1.

[96] Requiem.

Es existiren zwei Werke von Mozart, eine Oper und eine Todtenmesse, in welchen das Phänomen seiner moralischen Individualität und seine Berufung als prädestinirter Musiker sich namentlich mit einer wunderbaren Evidenz für den Kritiker sowohl als für den Biographen kundgeben. Wir haben gesehen, unter welchen Auspicien Don Juan, die Oper der Opern, das Licht der Welt erblickte. Mozart schrieb sie in seinen schönsten Tagen, mitten unter Genüssen, umgeben vom Ruhme und in gesundem Zustande, und doch erreichte ihn zuweilen die große Stimme des Todes mitten durch diese Tausende von bezaubernden Stimmen; sie sprach jede Nacht zu ihm. Don Juan erscheint auf diese Weise als das Resultat eines gleichen Kampfes, oder wie das Gleichgewicht zweier conträren Einflüsse. Das Requiem verkündigt den entschiedenen Sieg eines derselben. Die Oper ist das ganze [96] Problem des in Musik vor Augen gelegten Lebens; die Todtenmesse ist dessen Auflösung: das eine hört mit dem Grabe auf, das andere fängt mit demselben an. Indem die von Gottfried Weber hervorgerufene Untersuchung den Anschein des Wunderbaren oder die romantische Färbung zerstörte, welche sich an den historischen Ursprung des Requiems knüpfte, so hat sie dadurch feierlich das wahrhaft Wunderbare bestätigt; ich meine damit den moralischen Rapport zwischen dem Werke und seinem Verfertiger. Sie hat mit der völligsten und unangreifbarsten Gewißheit zwei Hauptpuncte festgestellt: Erstens, daß das Requiem die letzte Arbeit Mozart's war; zweitens, daß Mozart, als er es schrieb, es für sich zu schreiben vermeinte. Was die anderen Fragen hinsichtlich des Historischen des Werkes anbelangt, welche die Untersuchung nicht aufgeklärt hat, so sind sie in unseren Augen weder von Interesse noch von irgend einem Gewichte; was liegt uns überhaupt daran, zu wissen, ob alle die Umstände des Vertrags zwischen dem Besteller und dem Componisten des Requiems getreu in der Ueberlieferung auf uns gekommen und in der Erzählung der Wittwe Nissen gewissenhaft wiedergegeben worden sind; ob das geheimnißvolle Individuum der Graf Waldsee, Leutgeb, oder ein anderer Bote war, ob Mozart denselben gekannt habe oder nicht; ob endlich das Geheimhalten der Bestellung verlangt worden sei oder nicht. Wahrscheinlich haben so gleichgiltige Dinge nur darum Interesse erweckt, weil man aus der Auswahl von Hypothesen die Frage des moralischen Zustandes abhängig machte, in welchem der Musiker sich befand, als er das Requiem componirte. Es scheint mir, daß man sich darüber täuschte. Mozart, den der Gedanke an seinen Tod sehr lebhaft beschäftigte, glaubt einen Wink des Himmels in der Bestellung zu finden, [97] die bei ihm gemacht worden ist. Ein solcher Eindruck ist höchst natürlich, und man kann durchaus nicht absehen, warum er mit mehr oder weniger Macht auf den Geist des Kranken hätte einwirken sollen, wenn die Arbeit von einem seiner Bekannten statt eines Unbekannten bei ihm bestellt worden wäre. Vielleicht hat er aber Waldsee oder dessen Boten für ein übernatürliches Wesen oder für den Todesengel in Person gehalten! Lassen wir diese Phantasie den Dichtern, welche die letzten Augenblicke Mozart's gefeiert haben; in einer Biographie können sie keine Stelle finden, aus welcher, wie der Leser bereits weiß, mehrere beglaubigte und ziemlich prosaische Thatsachen sie verweisen, wie z.B. die voraus bezahlten Ducaten, der zugestandene Aufschub, das Anerbieten einer Honorar-Vermehrung. Man kann an Winke aus einer andern Welt glauben, ohne sich deßhalb einbilden zu müssen, daß das Individuum oder der Gegenstand, welche uns als Vorbedeutung dienen, selbst in das Geheimniß; des Schicksals eingeweiht seien. Hat man nicht schon Kranke beim Geschrei einer Eule erblassen und andere ihr Testament machen sehen, als sie einen Hund unter ihrem Fenster heulen hörten? Freilich erscheint ein Individuum, welches eine Todtenmesse bei einem Musiker bestellt, der sich am Rande des Grabes fühlt, als ein viel bezeichnenderes und des Glaubens würdigeres Vorzeichen des Todes, als ein vierfüßiges Thier, welches heult, und ein Vogel, der im Dunkel der Nacht schreit.

Es bleibt also auf ewige Zeiten in der Meinung der Menschen die größte der göttlichen Anordnungen festgestellt, welche das, Geschick Mozart's dem Ganzen feiner Arbeiten beiordnete. Die größte und einzige, welche bis jetzt der Welt in die Augen gefallen ist. Die ganze Welt hat Gottes Finger in den Einzelnheiten dieses erhabenen Erscheinens erkannt, welches beinahe eben [98] so vielen Raum in den Annalen der Musik, als das ganze Leben des Componisten einnimmt; jenes Todes, der ein Dasein voll Wundern damit krönte, daß er das erhabenste Meisterwerk zu so vielen Meisterwerken, und das merkwürdigste Blatt der Geschichte hinzufügte, welche wir beschreiben. Es ist für uns ein Bedürfniß des Herzens und eine Pflicht des Schriftstellers, hier auf die Einzelnheiten zurückzukommen, welche schon in dem biographischen Theile dieses Werkes dargestellt worden sind.

Man wird sich erinnern, daß Mozart seine Freunde in Prag weinend umarmte, die er nicht mehr zu sehen hofft. Sobald er wieder zu Hause ist, vollendet er Das, was er an der Zauberflöte noch auszuarbeiten hat; er dirigirt selbst die ersten Vorstellungen dieser Oper. Nun drängt es ihn, seinen Verbindlichkeiten nachzukommen und endlich in einem Werke von einiger Ausdehnung den hohen Kirchenstyl anzuwenden, den er so sehr liebte, und welchem er die ausdauerndsten Studien gewidmet hatte, wovon seine Kinder- und Jugendarbeiten Kunde geben, wie sein Misericordias Domini und sein Davidde penitente, die Auszüge aus Händel, welche er in seiner Mappe bewahrte, und zuletzt sein Ave verum Corpus und der Choral in der Zauberflöte es beweisen. Mozart machte sich daran, das Requiem anzufangen, als ein Gedanke, welcher seine Seele ohne Zweifel schon vom Tage der Bestellung an erfaßt hatte, seine entstehende Conception wie ein Blitz erleuchtete. Furchtbares Licht! Dieses Grab, für welches man von ihm harmonische Thränen verlangt, ist sein eigenes. Kein Zweifel, keine Hoffnung mehr, er muß sterben! Jeden Augenblick gewinnt dieser niederdrückende Gedanke mehr Consistenz und setzt sich in dem Geiste des Kranken fester; aber die Inspiration, welche er daraus schöpft, verleiht ihm bis dahin unbekannte, unermeßliche, übernatürliche Kräfte. [99] Er schreibt, und alles Uebrige ist vergessen. Mag von nun an die Nacht auf den Tag, der Tag auf die Nacht folgen, für den Sänger der Ewigkeit gibt es keine Zeit mehr. Das Licht, welches wieder aufsteigt, ohne ihm Hoffnung zu bringen, die Dunkelheit, welche die Erde umhüllt, ohne ihn in Ruhe zu versenken, verlassen und finden ihn immer wieder auf derselben Stelle, ohne aufzuhören, nachdenkend, schreibend. Ein unaussprechliches Interesse, eine schmerzliche Begeisterung ketten ihn an diese Arbeit, die sein letztes Geschäft in dieser Welt ist; und doch erblickt er den Tod am Ziele dieser Arbeit; er sieht ihn sich gegenüber, wie er sich bewegt, sich nähert und immer nähert, mit seinen hohlen Augen und dem gräßlichen Grinsen des Skeletts. Er sieht ihn, und die Furcht, die erhabene Hymne nicht mehr zu Ende bringen zu können, treibt ihn zu immer angestrengterer Arbeit. Die Seiten des Requiems füllen sich, und das Leben des inspirirten Sängers schmilzt wie die letzten Reste einer Wachskerze, welche vor dem Bilde des Heilands brennt, und die wie in Thränen der Anbetung tropfenweise ihr letztes Dasein aufzehrt.

