Vorrede des Verfassers zur ersten Auflage.

[6] Es existiren zwanzig und noch mehr Biographien Mozart's; man kennt Mozart's Leben bis auf die unbedeutendsten Einzelnheiten hinaus; Tausende von Schriftstellern haben ex professo von dem großen Musiker und seinen Werken gesprochen; tausend Andere thaten es gelegentlich, und jeden Tag lies't man noch in den musikalischen Blättern von ihm. Der Gegenstand ist also so erschöpft als möglich. Dieß Alles wird man wahrscheinlich im Publikum sagen, wenn man mein Buch angekündigt lesen wird.

Wir besitzen allerdings von gedruckten Sachen über Mozart: biographische Notizen, Artikel in Journalen, Handbücher, Mittheilungen von Zeitgenossen, Sammlungen von Anekdoten, technische Analysen, die in verschiedenen Werken veröffentlicht wurden; aber eine vollständige, in's Einzelne gehende Biographie konnte es keine geben, ehe die, im Jahre 1828 in Leipzig herausgekommene, erschienen war.

Der Verfasser dieser Biographie, Herr v. Nissen, schien ganz besonders dazu berufen zu sein, sie zu schreiben. Er war im Jahre 1791 bei der dänischen Gesandtschaft am Wiener Hofe angestellt, und hatte, wie es scheint, Mozart, durch [7] häufigen Umgang mit ihm, sehr genau kennen gelernt, denn ihm wurde unter der Leitung des Abtes Maximilian Stadler die Aufnahme des Mozart'schen Nachlasses übertragen, der in nichts als musikalischen Handschriften bestand. Achtzehn Jahre später, das heißt im Jahre 1809, heirathete Herr v. Nissen, der indessen wirklicher Etatsrath und Ritter des Danebrog-Ordens geworden war, die Wittwe Mozart's, adoptirte seine beiden Söhne, und ließ sich mit seiner Familie in Kopenhagen nieder. Durch diese Verbindung gelangte er in den Besitz einer umfangreichen Correspondenz, die durch einen längern Zeitraum und zwar ziemlich regelmäßig fortgeführt worden war, so daß sie einen fast zusammenhängenden Leitfaden für die Ereignisse von 1762 bis 1786 abgab. Leopold Mozart, der Vater unseres großen Meisters, hatte alle diese Materialien aufbewahrt und in der Absicht geordnet, selbst die Geschichte seines Sohnes zu schreiben. Dieser Plan kam zwar nicht zur Ausführung, dafür fand aber Herr v. Nissen Hülfsquellen im Ueberflusse in ihnen zu dem Werke, mit dem er sich trug, und zu welchem ihm, vielleicht erst in Folge dieser Entdeckung, der Gedanke gekommen war. Ueberdieß besaß er in seiner Frau eine lebende Quelle, durch welche er die kostbarsten Aufschlüsse erlangen konnte. Da aber sowohl die Erinnerungen dieser, als die Familienbriefe noch viele Lücken in der Geschichte Mozart's übrig ließen, so suchte Herr v. Nissen durch Ueberlieferungen, Bücher, Journale und Aussagen von Augenzeugen das zu ergänzen, was ihm an authentischen Belegen fehlte. Endlich fügte er seiner Arbeit, zu möglichster Vervollständigung in jeder Beziehung der Materialien, die er im Laufe mehrerer Jahre gesammelt hatte: 1) den Hauptkatalog der vollendeten und nicht vollendeten [8] Werke Mozart's; 2) eine ausführliche Sammlung von Auszügen aus beinahe allen Schriftstellern, die Mozart und seine Werke besprochen hatten; 3) eine Sammlung von Gedichten, die zu Mozart's Preise gefertigt worden waren, in Gestalt eines Supplements hinzu.

Herr v. Nissen starb im Jahre 1826, und zwei Jahre später ließ seine Wittwe das Werk bei Breitkopf und Härtel in Leipzig drucken, das sie mit den Bildern ihrer beiden Gatten und ihrer zwei Söhne erster Ehe, ihrem eigenen Bilde und vielen anderen Blättern, Facsimiles, Musikbeilagen u.s.w. illustrirte.

