Vierter Abschnitt.

Mozart als Virtuose und Improvisator.

[137] Wir können das zweifache Talent Mozart's nicht mit Stillschweigen übergehen, welches ihm einen so glänzenden und frühzeitigen europäischen Ruf erwarb, und zwar lange ehe sein Genie für die Composition erwacht war; ein Talent, das ihm seinen sichersten Lebensunterhalt verschaffen, und ihm einerseits ebensoviel Popularität und Gunst erringen sollte, als er andererseits durch seine nicht verstandenen Meisterwerke verlor. Heut' zu Tage ist dieses Verhältniß umgekehrt. Der Virtuose Mozart ist für uns nur noch eine dunkle Sage, ein Räthsel, über das uns seine Concertmusik kein Wort mittheilt. Die Materie, auf welcher er sein so wunderbares Talent ausübte, die Noten sind wohl noch vorhanden, aber die Methode, der Anschlag, der Ausdruck, die Verzierungen, die unzähligen Nüancen, welche man auf dem Papiere durch Zeichen nicht ausdrücken kann, mit einem Worte, die Seele und der Genius der Execution, alles dieses existirt nicht mehr. Die magischen Töne des Virtuosen sind verklungen, ohne weitere Spuren zurückzulassen, als die Blumen, welche die Luft mit ihren Wohlgerüchen erfüllten, als die jugendlichen Reize, welche die Augen vor fünfzig Jahren bezauberten. [138] Einige seltene und alte Ueberbleibsel aus dem vergangenen Jahrhundert, einige achtzigjährige Musikfreunde erinnern sich noch allerdings des Spieles von Mozart. Einer derselben sprach mit mir noch vor wenigen Jahren davon, als von seinem schönsten Frühlingstraume14. Andere Ohrenzeugen haben es versucht, Mozart als Virtuosen und Improvisator zu beschreiben; was will aber die mündliche oder schriftliche Erzählung von einem Spiele besagen? Hören wir indessen in Ermangelung von etwas Besserem, was die Zeitgenossen sagten.

Alle Zeugnisse stimmen darin überein, Mozart als den vollendetsten Pianisten seiner Zeit darzustellen. Er selbst setzte sich ohne Weiteres über Clementi, den einzigen Nebenbuhler, den ein Theil des Wiener Publicums ihm gegenüber gestellt zu haben scheint. Wir dürfen ihm dabei auf's Wort glauben, und zwar um so mehr, als Dittersdorf, der nie mit Mozart in näherer Verbindung stand, über die beiden Virtuosen ein ähnliches Urtheil gefällt hat, und dasselbe auf die nämlichen Beweggründe stützte, indem er sagte, »daß der italienische Virtuose nur Kunst besitze, der deutsche dagegen Kunst und Geschmack.« Der Ausspruch ist sehr mager zusammengefaßt; aber er kommt im Grunde auf dasselbe heraus, was unser Heros selbst von Clementi sagt. Wir wollen nochmals die herzlichen und weit bezeichnenderen Worte Haydn's anführen, den die Erinnerung an seinen verstorbenen Freund eines Tages bis zu Thränen rührte. »Ach, Mozart's Verlust ist unersetzlich! Nie in meinem Leben werde ich sein Spiel vergessen. Das ging zu Herzen.« Ein Pianist, der Haydn's Herz rührte, besaß wohl Mittel, um alle die Kunststücke aufzuwiegen, mit welchen unsere modernen Pianisten, die [139] Niemanden zu Herzen dringen, die Ohren und namentlich die Augen zu blenden suchen.

