1.

[94] Idomeneo Rè di Creta ossia Ilia e Idamante.

Heroische Oper in drei Acten.


Unausgesetzte Studien, dazwischen unaufhörliche Reisen, Versuche in Compositionen aller Art, Zerstreuungen, welche mit dem Leben eines umherwandernden Virtuosen verbunden sind, zu all' dem aber noch strenge Aufsicht eines Vaters, der ihn wie sein Schatten begleitete, verzögerten bei Mozart das Alter der ersten Liebe. Die Kunst nahm ungetheilt seine Kindheit und die ersten Jahre seiner Jugend in Anspruch. Um Virtuos und Compositeur zu werden, war es nicht zu viel, alle ältere und neuere Meister von Grund aus zu studiren und kennen zu lernen. Mozart fing also erst dann an zu lieben, als er nichts mehr zu lernen hatte. Damals emancipirten auch die Umstände den jungen Mann zum großen Leidwesen seines väterlichen Mentors. Sobald er Muße fand, etwas Anderes als sein Notenheft und die[94] Tasten seines Claviers zu betrachten, sah er Aloysia, sah er Constanze und viele Andere noch, welche seine Biographen nicht nennen.

Bis zum Alter von vierundzwanzig Jahren war Mozart einer der bemerkenswerthesten Musiker seines Jahrhunderts, und sicher auch der außerordentlichste, vermöge seiner Geschicklichkeit in allen Stylen zu componiren, und durch die vereignigte Eigenschaft eines vollendeten Virtuosen mit der Gabe des Improvisirens, und seiner Fähigkeit, die Musik leichter als irgend Jemand lesen zu können. Er machte Alles, aber mehr oder weniger wie Jedermann; ich meine damit nur die mit ihm auf einer Linie stehenden Componisten. Diese Linie war aber noch weit davon entfernt, den ersten Rang unter den Zeitgenossen zu bezeichnen. Mozart kam weder Gluck noch Piccini in ihren ernsten und komischen Opern, noch Joseph Haydn in seinen Symphonieen und Quartetten, noch Michael Haydn in seiner Kirchenmusik gleich. Er war ein sehr glänzender, aber nicht sehr origineller Componist, ein Künstler wie alle Künstler, der auf Erwerb und Beschützer ausging, Erfolg zu erringen sich bemühte, übrigens noch so kindlich war, als man es mit zwanzig Jahren und darüber sein kann. Die Krisis, welche seine intellectuelle Mannbarkeit herbeiführen sollte, kam endlich; sein Herz und sein Genius erwachten zu gleicher Zeit bei den melodischen Tönen der Aloysia Weber. Aloysia hinterging ihn zwar, doch galt dieß gleich; hatte sie ihm doch ein neues Leben verliehen, und Mozart, der das provisorische Ich ablegte, in dem er seither gelebt hatte, wurde mit einem andern Menschen bald auch ein anderer Künstler. Idomeneo war das erste sichtbare Zeichen dieser Umwandlung.

Nichts ist so sonderbar, als las Schicksal dieser Oper. Obgleich sie als neu mit Beifall ausgenommen wurde, hatte sich doch [95] nur einen vorübergehenden und localen Erfolg, der sich auf einige Vorstellungen beschränkte, welche der Componist selbst in München leitete. Seitdem sah sie Mozart auf keinem Theater je wieder geben, und das Werk blieb in seiner Mappe als ein geflüchteter Schatz, bestimmt, die Nachwelt zu bereichern, ohne Zweifel. Keineswegs. Idomeneo entgeht uns, wie er seinen Zeitgenossen entgangen war. Man weiß, daß er existirt, aber man kennt ihn nur dem Namen nach; man sieht ihn weder im Theater, noch hört man ihn bei musikalischen Abenden, noch in Concerten; er hat sich in die Bibliotheken geflüchtet und seine wenigen Bewunderer können ihm Nichts als die stille Ehrerbietung des Lesens zu Theil werden lassen7. Was müssen wir daraus schließen? Daß der Ruf des Werkes wohl nichts als ein Vorurtheil sein könnte, und daß man in der That nicht sehr darüber erstaunen dürfe, warum eine allem Anscheine nach wirklich gestorbene Musik so schwer wieder zu erwecken sei. Der Componist beurtheilte sie demnach sehr unrichtig, wenn er Idomeneo und Don Giovanni über alle seine dramatischen Productionen setzte. Wie haben es denn die andern Opern angestellt, daß sie immer noch auf allen Theatern der Welt gespielt werden, und wie machte es [96] Idomeneo, daß er fast im Augenblicke der Geburt aufgegeben wurde?

Der Zweifel erscheint erheblich und die Frage schwer zu entscheiden. Um sie beantworten zu können, wollen wir die Oper prüfen, und zwar so im Einzelnen und mit der Aufmerksamkeit, welche ein so großes Werk verdient, welche aber die Kritik ihm bis jetzt verweigert zu haben scheint. Selbst Herr v. Nissen, der Alles zusammengesucht hat, vermochte Nichts als drei oder vier Seiten nichtssagender und unzusammenhängender Bemerkungen über Idomeneo zu sammeln.

Weil in der Geschichte des Idomeneo keine Liebe vorkommt, und weil ohne eine Liebe eine Oper für unmöglich gehalten wurde, so erfand der Abbate Varesco, der Verfasser des Textes, vor Allem Ilia, Tochter des Priamus (ich sage nicht der Hekuba), welche, als Gefangene auf die Insel Kreta geführt, sich in Idamante verliebt, der ihr, man weiß nicht wo noch wie, das Leben gerettet hatte, und bei dieser Gelegenheit, um im Style des italienischen Poeten zu reden, von demselben Liebespfeile getroffen wurde und sich zum Sklaven seiner Gefangenen gemacht hat. Hierauf erdachte sich Varesco, daß Elektra, Agamemnon's Tochter und etwas mehr als die andere Prinzessin bekannt, die Braut von Idamante sei, und daß sie nach Sidon gekommen sei, um die Angelegenheit in's Reine zu bringen. Der gelehrte Abbate wollte nämlich Cydonia sagen, das er mit Sidon, der alten phönikischen Stadt verwechselt. Diese Elektra, eine wüthende und eifersüchtige Person, ist ein Abklatsch von Racine's Hermione. Folgendes ist der Gang des Stückes. – 1. Act. Arbaces, der Vertraute des Idomeneo, hat die falsche Nachricht von dem Tode des abwesenden Königs gebracht. Idamante beweint ihn als guter [97] Sohn; doch regiert er von dem Augenblicke an und Nichts steht seiner Verbindung mit Ilia mehr im Wege. Elektra verzweifelt; Sturm und Rückkehr des Idomeneo. Der König hat, wenn sein Leben erhalten bleibt, das Gelübde gethan, den Ersten, welchen er am Ufer begegnet, Neptun zu opfern. Damit hat er den Tod seines Sohnes ausgesprochen. – 2. Act. Wie Agamemnon, behält Idomeneo sein unseliges Geheimniß für sich, und wie dieser möchte er das Opfer verschonen. Idamante soll mit Elektra auf das griechische Festland abreisen. Der Fürstensohn, der den Grund seiner Verbannung nicht begreift, überläßt sich seinem Schmerze; rührender Abschied, welchen der Chor der erschrockenen Kreter unterbricht. Ein Ungeheuer, welches Neptun geschickt hat, ist auf den Wogen des Meeres erschienen. Man sieht es im Hintergrunde des Theaters sich hin- und herbewegen. Der Donner, als Rächer des Meineids, rollt über Idomeneo und seinen Leuten; Alles flieht und zerstreut sich, – 3. Act. Idomeneo, in dem die Stimme der Natur stärker sich regt, als die Furcht vor den Strafen des Himmels, besteht darauf, seinen Sohn zu entfernen, statt ihn zu opfern. Die Abschiedsscene erneuert sich noch viel herzbrechender zwischen den vier Hauptpersonen. Nachdem Idamante fort ist, kommt der Oberpriester des Neptun und entwirft dem Könige ein Bild des Jammers, der sein Volk in Verzweiflung bringe, indem das Ungeheuer die Gegend mit seinem Hauche verpeste und alle die auffresse, welche von der Ansteckung verschont blieben; alle Kreter seien dem Tode geweiht. Idomeneo ist besiegt; er gesteht sein Gelübde ein und nennt das Opfer. Man begibt sich nach dem Tempel und dort erfährt man, daß Idamante das Ungeheuer getödtet hat; er selbst kommt, bereit zum Opfer. Auch Ilia erscheint; sie will für ihn oder mit ihm sterben. Langer Wettstreit des Edelmuthes und endliche Lösung. Das Orakel Neptun's [98] spricht aus, das Idomeneo des Thrones verlustig sei und Idamante denselben besteigen solle, was er auch mit Ilia thut. Neuer und noch heftigerer Ausbruch der Wuth der Elektra; rührende Anrede des alten Königs an seine ehemaligen Unterthanen und endlich allgemeine Zufriedenheit, die sich in einer Anrufung an Amor und Hymen kundgibt.

