[390] 827. Der Zauberer von Ernzen.

A. Zu Ernzen, so berichtet die Volkssage, lebte vor langer Zeit ein Mann, welcher in der Zauberkunst sehr bewandert war. Derselbe machte sich das Vergnügen, die Leute in Echternach durch seine Kenntnisse und Künste zu necken und zu schrecken.

Besonders hatte er es auf den Abt der Abtei Echternach abgesehen. Bald rollte er als schwarzes Knäuel, bald lief er als flinker Hase über die Brücke, der Burgmauer entlang, auf Umwegen der Abtei zu. Hier fraß er, zum größten Ärger des Abtes, die schönsten Blumen des Gartens ab oder rollte geräuschvoll über die Treppen, um den Abt in seinem Gebet zu stören. Nicht zufrieden damit, sprang er behend auf das große Doppelfenster, bei[390] welchem der Abt in einem großen Buche las, langte dann mit seiner Vorderpfote durch das halbgeöffnete Fenster und schlug dem Abt das Buch zu; war der Abt abwesend, so warf er ihm alle Pergamente durcheinander und machte sich dann wieder aus dem Staub.

Des Unfugs müde, sann der Abt auf eine List, um den Störenfried loszuwerden. Eines Abends stellte er sich, mit einem langen, scharfen Messer bewaffnet, scheinbar betend, ans halbgeöffnete Fenster und erwartete den Hasen. Eben als es von Turm der Abtei Mitternacht schlug, sah er ihn im Mondschein daherkommen. Seiner Gewohnheit gemäß sprang der Hase aufs Fenster, um dem Abt einen Schabernack zu spielen. Aber kaum hatte er seine Pfote durchs Fenster gestreckt, als der Abt ihm dieselbe mit seinem Messer abhieb. Winselnd und schreiend verließ der Hase die Abtei und lief auf Ernzen zu.

Seitdem er aber seine Pfote verloren hat, muß er ewig Hase bleiben und kommt jedes Jahr am 31. Dezember, am Sylvesterabend, in die Abtei, um seine verlorene Pfote wiederzusuchen. Manche alte Leute behaupten, den dreibeinigen Hasen an diesem Tage in den Abteigärten oder an den Burgmauern gesehen zu haben.


B. Die Felsgrotte auf dem Ernzer Berg nächst Echternach, die später fromme Einsiedler bezogen, war früher, zuzeiten des Abtes Thiofrid (1081 bis 1110), die Wohnung eines berüchtigten, heidnischen Zauberers, des alten Kitzele. Durch seine höllischen Künste war dieser der Schrecken der ganzen Gegend geworden; durch Wirbelwind, Stürme und Hagelschlag vernichtete er die Hoffnungen des Landsmannes, entwurzelte die Obstbäume, verwüstete Wiesen und Felder und zertrümmerte die Wohnungen; er schickte Krankheiten über Menschen und Vieh und zerriß, bald als Bär, bald als Wolf, Kinder und Herden. Besonders war er von Groll und Haß erfüllt gegen die Mönche der Benediktinerabtei, zumeist aber hatte Abt Thiofrid durch Kitzeles Zauberkünste zu leiden; als große, schwarze Katze miaute dieser im Schornstein und störte den Abt in seinen Betrachtungen und Studien; als Hase stieg er nächtlich in den Klostergarten und richtete dort Verwüstungen an oder polterte derart an Thiofrids Fenster, daß dieser nicht schlafen konnte.

Dieser Unfug wiederholte sich allnächtlich, bis endlich der Abt durch List eine Pfote des Hasens in einer Schlinge erfaßte und sofort abschnitt. Das Tier enteilte auf drei Beinen. Die abgeschnittene Pfote aber ward verbrannt und die Asche in den Wind gestreut. So konnte der während seiner Verwandlung verstümmelte Zauberer seine Menschengestalt nicht mehr annehmen und irrt nun als dreibeiniger Hase jedes Jahr zur nämlichen Stunde um die Abtei, um seine Pfote zu suchen.


L'Evéque de la Basse Moûturie, 1844, 244

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 390-391.
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