah perfido spergiuro, im Klavierauszuge erschienen bei Hoffmann und Kühnel in Leipzig (vgl. S. 11 f,). Das Lied Op. 32 ist durch das Leonoren-Skizzenbuch (Nottebohm, II. Beeth. S. 436) als im Jahre 1804 entstanden belegt. Das F-Moll-Präludium, eine Art Versuch im Händelschen Stil [496] und das Es-Dur-Menuett mögen wohl etwas älter sein, gehören aber keinesfalls zu den »fatalen alten Sachen«, die gegen Beethovens Willen herausgekommen sind.

Wenn auch begreiflicherweise die Oper Leonore außer im Jahre 1804 auch noch im Jahre 1805 bis zu ihrer Aufführung im November und dann erst recht Beethoven in erster Linie andauernd beschäftigte, so konnten wir doch am Schlusse des vorigen Kapitels immerhin eine Anzahl größerer Werke namhaft machen, die neben der Komposition der Oper entstanden und zum Teil auch in das Jahr 1805 hinüberreichen. Diese Werke (Op. 53, 54 und 57) sind oben (S. 448 ff.) beschrieben worden. Ein Werk, dessen erste Anfänge auch noch in jene Zeit gehören, dessen ernstlichere Inangriffnahme aber wohl ganz dem Jahre 1805 angehört, haben wir zur Besprechung an dieser Stelle aufgehoben, nämlich das Tripelkonzert Op. 56.

Das verhältnismäßig wenig bekannte und meist auch unterschätzte Tripelkonzert Op. 56 für Klavier, Violine und Violoncell erschien erst 1807 im Verlage des Industriekontors mit der Widmung an Fürst Lobkowitz und dem Titel Grand Concerto concertant pour Pianoforte, Violon et Violoncelle avec accompagnement de etc. Bestimmte Nachrichten über eine Aufführung desselben fehlen; doch berichtet Schindler (1860 I. 147), daß es im Sommer 1808 (durch Schuppanzigh) aufgeführt wurde: »In den Sommerconcerten (im Augarten) kam das, ›Concertino‹ (?!) für Pianoforte, Violine und Violoncell zum ersten Mal zur Aufführung, hatte sich aber gar keines Beifalls zu erfreuen, weil die Vortragenden es mit der Sache zu leicht genommen. Es blieb darum bis zum Jahre 1830 liegen, wo es in den Concerts spirituels von den Künstlern Bocklet, Mayseder und Merk mit großem Beifall vorgetragen wurde. Geschrieben war dieses Werk für den Erzherzog Rudolph und die Künstler Seidler (Violine) und Kraft (Violoncell).« Der Schlußsatz ist wichtig. Wenn der Klavierpart dieses Werkes für den Erzherzog bestimmt war (die detaillierte Angabe der drei Spieler gibt uns zugleich eine Garantie, daß es auch bereits vor 1808 gespielt war, aber nicht öffentlich, sondern eben beim Erzherzog), so versteht es sich von selbst, daß zwischen dieser Bestimmung und der schließlichen Dedikation an Lobkowitz ein gewisser Zeitabstand sein muß. Bei den ersten Skizzen (im Skizzenbuch a. d. J. 1803 [Nottebohm 1880] ganz am Ende, d.h. also etwa im April 1804) braucht ja diese Bestimmung noch nicht angenommen zu werden, da nur das Kopfmotiv des Werkes notiert ist, noch ohne nähere Angabe. Dagegen [497] zeigt das Leonoren-Skizzenbuch (Nottebohm, II. Beeth. S. 418–19) die Arbeit an allen drei Sätzen so weit gediehen, daß über seine Form und Art zweifellos bereits entschieden war. Vermutlich wird es daher im Laufe des Jahres 1805 oder spätestens 1806 ausgeführt und beim Erzherzog gespielt worden sein, vielleicht mit der von Beethoven öfter getroffenen Bestimmung, daß es für ein Jahr dessen ausschließliches Eigentum wurde.

Eine nähere Betrachtung des Werkes selbst macht die Richtigkeit von Schindlers Angaben sehr wahrscheinlich, da der Klavierpart mit einer ganz unverkennbaren Mäßigung der technischen Anforderungen geschrieben ist.