Es liegt etwas ziemlich Romantisches in den Umständen, die wir so eben berührt haben, und denen wir die Veröffentlichung dieses Werkes verdanken. Die Wittwe Mozart mußte etwa fünfzig Jahre zählen, als sie zum zweiten Male in die Ehe trat; sie war ohne alles Vermögen und weder schön noch sonst hübsch gewesen, wenn anders ihr Bild getroffen ist, das sich aus dem Jahre 1782, also aus der Zeit ihrer ersten Ehe herschreibt. Welcher Grund konnte Herrn v. Nissen vermocht haben, eine solche Verbindung einzugehen, ihn, dessen gesellschaftliche Stellung als Geschäftsträger, wirklichen Etatsrath und Ritter, von der ihrigen so verschieden war? Geschah es aus begeisterter Verehrung für das Andenken eines großen Mannes; warum wartete er dann achtzehn Jahre lang? Was der Grund gewesen sein mag, genug, Herr v. Nissen entrichtete für sich allein die Schuld der civilisirten Welt, indem er die in Vergessenheit und im Elende schmachtende Wittwe heirathete, und den Erben des ruhmvollsten Namens unter den Musikern eine Erziehung gab. Als Wohlthäter der Familie Mozart und Verfasser einer, [9] durch die in ihr enthaltenen Notizen kostbaren Biographie, verdient Herr v. Nissen in dieser doppelten Eigenschaft die ewige Dankbarkeit aller wahren Freunde der Musik.

Seien wir vor Allem dankbar; hernach aber seien wir gerecht. Entsprach die Arbeit des Verfassers – welchen die Vergangenheit, gleichsam als Entschädigung für sein edelmüthiges Verfahren, bevollmächtigte, eine Biographie Mozart's zu schreiben – der Erwartung und dem allgemeinen Interesse, das ein, unter solchen Auspicien veröffentliches Buch erwecken mußte? Es schmerzt, die Frage verneinend und zwar durchaus verneinend beantworten zu müssen. Wie groß auch das wohlwollende Vorurtheil beschaffen sein mag, mit dem man dieses Buch zu lesen beginnt, so überzeugt man sich doch bald, daß das schriftstellerische Talent und die speciellen Kenntnisse, die dazu nöthig gewesen wären, um ein gutes Buch daraus zu machen, Herrn v. Nissen gänzlich fehlten. Die Wahrheit zu sagen, so findet sich Nichts in dem Werke, was eigentlich von ihm ist. In dem historischen Theile hat Herr v. Nissen, statt aus der Familien-Correspondenz und anderen Quellen die Elemente seiner Erzählung zu ziehen, die Quellen selbst wörtlich wieder gegeben. Er glaubte genug gethan zu haben, wenn er die zu seiner Verfügung stehenden Materialien wie einen Aktenstoß zusammenlegte. Dabei ist nicht zu übersehen, daß die Familien-Correspondenz durchaus nicht dazu bestimmt war, veröffentlicht zu werden. Die Schreiber dieser Briefe sprechen darin von dem, was sie interessirt, ohne sich je darum zu kümmern, was einen künftigen Biographen interessiren könnte. Finanzielle Berechnungen einer kleinen bürgerlichen Haushaltung, öffentliche oder private Beziehungen eines Musikers, der reis't, um Geld zu verdienen, oder seinen Sohn in der Welt [10] weiter zu bringen, das ist es, was diese Correspondenz zu drei Viertheilen umfaßt und sie Jedem, der nicht weiter als eine Lektüre sucht, tödtlich langweilig macht. Zuweilen folgen sich zwanzig, dreißig Seiten, deren Hauptinhalt der Biograph leicht in eben so vielen Linien hätte geben können.