So sehr sich aber auch der Musiker beeilte, so war das unerbittliche Phantom doch noch schneller wie er; er konnte nicht vollenden.

Kaum hatte Mozart sich auf sein Todtenbett gelegt, als wir eine plötzliche und glückliche Umwandlung in seinem Geschicke vorgehen sehen. Schon gewöhnt der populäre Succeß der Zauberflöte Deutschland daran, seinen Namen mit Stolz auszusprechen; bereits erbleichen alle gleichzeitigen Berühmtheiten vor seinem wunderbaren Gestirne; noch einige Jahre, und dieses Gestirn hätte mit seiner Unermeßlichkeit und seinem Glanze den ganzen musikalischen Horizont Europa's erfüllt. Selbst das Glück, müde und beschämt, den großen Mann länger zu verfolgen, reichte ihm die [100] Hand zur Versöhnung. Man hatte ihm eine ehrenvolle Stellung gegeben; Bestellungen liefen von allen Seiten ein. Und als sich endlich die Laufbahn des Erfolgs, des Ruhmes und der Unabhängigkeit vor ihm zu eröffnen schien, welche Alles von der Wiege an ihm vorhersagte, und welche Musiker ohne Zukunft vor seinen Augen mit raschen und triumphirenden Schritten durchliefen; als endlich das Glück seine Gunst über ihn ausstreuen wollte, ach, dann war es nicht mehr Zeit! Gott rief den Arbeiter zu sich in dem Augenblicke, in welchem derselbe die Belohnung für seine irdische Arbeit in Empfang nehmen wollte! Gibt es etwas Schöneres und Dramatischeres in dem unendlichen Drama der menschlichen Geschicke, als diese Entwickelung, die mit der Katastrophe zusammenfällt; als diesen jungen Mann, der sich Mozart nannte, und für welchen die späte Gerechtigkeit der Zeitgenossen Nichts ist, als die erste Huldigung der Nachwelt; als diesen gekrönten und sterbenden Athleten, der in seiner Bitterkeit ausruft: Eben jetzt soll ich fort, da ich ruhig leben könnte! Jetzt meine Kunst verlassen, da ich nicht mehr als Sklave der Mode, nicht mehr von Speculanten gefesselt, den Regungen meiner Empfindungen folgen, frei und unabhängig schreiben dürfte, was mein Herz mir eingibt! Ich soll fort von meiner Familie, von meinen armen Kindern, in dem Augenblicke, da ich im Stande gewesen wäre, für ihr Wohl besser zu sorgen! So sprach er, und diese so rührende Sprache, so ganz dazu gemacht, Thränen zu entlocken, war doch nur ein Irrthum in dem Munde des prädestinirten Menschen. Nein, Mozart war weder der Sklave der Mode noch der Spielball der Speculanten, sondern das Werkzeug der Vorsehung. Wenn er auch nicht frei war in der Wahl seiner Arbeiten, so geschah es darum, daß seine [101] freie Wahl der Zukunft dem Glücke der Musik nie so sehr gedient hätte, als das Verhängniß der Umstände, denen er gegen seinen Willen gehorchte. Er mußte fort, weil seine Mission zu Ende war; er mußte seine Kunst verlassen, aber nicht eher, als bis er den höchsten Gipfel derselben erreicht hatte. Was hätte er noch nach Don Juan, nach seinen letzten Symphonieen, nach der Ouverture zur Zauberflöte und nach dem Requiem machen sollen? Er mußte als junger Mann zu leben aufhören, weil seine Lebenskräfte so zu sagen durch das Hervorbringen übermenschlicher Werke erschöpft waren, deren ein alternder Genius unfähig gewesen wäre, und deren Bedingung und Preis nothwendigerweise ein frühzeitiges Ende sein mußte. Er hinterließ seiner Frau und seinen Kindern Nichts, aber die Erbschaft eines im Andenken der Nationen ewig theuren und glorreichen Namens mußte sich in den Händen der Vorsehung fruchtbringend gestalten. Ein ehrenwerthes Loos wurde der Wittwe zu Theil; die Waisen erhielten eine gute Erziehung. Ach, wenn unser Heros, muthiger oder ergebener, in diesen furchtbaren Augenblicken an etwas Anderes als den annähernden Tod, an die mächtigsten und süßesten Bande der Natur, die diese zu zerreißen drohte, hätte denken können; wenn es ihm möglich gewesen wäre, einen ruhigen Blick rückwärts zu werfen, und dieses wunderbare Leben zu recapituliren, welches in zehn Jahren mehr als ein Jahrhundert in sich schloß; wenn die glorreichsten Annalen der Kunst, welche sich in dem Kataloge seiner Werke einregistrirt finden, vor den Augen des Sterbenden in einer langen Perspective unvergänglicher Harmonieen sich entfaltet hätten, so würde Mozart sein Geschick begriffen haben; die Klage wäre auf seinen Lippen verstummt, und er hätte die Erde verlassen gleichwie der christliche Triumphator das Schlachtfeld verläßt, indem er seine Thaten der Gnade des Himmels empfiehlt.

[102] Nachdem wir die letzten Tage und Augenblicke des Componisten in's Gedächtniß zurückgerufen haben, haben wir auch zugleich die kritische Prüfung seiner letzten Arbeit begonnen. Die biographischen Thatsachen beherrschen hier nicht allein die ganze Analyse, sondern sie machen den wichtigsten Theil der Analyse selbst aus; sie allein können das Werk erklären und seinen Effect, dem Nichts gleichkommt, wenn ich nach mir urtheile, und welcher in der That über Allem steht, was die Musik hervorgebracht hat, wenn ich nach der Zahl der Zuhörer urtheile, auf welche es, ganz abgesehen von den Orten, wo sie es hören, dem religiösen Glauben und, selbst bis aus einen gewissen Grad, ganz abgesehen von dem musikalischen Culturzustande, auf dem sich dieselben befinden, mit unwiderstehlicher Macht einwirkt. Ich habe das Requiem in mehreren Epochen meines Lebens in der Kirche und in Concert-Sälen und selbst in Privat-Wohnungen aufführen hören, und überall brachten gewisse Stücke desselben denselben Eindruck auf Jedermann hervor. Wenige musikalische Tragödien, im dramatischsten Style geschrieben, mit dem höchsten Talente gesungen und gespielt, werden dem Requiem gleichkommen, selbst wenn der erhabene Act seiner Bestimmung nicht vor Augen liegt und die Majestät des Tempels, der Anblick des Grabes, leidtragende Personen in tiefer Trauer, und zuweilen auch der Anblick eines wirklichen und tiefen Schmerzes den Zuhörer zu leichterer Gemüthsbewegung steigern. Ich habe beim Anhören des Confutatis und des Lacrymosa Personen erbleichen und zittern sehen, welche gar Nichts von Musik verstanden, und deren Ohren nicht einmal den leichten italienischen Styl gewöhnt waren. Das Requiem in seinem Ensemble ist aber viel gelehrtere Musik als die irgend einer Oper. So gewiß ist es, daß ein Zuhörer, der durchaus außer Stande ist, eine Kirchen-Composition als Kunstwerk [103] zu beurtheilen, diese deßhalb dennoch in der Wahrheit ihres christlichen Ausdrucks fühlen kann; eine Bemerkung, welche sich vor Allem und im höchsten Grade auf Mozart's Requiem anwenden läßt. Niemand täuscht sich über die Deutung dieser Musik: Gott, der Tod, das Gericht, die Ewigkeit! Man braucht deßhalb weder Katholik zu sein, noch Latein zu verstehen.

