Musikalische Talente der Böhmen

[403] Es giebt kein Volk auf der Welt, das mit besseren musikalischen Anlagen ausgestattet wäre, als das böhmische, und dieß Talent war während anderthalb Jahrhunderten, durch eine ganz eigenthümliche Form der Volkserziehung, in einziger Universalität ausgebildet worden. Der Unterricht in Gesang und Musik bildete, selbst in der untergeordnetsten Dorfschule Böhmens, im 17. und 18. Jahrhundert einen Hauptgegenstand der Unterweisung, die Dorfschulmeister erhielten die Bezeichnung »Cantores« und der Musikunterricht überwucherte in solcher Weise, daß er durch das Regulativ für die, in den achtziger Jahren errichteten Normalschulen, gewaltsam eingeschränkt werden mußte. Alle Schulen lieferten daher Material für Capellen- und Chorgesang, das die Pracht des Gottesdienstes, die Masse der geistlichen Chorstiftungen, deren fast an jedes Kloster mehrere geknüpft waren, und die große Anzahl von der böhmischen Aristokratie gehaltener, kleinerer und größerer, zum Theil vortrefflicher Capellen, zu ihrer künstlerischen Erhaltung bedurfte.

Der Hausstand jedes der böhmischen Großen, von denen die meisten selbst mehr oder weniger tüchtige, ausübende Musiker waren, erschien unvollständig, wenn er nicht im Stande war, seinen Gästen ein Quartett, Quintett oder Septett musterhaft vortragen zu lassen. Der Werth der Diener stieg, wenn sie musikalisch waren, man sah die Köche als Geiger, die Jäger als Hornisten, die Tafeldecker als Flötisten, den Hausmeister als Dirigens in den Salon treten und den Hausherrn die zweite Geige neben seinem Kammerdiener spielen.

Es ist durchaus nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß der ungeheuer starke Bedarf an Kammermusikwerken, den diese Menge von Capellen österreichischer Großen erforderte, die Blüthe der Kammermusik überhaupt herbeigeführt habe, und die Allgemeinheit des Musiksinns, der dem ganzen Volke, vom Höchsten bis zum Niedersten, wahrhaft künstlerisch- demokratisch in Fleisch und Blut übergegangene verfeinerte Geschmack, der ihm in der guten Schule der vorklassischen alten Kirchenmusik angebildet worden war, der Boden gewesen sei,[403] worauf die unendlich reiche Erndte der klassischen Kammermusikperiode an trefflichen Werken dieser Gattung gewachsen ist.

Die böhmischen »literarischen Brüderschaften« des 15. und 16. Jahrhunderts, der Wetteifer in der Pracht der Hochämter in den Kathedralen, die Chorstiftungen, der Musikunfug in den Dorfschulen, die Kolowrat's, die Lobkowitze, die Nostitze, die Wrtby's, Hartig's, Pachta's, Czernin's, Spork's u.s.w. bedingten sich gegenseitig mit den Stamitz's, Praupner's, Dussek's, den Benda's, Gelinek's, Wittassek's, und selbst Haydn, Beethoven und Mozart.

Quelle:
Weber, Max Maria von: Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. Band 1, Leipzig: Ernst Keil, 1864, S. 403-404.
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