Der kritische Theil des Werkes ist noch viel mangelhafter, und bildet wo möglich noch weniger ein zusammenhängendes Buch, als der erzählende Theil. Man denke sich einen lärmenden Haufen Musiker und Nichtmusiker, Schriftsteller und Journalisten von allen Nationen und von allen Farben, von denen jeder für sich selbst von Mozart's Werken spricht, ohne seine Nachbaren rechts und links zu hören, die er nicht kennt und die er nicht einmal zu kennen verlangt. Es bietet das vollständige Bild des Thurmbaues zu Babel. Man sieht, daß Herr v. Nissen geglaubt hat, das Zusammentragen von Materialien heiße ein Buch machen; und das Compiliren alles Dessen, was über die Musik Mozart's gesagt worden sei, sowohl dafür als dagegen, heiße musikalisch kritisiren. Einen leitenden Gedanken, Einheit, Plan, Redaktion, Styl und Logik, sind lauter Dinge, die man vergebens in dem Buche sucht. Diese Biographie ist demnach keine Biographie, dieses Buch ist demnach kein Buch, sondern nur das rohe Material zu einer Biographie und zu einem Buche. Weit entfernt, daß der Gegenstand darin erschöpft worden wäre, lag vielmehr für jeden schriftstellernden Musiker eine Art von Aufforderung darin, sich der Materialien zu seiner Bearbeitung zu bemächtigen.

Das Sammelwerk des Herrn v. Nissen fiel in meine Hände, zu einer Zeit, welche in dem Leben des Menschen eine scharfe Abgränzungslinie zwischen der Vergangenheit und der [11] Zukunft bildet. Es war im Jahre 1830; ich hatte kurz zuvor den Dienst verlassen und die Freuden der glänzenden Hauptstadt (Petersburg) mit der Einsamkeit eines entfernten Landgutes im Gouvernement Nischnei-Nowogorod vertauscht. So sehr mir Anfangs meine Lage, theils wegen ihrer Neuheit und des Lebenszweckes, den ich hier verfolgte, theils wegen der herrlichen Umgebung, in der ich lebte, gefiel, so fühlte ich doch bald eine gewisse Leere, die mich quälte. Man versetze einen enthusiastischen Musikfreund in ein Paradies, in dem nicht musicirt wird, und er wird sich bald langweilen; und vor zehn Jahren waren die musikalischen Hülfsmittel unserer Stadt Nischnei beinahe Null. Weil ich keine Gelegenheit mehr fand, Musik zu hören, und noch weniger, welche zu machen, so suchte ich meinen Notendurst dadurch zu stillen, daß ich die, dieser geliebten Kunst gewidmeten Journale und Bücher begierig verschlang. Damals beschäftigte Herr v. Nissen's Werk meine Mußestunden. Sogleich stieg der Gedanke in mir auf, was ein Jeder, der nur die Feder zu halten im Stande wäre, aus dieser formlosen Compilation zu machen vermöchte, welche so kostbare Materialien in sich schloß. Die Aufgabe, welche Herr v. Nissen seinen Nachfolgern hinterließ, schien mir ebenso angenehm, als leicht zu sein. Man brauchte nichts, als unter den Materialien die authentischen zu sichten; die anderen dagegen, welche Traditionen und die Erzählungen der Zeitgenossen geliefert hatten, der Prüfung der muthmaßenden Kritik zu unterwerfen; sodann, nach Scheidung der Spreu vom Korne, hatte man nur das Ausgelesene in Ordnung zu bringen, und auf diese Weise eine Biographie Mozart's zu Tag zu fördern, die wahrer, umständlicher und in jeder Hinsicht genügender ausfallen mußte, als die [12] großen und kleinen Bände, die bis jetzt unter diesem Titel erschienen waren.

Ich glaubte, etwa drei oder vier Monate damit zu thun zu haben, als ich mich im Herbste 1830 an's Werk machte und heute, den vierzehnten Juni im Jahre der Gnade 1840, schreibe ich die Vorrede zu einer zehnjährigen Arbeit. Als jung und unverheirathet fing ich das Buch an, welches ich auf dem Wendepunkte des Lebens, verheirathet und als Familienvater, beendige. Ich gestehe meinen Lesern offen, daß ich beim Beginne nicht die entfernteste Idee von dem hatte, was aus dem Buche werden würde, das ich ihnen jetzt biete. Ich muß daher den auffallenden Verstoß eines Dilettanten erklären, der zu seiner Unterhaltung einen leichten, kleinen Band Erzählung zu schreiben beabsichtigt, und sich nach und nach ganz gegen seine Absicht in eine Arbeit verwickelt sieht, welche tiefes Nachdenken und lange Zeit erfordert; eine Arbeit, welche, je weiter man damit kommt, Kenntnisse verlangt, die man nur sehr mangelhaft besitzt, und die zu gelehrten Studien veranlaßt, zu denen man niemals zuvor Lust gezeigt, noch sich Zeit genommen hatte. Dieses offenherzige Geständniß wird dem Leser den Schlüssel zu dem Buche geben und der Kritik den Standpunkt liefern, von welchem aus sie es zu beurtheilen hat.