Wie vollkommen aber auch Mozart's Spiel gewesen sein mochte, so dürfen wir doch annehmen, daß sein Talent des Improvisirens die Welt weit mehr in Erstaunen und Bewunderung versetzen würde, wenn er wieder käme. Die Gabe des Improvisirens stellte sich bei ihm mit der Sprache ein. In jenen Augenblicken der guten Laune, oder vielmehr wenn ihn seine tolle Lustigkeit anwandelte, gerade wie in spätern Jahren die tiefe Schwermuth, sprach Mozart häufig in Versen, wenn er seiner Rede einen gewissen Nachdruck verleihen wollte. Es schien ihm dieß sogar leichter zu fallen, als lange Zeit in Prosa zu sprechen. Das Metrum und die Cadenz brachten dieses Wesen, das ganz Harmonie und Rhythmus war, zur Hälfte wieder in sein natürliches Element zurück. Die Schwierigkeit des Reimens kannte er so gar nicht, daß man ihn, ohne die Feder abzusetzen, Briefe in Echo-Versen schreiben sah. Es ist einer von dieser Art noch vorhanden, der nicht weniger als drei Seiten füllt, und zwar sehr geistreich, aber voller Zoten ist. Herr v. Nissen hat uns den Text eines andern Briefes gegeben, der mit Versen schließt, welche Mozart an seine Schwester richtet, in welchem er ihr zu ihrer bevorstehenden Heirath Glück wünscht15. Die Regeln des Versbaues [140] welche das Ohr allein den Musiker gelehrt hat, sind fehlerlos darin beobachtet; dagegen sind die, welche guter Geschmack und Decenz vorschreiben, durchaus nicht eingehalten, aus welchem Grunde ich es um meiner Leserinnen willen, wenn ich deren finden sollte, unterlasse, die Zuschrift wieder zu geben. Um schließlich Alles zu sagen über Mozart's meistens nicht gekannte poetische Ader, führe ich noch an, daß ich oft in Deutschland mit meinen Mitsingschülern zwei komische Kanons sang, deren Text und Musik von ihm waren; der erste hieß: »O Du eselhafter Martin! o Du martinhafter Esel!« Der zweite: »Ik armes welsches Teuferl, ik kann nit mehr marschir.« Die Texte sind äußerst originell und mit einigen Zoten gesalzen; die Musik ist ein Meisterstück von toller Laune.

Die mündliche Improvisation war aber gewöhnlich nur die Einleitung zu den wahren Genüssen in den Freundeskreisen, deren Seele unser Heros war. Sein Wörterbuch war zu arm, der Kreis seiner in Worten ausdrückbaren Gedanken zu beschränkt, seine Muse mit einem Worte zu plump, als daß der erstaunenswürdige, poetische Instinct, welchen er von der Natur empfangen hatte, ihm zu etwas Anderem hätte dienen können, als Stegreifgedichte, wie sie bei einem Zechgelage zum Vorschein kommen, und Liebesworte, die nur in trunkenem Zustande laut werden, zu [141] reimen. Hatten die Possen einmal ihren Anfang genommen, so ging es damit fort, bis das grobe Geschütz erschöpft war; dann setzte sich Mozart an's Clavier und setzte dort seine Redensarten fort. Hier war es aber gerade, als ob ein Ausländer seine Muttersprache wieder fände, nachdem er lange in einem Idiom sich abgemüht, das er kaum versteht; denn der schlüpferige Possenreißer verwandelte sich in einen Mann, der auf feine Art zu scherzen versteht, und der burleske Reimdrechsler wurde zum komisch-satyrischen großen Dichter. Seine witzigen Einfälle, in plumpe Worte gehüllte Edelsteine, reinigten sich im Feuer der Harmonie und erglänzten in tausend Strahlen. Die Tasten seines Claviers ertönten von einem phantastischen kleinen Drama. Wenn er so phantasirte, wie leicht wurde es ihm da, ein Thema so zu bearbeiten, daß es hier possierlich, dort gravitätisch, nun halsbrechend und spitz, oder flehentlich und miserabel auftretend, oder hervorlauschend, oder sich hindurcharbeitend sich zeigte und deuten ließ, so daß er mit seinen Zuhörern machen konnte, was er wollte. Das – gerade das vielleicht hat vor und nach ihm nie ein Clavierspieler in diesem Maße vermocht.