Ohne ein Kritiker von Profession zu sein, wird man leicht beurtheilen können, daß dieser Vorwurf sich nicht zu einer Tragödie, im eigentlichen Sinne des Wortes genommen, eignet. Das Meer, der Sturm, die sichtbaren Wunder und namentlich das Volk, spielen eine gar zu bedeutende Rolle darin, womit das recitirende Drama Nichts zu machen wüßte. Für all' diese Dinge, wenn sie auf die Bühne gebracht werden, braucht man nur einen Decorateur und einen Maschinisten und, um das Volk vorzustellen, ein Dutzend stummer Statisten, oder nach der modernen Weise ebenso viele Personen, deren Rollen sich auf einen Satz beschränken, oder abwechslungsweise sprechende Chöre, wie die in Schiller's Braut von Messina. Derlei Auskunftsmittel sind aber meist armselig und lächerlich! Auf der Bühne gibt es eigentlich keine wahrhafte Darstellung des Volkes, als den musikalischen Chor; er allein stellt eine Person vor, und zwar die wichtigste von allen, wenn es sein muß. In dieser Beziehung ist die Oper also wahrer als die Tragödie. Und der Aufruhr der Natur, welches Bild vermag diesen zu geben, ohne Mitwirkung der Musik? ferner das Wunderbare, was vermag, außer ihr, die Seele dafür empfänglich zu machen? Man denke sich, welche Figur der Geist in Hamlet neben dem steinernen Gast im Don Juan spielen würde! Racine hat uns von dem Ungeheuer blos erzählt; Mozart konnte es uns zeigen, und das musikalische Gemälde gibt der Erzählung des Dichters Nichts nach. Vom künstlerischen [99] Standpuncte aus stehen beide gleich; hinsichtlich des Bühneneffects aber, welch ein Unterschied zwischen der Erzählung und der Handlung!

Das Libretto des Idomeneo steht zwischen dem Epos und der Tragödie mitten inne, und wir werden beide mit gleichem Glänze in den erhabenen Partieen der Arbeiten Mozart's leuchten sehen.

Ehe wir an die Partitur gehen, wollen wir uns noch einen Augenblick bei den biographischen Umständen verweilen, die sich daran knüpfen. Mozart kommt von Paris zurück mit den Opern Gluck's in den Ohren und brennend vor Begierde, in Deutschland dieselbe ruhmvolle Bahn, wie dieser in Frankreich, zu durchlaufen. Salzburg, in welcher Stadt ihn kindlicher Gehorsam einige Zeit zurückhält, ist nicht der Ort, an welchem er hoffen kann, daß sie sich ihm öffne, dagegen ist der Hof von München da, der die besten Sänger und das erste Orchester in Deutschland zu seiner Verfügung hat, der eine Oper bei ihm bestellt, und diese Oper ist genau das Pendant zur Iphigenie in Aulis. Es finden sich ebenfalls Erinnerungen an Troja darin; da ist ebenfalls ein Vater, der gezwungen ist, das Opferbeil über dem Haupte seines Kindes zu schwingen; ferner die Thränen der Ilias liebend und aufopfernd wie Iphigenie; Elektra's Wuth, das lebende Bild ihrer Mutter Klytemnestra; und um diese höchst tragischen Gestalten gruppirt sich eine durch den Zorn der Götter decimirte Bevölkerung, ein von furchtbaren Wundern heimgesuchtes Königreich, Jupiter mit seinem Donner und Neptun, dessen Wasser toben – welch' eine Aufmunterung für den jungen Athleten, dem seine müssigen Kräfte keine Ruhe lassen, und der sie endlich in einem Ringkampfe mit dem Niesen Gluck, dem berühmten Gründer der lyrischen Tragödie messen darf.

[100] Wenn der Genius erwacht, so nimmt er gewöhnlich seinen Aufflug zu dem, was es Edles, Ernstes, Großes und selbst poetisch Uebertriebenes in den realen oder idealen Wechselfällen des menschlichen Geschickes, im Spiele der Leidenschaften und in der Ausübung der freien Willkür gibt. Das Heroische und Wunderbare nimmt eine junge Phantasie mächtig für sich ein; denn beides möchte die Jugend verwirklichen, wenn sie handelt, und malen, wenn sie dichtet. Einem reiferen Alter, einer reicheren Erfahrung, gehört die Komödie an, sei sie literarisch oder musikalisch behandelt, welche die prosaische Seite unserer Natur, unsere Lächerlichkeiten und unsere Schwächen zeigt. Ich mache diese alte Bemerkung nur aus dem Grunde, um damit das Passende der Bestellung einer Tragödie, und überdieß einer Tragödie wie Idomeneo, bei einem Musiker anzudeuten, dessen Phantasie und Wünsche so ganz mit dem Vorwurfe übereinstimmen mußten.

Es sind in Idomeneo sechsundzwanzig Musiknumern, ohne die obligaten Recitative, die sehr zahlreich und sehr lang sind. Mit Ausnahme eines Duett's, eines Terzett's und Quartett's bildet das Uebrige Nichts als eine Verkettung von Arien, einsachen und instrumentirten Recitativen, Chören und Märschen. Denkt man sich hiezu noch den Mangel an Baßrollen8 bei den mitwirkenden Personen und die Rolle des Idamante für einen Mann in der Stimmlage des Mezzo-Sopran's geschrieben, so wird man schon einige der Ursachen begreifen, welche heutzutage ein[101] Werk von der Scene ausschließen, das von der Erbsünde der alten Opera seria angesteckt war.

Dieser Zuschnitt des Libretto, der sowohl hinsichtlich der Formen, als der Vertheilung der Musikstücke heutzutage so unvortheilhaft ist, war nichtsdestoweniger damals eines der Elemente des ursprünglichen Erfolgs des Idomeneo, und er erleichterte auch die Arbeit des Componisten sehr. Mozart hatte seine Schulstudien vollendet; sein Genius hatte sich zu seiner ganzen Größe erhoben; allein er konnte sich nicht anders nach allen Seiten entwickeln, als nach den Gesetzen jener zweiten Erziehung, in welcher der Genius, nachdem er die Muster studirt hat, sich selbst studiren und aus jedem seiner Werke eine neue Lehre für sein nächstfolgendes Werk ziehen muß, so immer weiter schreitend, bis er das Maß seiner Erfahrungen und seiner Entdeckungen vollständig gemacht hat. Diese zweite Erziehung fing aber für den Componisten des Idomeneo erst an, und die Oper selbst ist die Probe derselben. Mozart hatte das Joch der Routine noch nicht abgeschüttelt; der Zeitgeschmack war in vielen Beziehungen auch noch der seinige; bereits trug er zwar alle Style in sich, aber ihre Verquickung zu einer neuen, von ihren Elementen verschiedenen Substanz, war noch nicht vollständig vor sich gegangen. Es befand sich in dem Kopfe des Componisten, so zu sagen, ein Fach für die Melodie, ein anderes für den Contrapunct, ein drittes für die Declamation; und diese Materialien combinirte er nicht immer, so daß ihr Mangel an Uebereinstimmung und das Heterogene in ihrer Natur dadurch ausgeglichen worden wäre. Beispiele werden dieß darthun. Wären die Schwierigkeiten der Arbeit nicht mehr als doppelt gewesen, wenn Mozart, der schon so viele Dinge selbst geschaffen hatte, und sich zum ersten Male in einem aus allen Stylen zusammengesetzten Style versuchte, [102] überdieß auch noch die Erziehung seines Dichters obgelegen hätte, und er diesem den neuen Rahmen hätte angeben müssen, in dem heutzutage der Operngesang vertheilt wird. Er befolgte der äußern Form nach die Muster, denn woher hätte er welche nehmen können für Etwas, was nicht existirte? Wir glauben sogar, daß er bei seinem Eintritte in die Laufbahn des neu schaffenden Musikers mit einem Libretto nach Art des Figaro und Don Giovanni gescheitert wäre.