Seit meinem siebenten Jahre treibe ich Musik, spiele ziemlich erträglich die Violine, singe auch, wenn es nöthig ist, bin in die Grundsätze der Composition eingeweiht und endlich auch Ehrenmitglied der philharmonischen Gesellschaft in Petersburg1, in Folge einiger Artikel, die ich in den Journalen [13] veröffentlichte, und so glaube ich ohne Anmaßung, mich auf der Höhe meiner Aufgabe als Biograph zu befinden. Mozart's Werke kenne ich von Deutschland her, wo ich erzogen wurde. Das war, wie ich meinte, mehr als genug, um eine Biographie Mozart's schreiben zu können.

Sobald ich aber damit begonnen hatte, den Stoff meines ersten Bandes, den geschichtlichen Theil, zu verarbeiten, so entdeckte ich zu meinem großen Erstaunen zwischen mehreren Werken Mozart's und den biographischen Umständen, die sich daran knüpfen, dieselbe wechselseitige Beziehung, wie die, wel che in der Geschichte des Requiems einen so starken Eindruck macht und uns mit so großem Erstaunen erfüllt. Je weiter ich diese Prüfung verfolgte, je mehr ich den Charakter [14] des Meisters studirte, und je mehr diese Aehnlichkeiten nach Zahl und Wichtigkeit sich vermehrten, um so mehr entfaltete sie mir eine Kette von Ursachen und Wirkungen, die in jeder Beziehung so augenscheinlich und eng zusammenhingen, daß man unmöglich in dieser Laufbahn eines Menschen und Künstlers die Leitung eines höhern Willens mißkennen kann. Und dieser Punkt war es, wo ich auf die erste, bei meiner Arbeit nicht vorhergesehene Bedingung stieß, nämlich die, derselben eine philosophische Grundlage zu geben, die ich nicht gesucht hatte, die sich mir aber mit der Macht unwiderstehlicher Ueberzeugung aufdrängte. Die Anwendung dieser Idee konnte mich übrigens weder aufhalten, noch sehr in Verlegenheit setzen. Die Thatsachen sprachen von selbst.

Dagegen machte mir ein anderer Umstand mehr zu schaffen. Nachdem ich die Vorherbestimmung als Grundlage in meinem Buche zugelassen, oder vielmehr gezwungen angenommen hatte, so mußte ich mir natürlicher Weise darüber Rechenschaft ablegen, zu was Mozart vorher bestimmt worden sei. Man wird mir sagen, daß Jedermann weiß, daß Mozart in der musikalischen Kunst eine große Revolution zu Wege gebracht hat. Ganz gewiß; ich wußte es so gut, wie Jemand; aber ich wußte es nur vermöge der Behauptung Anderer, das heißt, ich wußte nicht genau, in was diese Revolution oder diese Reform bestand. Wie alle Liebhaber, für welche die Beiwörter alt oder schlecht, beinahe gleich bedeutend sind, wenn es sich von Musik handelt, so hatte auch ich bisher mich nur mit den musikalischen Neuigkeiten beschäftigt. Meine historischen Kenntnisse erstreckten sich kaum weiter zurück, als auf das Ende des vorigen Jahrhunderts; sie fingen mit Mozart selbst und seinen berühmtesten Zeitgenossen an, [15] statt daß ich durch Umkehren der Zeit bei ihnen aufgehört, und bei dem Entstehen der Musik angefangen hätte. Dieß war eine zweite ganz unvorhergesehene Bedingung für meine Arbeit, eine Bedingung, welche die Unerschrockensten unter den Musikern meiner Art hätte abschrecken können, denn sie nöthigte mich, die umfangreichen Gräber Burney's und Forkel's zu öffnen, mich in das Lesen der alten Partituren und alten Theorieen des Contrapunctes zu vertiefen, zu lernen mit den Angen zu hören, und eine lange Zeit, ganze Jahre auf diese Studien zu verwenden, wenn ich Nutzen daraus ziehen wollte.