Ebenso übte aber Niemand mit so vieler Leichtigkeit die Manier und den Styl anderer Meister nach. Das ist ganz natürlich; weil sein Styl der Inbegriff und die Quintessenz aller Systeme alter und neuer Tonsetzkunst in allen Zweigen der Kunst war. Um irgend einen Musiker nachzuahmen, brauchte er nur herabzusteigen, seine Universalität nach den Verhältnissen und speciellen Formen dessen zu beschränken, wessen Bild oder Caricatur er geben wollte. Wer Alles kann, kann auch stets das Geringere. Wenn es Mozart recht darum zu thun war, das Zwerchfell zu erschüttern, wandte er sein Nachahmungs-Talent dazu an, die dramatischen Werke, welche gerade in der Modegunst standen, zu [142] parodiren; die Opern Alessandri's z.B., ferner die von Gazzaniga und anderen Schmierern dieses Schlages. Er improvisirte Text und Musik, große Bravour-Arien, in welchen diese Meister vom Scheitel bis zur Sohle lächerlich ähnlich erschienen. Der Verfasser getraute sich jedoch nicht, seine musikalischen Sätze zu Papier zu bringen, aus Furcht vielleicht, daß das Publicum sie für Ernst aufnehmen und ihnen Beifall zollen möchte, statt darüber zu weinen. Eine einzige derartige Arie ist aber doch in Noten auf uns gekommen; sie ist für eine Prima-Donna geschrieben und besteht aus einigen Lieblings-Melodieen damaliger Zeit. Auf den ersten Anblick möchte es scheinen, daß der Maestro sich alle Mühe gegeben habe, großen Effect damit hervorzubringen, und es unterliegt keinem Zweifel, daß, gut gesungen, die Arie furore gemacht hätte. Der Text darf ebenfalls nicht übersehen werden. Hat wohl je ein italienischer Operndichter mehr Genie in einem Libretto für zehn Thaler aufgewendet?16 Dove, ohi dove son io? rief ungefähr die erhabene Prinzessin aus. Oh Dio! questa pena! o Prince! o sorte! ... io tremo ... io manco ... io moro ... o dolce morte! (Wo bin ich? – O Gott! diese Qual! O Fürst! O Schicksal ... ich zittere ... ich wanke ... – ich sterbe ... o süßer Tod!) Da fällt, gleich einer Bombe in's Haus, der entlegenste Accord brausend d'rein, und die Schöne singt, zusammenfahrend: Ah quel contrasto! barbare stelle! Traditore! Carnifice! (Ach welch' ein Contrast! Grausame Sterne! Verräther! Cannibale!) und so geht es fort. Das Ganze ist reich ausgestattet mit all' den Effectmitteln, welche die Dilettanten hinzureißen vermögen. Die [143] a piacere, imponente, morendo, rinforzando, smorzando, vibrando etc. etc., alle diese Recepte des Metiers finden sich alphabetisch geordnet und mit großen Buchstaben überschrieben vor. Man glaubt unfehlbar in allen Ecken des Saales: herrlich! köstlich! murmeln, und dann die Rufe bravo! bravo! bravissimo! ancora! ancora! ertönen zu hören.

Seit dem Tage, an welchem jenes eigensinnige, eitle, erregbare und störrige Geschlecht, welches man Virtuosen nennt, zum ersten Male sich zeigte, gab es wohl Keinen, der sich mehr wie Mozart von dem Geschlechts-Typus von Seinesgleichen entfernt hätte. Man brauchte ihm nur den Wunsch zu erkennen zu geben, ihn zu hören, und er stand zu Befehl, ohne zu fragen, wer man sei und woher man komme. Dieser Wunsch war an und für sich schon eine mächtige Empfehlung bei ihm. Die vornehmen Herren in Wien machten ihm deßhalb auch den Vorwurf, daß er dem nächsten Besten umsonst sein Talent preisgebe, welches sie vermittelst einer Belohnung von einigen Gulden zur Verschönerung ihrer aristokratischen Gesellschaften zuließen. Mozart ließ sie schwatzen, steckte sein Geld ein, und kümmerte sich nicht viel um die Aufmerksamkeiten, welche man ihm erzeigte; denn ungeschickter wie ihn gab es Niemand im Classificiren seiner Zuhörer nach Rang und Stand in der Welt. Er unterschied weder Adelige noch Bürgerliche, weder Würden noch Reichthum unter ihnen. Was er allein dort sah, waren Kenner oder Ignoranten, aufrichtige Musikfreunde oder musikalische Tartüffe, Nichts mehr, aber auch Nichts weniger. Der kleine Knabe, welcher zu Kaiser Franz sagte: »Lassen Sie Wagenseil kommen, der versteht es,« hatte in dieser Beziehung nie mehr als sieben Jahre. Es verdient bemerkt zu werden, daß Mozart viel lieber in Gegenwart von Musikern vom Fach spielte. Folgendes sagt uns Herr Rochlitz [144] über diesen Punct: Am Abende seines öffentlichen Concerts in Leipzig nahm Mozart den alten Violinisten Berger bei Seite und sagte zu ihm: »Kommen Sie mit mir, guter Berger! Ich will Ihnen noch ein Weilchen vorspielen. Sie verstehen's ja doch besser, als die Meisten, die mir heute applaudirt haben.« Nun nahm er ihn mit sich, und phantasirte nach einem kurzen Mahle vor ihm bis Mitternacht, worauf er dann nach seiner Weise rasch aufsprang und rief: »Nun, Papa, habe ich's recht gemacht? Jetzt haben Sie erst Mozart gehört. Das Uebrige können Andere auch.« Er meinte damit die mechanische Fertigkeit, welche in seinen Augen nur eine Eigenschaft zweiten Ranges bei einem Virtuosen war.