Vom kritischen Standpunkte aus könnte man die Partitur des Idomeneo ganz natürlich in drei Classen von Stücken theilen: in diejenigen, in welchen mehr oder weniger Gluck nachgeahmt wurde, die instrumentirten Recitative, die Mehrzahl der Chöre und die Arien Elektra's; in die, in welchen mehr oder weniger der italienische Geschmack der damaligen Zeit vorherrscht, die Arien des Idomeneo, des Idamante und des Arbaces; und endlich in die, deren Anlage und nie dagewesene Schönheit der Musik eine neue Aera eröffneten, einige Cavatinen, einige Chöre und beinahe der ganze dritte Act. In den nach dem Vorbilde der bestehenden Schulen componirten Piecen, theilt Mozart natürlicher Weise das Schicksal derselben. Sämmtliche Numern, welche Gluck ihm inspirirt hatte, sind noch Das, was sie an dem Tage waren, an welchem sie geschrieben wurden; neu, voll Wahrheit und Ausdruck. Alles, was dagegen den Stempel der italienischen Form jener Zeit trägt, widerstrebt dem jetzigen Geschmacke, und wir finden die dramatische Bedeutung nicht mehr darin, welche diese Arien damals hatten. Weder der noch nie gehörte Reichthum der Begleitung, noch die noch überraschendere Neuheit der Harmonie und der Modulation, noch die contrapunctische Kenntniß, welche der Verfasser in einigen derselben entwickelt hat, konnten sie vor dem Unglücke des Veralterns bewahren. Wenn einmal [103] die Melodie hinfällig ist, so kann sie Nichts mehr halten; das ganze musikalische Gebäude stürzt über den Haufen.

Aber trotz der Nachahmung des Styls von Gluck und der Italiener, verbesserte sie Mozart oder vervollständigte Einen durch den Andern, und legte bei dieser Verbindung der beiden Schulen den Grund zu seinem eigenen System. So vereinigen die Arien der Ilia mit dem Reize einer fast immer von Formalismus rein gehaltenen italienischen Arie die Wahrheit und die Kraft der declamatorischen Schule. Ebenso verrathen zwar die Arien der Elektra, in denen eine wüthende Declamation vorherrscht, Gluck's Manier; Mozart aber hat ihnen die Verhältnisse und die Entwickelung der großen italienischen Bravour-Arien gegeben. Gluck hatte fast ganz die periodische Wiederkehr der musikalischen Phrasen verbannt, um eine zu häufige Wiederholung der Worte zu vermeiden; Mozart hütete sich aber wohl, ihn darin nachzuahmen. Von der zu rechter Zeit und geschickt herbei geführten Wiederholung der musikalischen Phrase hängt ein großer Theil ihres Eindrucks auf den Zuhörer ab; nur darf man nicht, wie die alten italienischen Meister, diese Wiederholungen so oft wieder vorbringen, daß sie am Ende unerträglich und lächerlich werden.

Wir haben gesagt, daß die meisten Chöre in Idomeneo nach denen von Gluck modellirt seien. Man trifft allerdings die Gänge und rhythmischen Anlagen des Meisters darin, und zwar bis auf die kleinen Zwischenspiele, welche er gewohnt war, den Solosängern oder Koryphäen nach der französischen Methode einzuräumen. Wie in den Arien steht die eigene Schöpfung hier neben der Nachahmung. Die Chöre in Idomeneo unterscheiden sich im Allgemeinen von denen von Gluck durch eine breitere Entwickelung der Melodie, durch grandiosere Formen, mannigfaltigere Anlagen, [104] und namentlich durch eine Instrumentation, welche die von Gluck ebenso weit hinter sich zurückläßt, als Iphigenie und Alceste die der Italiener hinter sich zurückgelassen hatten.

Uebrigens war diese Annäherung oder selbst Verschmelzung der melodischen und declamatorischen Schule nur ein Spiel gegenüber der andern Verbindung, welche für die Meister zu Ende des siebenzehnten Jahrhunderts und selbst Händel ein Stein des Anstoßes gewesen war; die Verbindung, welche ihre Nachfolger für rein unmöglich gehalten hatten, nämlich des contrapunctischen Styls mit dem theatralischen, der gelehrten oder intricaten Harmonie mit der ausdrucksvollen und malerischen Melodie. Dieses war unter allen Gedanken des Reformators der Musik der großartigste, der an wunderbaren Resultaten fruchtbarste, zugleich aber auch der, wie es scheint, für jeden Andern außer ihm, am Wenigsten ausführbare. Einige Scenen in Idomeneo bieten die vollständigste Lösung des Problems; die Stücke, von denen wir gesagt haben, daß Nichts zuvor ihnen in der Composition und Schönheit gleichkomme. Niemals sind diese Stücke in tragischer Erhabenheit übertroffen worden, und Mozart selbst hat sie (mit Ausnahme des Don Juan) niemals wieder erreicht, als in dem Final-Quintett der Clemenza di Tito.

Die auffallendste Neuerung für die Liebhaber von 1781 mußte aber ohne Zweifel die großartige und glänzende Orchesterbegleitung in Idomeneo sein. Mozart hat keine seiner übrigen Opern so voll und mit so vielem Aufwande instrumentirt. Die Recitative zeugen von einer erstaunenswerthen Arbeit, die eben so vollendet, sorgfältig behandelt, ausgearbeitet und geschmückt ist wie eine Miniatur-Malerei in einem Missale. Die Musikstücke und namentlich die Chöre strotzen von Figuren, und die Blasinstrumente, in eine Phalanx von acht bis zehn Stimmen [105] vereinigt, wetteifern darin mit der Thätigkeit des Quartett's, Ueberall herrscht Reichthum, der häufig an Ueberfluß grenzt; der Maestro hatte noch nicht gelernt, mit Noten hauszuhalten. Andere Zeiten, andere Sorgen. Man mußte zuerst damit anfangen, alles Das zu haben, was man in dem Orchester anbringen kann, wo die Italiener Nichts anwendeten, ehe man die negative Seite der Wissenschaft zu ergründen vermochte. Ebenso begriff Mozart später, daß die Frescomalerei, die groben und markirten Züge im Allgemeinen mehr als das Miniatur-Gemälde für das dramatische Orchester passen.

1. Act. Nach den Gebräuchen und Gewohnheiten der alten Opera seria, welche weder Introduction noch Finale's kannte, fängt, das Stück mit einem instrumentirten Recitativ an, auf welches eine Arie der Ilia folgt (Nr. 1.): Padre, Germani, addio! G-moll2/4. Andante con moto. Die Tochter des Priamus macht sich Vorwürfe über die Liebe, die sie für einen Griechen gefaßt hat. Ergreifende Declamation, angenehme Melodie, sorgfältige Begleitung, entsprechende Bässe voll Effect; Alles trägt das Gepräge einer sanften und ergebenen Melancholie, welche der lyrische Charakter der Darstellerin ist. Nichts ist veraltet, vielleicht mit Ausnahme des Trillers in der Schlußcadenz9.

Folgende Arie der Elektra (Nr. 4.) ist ganz verschieden von den vorhergehenden: Tutte nel cor vi sento furie del crudo Averno, ein feuriges Allegro, welches den stärksten [106] dramatischen und musikalischen Gegensatz zwischen der sanften trojanischen Sklavin und der eifersüchtigen und zornigen Tochter des Königs der Könige bildet. Die Schlangen der Eumeniden dehnen sich aus und rollen sich zischend im Orchester in Knäuel zusammen; die Vocalstimme hält bei jedem Zwischensatze, wie in Folge einer convulsivischen Anstrengung, inne; sie zittert vor Wuth, und die furchbarste Eifersucht macht sich im hohen As Luft, das sich, mit einem außerordentlichen Effect, in der gleich darauf folgenden Wiederholung des Satzes auf den Worten vendetta e crudeltà in ein A verwandelt.

Ein Ritornell verbindet dieses Stück mit einem Chor der Schiffbrüchigen (Nr. 5.), den man von Weitem vom Meere her hört, zugleich und abwechselnd mit einem andern Chore vom Ufer aus. Das Tempo bleibt dasselbe, Allegro assai; aber das stürmische Ritornell ist aus D-moll in C-moll übergegangen. Auf einer Begleitung hin- und hergewiegt, in welcher sich der Sturm immer mehr mit seinem Getöse und seinen Schrecken entwickelt, suchen sich die beiden Chorgruppen im Kanon, gleich den Unglücklichen, die in der Finsterniß umherirrren. Diese nachahmenden Gänge erscheinen mir für die Situation etwas matt und gar zu methodisch; ich hätte an dieser Stelle einen etwas strengeren Contrapunct gewünscht. Dem Rufen des am Ufer versammelten Volkes antworten die Gefährten Idomeneo's durch den Verzweiflungsschrei pietà, der dreimal auf derselben Note wiederholt wird, begleitet von einer chromatischen Progression von Dissonanzen im Orchester, in welcher sich Angst und tödtlicher Schrecken ausspreche. Endlich erscheint Neptun auf den Wogen und gebietet dem Sturme Stillschweigen; der König von Kreta ist gerettet. Erhebt sich nicht Mozart in diesem bewunderungswürdigen Chor wie Neptun über die Oberfläche seiner Zeit, um das Stillschweigen [107] der Bewunderung den Musikfreunden und das der Verzweiflung seinen Nebenbuhlern zu gebieten?