Nachdem ich gesehen hatte, wie die Musik vor Mozart beschaffen war, mußte ich zeigen, zu was sie Mozart gemacht hatte; das heißt, ich mußte die Meisterwerke Mozart's analysiren, ihnen besondere Abschnitte widmen; dieß war die dritte, ebenso lästige Bedingung, die ebenfalls bei meiner ursprünglichen Idee von dem Buche, und zwar vermöge eines zweifachen Fehlers in meinem Calcul, nicht in Betracht gekommen war. Ich glaubte nämlich, es wäre über diese Meisterwerke Alles gesagt, als wenn es möglich wäre, einen solchen Gegenstand jemals zu erschöpfen. Sodann dachte ich nicht daran, daß ein Ausschließen der kritischen Beleuchtung seiner Werke aus der Biographie eines Musikers, soviel heiße, als über die hauptsächlichsten Handlungen seines Lebens zu schweigen, die eben diese Werke bilden. Jedenfalls schien dieser unvermeidliche Theil meiner Aufgabe, die Viele vor mir und darunter Einige mit Glück schon versucht hatten, sehr schwierig zu lösen.

Ich gestehe, daß bei diesen unvorhergesehenen Schwierigkeiten, diesen mühsamen und langwierigen Studien gegenüber, [16] der Muth mich mehr als ein Mal zu verlassen drohte. Mehr als einmal ließ ich eine Arbeit, mit dem Entschlüsse, sie nicht mehr aufzunehmen, liegen, die nur einen Zeitvertreib hatte abgeben sollen, und nun nach und nach zu einer ernsthaften Beschäftigung meines Lebens geworden war. Reisen und mannigfache Geschäfte veranlaßten mich oft, die Feder niederzulegen; aber der Gedanke an Mozart verfolgte mich fortwährend, und trieb mich immer wieder an, sie von Neuem zu ergreifen. Die Zeit, welche ich bereits dem Buche geopfert hatte, der Vorwurf der Muthlosigkeit, den ich mir machte, und der stets am mächtigsten die mit einiger Energie begabten Menschen antreibt; eine die Trägheit überwiegende Neugierde, auf was ich wohl stoßen werde, wenn ich mit Fleiß und Ausdauer fortfahren würde; dieß Alles zusammen und noch mehr die zunehmende Begeisterung, mit der mich der Gegenstand meiner Studien erfüllte, erlaubten mir endlich das, was ich etwas leichthin begonnen hatte, so wie ich es gewollt, zu Ende zu bringen.