Man war schon vor Herrn Weber ziemlich allgemein überzeugt, daß ein Werk von diesem Charakter, welches von Allen verstanden wird, die an Gott und die Nothwendigkeit des Sterbens glauben, ganz abgesehen von dem Genius des Musikers, nur das Resultat eines verlängerten moralischen und materiellen Todeskampfes sein könne. Ein deutscher Schriftsteller drückt sich darüber in folgenden Worten aus: »Während der letzten Jahre seines Lebens war Mozart auf dem Puncte angelangt, die Kunst in ihrem Extreme zu erfassen, und Alles, was die Musik auszudrücken vermag, mit der gleichen Vollkommenheit zu ergreifen und wiederzugeben. Aber die Erfahrung hat nur zu deutlich gelehrt, daß außerordentliche intellectuelle Kräfte selten mit den Bedingungen vereinbar sind, von denen die Dauer des menschlichen Lebens abhängt, weil sie nur auf Kosten der physischen Kräfte ausgeübt werden und sich entwickeln können ...... Als Mozart sein Ende herannahm fühlte, verfiel er in eine Art von Melancholie, welche vollends dazu beitrug, die Rapporte zu zerstören, nach welchen die Coexistenz der beiden Principien unserer Natur sich richtet. Man könnte sagen, daß er bereits nicht mehr lebte, als er das Requiem componirte, und daß diese Arbeit die übermenschliche Thätigkeit eines Geistes sei, welcher bereits zur Hälfte seine Hülle durchbrochen hatte. Nur auf diese Weise konnte Mozart ein Requiem componiren, gerade wie das seinige war. Wenn er unter anderen Auspicien unter geringerer Fortdauer krankhafter [104] Anstrengung und Begeisterung geschrieben, und wenn er nicht den größten Theil der Nächte zu dieser Arbeit verwendet hätte, so würde er nie etwas Aehnliches, der Bewunderung der Nachwelt Werthes vermacht haben.«

Man hat gesagt, daß der Styl des Requiems um mehr als ein Jahrhundert zurückdatirt zu sein scheine, in Vergleich zu dem, welcher in der Kirchenmusik zur Zeit Mozart's herrschte, und den er selbst in den für den Erzbischof von Salzburg geschriebenen Messen angewendet hatte. Wenn die Bemerkung richtig sein soll, so muß sie bedeutend beschränkt werden, weil sie weder auf das Ensemble der Arbeit, noch auf die Totalität irgend eines Stückes, noch überhaupt auf die Instrumentation des Requiems sich anwenden läßt. Sie betrifft allein den Charakter und die Form mehrerer Vocal-Melodieen, welche, aus dem katholischen Choralgesange herstammend, allerdings an die Meister des siebenzehnten und an die zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts erinnern. Und selbst noch in dieser Beziehung gehören mehrere Stücke desselben durchaus der modernen Musik an. Indessen scheint die Anwendung eines dem Oratorium und dem Drama sich nähernden melodischen Styls nur eine Ausnahme in dem Requiem zu sein, welche durch die Natur gewisser Texte motivirt ist, wie wir weiter unten sehen werden. Im Allgemeinen ist die Färbung des Werkes alterthümlich. Es ist also sehr wichtig zu bemerken, daß Mozart, welcher dem lyrischen Drama einen ganz neuen Aspect verliehen hatte, welcher im Vereine mit Haydn die Symphonie, das Violin-Quartett und Quintett, die ganze Instrumental-Musik reformirt oder, besser gesagt, geschaffen hatte, daß eben Mozart, als er im hohen Kirchenstyle zu schreiben hatte, nichts Besseres zu thun wußte, als in die Vergangenheit zurückzugreifen, und hinsichtlich der Melodie aus das siebenzehnte und die erste Hälfte des[105] achtzehnten Jahrhunderts zurückzugehen, d.h. auf Bach und Händel, so weit es sich um die fugirten Chöre und die Fugen handelt.

Die Geschichte der Musik lehrt uns die Epochen des Uebergangs oder der Vorbereitung und die definitiven Resultate, zu welchen die Kunst in einigen ihrer Zweige gelangt war. Diese Resultate, wir meinen damit die Formen und Schöpfungen, welche noch am Leben und unbeweglich in der Musik geblieben waren, seitdem sie zu bestehen angefangen hatte, waren für die heilige Gattung: 1) der Choralgesang Palestrina's und seiner Nachfolger; der Styl alla Cappella. 2) Die vervollkommnete instrumentirte Fuge von Bach und Händel, auf die moderne Tonart begründet. Die Kirchenmusik war demnach die einzige, welche definitiv von Mozart constituirt war, und aus diesem Grunde wollte der große Reformator in mehreren Numern des Requiems, wel che weiter unten bezeichnet werden sollen, weder die Melodie seiner Epoche als zu phrasenreich und von einer zu weltlichen Eleganz für die Kirche, noch die weltliche Fuge anwenden, so wie er sie selbst in den Finales des Quartetts aus G-dur, in der Symphonie aus C-dur, und in der Ouverture zur Zauberflöte angewendet hatte. Dadurch ist also erwiesen, daß für ihn der hohe Kirchen-Styl gleichbedeutend mit dem alten Kirchen-Style war.

Wenn es eine alltägliche und oft wiederholte Wahrheit gibt, so ist es die, daß jede wahre Meinung die Mitte zwischen zwei extremen Meinungen hält, wie jede Tugend zwischen zwei Laster gestellt ist. Diese wichtige Mitte trifft man aber seltener in der Sphäre der Musiker, als irgendwo sonst. Es gibt der Exclusiven zu viele unter uns. Der Eine liebt nur die alte Musik; der Andere zeigt eine tiefe Gleichgiltigkeit, wenn er nicht gar eine ungemeine Verachtung für Alles, was dem achtzehnten Jahrhunderte [106] vorangeht. Während man von einer Seite Mozart ein zu gewissenhaftes Ankleben an die Traditionen der katholischen Kirche vorzuwerfen schien, während Herr Weber, der kein besonderer Bewunderer der alten Musik war, ihm eine Art von Criminal-Proceß an den Hals werfen wollte, weil er gewisse Texte des Requiems zu getreu wiedergegeben hatte, so behaupteten andere Kritiker, welche den Cultus für die Musik bis zum Fanatismus trieben, daß Mozart die Grenzen der heiligen Gattung überschritten habe; daß die wahre Kirchenmusik keine Melodie zulasse, als die Psalmodie und den Choralgesang, oder was diesen gleiche; daß sie weder Orchester, noch irgend eine Instrumentation, ja selbst nicht einmal eine Orgel zulasse, daß nach diesem die Messen Haydn's und Eherubini's keine Messen seien, die von Beethoven noch viel weniger, daß in Mozart's Werken eigentlich Nichts kirchlich sei, als das Requiem (d.h. die Theile des Werkes, welche nach alter Weise behandelt waren), daß aber die katholische Kirche die musikalischen Intentionen des Dies irae, des Tuba mirum und des Confutatis verleugnen müsse8.