Ich kenne wenig Situationen auf der Bühne, welche mit der Wiedererkennung Idomeneo's und Idamante's zu vergleichen wären; der eine mit bestürzten Blicken das Opfer suchend, welches seinem gräulichen Gelübde anheimfallen soll; der andere zur Hilfe der Schiffbrüchigen herbeieilend und den ersten, welchen er begegnet, um Nachrichten von seinem Vater befragend. Agamemnon, Griechenlands Oberhaupt, ist umgeben von dem Glanze des Thrones und des Oberbefehls im Kampfe gegen die Götter, welche ihm gebieten, seine Tochter zu opfern, eine höchst tragische Gestalt; wie viel tragischer aber ist dieser andere Held, der, von dem besiegten Ilium heimkehrend, auf seinen heimathlichen Boden als Ueberrest seiner zerstörten Flotte und seiner todten Gefährten geworfen wird, der zehn Jahre des Unglücks über dem Gedanken an das Wiedersehen des Sohnes vergißt, den er auf dem Schooße seiner Mutter zurückgelassen hat, und der diesen Sohn nun wieder findet, um dessen Henker zu werden. Und ist der Vater Idamante's nicht tausendmal mehr zu beklagen, als der Iphigenia's? Er hat nicht den Trost, den Göttern Nichts vorzuwerfen zu haben; er allein ist schuldig. Leider ging diese Scene für die Musik verloren. Welche Scene und welches Duett hätte Mozart geschaffen, wenn er das Werk fünf bis sechs Jahre später zu componiren gehabt hätte, wenn er gelernt gehabt hätte, über den Rahmen des Libretto ebenso geschickt zu verfügen, wie er die Colonnen der Partitur auszufüllen im Stande war. So aber durch die Behandlungsweise nach den Formen der alten Opera seria bot ihm die Situation Nichts als ein einfaches Recitativ, ein obligates Recitativ und eine ziemlich mittelmäßige Arie: Il padre adorato ritrovo e lo perdo (Nr. 7.), während welcher dieser padre, [108] der Nichts zu thun und zu sagen hat, in großer Verlegenheit sich befinden muß, was er mit seiner Person anfangen soll.

Der erste Act endigt auf französische Art mit einem Divertissement oder einem Chor mit Tanz vermischt: Nettuno s'onori, D-dur3/4, tempo di Ciaconna. Alexander der Große hätte sicher keine andere Musik für seinen Einzug in Babylon gewählt. Im Chore finden sich überall frohe Gesänge; im Orchester ein triumphirender Jubel. Die Violinen, welche über Sechszehntel wegeilen, die sie in nachahmenden Absätzen unter sich theilen, scheinen bald einen edeln und zugleich lebhaften Tanz auszuführen, bald singt das Orchester, wie verlockt durch die Verführungen der Vocal-Melodie, mit dieser, oder liebkost sie in Liebe athmender Begleitung. Später ändern sich Ton und Tact. G-dur2/4 Allegretto. Die Koryphäen, zwei Soprane, preisen in Dur und Moll die Gottheiten des Meeres, hierauf fällt die Chaconne im Tutti wieder ein. Ein Crescendo, welchem sich nach einander die Instrumentalstimmen und die jeweiligen Triolen des Basses anreihen, und welche die singenden Personen aufmerksam machen, ihre Verbeugung abzustatten, beschließen diesen so majestätischen, glänzenden und feurigen Chor.

Im zweiten Act finden wir zuerst eine Arie der Ilia: Se il padre perdei (Nr. 11.), nach meiner Ansicht die beste ohne allen Vergleich. Ilia, deren Ketten Idamante gebrochen hat, bezeugt dem Könige ihre Dankbarkeit und läßt ihn das Geheimniß ihres Herzens errathen.


Se il padre perdei,

La patria, il riposo,

Tu padre mi sei,

Soggiorno amoroso

È Creta per me.


[109] Die entzückend schöne Melodie und der eben so entzückende Ausdruck dieser, durch die Liebe selbst modulirten und durch die Grazien instrumentirten Cavatine, scheint in Mozart tiefe Erinnerungen zurückgelassen zu haben, indem er ganz wörtlich folgenden Satz in der Arie des Tamino (Zauberflöte), und in dem göttlichen Andante der G-moll Symphonie wieder vorbrachte.


1. Idomeneo Rè di Creta ossia Ilia e Idamante

Die Arie hat als Hauptbegleitung die Flöte, die Oboe, das Horn und das Fagot concertirend; das Quartett wirkt hier untergeordnet, ohne jedoch von den Figuren ausgeschlossen zu sein, welche im Dialog, in alternirenden Stellen und in verbundenen Gängen vertheilt sind.

Nach den Eingangsworten, welche ich angeführt habe, trübt eine Wolke der Schwermuth, ein Schatten der Vergangenheit den Geist des Mädchens, die sich aber sogleich im Hinblick auf die glückliche Gegenwart verlieren. Welche andere Sprache, außer der Mozart's, vermag je diese wollüstige Trauer der Erinnerung so auszusprechen, in deren Schooße so viele von der Liebe getrocknete Thränen verborgen sind! Man ertappt sich noch über Thränen, es sind aber Thränen der Wonne. Der Leser vermag aus diesem Beispiele zu sehen, wenn er die Partitur betrachtet, wie viel die Kanonform, mit der Harmonie im Bunde, dem an und für sich ausdrucksvollen Gesange an weiterem Ausdruck zu verleihen mag.

[110] Instrumentirtes Recitativ (Nr. 12.). Der König erräth den Sinn dessen, was er hört; das Orchester führt ihm fragmentarisch die Erinnerungen an die vorhergehende Arie zurück. Kein Zweifel mehr; sie lieben sich und statt eines Opfers finden sich nun deren zwei. Die Figuren, welche die Verhältnisse enthüllt haben, lösen sich auf und nehmen die Färbung der Empfindungen an, welche in Folge dieser Entdeckung sich des unglücklichen Vaters bemeistern. Ein geniales Mittel, das Orchester an die Stelle des Libretto treten zu lassen, welches man seit Mozart schon oft angewendet hat. Hat er es erfunden? Ich weiß es nicht; aber sicher bediente sich Niemand desselben mit mehr Glück als er.

Nach diesem Recitativ kommt die berühmte Tenor-Arie: Fuor del mar, ho un mar in seno, welche der Componist für die schönste in der ganzen Oper hielt, wie sie ohne Widerrede die glänzendste, herrlichst instrumentirte, die schwierigste und best durchgearbeitete ist. Mozart folgte in seinen Fortschritten dem Gange, welchen die Tonkunst in ihren Hauptentwickelungen genommen hat. Er war ein großer Contrapunctist und ein großer Harmonist, ehe er ein großer Sänger wurde; die Reife des Genius ging der des Geschmackes in ihm voran, was übrigens schon seine Ansicht über die Numer, von der wir sprechen, an und für sich beweisen würde. Dadurch, daß er in dieser Arie Alles anbrachte, wollte er sich selbst übertreffen; dramatischer Gesang, Bravour, Wissenschaft, musikalische Malerei, antiken Contrapunct, moderne Coloratur; aber er verdarb sie eben dadurch, daß er zu viel gethan hatte. Zu seiner Entschuldigung müssen wir sagen, daß der Text unter die unerträglichsten gehört, welche man einem Componisten bieten kann. Es ist acht italienische Libretto-poesie, sich ein Meer zu denken, welches Idomeneo in sich trägt, [111] das noch viel verderblicher ist, als das wirkliche Meer, und einen Schiffbruch, womit Neptun sein Herz zerbricht, das gleich den Schiffen zu zerschellen droht. Der Musiker, jung, wie er war, ging in den Gedanken dieser Pointen ein; er spielte mit den Worten mar und minacciar und gab den metaphorischen Sinn statt des wirklichen.

Eine Fluth von verbundenen Sechszehnteln hat das Orchester überschwemmt, und die Drohungen Neptun's sind in der Vocal-Partie durch einen Strom von Rouladen hörbar geworden, in welchem die Stimme und der Athem des Sängers allerdings sehr Gefahr laufen, Schiffbruch zu leiden. Während der kurzen Augenblicke der Ruhe, welche dieses innere Meer und diese Drohungen in Läufen sich gönnen, executirt das Orchester den Schluß einer Fuge, welche weder figürlich noch in Wirklichkeit mit dem Texte etwas gemein hat. Es mag dieß noch der contrapunctischen Halbheit willen hingehen; aber der Hauptfehler der Arie liegt darin, daß die alten Gänge der Melodie, die alten melismatischen Anlagen und die alten Cadenzen in Trillern, eine Grundursache des Verderbens hineingelegt haben, welches das Ganze zerstört. Diese ganze schöne Arbeit, welcher die Kritik trotz ihres Bedauerns die Bewunderung nicht versagen kann, ist für die jetzigen Liebhaber für immer verloren. Logen und Parterre würden einen Schluß, wie folgenden, allzu trivial finden:


1. Idomeneo Rè di Creta ossia Ilia e Idamante

[112] Eine sehr gothische Cadenz, nicht wahr? Ja, man darf aber nicht übersehen, daß dieses Aushalten am Schlüsse dem Sänger Gelegenheit gab, die schönsten Mittel seiner Stimme nach Bequemlichkeit geltend zu machen, ohne weder durch die Begleitung noch durch den Rhythmus sich eingeengt zu fühlen. Es war dieß für Menschen wie Raaff die Schlußrede des Virtuosen, der höchste Moment des Triumphes. Die Instrumental-Virtuosen hatten ebenso den Brauch, eine Cadenz zu machen, wenn sie ihr Stück schlossen.