Wenn Mozart nicht in allen Dingen ein ganz eigener Mensch gewesen wäre, so müßte es sehr auffallen, ja es wäre fast unglaublich, daß er mehr Vergnügen daran gefunden haben solle, vor dem alten Berger allein, als vor dem Leipziger Publicum zu spielen, das ihn mit so vielem Beifalle aufgenommen hatte. Ein Musiker ist immer viel sparsamer mit seinen Beifallsbezeugungen gegen einen Kunstgenossen, als es die Dilettanten sind, und zwar, abgesehen von Brodneid und Gewerbseifersucht, aus zwei Gründen: Erstens, weil der Künstler vom Fach in der Regel mehr Kenner als der Dilettant ist, und folglich in Composition und Spiel eine Menge Fehler entdeckt, von denen der Andere Nichts ahnt; und weil er, zweitens, von den Genüssen der Musik bei weitem mehr übersättigt ist, insofern sie zu seinen Geschäften gehören. Ich erinnere an diese trivialen Wahrheiten, um einer andern, noch trivialeren Wahrheit dadurch Geltung zu verschaffen; daß nämlich die Herren Virtuosen es ohne allen Vergleich vorziehen, ihre Meisterschaft vor einer eleganten Menge Unwissender [145] und Halbkenner zu produciren, die ihnen ihren Lebensunterhalt verschaffen, sie in Salons und Journalen preisen, die sie zum Essen einladen und mit Weihrauch und Champagner tractiren, daß sie dieß mehr lieben, sagen wir, als ihre Finger oder Lungen, um irgend eines alten Papa's Berger, eines bescheidenen Veteranen in der Kunst willen zu ermüden, von dem sie höchstens einen ruhigen Lobspruch, wenn nicht gar Rathschläge zu erwarten haben, die einer Beleidigung gleichsehen. Sie haben meiner Treu Recht, und ich dächte an ihrer Stelle wie sie. Mozart dachte aber nicht so. Das Studium, das wir mit seinem innern Menschen angestellt haben, erklärt diese Sonderbarkeit vollkommen. Wir haben gesehen, daß die Musik nicht allein die große, oder vielmehr einzige Beschäftigung seines Lebens war, sondern daß sie sogar keinen andern Geschmack, keine andere Leidenschaft neben sich aufkommen ließ, und daß alle seine anderen Neigungen nur dazu beitrugen, die Liebe zu ihr zu unterhalten und zu verstärken. Unter seinen musikalischen Genüssen stand bei ihm das Phantasiren am Claviere oben an; es war dieß die vertrauteste Unterhaltung, welche er mit sich und mit Anderen haben konnte, eine Art von Beichte, welche den Zuhörern die Geheimnisse seiner Seele, die Schätze seiner Gedanken, ohne Verstellung, ohne Rückhalt, ohne Zweideutigkeit und in einer Sprache öffneten, in welcher sich leicht die zartesten Nüancen des psychologischen Zustandes ausdrücken lassen, aus welchem die Phantasie floß. Um Alles zu sagen, gebrauchte er die Sprache der Töne, wie wir unsere Muttersprache gebrauchen, um darin die Gefühle der Freundschaft und Liebe auszudrücken. Sicher wäre nun Nichts so sehr den Ergießungen dieser Art hinderlich, als wenn unsere Freunde beiderlei Geschlechts sich in die Unmöglichkeit versetzt sähen, aus Mangel an gehöriger Kenntniß der Sprache, die wir reden, so darauf zu antworten, [146] wie sie gern möchten. Viele meiner Leser haben gewiß die Erfahrung schon gemacht. Daraus wird man ersehen, warum es für Mozart wohlthuender war, den alten Berger sich lauschen zu hören, als von dem ganzen Leipziger Publicum Beifallsspenden zu ernten. Es war deßhalb, weil der alte Berger, der seine Sprache besser wie die Anderen verstand, ihm mit dem Herzen