Vorwort.

Mit dieser Neubearbeitung des dritten Bandes hat die von mir übernommene ebenso ehrenvolle und mein ganzes Interesse in Anspruch nehmende wie verantwortungsschwere Mitarbeiterschaft an dem Thayerschen Werke zunächst ihre Endschaft gefunden, da dasselbe nunmehr mit Durchführung des von Hermann Deiters in der zweiten Auflage des ersten Bandes aufgestellten veränderten Planes der Gesamtanlage zum ersten Male vollständig in fünf Bänden im Buchhandel vorliegt. Meine Arbeit an diesem dritten Bande war insofern eine weit ausgedehntere und einschneidendere, als mir für denselben keinerlei Vorarbeiten von Deiters mehr zu Gebote standen, sondern ich mich bezüglich der Einarbeitung der neueren Forschungsresultate und der Würdigung der Werke auf mich selbst angewiesen sah. Gerade dieser Band erforderte aber einige sehr starke Veränderungen auch des biographischen Textes und z.B. Verlegungen ganzer Gruppen von Briefen in andere Jahre, zwang ausführliche Motivierungen der ersten Auflage durch neue ganz anderer Art zu ersetzen, kurz in einem Umfange selbständig vorzugehen, wie es wohl selten für den Bearbeiter einer Neuauflage zur Notwendigkeit werden kann. Wer die beiden Auflagen des Bandes nebeneinander legt, wird ohne Zuhilfenahme des Registers nicht leicht ausfindig machen, wo er so gar manches nun findet, was er in den ersten Auflagen zu finden wußte. Manche Veränderungen der Anordnung sind aber noch von Thayer selbst gewünschte, wie z.B. die Einarbeitung einiger der vielen Anhänge der ersten Auflage in den Text. Die stärkste Veränderung geht das Jahr 1810 an, nämlich die »zerschlagene Heiratspartie« Beethovens. Der von Thayer mit so viel Interesse und Fleiß durchgeführte Gedanke, daß es Gräfin Therese Brunswik gewesen sei, welche Beethoven in dem Jahre 1810 heimzuführen hoffte, hat sich als durchaus unhaltbar erwiesen, und es steht heute wohl unumstößlich fest, daß vielmehr Therese Malfatti es war, deren verweigertes Jawort ihn in jene [3] Stimmung versetzte, daß »der Mißmut ganz seiner Meister war« (1. Bettina-Brief). Diese Gewißheit hat das Bekanntwerden der Korrespondenz Clementis mit seinem Associe Collard erbracht, weil sie aufdeckte, daß Beethoven das Honorar für die im April 1807 an Clementi verkauften Kompositionen erst etwa im April 1810 ausgezahlt erhalten hat, wodurch gewisse darauf bezügliche Briefe an Gleichenstein aus 1807 nach 1810 verwiesen wurden. Das »unbeschriebene Blatt« 1810 der ersten Auflage ist nun zu einem ganz besonders anziehenden Abschnitte »Beethoven auf Freiers Füßen« geworden, den eine lange Reihe zusammengehöriger Briefe lebendig illustriert. Die »beinahe abgeschmackte Geschichte mit Fräulein Malfatti« (1. Auflage S. 229) hat somit eine ungeahnte Wichtigkeit erlangt. Freilich ist dabei aus einem Tragödienakte der Darstellung Thayers eine Art Komödienakt geworden, der es aber besser verständlich macht, wie Beethoven sich so schnell über die gescheiterte Hoffnung tröstete. Es ist mir nicht leicht geworden, die unerläßlichen Amputationen vorzunehmen, welche diese veränderte Sachlage bedingte.