Ein sehr schöner Marsch in Nr. 13, den man hinter den Coulissen hört, macht uns aufmerksam, uns an den Hafen von Cydonia zu verfügen, wo Alles schon zur Abreise Elektra's und Idamante's bereit ist. Die Matrosen singen in Erwartung des Signals zur Abfahrt in E-dur6/8: Placido è il mar, andiamo, ein Chor, welcher den glücklichen Contrast zwischen den vorhergehenden und folgenden Scenen bildet. Das Bild der füßesten Einflüsse der Natur gegenüber den schmerzlichsten Gemüthsbewegungen im Leben. Ein glänzendes und dunkles Blau färbt diese klare Harmonie; die Flöten und Clarinette tragen einem die frische Seeluft entgegen; das Quartett deutet das Schwanken der Wogen an; der Sechsachtel-Tact wiegt einen, wie aus einem Nachen. Schon durchläuft man in Gedanken mit der Reise beschäftigt den endlosen Horizont des Meeres, und verliert sich in der unbegrenzten Ferne. Auf einmal schweigt aber der Chor, denn ein Sirenengesang ist zu den Ohren der Matrosen gedrungen. Es ist Elektra's Stimme, die in einer köstlichen Melodie, in Tönen, noch einschmeichelnder als der Hauch des Zephyr's, und noch balsamischer als Flora's Athem um günstige Winde fleht. Man halte mir Zephyr und Flora für gut, denn wir [113] behandeln einen mythologischen Gegenstand, Die leidenschaftliche Seele Elektra's verleiht ihr Herrschaft über die Elemente. Ihr Wille magnetisirte sie, wie man heut' zu Tage sagen würde. Bald eilen die Eumeniden bei'm Klange ihrer Stimme herbei; die lieblichen Zephyre werden sich nicht weniger gelehrig zeigen. Wir hören ihr sanftes Murmeln in den darauf folgenden Sexten-Accorden, welche sich, an ein Ritornell anschließend, den Chor: placido è il mar zurückführen. Ja, ruhig, lieblich, frisch und südlich, Alles zusammen, köstlich einzuathmen, in der That von Mozart's erster Qualität.

Idomeneo kommt, um die Abreise seines Sohnes zu beschleunigen, Troppo t'arresti, sagt er zu ihm. Der Prinz und die Prinzessin nehmen von dem Könige Abschied, und er verabschiedet sich von ihnen. Dieß geschieht in einem Terzett (Nr. 15.), das sich in zwei Tempi theilt. Der Gesang des Andante ist melodisch und von ziemlich reinem Geschmacke; die Instrumentation schön und gelehrt, wie überall. Das addio wiederholt sich in wundervoll modulirten Ausrufungen; im Allegro liegt hinreißende Gewalt und Feuer. Im Ganzen ist aber diese Numer weit entfernt von den classischen Ensembles Mozart's. Die Verschiedenartigkeit der Charaktere spricht sich darin nicht aus, was aber die fast unveränderliche Gleichförmigkeit eines und desselben Textes für die drei Personen auch nicht wohl anders zuläßt. Ueberdieß kommt dieselbe Situation im dritten Acte vollständiger und rührender durch das Mitwirken der Ilia noch einmal vor.

Kaum ist dieses Terzett vermittelst eines der banalsten italienischen Schlußsätze (auch Bettel-Cadenz genannt) zu Ende, so geht die Tonart von F-dur inF-moll über; das Tempo wird rascher; die wallende Bewegung im Orchester kündigt das Ungeheuer an.[114] Es erscheint und die wellenförmigen Figuren der Violinen hören sogleich auf – eine ziemlich gelungene musikalische Ubersetzung des Racine'schen Verses:


»Le flot qui t'apporta, recule épouvanté.«


Bei'm Anblicke des Ungeheuers, dessen gräuliche Gestalt ganz der Phantasie des Decorateurs anheimgestellt ist, ruft das Volk aus: Qual nuovo terrore! Die Violinen stürmen und die Blasinstrumente lassen sich in langgedehnten Seufzern hören. Die Tonleiter aus G (die Dominante der Tonart C-moll, in wiche die Modulation gelangt ist) läßt sich überall hören, von Unten nach Oben und von Oben nach Unten; dann im Quartett zusammenlaufend, steigt sie in chromatischen Stufen, und wenn sie bei der Decime von dem Grundtone angelangt ist, springt sie ganz unerwartet wie der Blitz und unwiderstehlich wie eine Lawine auf die Tonart B-moll über. Ein furchtbarer Schrei ertönt aus dem Orchester; die Querpfeife zerreißt mit ihrem schrillenden Tone die tonischen Massen10. Ein Sturm, gegen welchen der im ersten Act vergleichsweise nur ein Säuseln war. Der ganze Chor, vor Schrecken wankend, ermattet in einem verminderten Septimen-Accord, der in einer Fermate ausgehalten wird. Dieser Schluß oder Stillstand wiederholt sich dreimal, und zwar in Folge enharmonischer Verwandlung bringt er die Töne Gis-moll, F-moll undF-dur in immer tieferer Ausweichung, bis das F, in seiner Eigenschaft als Dominante, uns in die TonartB-moll wieder zurückführt, von der wir ausgegangen sind. Mozart drückt auf diese Weise die tödtliche und stets wachsende Angst [115] aus, welche in der Frage liegt: Il rè qual è? Wie unaussprechlich schön und von welchem Effecte ist dieser Satz!

Idomeneo erklärt unter dem Krachen des Donners, in einem herrlichen Recitativ, daß er selbst der Schuldige sei. Er weiht sein Haupt den unterirdischen Mächten und beschwört Neptun, den Unschuldigen zu verschonen.

Bei diesen Worten ertönen die Pauken in dumpfen Schlägen. Idomeneo ist nicht das Opfer, welches die Götter verlangen. Irgend etwas Finsteres scheint vom Orchester her im Anzuge begriffen zu sein, Etwas, was immer näher kommt und gleich einem dunkeln, auf den Flügeln des Sturmes getragenen Meteor immer großer wird. In denselben Intervallen steigende und fallende Figuren bringen im Vereine mit den raschen Bewegungen eines 12/8 Tactes eine furchtbare Schwankung hervor, das Bild der durch Neptun's Schläge wankenden Erde. Das Volk sucht sein Heil in der Flucht. Corriamo! Fuggiamo! Aber nicht Alle vermögen gleich schnell zu entfliehen; ein Hagel von Triolen fällt auf die Fliehenden; Finsterniß umgibt sie; der Stnrm treibt sie in verschiedenen Richtungen auseinander; die Blitze blenden sie durch ihr Leuchten. Es ist nicht möglich, beisammen zu bleiben. Es rettet sich wer kann, und Alles stäubt aus einander. Die Furcht bringt die Menge ganz außer Fassung; statt vorwärts zu kommen, wendet sie sich um. Die Harmonie löst sich völlig auf. Während die durch vier Hörner verstärkten Bässe das A als Orgelpunct aushalten, fallen die Soprane in ein Fugenthema in B, die Tenore lassen die Antwort in H hören, und die Altstimmen, die sich in langen synkopirten Tönen bewegen, vermehren durch ihr Retardiren die sonderbaren und gräßlichen Dissonanzen. Eine Durchführung auf diese Weise, weiß selbst nicht wohin sie geht. Sie schwimmt zwischen mehreren Tonarten auf unbestimmten [116] Accorden, stößt jeden Augenblick auf schwierige Nebenvorzeichnungen in der Harmonie, auf harte, große Septimen, ohne irgend eine Tonart festzuhalten. Nach diesen verzweiflungsvollen Anstrengungen vereinigen sich endlich die Stimmen im ursprünglichen Unisono wieder, der Sturm, welcher sich etwas gelegt hat, erlaubt Jedem, sein heimathliches Dach aufzusuchen. Man trennt sich wieder, aber dießmal ganz sachte. Einige Nachzügler lassen noch hier und da ihr Corriamo! Fuggiamo! hören. Diese Rufe lassen sich hinter den Coulissen vernehmen, und der Chor endigt pianissimo in D-dur, mit der Feierlichkeit einer Kirchencadenz. Der Vorhang fällt. Unvergleichlich erhaben! Ehre, ewige Ehre dem Meister, der zuerst die Fuge bezwang und sie mächtig und gefügig dem Drama dienstbar machte. Welche Composition im melodischen Style vermöchte wie der fugirte Chor den unaussprechlichen Tumult und Schrecken einer solchen Scene wiederzugeben! Wer hat aber auch je von einer solchen Fuge geträumt! Ich habe so sehr wie Jemand das Finale des zweiten Actes in der Vestalin bewundert. Man stelle aber einmal die beiden Chöre, welche wir soeben untersucht haben, neben einander, und dieses Finale wird wie ein Walzer, wenn gleich etwas ernster, als die Walzer gewöhnlich sind, erscheinen.