antworten und ihm durch seine, unter Musikern so leicht verständlichen Blicke zu wissen thun konnte, daß er ihn doch da vollkommen verstehe, wo das Leipziger Publicum ihn durchaus nicht verstanden hätte. Die Bravos der Menge stellten ihn zufrieden, eine völlige Sympathie mit seinem Zuhörer machte ihn glücklich. Als Musiker von Fach und berühmter Virtuose standen dennoch für ihn die Genüsse des reinen Dilettantismus unter den Genüssen der Eigenliebe. Er war nicht nur der größte Künstler, sondern zugleich auch der leidenschaftlichste Musikliebhaber. Ueber was beklagte er sich denn am meisten und mit der größten Bitterkeit, wenn er von den Verbindlichkeiten sprach, welche ihm seine Verhältnisse zum Publicum auferlegten? Meistens darüber: daß man von ihm mechanische Hexereien und gaukelhafte Seiltänzerstücke verlange. Das will man sehen, und man will nicht meinem Ideengange folgen.

So gefällig sich Mozart gegen die zeigte, welche ihn zu hören wünschten, so sehr verließ ihn sein sanfter und geselliger Humor, wenn man während der Musik Geräusch machte. Es war dieß vielleicht die einzige Veranlassung auf der Welt, welche ihn in Harnisch bringen konnte, und dann genirte er sich auch durchaus nicht. Er kannte den Werth von dem, was er gab; er gab es gern und verlangte dagegen Nichts, als Aufmerksamkeit und Stille. Versagte man ihm diese, so mußte er das empfinden, was Jeder von uns dann empfinden würde, wenn die Person [147] welche wir der Mittheilung unserer innersten Gedanken gewürdigt haben, statt des Interesses, auf welches wir gerechnet haben, uns nur Kälte und Zerstreuung zeigen würde. Menschen von Welt verstellen sich in einem solchen Falle, aber Mozart verstand es nicht, sich zu verstellen. Es ist dieß ein Grund für uns, ihn nicht nach dem Gesetzbuche der feinen Lebensart zu beurtheilen, wenn er, auf die verletzendste Art an der empfindlichsten Stelle seines ganzen Wesens verwundet, sein Mißvergnügen mit mehr Lebhaftigkeit als ein Anderer ausdrückte. Seinen Stuhl plötzlich mitten in einem Concerte verlassen und ohne Abschied weggehen, war nicht die einzige Lehre, welche er nicht sehr aufmerksamen Zuhörern zu Theil werden ließ. Manchmal ging es nicht so gelind ab, wie nachstehender Vorfall beweisen mag. Auf seinen Reisen in Deutschland wurde Mozart in irgend einer Stadt17 zu einem glänzenden musikalischen Abende eingeladen, der ausdrücklich um ihn zu hören arrangirt worden war. Die Gesellschaft, welche aus dem hohen Adel des Landes bestand, war sehr zahlreich. Mozart, der nur fremde Gesichter sah, glaubte sich in guter Gesellschaft zu befinden, das heißt im Kreise von lauter wahren Musikfreunden, unter denen vielleicht mehrere Kenner wären. Sein Vater hatte ihm schon diesen Denkspruch gelehrt, stets das Beste vorauszusetzen, so lange das Schlechte nicht klar zu Tage liege. Diesem gemäß handelte er, als er sich an das Piano setzte. Er fing mit einer sehr einfachen Melodie und mit einer noch einfachern Harmonie, Adagio, an, was ungefähr dem Augenblick des Stillschweigens vor einer Anrede gleichkommt, während welcher der Redner sich zu sammeln sucht. Die Damen, beunruhigt über dieses Debut, glaubten, der Musiker wäre schon auf die Materie [148] selbst eingegangen und er möchte in diesem Tone fortfahren. Mozart belebte sich und die Damen wurden wieder