Da diese Numern diejenigen sind, welchen man noch das Lacrymosa hinzufügen muß, in welchem sich Mozart mehr oder weniger nie gänzlich von dem eigentlichen Kirchenstyle entfernt hat, und weil es diejenigen sind, in welchen er die siegreiche, leidenschaftliche und lebhafte Melodie angewendet hat, so müssen wir vor Allem ihre Texte untersuchen. Was finden wir? Eine Art epischer und beschreibender Poesie, in welcher sich die furchtbarsten [107] Gemälde skizzirt vorfinden, die man möglicherweise der Phantasie vorführen kann: der Tag des Zorns, der für die ganze Welt der letzte Tag sein wird: Dies irae, dies illa; die Posaune, deren Ruf alle Gebeine in Bewegung bringt, alle Gräber erbricht: Tuba mirum spargens sonum; der in Schrecken gesetzte Tod, gezwungen seine Beute in Masse zurückzugeben: Mors stupebit; das Buch, welches Alles enthält, was seit der Schöpfung gethan, gesagt, gefühlt und gedacht worden ist, öffnet sich und zeigt jedem der Abzuurtheilenden die ihn betreffende Seite: Liber scriptus proferetur; die Verdammten werden in die Flammen der Hölle gestürzt: Flammis acribus addictis; die Auserwählten nehmen Besitz von einer unaussprechlichen und endlosen Glückseligkeit: Voca me cum benedictis. Man muß gestehen, wenn es eine Kunst gibt, die fähig ist, eine Art von Realität dergleichen Gemälden zu verleihen, wenigstens so viel als in dem für sie zu engen Rahmen der menschlichen Vernunft und Einbildungskraft möglich ist, so ist es die musikalische Kunst. Ich frage nun zuerst, ob es eine Gattung von Vocalmusik gibt, welche dem Componisten verbietet, im Sinne der Worte zu schreiben, oder die ihn selbst nur davon freispricht; dann frage ich weiter Jeden, der nur die geringste Idee von der Verschiedenheit der Compositionsstyle und ihres respectiven Leistungs-Vermögens hat, ob es irgend ein Mittel gab, die angeführten Texte in die Form des alten Kirchenstyls zu übersetzen. Jedermann muß an erkennen, daß dieser Styl ganz bewunderungswürdig der demüthigen Bitte, den Ergießungen einer zerknirschten Seele und der feierlichen Hymne sich anpassen läßt, welche die Werke und den Ruhm Gottes preisen. Es wurde deßhalb auch in dem Requiem Alles, was Bitte, Gebet, Anbetung, Lob, Meditation oder christliche Klänge sind, im fugirten Contrapuncte oder im [108] einfachen Contrapuncte behandelt, wie das Hostias. z.B., aber immer auf alten und rein kirchlichen Melodieen. Andererseits ist es nicht weniger gewiß, daß der Kirchenstyl, so wie er im sechzehnten und siebenzehnten Jahrhunderte im Gebrauche war, durchaus den epischen und tragischen Charakter nicht gestattet, welchen mehrere Numern verlangen, aus denen das Dies irae besteht. Man mußte also hier durchaus eine phrasirte und pathetische Melodie anwenden, mit einer Auswahl von Accorden und einer eben so modernen Modulation, und ein vollständiges Orchester, wobei aber, wohl verstanden, jede directe oder selbst entfernte Aehnlichkeit mit der Theatermusik vermieden werden mußte, durch die Mittel, welche der Verfasser des Requiems gebrauchte, und von denen wir hernach sprechen werden. Wo ist der Componist, der es heut' zu Tage übernähme, ein Dies irae für die Stimmen allein zu schreiben? Die Zulassung oder das Verwerfen der Instrumentalmusik bei den Kirchenwerken kann keine Frage der Kunst für irgend Jemand mehr sein. Die Instrumente sind bei den römischen Katholiken zugelassen; bei den griechischen sind sie es nicht. Das ist aber ein Gegenstand kirchlicher Disciplin, womit wir uns nicht zu beschäftigen haben. Warum soll die katholische Kirche die musikalischen Intentionen des Dies irae verleugnen, in welchen Mozart nichts Anderes gethan hat, als durch die einzigen Mittel, welche seine Kunst ihm lieferte, Texte wiederzugeben, welche durch den Ritus der Kirche geheiligt sind?

Wollen denn wirklich ernste Männer, gelehrte Musiker uns auf die Einfachheit von Palestrina und Orlando Lasso, d.h. in die Kindheit der musikalischen Kunst zurückführen? Weil man für die Kirche arbeitet, so soll man auf die ausdrucksvolle Melodie Verzicht leisten, selbst wenn sie einen religiösen Charakter in sich schließt, Verzicht leisten auf neun Zehntheile der anwendbaren [109] Accorde, das Orchester verbannen, das zu Palestrina's Zeiten noch gar nicht bestand, nur eine höchst unbedeutende Fraction des ganzen technischen und ästhetischen Materials einer Kunst annehmen, die durch drei Jahrhunderte des Fortschrittes vervollständigt worden ist. In Wahrheit, Menschen, welche derartige Dinge schreiben und drucken lassen, machen sich über ihre Leser lustig. Fügen wir noch hinzu, wenn ihre Ansichten, mögen jene sich nur so stellen oder wirklich daran glauben, je auf die Praxis einen Einfluß üben könnten, so würde die Nachahmung der alten Meister in diesem Sinne heut' zu Tage Nichts als werthlose Nachbildung oder Abklatsche hervorbringen. Palestrina nachzuahmen wäre gerade nicht so außerordentlich schwierig; woher nähme man aber den Geist Palestrina's, welcher vor drei Jahrhunderten war?

Der Zweck dieser polemischen Abschweifung war kein anderer, als anzudeuten, wie die Texte und die Liturgie einer Todtenmesse bei den Katholiken übereinstimmten, um aus dem Requiem eine Verbindungsbrücke zwischen der alten und modernen Feder eines Componisten zu machen, wie Mozart einer war. Hier vermischen sich und reflectiren im Brennpuncte eines universalen Geistes, dem Zeitgenossen aller Alter, die verschiedenen Tendenzen, welche in der Kirchenmusik, seit sie in den wirklichen Zustand der Kunst getreten war, vorherrschen. Da findet sich die antike Melodie des Choralgesangs, welche die römische Schule in Einklang mit dem Contrapuncte zu bringen den Ruhm hatte, indem sie ihr das zurückgab, was sie Erbauliches in ihrer hohen und ursprünglichen Einfachheit gehabt hatte; dort glänzen die Schätze der Harmonie, welche durch jene gelehrte Schule von Organisten aufgehäuft wurden, welche in Deutschland in Folge der Reformation entstand und sich fortpflanzte, und deren ruhmreiche Repräsentanten [110] Bach und Händel sind. An anderer Stelle endlich findet man am rechten Orte und in ungleich überlegenem Grade die Zierlichkeit und den melodischen Zauber, welche die heiligen Werke eines Pergolese und Jomelli auszeichnen, jedoch ohne die Beimischung der theatralischen und veralteten Formen, welche diese verunstalten9.