Dritter Act. Der zweite Act des Idomeneo ist reicher an Schönheiten als der erste, und der dritte weit schöner als der zweite, ein auf der lyrischen Scene ziemlich seltener Fortschritt. Bei'm Aufgehen des Vorhangs sehen wir Ilia im königlichen Parke lustwandeln, wobei sie dem Zephyr eine Botschaft an ihren Geliebten aufträgt. Bei einem solchen Courier braucht man seine Depeschen nicht zu siegeln. Ilia dictirt sie ihm eben mit lauter Stimme in einer im zärtlichsten Briefstyle gehaltenen Melodie (eine hübsche Cavatine aus E-dur (Nr. 16.), als Idamante's [117] Dazukommen ihr ein directeres und sichereres Mittel zur Correspondenz darbietet. Das nun folgende Duett (Nr. 17.) könnte noch eine sehr angenehme und sehr frische italienische Musik aus Paisiello's und selbst Paer's Zeiten sein; heut' zu Tage erscheint sie unter den Formen und Verhält nissen jener Musik zu stehen, wie sie Rossini, wohlverstanden nach Mozart, uns gemacht hat. Einige Jahre später componirte Letzterer ein anderes Duett (Numer 34 des thematischen Katalogs) und legte es der Partitur des Idomeneo mit der Bemerkung bei, daß man es statt des erstern singen könne. Die Wahl kann in der That nicht schwer fallen. Zwischen diesen Piecen liegt der ganze Abstand des Mozart von 1780 bis 1785. Das andere Duett ist ein kleines Meisterwerk an Ausdruck und Anmuth, eine jener zarten Blumen, welche der Hauch der Mode nicht so leicht zu vernichten vermag.

Der König, von Elektra gefolgt, stört das Zusammentreffen der Liebenden, indem er wiederholt in seinen Sohn dringt, abzureisen. Idamante will den Tod in der Verbannung suchen; Ilia will ihm folgen; Elektra möchte sich an ihrer Nebenbuhlerin rächen; der unglückliche König weiß nicht, was er thun, zu was er sich entschließen soll. Quartett aus Es-dur4/4 Allegro (Nr. 18.), das erhabenste und erstaunungswürdigste Wunder des ganzen Werkes. Man sieht darin in einem auf eine einzige Situation ohne alle Handlung entworfenen Nahmen harmonisch alle Elemente der Tonsetzkunst, alle alten und modernen Bestrebungen, die einschmeichelndsten wie die ernstesten, alle diese allgemeinen Mittel des Ausdrucks und des Effects sich verschmelzen; in ihm finden sich zum ersten Male, seit die Welt steht, ein im höchsten Grade melodischer Gesang, der nie aufhören wird, melodisch zu sein, eine pathetische Declamation, eine harmonische und [118] contrapunctische Wissenschaft, die selbst Bach bewundert hätte, Instrumental-Stimmen, so entworfen und combinirt, wie man sie in den schönsten Scenen Don Juan's trifft, die musikalische Einheit und die dramatische Wahrheit, mit einem Worte, die reine Musik in ihrer ganzen Freiheit, Pracht und Größe, und die angewandte Kunst mit all' ihrem Reize und ihrer unwiderstehlichen Gewalt vor. Ich glaube nicht, daß etwas Vollkommeneres in dieser Gattung je aus der Feder eines Componisten geflossen ist.

Nach einem kurzen, aber sehr ausdrucksvollen Ritornell fängt in diesem Quartette Idamante allein an, Andrò ramingo e solo, und das Orchester folgt dem geheimnißvollen Gespräche, das eine Anspielung aus das fatale, von der redenden Person noch nicht gekannte Geschick ist. Ilia fällt mit Ergießungen der Zärtlichkeit, Elektra mit Wuth- und Rachegeschrei, Idomeneo mit Ausrufungen der Verzweiflung ein. Serena il ciglio tuo, sprechen die Liebenden zu dem unglücklichen Monarchen. Sie rufen es ihm im sanftesten Tone, zuerst in Terzen und in der zweiten Hälfte des Stücks in Sexten zu. Vergebliche Worte, deren Eindruck der tiefe, in der folgenden Phrase ausgesprochene Schmerz dämpft, welchem auch Idomeneo sich anschließt: Ah il cor mi si divide. Welch' ein Satz! Die blutende Seele der handelnden Personen zeigt sich offen, ihre Thränen fließen, sowie auch die unserigen. Bald durchlaufen die Singstimmen, sich, in lange und klagende Accorde pressend, Tonarten, die von fünf und sieben b umschleiert sind, um in einem herzzerreißenden Halt zu endigen; bald zerstreuen sie sich und irren traurig und klagend durch die Wendungen einer labyrinthischen Nachahmung; hierauf knüpfen sich ihre Melodieen wieder an einander, wie durch die Bande der Verzweiflung, welche sie Alle fühlen. Außerdem ist es noch ein zerstückelter Dialog, auf einander folgende Ausrufungen [119] und Antworten, während welcher die figurirten Gänge des Basses von Tact zu Tact eine unerhörte, erhabene Modulation ausführen, von welcher der vermehrte Sexten-Accord das hauptsächlichste Agens ist. Man sehe die Partitur nach und werfe sich vor ihr zu Boden. Die äußersten Bestrebungen der Wissenschaft und des Genius wurden für den Schlußsatz aufgegespart. Die Stimmen, auf syllabische Achtel vertheilt, fallen unmittelbar eine nach der andern ein, indem sie sich in der Secunde wiederholen: peggio di morte in Es, peggio di morte in F, sì gran dolore in G, sì gran dolore in As etc. Die Clarinette und Flöten, wel che den Kanon in längeren Noten darstellen, bringen Synkopen und neue Verschlingungen hinein; die kräftigen Stimmen des Basses tragen das ganze Tempo; die Musik nimmt einen unbeschreibbaren Charakter von Majestät und Feierlichkeit an. Man glaubt wohl, daß das Quartett hier endige? Nein, es endigt mit dem Solo Idamante's, Andrò ramingo e solo, der es begonnen hat, und außerdem mit einer Sonderbarkeit, über welche ich nicht ganz im Reinen bin; die Stimme hält nämlich bei'm fünften Tacte auf einem Accorde, der nicht schließt, inne. Das Orchester vollendet die Periode in der geheimnißvollen Sprache des Ritornell's am Eingange.

Mozart hat einige contrapunctische Gedanken dieses Quartett's in dem Sextett in Don Giovanni benützt; vielleicht hat er sie sogar noch schöner angebracht. Dessen ungeachtet gleicht das Quartett dem Sextett durchaus nicht, noch irgend einer andern Composition seines Verfassers. Es ist ein Werk für sich, von welchem Demjenigen, der es nicht kennt, Nichts einen Begriff zu geben vermag.

»In meiner Opel ist Musik für alle Gattungen von Leuten – [120] ausgenommen für lange Ohren,« schrieb unser Heros seinem Vater. Ohne Zweifel geschah es um der am Alten Klebenden willen, ich er Numer 2211, eine Arie für Arbaces componirte, die keine weitere Begleitung als die des Quartett's hat, und selbst für die damalige Zeit als veraltet erschien. Diese Piece ist eine negative Lection; sie zeigt, wie der contrapunctische Styl in einer Oper nicht angewendet werden solle, nachdem das Quartett gezeigt hat, wie er angewendet werden soll und muß. Die Composition ist an und für sich so merkwürdig, daß ich einige Tacte vom Schlusse der Arie hier geben will:


1. Idomeneo Rè di Creta ossia Ilia e Idamante

1. Idomeneo Rè di Creta ossia Ilia e Idamante

1. Idomeneo Rè di Creta ossia Ilia e Idamante

1. Idomeneo Rè di Creta ossia Ilia e Idamante

1. Idomeneo Rè di Creta ossia Ilia e Idamante

[123] Es ist gut als contrapunctische Uebung auf einer in der Manier des Canto fermo gegebenen Melodie, unzulässig aber als dramatische Musik. Eine Phantasie oder ein rückhaltiger Gedanke derselben Art findet sich auch in der Partitur des Don Juan wieder. Ich meine damit die Arie der Elvira, die in Händel's Styl componirt ist: Ah fuggi il traditor, welche die Kenner als ein Meisterstück rühmen.