Eine zweite starke Veränderung ist die Verlegung des Briefes an die »unsterbliche Geliebte« aus dem Jahre 1806 in das Jahr 1812, welche durch zwingende Gründe notwendig wurde, wie der Text des näheren motiviert; dieselbe schließt, soweit zu erkennen, nicht aus, daß doch, wie Thayer konsequent nachzuweisen bestrebt gewesen ist, Therese Brunswik die »unsterbliche Geliebte« war; doch ist der Beweis noch immer nicht lückenlos zu erbringen. Von sonstigen durch neuere Spezialstudien bedingten Umgestaltungen seien die Ausführungen über die drei Bettina-Briefe und die Ergänzungen zu der Darstellung des Verhältnisses von Goethe zu Beethoven und ebenso von Varnhagen zu Beethoven genannt. Eine Fülle wichtiger Details ergaben die für die Jahre 1808–12 besonders zahlreichen, zum Teil sehr ausführlichen Briefe Beethovens an Gottfried Christoph Härtel, den Chef des Hauses Breitkopf & Härtel, deren mir in umfassendster Weise zur Verfügung gestellte Originale auch manche Korrektur der bisherigen Abdrucke derselben ermöglichten. Dieselben leisteten besonders für die Chronologie der Werke vortreffliche Dienste und interessieren vielfach durch prägnante Äußerungen des Meisters über einzelne Kompositionen. Die (bis auf ein paar zufällig Jahn bekannt gewordene) gänzliche Unzugänglichkeit dieser Quelle für Thayer bedeutet eine der empfindlichsten Lücken der ersten Auflage. Wenn auch dieselben inzwischen durch einen nicht in den Handel gekommenen Manuskriptdruck (vgl. S. 40) bekannt geworden [4] und mehrfach abgedruckt sind, so bildete doch ihre Einarbeitung in die Biographie eine meiner wichtigsten und dankbarsten Aufgaben. Die bis dahin ganz unbekannten 19 Briefe Karls van Beethoven an Breitkopf & Härtel als Geschäftsführer seines Bruders (Bd. II S. 610– 626) sind gewiß als ein sehr wertvoller Zuwachs inzwischen gewürdigt worden; die späteren Briefe Beethovens selbst machen aber zur Gewißheit, daß Karls Briefe großenteils so gut wie diktiert sind.

Bezüglich der Ausführungen über die einzelnen Werke am Schlusse der Jahreskapitel bin ich insofern von der Weise Deiters' ein wenig abgewichen, als ich den Schwerpunkt nicht in ästhetische Würdigungen, sondern vielmehr in die chronologischen Nachweise, Skizzen usw. gelegt habe. Es ist nur eine Pflicht der Dankbarkeit, wenn ich dabei nachdrücklich betone, daß die Forschungen Nottebohms unter allen Detailforschungen über Beethoven die allererste Stelle einnehmen. Da dieselben in der mannigfaltigsten Weise das Verständnis der Werke selbst vertiefen, so ist ihre Wichtigkeit ungleich höher anzuschlagen als etwa die von Nachweisen über Wohnungen Beethovens, womit ich aber beileibe nicht Theodor von Frimmel zu nahe treten will, dessen Hauptverdienst jedoch die Würdigung der verschiedenen Porträts des Meisters bildet, von der meine Bearbeitung gleichfalls großen Gewinn gezogen hat. Zum Schluß bitte ich um Nachsicht, wenn mein redliches Bestreben, die pflichtschuldige Pietät gegen den Verfasser des Werkes mit einer möglichst vollständigen Berücksichtigung aller neueren Einzelforschungen zu vereinigen, vielleicht nicht überall vollständig gelungen ist. Am besten Willen hat es aber nicht gefehlt. Ernstliche Widersprüche gegen die Fassung der zweiten Auflage fürchte ich zwar nicht; aber daß die Glätte der Darstellung hie und da durch die Flickarbeit gelitten hat, wird wohl nicht ganz in Abrede gestellt werden können.


Leipzig, im Dezember 1910.


Hugo Riemann.

Quelle:
Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben. Band 3, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1911., S. 3-6,8.
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