Lenz, dessen historische Notizen recht ungenau sind (er verlegt die erste Aufführung – bei Lebzeiten Beethovens – ins Concert spirituel und nennt als Violinisten des Erzherzogs Weiß statt Seidler), bemerkt übrigens nicht unzutreffend, daß »die Ausführung der Prinzipalstimmen mehr schwierig als dankbar« ist, und daß darin wohl die Erklärung für die geringe Beliebtheit des Werkes liegt; denn »im Konzertsaal will die Person siegen« (IV, 3). Violine und Violoncell bewegen sich vielfach fortgesetzt in sehr hohen Lagen und sind in der Tat relativ schwer. Dagegen ist der Klavierpart bis auf ein paar heikle Stellen, wo die beiden Hände geknickte große Arpeggien in Gegenbewegung auszuführen haben (S. 24–25 und ganz kurz auf S. 35 der Partitur der Ges.-A.), entschieden mit Rücksicht auf die technische Leistungsfähigkeit seines fürstlichen Zöglings abgefaßt (besonders fällt das starke Überwiegen des Parallelspiels beider Hände in Oktaven oder Terzen und Sexten bei den Passagen auf). Doch ist nichtsdestoweniger der Klavierpart glänzend, stellt an rhythmische Akkuratesse und Taktsicherheit ziemlich große Anforderungen, so daß man sagen muß, daß Beethoven mit großer Delikatesse verfahren ist, um den Erzherzog nicht merken zu lassen, daß er seine Anforderungen, verglichen mit denen seiner andern Klavierkonzerte, stark eingeschränkt hat. Wasielewski (II 45) meint, daß das Werk nicht überall den Eindruck einer aus inspirierter Stimmung hervorgegangenen Schöpfung mache. »Es fehlt ihm jener hinreißende Schwung, der den meisten größeren Gebilden des Meisters innewohnt. Sieht man aber hiervon ab, so hat man doch immer noch eine in edler Richtung gehaltene, mit Sorgfalt ausgeführte Komposition von angenehmer Wirkung vor sich.« Wenn aber Wasielewski den ersten Satz für den bedeutendsten hält, so wird man ihm vielleicht bezüglich der Ausführung im Detail, d.h. [498] der Arbeit, recht geben können, aber nicht bezüglich der in das Treffen geführten Themen, die gerade im ersten Satze keineswegs die gewohnte Beethovensche Gewähltheit und Noblesse zeigen; gleich das erste Tutti (Takt 12 ff.) bringt ein ziemlich gewöhnliches Mannheimer Crescendo sehr bekannter Art ohne eigentlichen Reiz, das wohl eine Jugenderinnerung sein kann. Die Hauptstellen:


13. Kapitel. Das Jahr 1805

sind einander viel zu ähnlich und leiden alle an einer gewissen Lahmheit und Kurzatmigkeit. Der Wert des Satzes liegt daher durchaus in der figurativen Gestaltung der Solopartien, die teils diese Themen umranken, teils in Übergangs- und Durchführungspartien auf Wendungen von intimerm Reize führen. Dagegen ist der zweite Satz (Largo As-Dur 3/8) zwar einfach, aber innig empfunden und bereits nach wenigen Takten figurativ sehr reich und sein ausgeführt. Er umfaßt immerhin 50 Takte, kann daher auch nicht so ohne weiteres als bloße Einleitung zum Schlußrondo definiert werden, zumal er ausgesprochen liedmäßigen Charakter hat und das Thema der ersten 20 Takte einmal variiert wiederholt, ehe er den Übergang zum Finale vorbereitet. Das höchst amüsante Rondo alla Polacca führt sich gleich auf der ersten Seite mit einer harmonischen Pikanterie ein, sofern das sofort mit der Hauptthema beginnende Solo-Violoncell aus C-Dur zum Halbschluß auf dem H-Dur-Akkorde führt, die Solovioline nun keck denselben Gedanken in E-Dur bringt und schnell über E-Moll nach C-Dur zurückfällt (Takt 13–16):


13. Kapitel. Das Jahr 1805

Ähnliche drollig oder auch rührend wirkende unerwartete Rückfälle in die Haupttonart hat später Schubert oft geschrieben, bei Beethoven sind sie selten. Die Bildung kommt noch einmal notengetreu (nicht transponiert!) wieder; das Tutti aber macht den Witz nicht mit, sondern begnügt [499] sich mit dem Halbschluß auf G statt auf H und der Festhaltung der Haupttonart. Übrigens fehlt es dem Satze auch sonst nicht an Humor und überraschendem Detail (Umsetzen in den 2/4-Takt!). Auf alle Fälle sticht der letzte Satz den ersten an Originalität und Verve ganz zweifellos aus.