Mit Hilfe einiger Auslassungen, von welchen einige schon von Anfang an in München beliebt wurden, bilden die nach dem Quartett folgenden Numern, die sich meistens an einander reihen, beinahe ein ganz modernes Finale. Wenn man also die Numer 22 streichen würde, so würde sogleich der Oberpriester Neptun's mit dem Chore der Priester und des Volkes kommen. Eines der bewunderungswürdigsten Recitative in Idomeneo ist das, in welchem der heilige Mann dem Könige das Bild des Elends entwirft, das über Kreta hereingebrochen ist. Eine majestätische Instrumentalfigur begleitet in verschiedenen Tönen jeden Satz der Rede. Eine unwandelbare und unerbittliche Figur, eine Figur ohne Antwort, gleich dem Willen der Götter, deren Organ der Oberpriester ist. A Nettuno rendi quello ch'è suo. Idomeneo kann das verhängnißvolle Gelübde nicht länger mehr geheim halten, er nennt Idamante; das Recitativ erstirbt in einem schmerzvollen Gemurmel. Nun folgt ein Adagio, in C-moll beginnend, welches in Triolen mit einem Orgelpunct auf G den Effect einer ungewissen und schwierigen chromatischen Modulation erhöht, und sich endlich in dem ToneC-moll auflöst. Sobald diese den Thränen geweihte Tonart eingetreten ist, ruft das Volk in tiefster Bestürzung aus: O voto tremendo! Spettacolo orrendo! Wieder ein Stück aus der Zahl derer, welche Mozart rechtfertigen, daß er den Idomeneo unmittelbar [124] neben den Don Juan stellt. Wie groß, wie erhaben ist dieser Chor, und wie ist man zu beklagen, ihn, statt hören zu dürfen, analysiren zu müssen. Wie vermag ich es, diesen hinsterbenden Rhythmus, diese schwere Grabesharmonie, welche mit dem ganzen Gewichte eines unüberwindlichen Fatum's auf der Seele lastet, diese durch Sordinen gedämpften Trompeten und den Effect dieser bedeckten Pauken, welche wie die Todtenglocke einer ganzen Nation zu ertönen scheinen, und die Schrecken dieses mit dem Tode ringenden Volkes zu beschreiben, das den Abgrund zu seinen Füßen erblickt: d'abisso le porte spalanca crudel. Der Schlund bleibt neun Tacte lang offen und schließt sich erst mit dem zehnten. Wenn es etwas Schöneres gibt als diesen, mit so vieler Kunst und so vielem Genie hinausgeschobenen Schluß, so habe ich Unrecht. Ein Priester-Solo, das in ganz priesterlicher Weise durchgeführt und accompagnirt ist (die Striche des Violoncell's fehlen darin nicht), schneidet den Chor in der Mitte durch. Der zweite Theil, in Dur, schließt sich an einen Satz des Orchesters an, der von hinreißendem Effect ist und den Uebergang zu dem Priestermarsche (Nr. 21 Klavier-Auszug) bildet, welchen Mozart in der Zauberflöte in neuer, durchgesehener, verbesserter und vermehrter Ausgabe wiedergegeben hat.

Wir sind nun im Tempel, der Statue Neptun's gegenüber, und lauschen entzückt dem Gebete, welches der König von Kreta an diesen Gott richtet: Accogli o Rè del mar i nostri voti; eine Cantilene von köstlicher Reinheit, welche mit den classischsten Melodieen Mozart's verglichen werden darf. All' die lachenden und poetischen Bilder des heidnischen Cultus scheinen sich im Orchester zusammengefunden zu haben. Die Violinen begleiten Pizzicato in Sechszehnteln; die Blasinstrumente, zu einem Ganzen vereinigt, umschreiben die Figur in je zwei und zwei [125] verbundenen Noten, während sie aber noch andere der anmuthigsten Verzierungen auszuführen haben. Ausgesuchte Instrumentation, und ganz dazu gemacht, sich mit einer Melodie zu verbinden, die in einem Bache Von Milch und Honig dahinfließt. Idomeneo's Gesang wird durch einige Tacte des Priester-Chors unterbrochen, die sich in einer einzigen Note durch eine Modulation hinziehen, welche unaufhörlich mit den Sätzen des Orchesters wechselt, worauf das seitherige Tempo innehält, und das Ganze geheimnißvoll in gedehnten halben Noten, auf der in der Oper so ungewöhnlichen Cadenz, im Moll-Accorde der Quarte, der unmittelbar vor dem Dur-Accord des Grundtons verwendet wird, endigt. Dasselbe Bruchstück von Chor schließt das Gebet. Was mochte wohl der Dichter dabei gedacht haben, daß er vermittelst dieser ernsten Erinnerung an die christliche Kirche das poetische Gemälde der Ceremonieen eines andern Cultus krönte? Die Absicht scheint klar zu sein. Ueber diese vorläufigen Götter in der Fabel, welche in diesem Gebete aufleben, zeigt sich die ewige Macht, welche das heidnische Alterthum unter dem Namen und den finstern Attributen des Fatum's anbetete.

Dasselbe, was wir bei der Untersuchung des ersten Actes sagten, müssen wir bei den Scenen wiederholen, in welchen Idomeneo sich vorbereitet, das Opfer zu vollbringen, und in welchen die beiden Liebenden für einander sterben wollen. Alles dieß ist als Recitativ recht schön, ohne allen Zweifel, für uns aber gibt es kein Recitativ mehr, welches die Ensemblestücke in Ensemble-Situation zu ersetzen vermag. Idamante's Arie, welche zwischen diesen beiden Scenen sich befindet, wurde mit Genehmigung des Componisten unterdrückt. Sie ist nicht viel besser als die im ersten Acte: il padre adorato. Augenscheinlich verließ die Muse Mozart, oder vielmehr verabschiedete er die Muse, wenn [126] er für den elenden Castraten Del Prato zu schreiben hatte, den er uns als einen Sänger ohne Mittel und ohne Schule, und als einen unerträglichen Darsteller schildert. Raaff war eben falls nur eine Statue nach dem Ausspruche unseres Heros. In diesem alten Automaten befanden sich aber noch die Ueberreste eines Virtuosen ersten Ranges12. Mit den Schwestern Wendling dagegen, welche im Besitze der Rollen der Elektra und Ilia waren, war Mozart sehr zufrieden. Daraus erklärt sich, warum in Idomeneo die weiblichen Arien über denen der Männer stehen.

Das Orakel des Neptun, von welchem es eine achtmal kürzere Variante als die erste Version gibt, ist ein gebundenes Recitativ mit der Begleitung von drei Posaunen und zwei Hörnern, hinter den Coulissen. Es ist weniger um seiner selbst willen bemerkenswert, als weil es den erhabenen Choral der Statue des Commandeurs geliefert hat, dessen Keim es in sich trug. Als Mozart den Gott der Meere sprechend einführte, suchte er den Effect nur in materiellen Resultaten oder im Klange der Instrumente. Später verband er den akustischen Effect mit dem harmonischen und schuf ein Orakel, welches in der musikalischen Welt fortertönen wird.