Der Abt Stadler sagte: »So lange die figurirte Musik sich in der katholischen Kirche halten wird, wird dieses Riesenwerk (das Requiem) die Krone derselben sein.« Aber warum? Wäre es blos aus dem Grunde, weil Mozart vermöge des Datums seiner Geburt weiter entfernt von der Quelle der Tradition die Verkettung bis zu den Grenzen geführt hatte, wo die religiöse Kunst endlich aufhörte, und weil er in einem einzigen Rahmen die großen Muster des sechzehnten, siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts vereinigte? Wäre der historische Kosmopolitismus und eine vollständige Verschmelzung der Elemente, welche Zeit und Genius vorbereitet hatten, die einzigen Titel, vermöge welcher der Verfasser des Requiems sich über alle Kirchen-Componisten stellte? Sicher nicht; denn es ist noch Etwas in dem Requiem, was Mozart im Allgemeinen und Wesentlichen vor allen Anderen auszeichnet; und Etwas, was selbst er nur ein Mal zu geben im Stande war in Folge der außerordentlichsten Ausnahme.

Wir wissen bereits, daß Händel Derjenige unter den alten Meistern ist, von welchen Mozart am Directesten entlehnte. Er hat oder soll von ihm den Gedanken der Nr. 1, Requiem aeternam, entnommen haben, welchen Jedermann als einen der erhabensten des Werkes anerkennt, und Herr Weber hat in diesem Umstande ein so entscheidendes, so siegreiches Argument [111] zur Unterstützung seiner unbegreiflichen Ansichten gefunden, daß er den Text der beiden Piecen in Fragmenten gegeben hat. Es schien mir zu originell, diese doppelte Citation zu reproduciren, nicht durch Verlängerung derselben, was mir zu viele Vortheile über Herrn Weber verschaffen würde, sondern indem ich sie im Gegentheile verkürzte, und zwar aus dem Grunde, um eine diametrale entgegengesetzte Folgerung daraus zu ziehen, welche, wie ich mir schmeichle, alle meine musikalischen Leser als sonnenklar anerkennen werden10


Anthem von Händel.


1. Requiem

1. Requiem

1. Requiem

1. Requiem

[113] Anfang des Requiem


1. Requiem

1. Requiem

1. Requiem

1. Requiem

[115] Geben wir zu, daß der Gedanke genau derselbe sei, was ohne Zweifel schon sehr viel zugeben heißt. Zwei Prediger haben über denselben Text gepredigt; aber welcher Unterschied schon von der Einleitung an. Wie viel erhabener und gelehrter ist Mozart's Anfang! Wie sehr athmet er jene erhabene evangelische Trauer, jene Thräne, jenen Wohlduft und jene antike Poesie der römischen Kirche, welche stets Händel, sowie der Mehrzahl der lutherischen Componisten gefehlt haben. Und wenn mitten aus diesem Trauer-Chor eine Stimme sich erhebt, um: te decet hymnus, Deus in Sion anzustimmen, glaubt man nicht die Stimme eines Erzengels und der heiligen Cäcilie selbst mit ihrer Orgel zu hören, ein fugirtes Accompagnement anstimmend, welches die angestrengtesten Arbeiten der Sterblichen nie zu erreichen vermögen? Hierauf bemeistert sich der Chor der Figur des Instrumental-Themas, welches das Solo begleitet hat. Der Gesang gibt sich in kanonischen Windungen kund, welche lang gedehnt, gleich den Echo's [116] einer Hymne aus den ersten Tagen des Christenthums, durch die Gallerieen und die Grabdenkmale einer ungeheuren Katakombe ertönen. Bei den Worten: et lux perpetua, das in alternirenden Sätzen wiederholt wird, steigt das Orchester majestätisch im Unisono auf den Intervallen des Accords herab; die Trompeten lassen das erhabene Lebewohl ertönen; der Chor schließt mit einer geheimnißvollen Feierlichkeit auf der Dominante: luceat eis. Ja er trat bereits in das für die Todten angerufene ewige Licht, Derjenige, der die eilf ersten Seiten des Requiems geschrieben hat, so sehr scheinen sie über gewöhnlicher menschlicher Kraftäußerung zu stehen.

Und das sind die ungeheuern Plagiate, unter deren Gewicht Herr Weber behauptet hatte, Widersacher zerschmettern zu wollen, welche, wie er sagte, Mozart bei weitem mehr beschimpften, als er, wenn sie annähmen, daß dieser zu diesen Jugendstudien seinen Namen hergegeben habe!!! Wie wäre es aber, wenn der ungeheure Plagiator durchaus nicht an das Anthem von Händel gedacht hätte, wenn er es vielleicht nicht einmal gekannt hätte? Man urtheile selbst. Indem ich diese beiden Citationen abschrieb, suchte ich in meinem Gedächtnisse nach dem Thema des Misericordias Domini, welches Mozart Eberlin11 entlehnt haben soll; und o des Erstaunens, dieses Thema ist gerade der Anfang des Requiems:


1. Requiem

1. Requiem

[117] Die Verwandtschaft ist hier viel klarer, weil sie hinsichtlich der Gesangstimme, d.h. des Subjects selbst und seiner Antwort in der Quinte bis zur Identität geht. Uebrigens gleicht das Requiem aeternam nicht mehr den verschiedenen fugirten Entwickelungen des Misericordias Domini, als eine oder die andere dieser Compositionen dem Anthem von Händel. Wie der Abt Stadler uns sagt, so gehören die thematischen Gedanken in den Werken des fugirten Styls ebenso Jedermann an, wie die für den akademischen Concurs ausgesetzten Subjecte. So oft Mozart ein entlehntes Thema auswählte, das schwerer zu behandeln war, als ein Thema eigener Erfindung, so hielt er den Gedanken für fähig, anders und ohne Zweifel besser entwickelt zu werden. Er hätte ihn sicherlich nie verwendet, um ihn schlechter zu behandeln, als die, welche ihn bereits benützt hatten.

Das Allegro Nr. 1, d.h. die Fuge des Kyrie eleison, ist des langsamen Tempo's würdig, welchem es durch die Anlage der Figuren in Sechszehnteln und den erhabenen feierlichen Charakter, der es auszeichnet, sich anpaßt; es bietet aber auch Schwierigkeiten in der Ausführung, welche wenige Chöre ganz siegreich überwinden dürften. Es ist zu bedauern, daß das Lächerliche das Erhabene in diesem Meisterstücke von Choral-Composition so sehr bedroht. Wenn das Kyrie schlecht oder mittelmäßig gesungen wird, so ist es unerträglich, oder von einem mehr als zweideutigen [118] Effect; bei vollendeter Meisterschaft in der Aufführung ist es aber erhaben.

Mozart glaubte, das Dies irae in sechs Musikstücke theilen zu müssen, nicht als ob die Ausführung und Natur des Textes diese Eintheilung verlangte, sondern um in diesem herrlichen Gebete eine größere Manchfaltigkeit des Ausdrucks und der Form zu begründen. Nach dem Requiem und Kyrie, jenen Mustern des erhabensten und gelehrtesten Kirchenstyls, kommt die Nr. 2, der Anfang oder gleichsam die Introduction des Dies irae. Für den Chor im einfachen Contrapuncte, D-moll, Allegro assai, geschrieben, ist dieses Stück von imposantem und düsterem Charakter, von einem wunderbaren dramatischen Effecte, wenn man will, aber durchaus nicht theatralisch. Der Componist hat es vermieden, durch die Cadenzen der Perioden, welche der Kirche angehören, an das Theater zu erinnern. Ich habe mich hinreichend als Feind des Formalismus in der Opernmusik und im Allgemeinen in jeder Musik erklärt, aber Gründe, die an anderer Stelle angegeben sind, stellen in dieser Beziehung für die heilige Gattung eine ganz natürliche Ausnahme fest. Die melodischen Formeln, ich verstehe darunter die alten, sind darin mehr als erlaubt, sie sind darin unerläßlich, wie die obligaten Endungen des lutherischen Chorals. Sie sind das Siegel des sechszehnten und siebenzehnten Jahrhunderts, und Nichts bestimmt positiver den Charakter des Alters, der Unwandelbarkeit und der Heiligkeit, welche die schönsten und wesentlichsten Attribute der Kirchenmusik sind.