Im allgemeinen ist noch über das Werk zu bemerken, daß wir in ihm einen der letzten Ausläufer (der allerletzte ist heute Brahms' Doppelkonzert) der Sinfonies concertantes vor, uns haben, welche gegen Ende des 18. Jahrhunderts sich großer Beliebtheit erfreuten (Karl Stamitz und Christian Cannabich sind ihre Hauptvertreter), der Symphonien mit mehreren Soloinstrumenten, die aber wiederum einen Versuch bedeuteten, die Form des Concerto grosso der Zeit Bach-Händel mit der der neuen Symphonie zu verschmelzen. Der von Schindler (s. oben S. 497) gebrauchte Ausdruck, ›Concertino‹ ist der alte Terminus technicus für Solisten-Ensemble des Concerto grosso.

Das Neue an dem Beethovenschen Werke ist aber die Mitheranziehung des Klaviers als Soloinstrument, welche weder Karl Stamitz noch Cannabich versucht haben, obgleich sie bis zu vier Soloinstrumenten gegangen sind. Das Tripelkonzert verschmilzt also zugleich das bis dahin von ihnen geschiedene Klavierkonzert mit den Konzertanten. Ähnlich hat Seb. Bach in zwei der sogenannten Brandenburgischen Konzerte (D-Dur und A-Moll) das Klavier mit zwei Soloinstrumenten (Flöte und Violine) alsConcertino dem Orchester gegenübergestellt, aber natürlich noch in der alten Form der Concerto grosso. Auch diese historischen Gesichtspunkte kommen natürlich für eine gerechte Beurteilung des Werkes mit in Betracht, das durchaus nach Besetzung und Anlage ein Unikum ist.

Fußnoten

1 Allg. Mus. Ztg. VI, S. 467.


2 Der (anonyme) Verfasser dieser Besprechung ist offenbar derselbe, welcher für die Allg. Mus. Ztg. schon seit 1799 über Beethovens Werke berichtete (vgl. 278 ff.); seine Identifizierung scheint nicht mehr möglich (J. N. Mößer?). Ausgeschlossen ist es natürlich, an K. M. v. Weber zu denken, der erst 1803 nach Wien kam und es im Herbst 1804 wieder verließ.


3 Wie man sieht, hat sich die Gewohnheit, nach Art der deutschen Tabulatur ~-Töne (Es, As) als €-Töne (Dis, Gis) zu benennen, bis ins 19. Jahrhundert hinein erhalten.


4 Der Titel der Originalausgabe (in Stimmen), welcher am 19. Oktober 1806 zuerst in der Wiener Zeitung angezeigt wurde, lautet: »Sinfonia Eroica ... composta par festiggiare il Sovvenire di un grand Uomo e dedicata a Sua Altezza Serenissima il Principe di Lobkowitz da Luigi van Beethoven Op. 55.No. III delle Sinfonie. A Vienna nel Contor delle Arti ed' Industria al Hohenmarkt No. 582.

Questa Sinfonia essendo scritta più longa delle solite, si deve eseguire più vicino al principio ch'al fine di un'Accademia e poco doppo un' Overtura un'Aria ed un Concerto accioche sentita troppo tardi non perda l'auditore gia faticato delle precedenti produzioni il suo proprio proposto effetto


5 Die in [ ] gesetzten beiden Worte sind übergeschrieben und durch Haken in den Text einbezogen. – Obgleich es sehr seltsam anmutet, daß Graf Fries den Artaria ein neues Quintett schenken soll, das noch gar nicht geschrieben ist und überhaupt nicht geschrieben wurde, so stimmt doch der Inhalt des Briefes so vollkommen zu dem in Anhang II mitgeteilten Vergleichs-Dokument, daß Zweifel an seiner Datierung nicht möglich sind.