Elektra, bei dieser allgemeinen Zufriedenheit unglücklicher als je, verfällt wieder in ihre Ausbrüche der Wuth wie im ersten [127] Acte. Es war dieß bei ihr ein Familienunglück. Es schien für den Musiker eine ebenso unbequeme als verdrießliche Sache zu sein, eine so gesteigerte Situation noch einmal vorführen zu müssen, die er bereits so vortrefflich behandelt hatte. Kleinigkeit! nachdem er zwei Stürme und zwei Abschiedsscenen geschaffen und zweimal bewiesen hatte, daß man sich weit übertreffen könne, selbst wenn man etwas sehr gut gemacht hat, so vermochte eine Aufgabe weiter ihm keine Schwierigkeiten zu verursachen. Um aber die erste Arie Elektra's übertreffen zu können, mußte der Tragödien-Styl auf die äußersten Grenzen der Leidenschaft und des Zornes gesteigert werden. Mozart stand aber eine Sängerin zu Gebot, für die Nichts zu schwer war, und unerschrockene Symphonisten, die ihm in die Hölle gefolgt wären, in deren Nähe er eben im Begriffe stand, sie zu führen. Alles glückte vortrefflich. Elektra übertraf sich ebenso sehr selbst, als sie ihre Mutter Klytämnestra übertroffen hatte. Noch nie waren die Verwünschungen der Verzweiflung mit solcher wahnsinnigen Kraft auf der Bühne zum Ausbruch gekommen, als in der Arie: d'Oreste, d'Ajace ho in seno i tormenti, dem Vorbilde jedes vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Agitato. In der Singstimme folgen sich unaufhörlich herzzerreißende Ausrufungen und Seufzer, wahnsinnige Declamationen, ohne alle Beimischung eines Cantabile. Aus dem Orchester ertönen fortwährend bunt durch einander convulsivische Figuren, die sich in Seufzern brechen und in Trillern abquälen. Die auf's Neue heraufbeschworenen Eumeniden antworten deutlicher auf die Anrufungen Elektra's, selbst die Instrumentation wird zum Texte. Komme, eile, singen in klagenden Accorden die ehernen Lippen; die Bisse unserer Schlangen schmecken süß im Vergleich mit den Feuern, die Dich verzehren. Ein verzweiflungsvolles Bravourstück krönt diesen gräßlichen Ausbruch [128] wahnsinniger Wuth oder, um uns zarter auszudrücken, diesen heftigen Nervenkrampf. Die Wuth könnte kaum höher steigen; sie erreicht das hohe C, und nach diesem steigert seine chromatische Progression abwärts den Effect auf den höchsten Grad und führt die Numer zu ihrer Schluß-Cadenz. Noch einige Tacte und es wäre Erstickung eingetreten. Obgleich in dieser Arie Alles auf's Aeußerste getrieben ist, so wurde der Wohlklang dennoch den Anforderungen der Situation nicht zum Opfer gebracht. Mozart sagte, Musik müsse immer Musik bleiben, von welcher Grundregel er sich fast nie entfernte.

Nach so vielem außerordentlich Schönen, erscheinen das Quartett, das Recitativ des Oberpriesters, der Chor aus C-moll, das Gebet Idomeneo's und Elektra's Arie, die Scenen des Glücks, welche folgen, natürlicher Weise schwach, wie alle Scenen, in welchen die Musik das Stück überlebt. Nichtsdestoweniger ist der Schluß-Chor: Scenda Amor, scenda Idomeneo ein würdiges Seitenstück zu dem, welcher den ersten Act schließt.

Die Ouvertüre zum Idomeneo, von der wir noch zu sprechen haben, mußte den Zuhörern vom Jahr 1781 als ein außerordentliches Werk, als ein Wunder der Instrumentation und Harmonie erscheinen, denn eine wie die andere war damals ganz neu. Wir aber dürfen sie nicht von dem Standpuncte aus, von dem, was nicht mehr ist, beurtheilen; wir müssen sie an und für sich und mit Hinblick auf die classischen Werke Mozart's in dieser Gattung betrachten, welche den jetzigen Gesichtspunct festgestellt, und der musikalischen Kritik die sicherste und beste Basis der Würdigung geliefert haben, welche bis auf diesen Augenblick existirt. Die Ouverture zu Idomeneo besteht, wie die zur Iphigenie in Aulis, aus einer Verbindung pathetischer und kriegerischer Gedanken, zwischen welchen da und dort ein anmuthiger [129] und sanfter Gesang ertönt. Von diesen Gedanken beziehen sich die einen auf das Drama, die andern spielen aus frühere Begebenheiten der Hauptperson an; aber die Andeutung auf den Inhalt tritt vor der Erinnerung an Ilium in den Hintergrund und wird von dieser beinahe verwischt, was so viel heißen will, als daß der Charakter der Symphonie mehr heroisch als tragisch ist. Ich hätte ohne Rückhalt Alles daran gelobt, sowohl den Reichthum der Instrumentation als die kriegerische Schönheit der Thema's, die frische Schönheit einiger Melodieen, die feurigen Tonfälle, in welchen sich unausgesetzt das Geräusch der Waffen und der Kampf der Elemente folgen; lauter Dinge, die für jene Zeit äußerst bewunderungswürdig waren und es noch heute sein würden, wenn Mozart nicht auch andere Ouverturen componirt hätte.

Das heroische Element in dem Stücke ist der Art, daß nicht nur Niemand es zu bestreiten wagen wird, sondern es spricht sich sogar nur zu viel aus, und das ist ein Fehler. Es ist, wie man sehen wird, ein Heorismus aus D-dur, welcher durch die Hände des Tanz-und Fechtmeisters gegangen ist, welcher mit dem Kopf in die Höhe, die Kniee gestreckt, die Brust heraus, mit Grundsätzen des Point d'honneur ausgerüstet und mit Tiraden bewaffnet einherschreitet; mit einem Worte: der gallisch-hellenische Heroismus des Achill Racine's und der des Achill Gluck's. Die Noten werden aber deutlicher sprechen, als ich es vermag:


1. Idomeneo Rè di Creta ossia Ilia e Idamante

1. Idomeneo Rè di Creta ossia Ilia e Idamante

[130] Wenn man wissen will, auf welche Weise man mit demselben Vorrathe kriegerischer Gedanken, die im melodischen Style immer etwas an Gemeinplätze streifen, wahren Heroismus und erhabene musikalische Kämpfe darzustellen vermag, so betrachte man die Ouvertüre zu Titus, namentlich den mittlern Satz, und man wird bei'm Anblicke des classischen Werkes von 1791 unsere Strenge gegen das zehn Jahre ältere Werk begreifen, welches ihm zum Muster gedient hat.

Ich schließe meinen Artikel mit einigen grammatikalischen Bemerkungen. Als Nacheiferer und leidenschaftlicher Bewunderer Bach's führte Mozart in seine Arbeit gewisse harmonische Combinationen ein, die sehr hart klangen, und welche selbst an die, Fehler dieses großen Contrapunctisten erinnern. Diese Härten finden sich durchaus nicht in den ganz classischen Partituren unseres Heros, und als er später wieder zu denselben Combinationen seine Zuflucht zu nehmen hatte, so behandelte er sie mit unendlich mehr Kunst und Schonung für das Ohr. Nach der Ausdehnung, welche einige Theoretiker, gestützt auf Bach's Autorität, der Regel über den Orgelpunct gegeben haben, so gäbe es keinen Accord, welchen der Baß, der auf diese Weise in der Harmonie für Null gerechnet wird, nicht ohne Klage und Murren tragen mußte. Andere Theoretiker setzen dieser Ausdehnung Grenzen. Sie behaupten, daß der Orgelpunct nur eine Fiction sei, welche, zu weit getrieben, eine wirkliche Dual verursachen könne, und um sich davon zu überzeugen, sagen sie, brauche man nur zum Beispiel [131] den Fis-dur- oder A-dur-Accord auf den Orgelton C anzuschlagen. Wir sind ganz ihrer Ansicht. Die Ouverture zu Idomeneo zeigt einen dieser übertriebenen Fälle, der um so auffallender, das heißt um so härter erscheint, als der Baß, statt in summender Weise sich hinauszuziehen, in Achteln geht, und Note um Note auf Tongängen anschlägt, in welchen man gar keinen Zusammenhang erkennt. Das macht gerade denselben Eindruck, wie wenn das Orchester falsch spielte.

Unsere zweite und letzte Bemerkung bezieht sich auf eine kühne Modulation, die aber so gewagt ist, daß wir die Verantwortung nicht dafür übernehmen möchten. Sie findet sich in einem Recitativ, und da die Worte Nichts dabei ausmachen, so wollen wir sie nebenstehend ohne Text geben:


1. Idomeneo Rè di Creta ossia Ilia e Idamante

[132] Eine harmonische Progression, deren sämmtliche Cadenzen sich mit Gängen des Grundbasses schließen, in der großen Terze herabsteigend, ist sicher eine sehr auffallende Progression. Bemerke man weiter, daß vom ersten auf den zweiten Satz die Septime steigt und der Leitton fällt, was in einer Cadenz nicht weniger auffallend ist. Uebrigens steht dieses Beispiel einer aus diese Weise construirten Progression vereinzelt da und findet sich in keinem der Werte, die ich von Mozart kenne, wieder vor.

Mögen meine Bemerkungen dazu beitragen, die Neugierde und das Interesse der Liebhaber auf ein Meisterwerk zu lenken, von welchem die meisten derselben nie eine Note gehört haben, welches auf so vielen deutschen Bühnen in den Bibliotheken ruht und nur das Zeichen eines Orchester-Dirigenten erwartet, um sich in der ganzen Größe seiner homerischen Gestalt zu erheben. Ich habe die Hindernisse angegeben, welche einer Wiederaufnahme sich entgegenstellen würden; allein man könnte es in Fragmenten geben, oder was noch besser wäre, die schönsten Scenen herausnehmen und dieß Concerten vorführen, wofür sich die Musikfreunde gewiß erkenntlich zeigen würden13.

Quelle:
Alexander Ulibischeff: Mozart's Leben und Werke. Stuttgart 2[1859], S. 94-133.
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