Das Tuba mirum bildet mit dem vorhergehen den Stücke einen Contrast; Andante, B-dur, vier Solo's, welche durch ein Quartett von Solosängern ausgeführt werden. Diese Nr. 3 ist bereits als ohne Vergleich die schwächste im Werke anerkannt [119] worden; und doch wäre sie mit einem andern Texte und in irgend einem Oratorium ein Meisterwerk. Nie haben Religion und Tod einem Musiker eine erhabenere Melodie eingegeben, als das Tenors-Solo. Gibt es etwas Herrlicheres, als von schöner, kräftiger Stimme das Mors stupebit zu hören? Welch' göttlicher Zauber! Welche elegische Erhabenheit! Man muß aber auch gestehen, daß von dem Verse an: Quid sum miser tunc dicturus, mit welchem das vierte Solo anfängt, die Kerzen erlöschen; der Wohlgeruch des Weihrauchs verflüchtigt sich und der Katafalk ist verschwunden. Wir befinden uns nicht mehr im Hause Gottes. Diese totale Verfinsterung des Kirchenstyls dauert bis zum Ende von Tuba mirum. Ein Flecken von 23 Tacten in einer Partitur von 118 Seiten. (Ausgabe von Härtel.) Man sollte nicht mit dieser Strenge die heilige Musik unserer Zeit analysiren, selbst die der berühmtesten Meister nicht. Es heißt dieß mit nahezu wenigen Ausnahmen sie vernichten.

Auf einmal erscheint aber in seiner ganzen Größe und Erhabenheit der Kirchenstyl wieder: Rex tremendae Majestatis, G-moll, Grave. Diese Tonfälle, welche sich in einem furchtbaren Unisono überstürzen, diese dreifache und erhabene Anrufung des Chors: Rex! Rex! Rex! welche alle Metallstimmen des Orchesters verstärken, zeigen sie uns nicht die in ihrer Achse erschütterte Erde, und den Herrn der Heerschaaren, welcher, auf den Flügeln der Seraphim getragen, langsam aus dem Himmel herabsteigt. Aus dem Trompetengeschmetter des Gerichtes heraus hört man das allgemeine Gebet ertönen, ein Gebet in kanonischem Gange, langsam, voll Ernst und Demuth, ein durchaus christliches Gebet. Endlich schweigen die Donner des Sinai, um zu den Füßen des Richters das letzte Gelübde, den letzten und schwachen Schrei der hinscheidenden Menschheit gelangen zu lassen: [120] Salva me! Salva me! Der Schluß ist in D-moll, der Moll-Tonart der Quinte, damit er sich besser verbinde mit:

Recordare Jesu pie, Andante, F-dur, für Solostimmen wie das Tuba mirum. An der Stelle der Nr. 5 verlangte der Text des Dies irae natürlicherweise einen neuen Contrast mit dem Vorhergehenden: Supplicanti parce Deus! qui Mariam absolvisti et latronem exaudisti mihi quoque spem dedisti. Es drückt dieß die Hoffnung des Sünders auf die Verdienste des Kreuzes und des Blutes Jesu Christi aus, aber eine Hoffnung von Zerknirschung und Scham begleitet: Ingemisco tanquam reus, culpa rubet vultus meus. Als Werk der Kunst und des Wissens erscheint mir das Recordare in der Vocalmusik das zu sein, was die Ouverture zur Zauberflöte in der instrumentalen ist, ein Wunder ohne Vorläufer und das man ebensowenig nachzuahmen versucht hat. Hinsichtlich des Ausdrucks schließt es Alles in sich, was es Kirchliches gibt, und zugleich ist es aber höchst ergötzlich für das Ohr. Alte Gelehrsamkeit und moderner Wohlklang auf die höchste Stufe erhoben, und nach demselben Ziele wetteifernd! Vergebens habe ich bei den Patriarchen und Doctoren Italiens und Deutschlands nach einem Muster des Recordare nachgesucht; ich darf aber sicher überzeugt sein, daß es sich nirgends finden wird. Bemerken wir zuerst, wenn man dem Gesange des Stückes seine Instrumentation nähme, so würde sehr schöne Vocalmusik übrig bleiben, welche man ohne Orchester in jeder Kirche executiren könnte. Diese Bemerkung, die an und für sich immer sehr wichtig ist, wenn es sich um heilige Compositionen handelt, läßt sich aber aus die Mehrzahl der Stücke des Requiems, sowie auf die Werke anderer Meister anwenden, welche die Gattung mit vollkommener Kenntniß ihrer Gesetze behandelt haben. Was aber [121] viel außerordentlicher ist, ist das, daß das Accompagnement des Recordare ohne irgend eine Beifügung und nur vermittelst einiger Abkürzungen ein vollkommenes Meisterwerk der Instrumentalmusik liefern würde, ein bewunderungswürdiges kirchliches Zwischenspiel für das Orchester oder für die Orgel, und es ist unnöthig zu sagen, daß die Figuren der Instrumentation sich ganz unabhängig von den Gesangstimmen darstellen. Der Hauptgang dieser ist ein Kanon zu zwei Stimmen in der Secunde, oder, um mich genauer auszudrücken, in der untern Septime, welcher Kanon einerseits zwischen dem Contre-Alt und dem Baß, andererseits zwischen dem Sopran und Tenor wechselt. Es ist beinahe fugirter Choralgesang. An den Stellen, wo die Worte Nüancirungen eines pathetischeren Ausdrucks verlangen, nimmt die Melodie eine modernere Form an, und die zum Quartett vereinigten Stimmen führen mit einer bewunderungswürdigen Manchfaltigkeit in der Anlage Ensembles und Nachahmungen in freiem Style aus. Unter diesen Gängen und Combinationen der Stimmen verarbeitet das Orchester eine andere, durchaus verschiedene Fuge mit strengster Nachahmung, mit mehrfachen Subjecten voll Ausschmückung und wunderbar durch die Hand des Meisters geziert, aber voll Zauber und Anmuth aus der Quelle fließend. Von Zeit zu Zeit wird die Fuge unterbrochen, um einem einfachen Accompagnement Platz zu machen; dann hört man von Neuem jenen keinem andern vergleichlichen Baß, stets manchfaltig und stets singend, welcher durch tausend melodische Umwege und tausend contrapunctische Verzweigungen den Faden einer ernsten, beharrlichen, in's Unendliche gehenden Meditation verfolgt, während die Violinen und die Bratschen mit anderen gemüthlichen und mystischen Commentaren die ehrwürdige, von den Sängern recitirende Rede einfassen. Der Effect dieser unerhörten Combination zwischen den Stimmen und [122] dem Orchester streift an's Wunder, wie die Arbeit, die sie hervorgebracht hat. Wie der Charakter in der Zauberflöte, so scheint das Recordare aus der ältesten aller Formen, der fugirten Musik abzustammen: er ist ein canto fermo mit den improvisirten Stimmen im fugirten Style; außerdem findet aber zwischen den beiden Stücken keine weitere Uebereinstimmung statt; sie stehen sich selbst im Charakter diametral entgegen, und was die Ausarbeitung anbelangt, so erlaubt das Recordare mit nichts Anderem, was es auch sein möge, eine Vergleichung.