6 Vgl. hierzu die Beschreibung des Skizzenbuchs durch Nottebohm, II. Beeth. S. 409 ff. Der Herausgeber hält es für richtig, hier von einer Auseinandersetzung der beiden Beschreibungen bezüglich kleiner Differenzen abzusehen, da beide von verschiedenen Gesichtspunkten aus gemacht sind und es sich hier nur um die Skizzen zu Leonore handelt, während Nottebohm den gesamten Inhalt gleichmäßig im Auge behält. Doch sei wenigstens auf Nottebohms Hinweise aufmerksam gemacht, daß das Buch aus zwei Skizzenbüchern (dem 2. und 3. von vieren) zusammengebunden ist, wobei Teile verkehrt eingelegt wurden, daß Blätter fehlen und andere dazwischen geraten sind, die nicht dazu gehören. Nottebohms 1887 verfaßte Beschreibung wird an anderen Stellen von uns wiederholt herangezogen werden, bringt aber auch hier wertvolle Ergänzungen, die meist durch Exzerpierung erledigt sind.


7 Allg. Mus. Ztg. 1863 Nr. 22 f. (Ges. Aufs. S. 250 ff.).


8 Die wiederholte Bezeichnung der Partie der Marcelline als Müller beweist wohl, daß dieselbe speziell für diese Sängerin (vgl. S. 482) angelegt wurde.


9 Die von Nottebohm (I. Beeth. S. 73) angeführten Daten der ersten Aufführung (11. Jan. 1840 unter Mendelssohn, alle vier Ouvertüren) und Herausgabe (1842) beziehen sich auf das durch Striche entstellte Werk.


10 Sehr überzeugend sind die Ausführungen G. Dömpkes in der Allg. Wiener Zeitung vom 11. Dez. 1886 (Bericht über eine Aufführung von Op. 138 in dem Philharmonischen Konzert), daß die Beschaffenheit von Op. 138 es ausschließt, daß es nach den beiden andern C-Dur-Ouvertüren zur Leonore geschrieben wäre. »Daß Beethoven es über sich gewann, dem Publicum Rechnung zu tragen, ist den Umständen nach begreiflich. Aber dann mußte es ihn weit weniger Ueberwindung kosten, eine in der ganzen Anlage und Themenbildung durchaus neue Ouverture zu schreiben, wie er dies 1814 that, als eine, welche trotz ihres verkleinerten Maßstabes doch die Analogie mit der großen nirgends verleugnet und deren Schöpfer subjectiv zu einem geradezu krebsgängigen Verfahren genöthigt hätte. Denn diese Analogie besteht unzweifelhaft, wir verfolgen sie weit über die gemeinsame Verwendung der Melodie Florestan's hinaus bis in den allgemeinen Charakter des Allegro-Themas und der vorbereitenden Einleitung. So natürlich uns dabei erscheint, daß der kleine Entwurf allmälig zum großen führen kann, so durchaus widerstrebend der Natur des Künstlers erscheint eine so völlige Umkehr dieses psychologischen Processes, wie sie Nottebohm Beethoven zugetraut hat. Ein Künstler, welcher eine Riesenarbeit wie die große Ouverture endlich objectiv zur vollsten Reise gebracht hat, hat auch subjectiv sozusagen damit abgeschlossen und wird auf eine analoge Ideenfolge nicht sobald nochmals zurückkommen, am allerwenigsten, wo er sich gezwungen sieht, sich und seinem Drang zum Großen durchaus Zügel anzulegen.«


11 Ries Not. S. 134: »Ohne Datum. Geschrieben einige Tage vor dem Einzuge der Franzosen 1805.« – in Wirklichkeit fast zwei Monate vorher.


12 Ledebur, der in seinem »Tonkünstlerlexikon Berlins« übrigens so sehr genau ist, bringt sie wenigstens zwei Jahre zu früh. an die Hofoper. Ausführlicher schreibt über die Milder Kalischer in »Beethovens Frauenkreis« (Ges. Aufs. 2 Bd. S. 263–321).


13 Band I2 S. 221.


14 Jahns Ausg. S. 106.


15 Schindler I, S. 118 fg.


16 Nottebohm, I. Beethoveniana XX. (Allg. Mus. Ztg. 1870, S. 11. 17.)


17 Ges. Aufs. S. 249.


18 Da zu jener Zeit nur die ziemlich genau übereinstimmenden, auf einer Zeichnung von Steinhauser basierenden Kupferstiche von Neidl, Riedel und Schöffner existierten (vgl. Frimmel, Beethovenstudie I S. 21 ff.), so mag der Wert der Erzählung in diesem Punkte auf sich beruhen.

Quelle:
Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1910..
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