Dankbarkeit und Freundschaft legen mir die Pflicht auf, die Personen zu erwähnen, welche mir in meiner Arbeit eine zwar indirekte, aber nichts desto weniger sehr werthvolle Hülfe angedeihen ließen. Eine lange Uebung hatte mich zwar in Stand gesetzt, Partituren ziemlich geläufig zu lesen, das heißt die Musik im Geiste zu hören; aber dieses geistige Hören konnte doch nicht immer das wirkliche Hören ersetzen; ebenso wie das Hören allein auch nicht hinreicht, um Werke, die im contrapunctischen und fugirten Style geschrieben sind, zu beurtheilen. Der Zufall führte aber mehrere ausgezeichnete Dilettanten in unsere Stadt Nischnei, unter anderen den Collegienrath Koudriawzeff, einen trefflichen Violoncellisten, und [17] den Obersten Verstowsky, der ausgezeichnet die Violine, und im Nothfall auch das Violoncell und den Contrabaß spielt. Diese schlossen sich den bereits Anwesenden an, die aus dem Herrn Averkieff, der beinahe alle Saiteninstrumente, namentlich aber die Violine vortrefflich spielt, den Brüdern Zwanzoff, beide gute Musiker, und meiner Wenigkeit, als Violinisten bestanden. So hatten wir also ein Quartett und Quintett. Um aber größere musikalische Werke in Angriff nehmen zu können, mußten wir einen Dirigenten haben, und dieser fand sich in Herrn Kindt, Capellmeister des Reserve-Infanteriecorps, wie wir keinen bessern hätten wünschen können, und welcher mit seinen ungemeinen Kenntnissen für jedes Theaterorchester eine ausgezeichnete Acquisition wäre. Dem Liebhaber-Quartett schlossen sich einige Musiker unseres Theaters an, und so hatten wir ein vollständiges Orchester. Zu den Gesangspartieen nahmen wir zu den Sängern des Herrn Erzbischofs von Nischnei-Nowogorod unsere Zuflucht, der die Güte hatte, sie zu meiner Verfügung zu stellen, und so waren wir im Stande, unser Repertoir weit über meine Erwartungen auszudehnen und mannigfaltig zu machen. So führten wir im vergangenen Winter folgende Werke auf: Das Stabat Mater von Palestrina (allein für Singstimmen); Bruchstücke aus Händel's Messias, einzelne Nummern aus Mozart's Requiem; das letzte der sieben Worte von Haydn mit den Singstimmen, welche er diesem ursprünglich nur für Orchester geschriebenen Werke beigefügt; einen Chor von Sarti und viele andere Chöre; die Symphonie aus C von Beethoven (die erste); die Symphonieen ausC dur (mit der Fuge), und aus G moll von Mozart; die Ouverturen zu Don Juan, der Zauberflöte, den Hugenotten und [18] anderen Opern. Außerdem spielten wir noch die Quartetts und Quintetts der drei Väter (so nennen wir nämlich in unserm musikalischen Jargon Haydn, Mozart und Beethoven), beinahe alle Werke dieser Gattung von Onslow; die Quartetts von Cherubini, Spohr, Ries, Mendelssohn-Bartholdy und anderen; endlich auch das Octett des letztern Componisten (für vier Violinen, zwei Bratschen und zwei Violoncells), das trotz seiner Schwierigkeiten sehr gut ging. Ich hatte auch die Quintetts Boccherini's kommen lassen, allein meine Freunde, welche weniger antiquarisch gesinnt als ich waren, und auch nicht mein Interesse dabei hatten, wollten sie nicht spielen.

Auf diese Weise gelang es mir, in der guten Stadt Nischnei-Nowogorod, deren herrliche Lage nicht weniger Interesse verdient als ihre kaufmännische Bedeutung, am Sitze des Weltmarktes, in der Königin der Wolga und Oka, mehrere Meisterwerke zu hören, die ich nie zuvor gehört hatte, und den Eindruck zu vervollständigen, den sie bei'm Lesen auf mich gemacht hatten.

Fußnoten

1 Diese Gesellschaft ist das schönste musikalische Institut unseres Landes. Sie wurde zu einem wohlthätigen Zwecke gegründet, um den Wittwen und Waisen von Musikern, welche die Ihrigen ohne Vermögen hinterließen, Pensionen und Unterstützungen angedeihen lassen zu können. Der Grundstock der Gesellschaft bildet sich aus den jährlichen Beiträgen, welche die wirklichen Mitglieder, lauter Künstler vom Fache, beisteuern, namentlich aber durch den Ertrag der Concerte, welche sie während der großen Fastenzeit geben. Da hört ein großes und wahrhaft musikliebendes Publikum die Meisterwerke der heiligen Musik und andere classische Produktionen, zu deren würdiger Aufführung sich nirgends sonst ausreichende Mittel vorfänden. Diese großen musikalischen Feierlichkeiten vereinigen die Elite der Künstler und Dilettanten. Die Chöre singen gewöhnlich die Sänger des Hofes, hundert die besten aus dem ganzen weiten Reiche zusammengesuchte Stimmen und die wie ein Mann zusammen wirken; der Stolz der Eingeborenen und die Bewunderung der Fremden.

Ehemals wurden von der philharmonischen Gesellschaft keine Symphonieen aufgeführt, was aber jetzt glücklicher Weise anders ist.

Die Ehrenmitglieder find Liebhaber, welche vermöge ihrer Stellung in der Welt, ihres Vermögens oder ihres Talents, in der Lage waren, sich der Gesellschaft nützlich zu machen. Als ich im Jahre 1827 das Diplom als Ehrenmitglied erhielt, hatte ich nur drei oder vier Personen zu Collegen. Die gegenwärtige Zahl kenne ich nicht.


Quelle:
Alexander Ulibischeff: Mozart's Leben und Werke. Stuttgart 2[1859].
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