beruhigt; hübsch, recht hübsch, in der That; aber es dauerte nicht lange. Feierliche Accorde, eine frappante, originelle, aber etwas schwerfällige Harmonie trat an die Stelle dessen, was so hübsch geschienen hatte. Wie langweilig, guter Gott! Die Zungen der Profanen, welche in unseren Gesellschaften immer am schwersten zu zügeln sind, brachen nun ein Joch, das ihnen unerträglich schien; man flüsterte sich in die Ohren; die Bemerkungen über die Haltung des Nachbars und das Kleid der Nachbarin fingen an; das ansteckende Geplauder nahm immer mehr überhand. Die Männer machten sich zu Mittheilnehmern an der Sünde oder dem Verbrechen des zerstreuten Zuhörens. Das war genug, um der Improvisation eine andere Färbung zu geben. Wüthend, obgleich sich noch bezwingend, verarbeitete Mozart seine Ideen mit der Heftigkeit des Unwillens, der ihm sein Blut in den Adern kochen machte. Das Auditorium ließ ihn gewähren und fuhr fort, motu contrario die weit interessanteren Themata, welche diese Damen angegeben hatten, zu entwickeln. Der Herr des Hauses, der ein Liebhaber und guter Musiker war, wünschte die Gesellschaft zu allen Teufeln. Was that aber der auf so einfältige Art mißverstandene Improvisator? Er verfiel auf ein selten gebrauchtes Mittel, das aber in ähnlichen Fällen öfter angewendet werden sollte. Er setzte seinen bisher auf dem Piano durchgeführten Hauptgedanken fort, bearbeitete ihn aber jetzt mit der Heftigkeit, mit welcher sein Blut durch die Adern fluthen mochte. Als aber darauf nicht geachtet wurde, fing er an, erst ganz leise, dann immer lauter auf das Unbarmherzigste auf sein Auditorium loszuziehen und fast zu schimpfen. Zum Glück war die Sprache, welche ihm zuerst in den Mund kam (aus anderer Ursache gewiß [149] nicht) und die ihm so geläufig wie das Deutsche war, die italienische, und nur wenige Mitglieder der Gesellschaft waren in dieser so bewandert, daß sie die Ausdrücke verstanden, welche man vergeblich in dem Dictionnaire suchen würde. Dieses melodramatische Crescendo fand weit leichter Eingang, als alles Vorangegangene. Es entstand eine tiefe Stille. In Mozart's Charakter lag es, leicht von einem Extreme in's andere überzugehen, denn kaum hatte er sich des Eindrucks versichert, den er auf sein Auditorium hervorgebracht hatte, als sein Aerger sogleich wieder der Lust wich, über die Gesellschaft wahrscheinlich, und auch ein wenig über sich selbst zu lachen. Mozart wandte seinen Pegasus, gab seinen Ideen wieder eine andere Wendung, und fiel endlich in eine damals auf allen Straßen gesungene Melodie des Liedchens: »Ich klage dir du dummes Thier,« das selbst zu meinen Zeiten noch in Deutschland gehört wurde. Diese trug er niedlich vor, variirte sie zehn oder zwölf Mal, abwechselnd mit Fingerhexerei oder affectirter Süßlichkeit und schloß damit. Alles war nun voll Entzücken, und nur Wenige hatten errathen, wie grausam er seine Leutchen zum Besten gehabt. Er selbst ging bald weg, ließ seinen Gastwirth und einige alte Musiker der Stadt kommen, behielt sie beim Abendessen, und phantasirte auf den schüchtern ausgesprochenen Wunsch seiner Gäste mit unermüdlichem Feuer und unversiegbarer Gefälligkeit ihnen bis nach Mitternacht vor.

Quelle:
Alexander Ulibischeff: Mozart's Leben und Werke. Stuttgart 2[1859], S. 137-150.
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