Die Schrecken des Dies irae erreichen ihren Höhepunkt in dem Confutatis maledictis, Andante A-moll. Hinsichtlich des Effects erinnert dieses Stück lebhaft an die letzte Scene im Don Juan und Nichts gleicht sich darin weniger hinsichtlich der Idee und des Styls; es ist dieß die schönste Lobeserhebung, welche man möglicherweise der Nr. 6 des Requiems geben kann. Wie erschütternd auch diese Composition, namentlich in dem vierstimmigen Chore, der sie schließt, sein mag, so drücken ihr der Abgang declamatorischer Formen, die kanonischen Gänge, die alterthümlichen Endungen unwandelbar das Siegel der hohen Kirchenmusik auf. Welch' ein Zug des Genius ist diese Figur im Unisono, welche steigend und zurückprallend gleich einer riesigen Woge das brennende Lager der Verworfenen auszuhöhlen und auszudecken scheint. Hat man je auf diese Weise die Soprane und Contre-Alte moduliren hören, als wie in derselben Figur, nach Voca me cum benedictis: C-moll und G-dur; G-moll und D-dur; D-moll undA-dur; A-moll und E-dur; auf welche Weise dieMoll-Accorde die Tonica und die Dur-Accorde die Dominante angeben, und das Schlag auf Schlag, auf jedem der vier Theile des Tactes, auf einer Instrumental-Anlage, welche erbeben macht. Die Bässe des Chors und die Tenore durch die [123] Posaunen verstärkt, umfassen in langen und alternirenden Sätzen die auf einander folgenden Tonarten, welche diese gepaarten Accorde repräsentiren. Was soll man endlich von dem Voca me sagen, wenn es in die Tonica des Stücks zurückgelangt, als Nachahmung mit einem figurirten Accompagnement der Violine allein entwickelt wird, und welches wie eine Erinnerung des Recordare erscheint. Unverwischbare Melodie, geheimnißvolle Blume der Seele, welche durch die Stürme des Tages des Zornes niedergedrückt, endlich ihren zitternden Kelch bei den Strahlen der göttlichen Barmherzigkeit öffnet. Das ganze Orchester läßt sich gegen den Schluß dieses pianissimo ausgeführten Bruchstückes hören; der bis dahin getheilte Chor vereinigt sich: Oro supplex; die Kälte des Todes ist in die Adern des Zuhörers gedrungen. Ja es ist der Hauch des Grabes, des Nichts selbst, das diese furchtbare harmonische oder unharmonische Auflösung und diese Vocalperioden von vier Tacten belebt, welche regelmäßig auf ihre Cadenzen fallen (wahrhafte Phantome für das Ohr, so unerwartet kommen sie), wie wenn der Chor der Lebenden, während er die letzten Worte jedes Verses spricht, bereits schon nichts als Staub wäre. Es ist das Erhabenste des Erhabenen. Du hast Dem Gnade angedeihen lassen, mein Gott, der diese heilige Musik zu Deinem Ruhme geschrieben hat, und mögest Du uns ebenso vergeben, wenn einst unsere Stunde schlägt!

Das große und herrliche Gemälde des Dies irae konnte nicht glücklicher geschlossen werden, als durch das Lacrymosa, dem rührendsten unter allen kirchlichen und profanen Chören, welche existiren, der mächtiger als alle anderen Zerknirschung und Schrecken, den höchsten Schmerz und religiöses Flehen ausdrückt. Selbst Herr Weber mit seinen sonderbaren Zweifeln und seinen noch sonderbareren Kritiken, deren sich der Leser noch erinnern wird, hat sich bei [124] dem Lacrymosa aufgehalten, obgleich es Süßmaier vom neunten Tacte an für seine Arbeit ausgibt. Ich hätte nicht so viele Nachsicht gehabt. Bei der entschiedenen Absicht, das Requiem Stück für Stück einzureißen, hätte ich einen Tadel für Nr. 7, wie für alles Uebrige zu finden gewußt, und meine Kritik wäre nicht schlechter ausgefallen als die vieler Anderer. Ich hätte gesagt, daß die elegische und häufig hochpathetische Melodie des Lacrymosa nicht so eigentlich das sei, was man Kirchenmusik nenne; und ich hätte vermöge einer Ausnahme, die man selten bei Schriftstellern findet, welche eine verzweiflungsvolle Partie ergriffen haben, die Wahrheit gesagt. Nachdem ich aber dieß gesagt hätte, würde ich mich sehr gehütet haben, hinzuzusetzen, daß der feierliche, ernste Rhythmus Larghetto 12/8, die Orchesterfiguren, das erhabene crescendo bei dem judicandus homo reus, die Zuziehung der Posaunen, welche im Unisono mit den Gesangstimmen seufzen, eine ganz kirchliche Harmonie, die in den accentuirten Tempo's den natürlichen Accord der Dissonanzen durch Verlängerung ersetzt, und endlich die erhabene Kirchen-Cadenz Amen, der Melodie den Charakter des dramatischen Pathos rauben, welchen es mit einer andern Instrumentation, einer andern Harmonie, einem andern Rhythmus hätte haben können, und die ihm denselben so sehr raubten, daß wenn man das Lacrymosa auf dem Theater, gleichviel auf welche Worte, zu hören bekäme, jeder Zuhörer von gutem Geschmack als über eine Entweihung sich entrüsten würde. Wollte man denn der Kirchenmusik das Recht streitig machen, heilsame und heilige Thränen hervorzubringen, welche, nicht zu unserer Freude, über eingebildete Unglückliche vergossene, sondern über uns selbst geweinte Thränen wären über das, was für Jeden von uns das Sicherste aus der Welt ist, der Tod!

[125] Das Offertorium, d.h. das Gebet, welches in der röm.-katholischen Messe unmittelbar dem Genusse des Brodes und Weines vorausgeht, wurde in zwei Stücke getheilt: Domine Jesu Christe und Hostias, das eine wie das andere mit einer Fuge endigend: Quam olim Abrahae. Der Abt Stadler hat uns bereits belehrt, daß es unter den katholischen Meistern traditionell war, diesen Theil des Textes in der Form einer regelmäßigen Fuge zu behandeln, und das Requiem von Cherubini beweist uns ebenfalls, daß es gebräuchlich ist, diese Fuge zum Schlusse des Offertoriums zu wiederholen.

Das in den Chorstimmen, aber mit Nachahmungen im Orchester, traurig, evangelisch und erhaben begonnene Domine, Andante G-moll, bildet eine wachsende Anhäufung von Anlagen und geht entschieden in den fugirten Styl über bei dem Verse: Ne absorbeat eas Tartarus, mit einem kräftigen Accompagnement in Sechszehnteln, um als Gegen-Subject zu dienen. Auf diesen Chor folgt ein bewunderungswürdiges Quartett der Solosänger, das ebenfalls regelmäßig fugirt ist, aber auf ein anderes Thema, das wie stufenweise die nicht minder bewunderungswürdige Fuge von: Quam olim herbeiführt, deren Anfang das Einfallen der Posaunen bezeichnet. Gewöhnlich verändert man hier das für die Nr. 8 vorgeschriebene Andante in ein Allegro moderato, und ich glaube, daß man Recht hat. Es wäre für die Executirenden schwierig, sich durch den Schwung und das außerordentliche Feuer dieser Fuge nicht ein wenig hinreißen zu lassen, welche die imposanteste unter allen mir bekannten Kirchenfugen ist. Die Arbeit des Gegen-Subjects, welche sich im Orchester befindet, ist von ungeheurer Kraft; das in zwei Vocaltacte eingeschlossene Thema ist eigentlich nichts Anderes, als eine verdoppelte Ausrufung: Quam olim Abrahae! Promisisti! [126] Die Entwickelung ist möglichst einfach, man sehe aber mit welcher Kunst und welchem Genie das Subject in dem Vocalbasse näher bestimmt wurde (Tacte 15 und 28), um die rührendsten Antworten in den oberen Stimmen hervorzurufen, und wie der einzige Gedanke des Gesanges und der einzige Gedanke der Instrumentation die Fuge ganz ohne alle Unterbrechung ausfüllt. Es ist ein Ganzes oder die Einzelnheiten lassen sich nicht bemerken. Ein Strom inbrünstiger Inspiration, welcher Einen unwiderstehlich mit sich fortreißt und gleich darauf sich verläuft.

Das Hostias ist ein Larghetto, Es-dur, welches sich nicht allein durch eine bewunderungswürdig schöne Melodie des Choralgesangs, sondern auch durch die treffliche oder, möchten wir sagen, fromme Auswahl seiner Accorde auszeichnet. Man kann sich kein andächtigeres katholisches, kein heiliger christliches Gebet denken, als die Nr. 9 des Requiems. Palestrina hätte nicht anders componirt, wenn er alles das gekannt hätte, was er in Beziehung auf die Harmonie noch nicht wußte. Da aber die Gebete einer Todtenmesse immer an irgend einer Stelle durch irgend Etwas von allen anderen kirchlichen Gebeten sich unterscheiden müssen, so hat Mozart die salbungsreiche Demuth und die tiefe Sammlung seines Hostias mit Sätzen von pathetischem Charakter und modernerer Wendung vermischt; weil aber die von Anfang aufgestellte Instrumentalfigur, eine sehr bewegte Figur mit Synkopen, nicht wechselt, so bleibt die Einheit des Stückes unberührt, trotz des Zuwachses an Ausdruck in dem Vocalgesange, der übrigens bald wieder auf seinen ersten Gang zurückkommt und mit einer Fermate schließt.

Ich lade meine Leser ein, die von Herrn Weber kritisirte Passage des Hostias zu betrachten. Sie ist erhaben, Nichts mehr, Nichts weniger (Tacte 23 bis 33). Wie, sollte Herr [127] Weber nicht bemerkt haben, daß das, was er, aus welchem Grunde weiß ich nicht, mit unstetem Gange zu bezeichnen beliebt hat, d.h. den Sprung der Octave, eine in der Vocalmusik so gewöhnliche Sache, hier nicht einmal der melodische Umstand ist, der das Ohr am fühlbarsten trifft? Der Grund ist augenscheinlich. Er liegt darin, daß die Melodie hier sich im Orchester befindet, und daß die Instrumentalfigur, indem sie alle Intervallen des Accords einen nach dem andern durchläuft, die Lücke der durch den Sopran ausgeführten Octaven ausfüllt.

Ich weiß dem nichts hinzuzusetzen, was über das Sanctus in der Controverse über das Requiem im zweiten Bande gesagt worden ist. Melodische Anlage, Harmonie, Modulation, Instrumentation, Alles ist groß, Alles ist wahrhaft heilig in einigen Tacten des Adagio, und es unterliegt keinem Zweifel, daß die Nr. 10 unter die hervorragendsten Conceptionen des Werkes zu stellen wäre, wenn Mozart Zeit gehabt hätte, die Fuge des Hosianna zu entwickeln.

Das Benedictus für die Solosänger componirt und mit einer an und für sich wenig kirchlichen Melodie, kehrt nichtsdestoweniger durch die gelehrten Formen ihrer Entwickelung in den Kirchenstyl zurück, Andante B-dur. Mögen die Stimmen allein oder in der Nachahmung, oder in dichten Accorden gehen, so bringen sie die thematischen Ideen mit einer bewunderungswürdigen Manchfaltigkeit und auf eine entzückende Weise zum Vorschein. Man sehe z.B. diesen Gang in Terzen, zwischen dem Sopran und Tenor; es ist nur ein Gang in Terzen und Sexten. Er entreißt Einem einen Schrei der Bewunderung. Im Ganzen ist das Benedictus ein Gebet von derselben Anmuth, und ein bewunderungswürdiges Meisterwerk des vielstimmigen Styls. Das ist in der That viel für Süßmaier.

[128] Im Agnus Dei, der zwölften und letzten Numer, Larghetto D-moll, erkennen wir den Meister an der Erfindung, und zwar noch besser, als wir ihn in dem vorhergehenden Stücke an der Ausarbeitung erkannt haben. Welcher Andere als Mozart hätte diese erhabene Figur des Accompagnements erfunden, in welcher die ganze Majestät des Tempels in seinen Tagen der Traurigkeit und Trauer, und die ganze Größe eines Verscheidens sich ausspricht, welche die Religion geheiligt hat. Welcher Andere auf der Welt, wenn nicht der Componist, der unter den Eingebungen des Todes selbst schrieb, hätte die vierstimmigen Sätze gefunden: Dona eis requiem und die Ritornells, die darauf folgen. Die Engel, als Führer der Seelen, scheinen in diesem Gebet für sie zu bitten12. Man ist vollkommen berechtigt, mit dem verständigen und gelehrten Kritiker, Herrn Marx in Berlin, zu sagen, daß »wenn Mozart das Agnus nicht gemacht hat, so müßte der, welcher es gemacht hat, ohne allen Zweifel Mozart sein.«

Wie sonderbar! Wir wiederholen es nochmals. Süßmaier, der sich für den Verfasser des Sanctus ausgibt, eine erhabene Composition in den zehn Tacten des Adagio, des Benedictus, einer allerwenigstens bewunderungswürdigen Composition, und des Agnus, einer engelgleichen oder selbst göttlichen Composition, Süßmaier vermeidet es, die Fuge des Hosianna zu entwickeln, deren herrliches Subject er zweimal erscheinen läßt; und er gelangt zu dem Verse des Agnus: Et lux aeterna [129] luceat eis (wo ein neues Stück hätte anfangen sollen nach dem Plane, der für die Eintheilung des Textes angenommen worden war), weiß Süßmaier nichts Besseres zu thun, als die Nr. 1 mit dem neunzehnten Tacte wieder aufzunehmen, und das Werk mit der Fuge des Kyrie zu beendigen, die bei den Worten: Cum sanctis tuis in aeternum angewendet wird? Ich frage noch einmal, ist dieß nicht der stärkste und schlagendste aller denkbaren moralischen Beweise, daß Süßmaier sich wohl gehütet hat, einen einzigen Gedanken in seine Arbeit als Fortsetzer oder vielmehr als einsichtsvoller Copist einzuführen, der nicht dem Meister angehörte?

Trotz des Mangels an materiellen Beweisen zu Gunsten der drei letzten Numern des Requiems hat Gott nicht gewollt, daß auch nur der geringste vernünftige Zweifel auf einem Werke bleiben solle, welches sowohl eines der schönsten Monumente seines Cultus als unter den historischen Lehren eine der glänzendsten Manifestationen seiner Vorsehung ist13.

Quelle:
Alexander Ulibischeff: Mozart's Leben und Werke. Stuttgart 2[1859], S. 96-130.
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